Seit ihrem Erscheinen haben Max Frischs Romane Stiller (1954), Homo faber (1957) und Mein Name sei Gantenbein (1964) nicht allein beim Lesepublikum, sondern auch in Literaturkritik und Literaturwissenschaft anhaltend großes Interesse gefunden. Das Augenmerk der kritischen und philologischen Auseinandersetzung mit den Romanen hat von Beginn an nicht zuletzt ihrer besonderen narrativen Gestaltung gegolten;Footnote 1 die Frage nach der Zuverlässigkeit der auftretenden Erzähler ist dabei allerdings lange Zeit von bloß nachgeordnetem Interesse gewesen, und dies hat sich mit der Durchsetzung des Unzuverlässigkeitskonzepts in der Erzähltheorie der letzten Jahrzehnte nur sehr langsam geändert. Seit den 1970er Jahren sind Frischs Erzählerfiguren, vor allem Walter Faber in Homo faber, zwar immer wieder und durchaus im technischen Sinne als „unzuverlässig“ kategorisiert worden;Footnote 2 erst in jüngster Zeit jedoch ist es zu anspruchsvolleren Bemühungen gekommen, die genaue Nutzung und Rolle der Techniken unzuverlässigen Erzählens in den Texten zu bestimmen.Footnote 3

Die späte Beachtung dieser Verfahren erklärt sich daraus, dass sich die wissenschaftliche Rezeption der Romane meist – unter Ausblendung anderer markanter Eigenheiten – auf den Zug der Werke konzentriert hat, den Frisch in den Mittelpunkt seiner poetologischen Betrachtungen in Poetikvorlesungen, Reden, Essays oder Interviews gestellt hat – auf die Metafiktionalität.Footnote 4 Diesem Zug kommt in den Romanen zweifellos große Relevanz zu. Das „Möglichkeitserzählen“, das „konjunktivische“ oder eben „metafiktionale“ Erzählen gibt in allen drei Texten den konzeptionellen Rahmen vor für Frischs epische Auseinandersetzung mit dem „Identitätsproblem“, das seither – so hat er selbst treffend bemerkt – zu seinem „literarischen Warenzeichen“Footnote 5 geworden ist. Wie im folgenden Kapitel verdeutlicht werden soll, lässt sich eine umfassende Charakterisierung der narrativen Anlage von Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein aber nur dann gewinnen, wenn in der Rekonstruktion berücksichtigt wird, dass Frisch in seinen Romanen metafiktionale und unzuverlässige Narration konsequent miteinander verknüpft, dass er – vereinfacht gesagt – Unzuverlässigkeit als eines von verschiedenen Verfahren zur Umsetzung des Möglichkeitserzählens nutzt. Diese Nutzung hat, wie sich zeigen wird, zur Folge, dass unzuverlässiges Erzählen bei Frisch oftmals in einer Ausprägung begegnet, die als Sonderfall der oben erläuterten Grundform unzuverlässigen Erzählens zu verstehen ist, nämlich als ein Typ von narrativer Sachverhaltsdarstellung, die insofern „mimetisch uneindeutig“ ist, als sich auf ihrer Grundlage nicht mit Sicherheit klären lässt, was in der dargestellten Welt der Fall und das heißt, ob sie wahr oder falsch ist.Footnote 6

Die besondere Verbindung von Metafiktionalität und unzuverlässiger Narration in Frischs Romanen, die in der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu schulbildend gewirkt hat, soll in vier Schritten erläutert werden: Zunächst wird nachgezeichnet, wie Frischs erzählerischer Blick auf das Identitätsproblem, angeregt durch Brechts Modell eines illusionsstörenden, „offen-artistischen“ Theaters, eine neue Ausrichtung gewinnt (1). Anschließend soll dann die Ausgestaltung und Weiterentwicklung seiner Erzählpoetik in den Romanen Stiller (2), Homo faber (3) und Mein Name sei Gantenbein (4) untersucht werden.

1 Die Lösung eines Erzählproblems mit Hilfe Brechts (von Tom Kindt)

Als Max Frisch mit Stiller der Durchbruch als Romanautor gelingt, ist er Mitte 40 und, trotz langjähriger Tätigkeit als Architekt, ein Schriftsteller, der bereits ein umfangreiches Werk mit Texten unterschiedlicher Gattungen vorgelegt hat. Erste breitere Aufmerksamkeit und Anerkennung findet er in den späten 1940er Jahren mit seinen Theaterstücken und Tagebuchbänden, seit den Anfängen seines Schreibens in den 1930er Jahre hat er allerdings auch immer wieder längere epische Texten verfasst und veröffentlicht, zuletzt 1944 den Roman J’adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen und die umfangreiche Erzählung Bin oder Die Reise nach Peking.Footnote 7

Schon diese Werke kreisen um das Problem, das in den Folgejahrzehnten den Mittelpunkt von Frischs erzählerischem Œuvre bilden wird; mit dem Stiller gewinnt seine epische Auseinandersetzung mit dem Identitätsthema aber eine neue Akzentuierung, die mit einem markanten Wandel seiner Erzählpoetik einhergeht. Fragen wie die, was ein Ich ausmacht, was über sein Leben entscheidet und weshalb es oftmals ohne Erfüllung bleibt, dominieren insbesondere schon das Ensemble von Lebensläufen, das in Die Schwierigen präsentiert wird. Bereits hier erfahren die Charaktere leidvoll, dass zwischen den Möglichkeiten und der Wirklichkeit des Daseins eine Diskrepanz besteht. Mit unmissverständlicher Deutlichkeit hält dies die Figur Yvonne in einer der einleitenden Episoden des Romans fest und gibt damit ein gemeinsames Thema seiner verschiedenen, mehr oder weniger eng miteinander verbundenen Lebensgeschichten vor: „So vieles ist da, so vieles ist möglich, du lieber Gott, und so wenig wird!“ (SOJ, 12). Dieses Missverhältnis ergibt sich in Die Schwierigen auch daraus, dass die dargestellten Lebenswege oft, im Kleinen oder im Ganzen, von „der Laune eines Abends, […] der Lächerlichkeit des Zufalls“ (SOJ, 99) abhängen. Als maßgebliche Ursache für die Kluft zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen im Dasein macht der Roman jedoch anschaulich, dass die meisten Menschen die Uneigentlichkeit ihrer Existenz nicht bemerken, geschweige denn zu überwinden vermögen. Das Leben der Mehrheit wird in diesem Sinne explizit als „Dasein von Sklaven“ charakterisiert:

Man könnte sie grausamerweise fragen, wozu sie denn leben? Sie tun es aus purer Angst vor dem Sterben, nichts weiter. […] Was jeder kann: seine Freiheit verpfänden. Jedes Geschöpf, das einmal geboren ist, möchte leben. Und eben darum sitzen sie an diesen Tischen, bücken sich über eine Schreibmaschine oder einen Rechenschieber, während draußen ihr eigenes Leben vergeht. (SOJ, 139)Footnote 8

Bereits Texte wie Die Schwierigen führen den Befund, dass für die große Mehrheit der Menschen „das wirkliche, das sinnvolle, wesentliche Leben“ (SOJ, 143) niemals beginnt, darauf zurück, dass der Einzelne nicht in der Lage ist, sich selbst und seinem Gegenüber auf den Grund zu gehen: „Alles ist Maske“ (SOJ, 162).

Frischs Romane seit Stiller halten an den Grundzügen des Bildes von Identität fest, von einem erfüllten im Unterschied zu einem unerfüllten Dasein, das er in seinen epischen Texten der 30er und 40er Jahre entworfen hat; auch sie erkunden, wie sich aus dem Möglichkeitsraum des Lebens die Wirklichkeit einer Lebensgeschichte ergibt, durch Handlungen, Unterlassungen und Zufälle in der Interaktion mit anderen. Dieser Prozess der Identitätsbildung wird in Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein allerding – anders als in Die Schwierigen und anderen frühen Erzählungen Frischs – als Konstruktionsvorgang zum Thema gemacht, als ein Prozess, der auf eigenen und fremden Zuschreibungen in Gestalt von Geschichten beruht und der Identität als Ergebnis widerstreitender Erzählungen zu einer unsicheren und umkämpften Sache werden lässt. Ihren Niederschlag findet diese Neuakzentuierung von Frischs Beschäftigung mit der Identitätsfrage in einer Erzählpoetik, die bei der Präsentation von Lebensgeschichten auf metafiktionales Erzählen und die Verfahren narrativer Unzuverlässigkeit setzt.

Als wesentliche Anregung zu dieser Erzählpoetik ist die Konzeption des Epischen Theaters von Bertolt Brecht zu sehen, den Frisch 1948 in Zürich kennenlernt und ein halbes Jahr lang regelmäßig zu Gesprächen trifft.Footnote 9 Von Brecht erhält er, als ‚Begleitlektüre‘ zu ihrem Austausch, ein gerade fertiggestelltes Manuskript, das nach der Publikation im Folgejahr schnell zum Grundbuch des Epischen Theaters avanciert – das Kleine Organon für das Theater. Die aphoristisch gehaltene Zusammenfassung von Brechts Dramaturgie, die auf Verfremdungseffekte und Illusionsstörungen setzt, um eine Durchdringung gesellschaftlicher Konstellationen anzustoßen, macht auf Frisch einen nachhaltigen Eindruck. Ablesbar ist dies bereits an einer Notiz in seinem frühen Tagebuch, die den poetologischen Plan entwirft, das Epische von der Bühne zurück in die Epik zu holen, und die dabei en passant die Leitlinen seiner Romanpoetik der beiden folgenden Jahrzehnte umreißt:

Es wäre verlockend, all diese Gedanken auch auf den erzählenden Schriftsteller anzuwenden; Verfremdungseffekt mit sprachlichen Mitteln, das Spielbewußtsein in der Erzählung, das Offen-Artistische, das von den meisten Deutschlesenden als ‚befremdend‘ empfunden und rundweg abgelehnt wird, weil es ‚zu artistisch‘ ist, weil es die Einfühlung verhindert, das Hingerissensein nicht herstellt, die Illusion zerstört, nämlich die Illusion, daß die erzählte Geschichte ‚wirklich‘ passiert sei usw. (Frisch 1950, 601)

In dieser Passage hat Frisch, das ist in der Forschung schon gelegentlich festgestellt worden, rund ein Jahrzehnt vor Mein Name sei Gantenbein den Plan zu dessen Erzählform umrissen (vgl. Petersen 2002, 11). Unbemerkt geblieben ist bislang freilich, dass die betreffende Tagebuch-Sequenz mit der Idee eines ‚sprachlichen Verfremdungseffektes‘ im Sinne einer erzählerischen Infragestellung der ‚Wirklichkeit‘ der erzählten Geschichte zugleich Grundzüge der narrativen Konzeption von Stiller und Homo faber skizziert.

In Brechts Epischem Theater haben Verfremdungseffekte als Verfahren der Illusionsstörung zwei grundlegende Ausprägungen und entsprechend zwei Aufgaben: Sie dienen zum einen dazu, Zuschauerinnen und Zuschauer aus der ‚Wirklichkeitsillusion‘ des Bühnengeschehens herauszureißen. Ihre Nutzung soll Aufführungen als Aufführungen kenntlich machen, eine nur emotionale Anteilnahme am Schicksal der Figuren verhindern und zur rationalen Abwägung ihrer Situationen Anlass geben. Verfremdungsverfahren legen es zum anderen aber auch darauf an, der ‚Natürlichkeitsillusion‘ des Bühnengeschehens entgegen zu wirken. Sie sollen Rezipientinnen und Rezipienten dazu bringen, die dargestellten Abläufe, so vertraut und verständlich diese grundsätzlich erscheinen, als fremd und erklärungsbedürftig zu betrachten. Verfremdung ist so ein Anstoß zur neuerlichen Durchdringung nur vermeintlich verstandener Verhältnisse und verhilft auf diesem Weg zu der Einsicht, dass die vorgeführte Wirklichkeit kein zwangsläufiges Geschehen, sondern nur eine von verschiedenen Möglichkeiten darstellt (vgl. Kindt 2018[b], 26–29).

Als Frisch ausgehend von Brechts Kleinem Organon die Idee entwickelt, das Epische in die Epik zurückzuholen, scheinen ihm beide Grundformen von Illusionsstörungen deutlich vor Augen gestanden zu haben. Über die Verfremdungstechniken der Metafiktionalität, der Unzuverlässigkeit und ihre Verknüpfung legt es sein Romanerzählen seit dem Stiller mit unterschiedlichen Akzentuierungen darauf an, im Lesevorgang Zweifel entstehen zu lassen, dass das Erzählte ‚wirklich passiert ist‘, dass es ‚so passiert ist‘ und dass es ‚so passieren musste‘. Wie diese Zweifel in Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein geweckt werden, wie Frisch in den drei Romanen die Konzeption eines unzuverlässigen Möglichkeitserzählens ausgestaltet, werden die folgenden Kapitel im Einzelnen beleuchten.

2 Uneindeutigkeit und doppelter Plot in Stiller (1954) (von Victor Lindblom)

In einer so komplexen wie künstlichen Erzählanlage konfrontiert Max Frisch die Leserschaft in Stiller (1954) mit zwei grundlegend verschiedenen Möglichkeiten dessen, was in der erzählten Welt der Fall sein könnte. Dabei betrifft diese Offenheit einen zentralen Sachverhalt. Haben wir es, wie die meisten Indizien nahelegen, mit einem Mann zu tun, der nicht mehr er selbst sein will, aber dazu gezwungen wird – nämlich Stiller? Oder vielleicht eben doch mit einem Mann, der dazu gezwungen wird, jemand anderes als er selbst zu sein – nämlich White? Die kurze Antwort ist: mit beidem. Stiller, so die auszuführende These, ist ein uneindeutig erzählter Roman mit zwei parallel verlaufenden Plots.Footnote 10

2.1 Handlung und Ausgangslage

Ein Mann sitzt in Untersuchungshaft in Zürich. Er ist festgenommen worden, weil er bei einer Ausweiskontrolle einem Zollbeamten eine Ohrfeige verpasst hat. Der Verdacht: Es soll sich um den verschollenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller handeln. Der Mann aber behauptet: „Ich bin nicht Stiller!“ (S, 361) – „Mein Name ist White“ (S, 376).

Von seinem Verteidiger Dr. Bohnenblust erhält er eine Aufgabe: „Ich soll mein Leben niederschreiben! wohl um zu beweisen, daß ich eines habe, ein anderes als das Leben ihres verschollenen Herrn Stiller“ (S, 362). Er solle, so der Verteidiger, einfach die Wahrheit schreiben. „Erzählen soll ich! Und zwar die Wahrheit meines Lebens, nichts als die schlichte und pure Wahrheit! […] – was soll der Wahrheit schon übrigbleiben, wenn ich ihr mit meiner Feder komme!“ (S, 371).

In der Folge schreibt der Protagonist sieben Hefte voll. In diesen schildert er den Fortgang der Untersuchung bis zum Urteil. Zudem erzählt er von vergangenen Ereignissen und gibt wieder, was ihm Dritte – in erster Linie Stillers Ehefrau Julika, der Staatsanwalt Rolf und dessen Ehefrau Sibylle – über sich und über ihre jeweilige Beziehung zu Stiller erzählen.

Die Eintragungen des Protagonisten enden nach dem Urteil des Gerichts: Er wird als Stiller identifiziert (vgl. S, 728). Später gibt der Staatsanwalt Rolf die entstandenen Hefte unter dem Titel „Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis“ (S, 361) heraus. Er setzt den Aufzeichnungen ein Motto voran und fügt ihnen ein längeres Nachwort hinzu. Hier erzählt nun Rolf, wie der Protagonist mit Julika nach Glion zieht. Sein Nachwort endet mit dem Tod Julikas und dem einsamen Verbleiben des Protagonisten: „Stiller blieb in Glion und lebte allein“ (S, 780).

2.2 Erzählkonzeption: Perspektivierung

Bereits an diesem knapp rekonstruierten Grundgerüst der Handlung zeigt sich das zentrale und in so gut wie jeder Auseinandersetzung mit dem Roman hervorgehobene narratologische Merkmal von Stiller: die Perspektivierung.Footnote 11

In den beiden Teilen des Romans stehen sich zwei Hauptperspektiven gegenüber. Im ersten erzählt der Protagonist – als White – von sich und vom verschollenen Stiller, mit dem er nicht identisch sei. Im zweiten Teil, dem „Nachwort des Staatsanwalts“ (S, 730), erzählt Rolf vom Protagonisten – das heißt aus seiner Sicht: von Stiller.

In den sieben Heften des ersten Teils kommen weitere Perspektivierungen hinzu. Im zweiten Heft gibt der Protagonist wieder, was Julika dem Protagonisten oder Dr. Bohnenblust über Stiller erzählt hat. Dabei wolle er „nichts anderes tun als zu protokollieren, was Frau Julika Stiller-Tschudy, […] schon damit sie mich nicht für ihren Gatten hält, mir oder meinem Verteidiger von ihrer Ehe selber erzählt hat“ (S, 441). Auf die Mittelbarkeit der Kommunikationssituation weist der Protagonist wiederholt hin. So etwa am Ende des Heftes, als der Protagonist Julikas Erzählung von Stillers Verschwinden nach der letzten Begegnung in Davos nacherzählt: „Seither (erzählt Julika) blieb er für sie verschollen“ (S, 501). In den resultierenden Aufzeichnungen scheinen sich gleichwohl Wertungen sowohl von Julika als auch vom Protagonisten zu vermischen. Wird Stiller etwa als „fertiger Feigling“ (S, 473) bezeichnet, ist nicht mehr eindeutig zu bestimmen, ob diese Einschätzung von Julika, vom Protagonisten oder von beiden stammt.

Im vierten Heft erzählt der Protagonist Rolfs Erzählung seiner Ehe mit Sibylle nach. Wiederum verweist der Protagonist auf seine Rolle als Protokollant (vgl. S, 567) und streut in Klammern gesetzte Wendungen wie „so sagt er“ in seine Aufzeichnungen ein (vgl. S, 552; 557; 558; 559; 560; 561). In derselben Haltung gibt der Protagonist im sechsten Heft Sibylles Erzählung ihrer Beziehung mit Stiller wieder und distanziert sich regelmäßig durch Ergänzungen wie „so sagt sie“ vom Erzählten (vgl. S, 608; 617; 624; 627; 630; 658). Auch in diesen beiden Heften lässt sich nicht immer mit Sicherheit sagen, ob die Perspektive auf das Erzählte jene des Protagonisten oder jene von Rolf bzw. Sibylle ist.

In dieser Überlagerung von verschiedenen Perspektiven auf die Ereignisse tritt nun bereits im ersten Satz des ersten Heftes der genannte handlungsmotivierende Widerspruch auf. Rolf hat die sieben Hefte des Protagonisten als „Stillers Aufzeichnungen“ herausgegeben. In diesen behauptet dieser aber, nicht Stiller zu sein. Damit drängt sich sogleich die Frage nach der Zuverlässigkeit der beiden Erzähler auf: Wer sagt inwiefern und worüber die Wahrheit?

2.3 Unzuverlässigkeit: Indizien

Um sich einer Antwort schrittweise zu nähern, lassen sich Indizien auflisten, die entweder für die Unzuverlässigkeit des Protagonisten oder aber des Staatsanwalts sprechen. Die erste Gruppe von Indizien legt nahe, dass es sich bei der zentralen Sachverhaltsaussage des Protagonisten um eine Falschaussage handelt: Er ist nicht White, wie er sein Umfeld glauben lassen will, sondern Stiller.

Ein erster, wenn auch eher schwacher Hinweis auf die potenzielle Unzuverlässigkeit des Protagonisten ist sein Trinkverhalten. Gleich nach dem Beginn seiner Aufzeichnungen – „Ich bin nicht Stiller!“ (S, 361) – thematisiert er es selbst: „Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis […], sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere“ (ebd.). Dabei knüpft er den Alkoholkonsum an seine Identität: „Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen“ (ebd.). Ohne Alkohol komme bei den Verhören nichts heraus, „zumindest nichts Wahres“ (S, 362). An die Umstände seiner Festnahme kann er sich nicht mehr genau erinnern: „Heute ist es eine Woche seit der Ohrfeige, die zu meiner Verhaftung geführt hat. Ich war (laut Protokoll) ziemlich betrunken, weswegen ich Mühe habe, den Hergang zu beschreiben, den äußeren“ (ebd.). Auch Julika mahnt den Protagonisten: „Du solltest nicht so viel trinken!…“ (S, 435). Dieser reagiert stark: „Sie glaubte wohl, sie könnte mich wie ihren Stiller behandeln, und einen Augenblick lang hatte ich Lust, aus purem Trotz einen weiteren Whisky zu trinken“ (ebd.). Auch in Glion fährt der Protagonist so fort: „Stiller trank in den letzten Jahren ziemlich regelmäßig“ (S, 757), schreibt Rolf in seinem Nachwort.

Ein zweiter Hinweis ist die Vorliebe des Protagonisten für das anschauliche Geschichtenerzählen gegenüber der nüchternen Wiedergabe von Tatsachen. Aus diesem Grund scheint ihn etwa das Verhalten seines Verteidigers zu irritieren: „Vielleicht ist es nur seine Temperamentlosigkeit, was mich so maßlos reizt, seine Korrektheit, seine Mäßigkeit; er ist mir an Intelligenz überlegen, doch verwendet er seine ganze Intelligenz lediglich darauf, keine Fehler zu machen. Ich finde diese Leute gräßlich!“ (S, 374). Was Bohnenblust sage, sei zwar richtig, aber nicht überzeugend (vgl. S, 373). In der Bewertung von Knobels Nacherzählung eines angeblichen Mordes zeigen sich die Prioritäten des Protagonisten: „Seine Erzählung, wie sich der Mord ereignet habe, ist schlecht, wirr und ohne Anschauungskraft“ (S, 692). Insofern liegt der Schluss nahe, dass der Protagonist den wahrheitsgemäßen Bericht von Sachverhalten auch in seinen eigenen Erzählungen nicht als zentralen Qualitätsmaßstab versteht.

Diese beiden Indizien deuten an, dass der Protagonist erstens nicht immer einen nüchternen Zugang zu den Sachverhalten hat – und zweitens deren korrekte Wiedergabe ohnehin nicht für zwingend hält. Ein weitaus stärkeres Indiz für seine Unzuverlässigkeit sind jedoch die wiederholten Vorwürfe durch sein Umfeld. In verschiedenen Situationen werfen sie dem Protagonisten etwa ‚Hirngespinste‘ vor.

Schon früh beginnt Bohnenblust dem Protagonisten zu misstrauen. Seine Mexiko-Geschichten kauft er ihm schnell nicht mehr ab: „Was Sie mir gestern erzählt haben, stimmt ja hinten und vorne nicht […]. Warum erzählen Sie mir solche Hirngespinste?“ (S, 390). Bald glaubt er ihm kaum mehr: „[J]edes Wort aus ihrem Mund beginnt für mich fragwürdig zu werden […]. Warum lügen Sie?“ (S, 416). Bohnenblust wirft ihm „alberne Verstellung“ (S, 419) vor. Nach der Lektüre des ersten Hefts der Aufzeichnungen, in dem der Protagonist „einfach die Wahrheit“ (S, 362) schreiben sollte, schüttelt er bloß den Kopf (vgl. S, 437).

So reagiert auch Julika, nachdem der Protagonist erzählt, er sei ein Mörder – Mörder seiner Gattin: „Du bist wirklich komisch, ich muß schon sagen, in dieser Stunde, nachdem man sich ein halbes Leben lang nicht gesehen hat, kommst du wieder mit deinen Hirngespinsten, deinen kindischen Hirngespinsten!“ (S, 409). Auch Direktor Schmitz stimmt in das allgemeine Urteil ein: „Hirngespinste“ (S, 692).

Einzig Knobel glaubt – zu Beginn – dem Protagonisten und spricht ihn als White an (vgl. S, 406). Er ist ein aufmerksamer Zuhörer. Doch je häufiger sich der Protagonist in Widersprüche verstrickt – etwa über die Anzahl angeblich verübter Morde (vgl. S, 475) –, desto skeptischer wird er. Zuletzt ist auch Knobel überzeugt, Stiller vor sich zu haben: „Herr Stiller […], ich kann doch nichts dafür, daß es so ist, Herrgott nochmal, ich nehme es Ihnen ja nicht übel, daß Sie mir lauter Schwindel erzählt haben, aber ich kann doch nichts dafür –“ (S, 550).

Am umfangreichsten äußert sich der Staatsanwalt in seinem Nachwort. Anders als in „Stillers Aufzeichnungen“ sind die Vorwürfe hier nicht durch den Protagonisten, der an seiner White-Rolle festhält, wiedergegeben und potenziell durch dessen Perspektive gefärbt. Über diese Aufzeichnungen schreibt Rolf:

Es ist nicht der Sinn dieses Nachwortes, daß ich mich in zahllosen Berichtigungen ergehe. Die Mutwilligkeit seiner Aufzeichnungen, seine bewußte Subjektivität, wobei Stiller auch vor gelegentlichen Fälschungen nicht zurückschreckt, scheinen mir offenkundig genug zu sein; als Rapport über ein subjektives Erlebnis mögen sie redlich sein. (S, 749)

Doch auch in Freiheit nehme es der Protagonist mit der Wahrheit nicht immer genau. Zwischen der in Briefen geschilderten „ferme vaudoise“ und dem verlotterten „Schwyzerhüsli“ (S, 740), das Rolf bei einem Besuch antrifft, bestehe etwa nur wenig Ähnlichkeit: „Seine Lust an Eulenspiegelei hat Stiller nie verlassen“ (S, 737).

Im Sinne dieser Vorwürfe kommt auch das Gericht zum Schluss:

Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (für sie) identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen verschollenen Anatol Ludwig Stiller, Bürger von Zürich, Bildhauer, zuletzt wohnhaft Steingartenstraße 11, Zürich, verheiratet mit Frau Julika Stiller-Tschudy, derzeit wohnhaft in Paris. (S, 728)

Doch nicht nur die Reaktionen des Umfelds erhärten den Verdacht, dass es sich beim Protagonisten um Stiller handelt. Auch seine eigenen Äußerungen legen dies nahe. So schildert er etwa im dritten Heft zunächst einen Traum, der Stillers Traum zu sein scheint (vgl. S, 523–524). Im letzten Heft scheinen seine erzählten Erinnerungen dann nur jene von Stiller sein zu können (vgl. 682–689). Zuletzt spricht er von Stillers Stiefvater als seinem Stiefvater (vgl. S, 720) und – im letzten Satz seiner Aufzeichnungen – von Wilfried als seinem Bruder (vgl. S, 752). Hinzu kommt, dass der amerikanische Pass von White eine Fälschung sein soll (vgl. S, 525).

Indizien wie diese legen damit in ihrer Summe deutlich nahe, dass der Protagonist unzuverlässig ist. Und gleichwohl – und das scheint eine zentrale Pointe an der Erzählkonzeption von Stiller zu sein – würde man dem Roman nicht gerecht, würde man sich auf dieser Basis endgültig darauf festlegen, beim Protagonisten handle es sich um Stiller. Der Text liefert einige wenige, aber gezielte Indizien, die strategisch darauf ausgerichtet zu sein scheinen, eine andere Annahme als zwar unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche gelten zu lassen: Der Protagonist ist nicht Stiller, sondern White.

Ein erstes Indiz ist der Vorwurf des Protagonisten, auch Rolf verstricke sich in seinen Erzählungen in Widersprüche:

Es stimmt also nicht ganz, was mein Staatsanwalt zuvor behauptet hat […]. Ich erwähne das nur als Beispiel, daß selbst ein Staatsanwalt in seinen durchaus freiwilligen Berichten nicht ganz so widerspruchslos redet, wie sie es von unsereinem in den Verhören erwarten! (S, 579)

Der Protagonist und Rolf werfen sich insofern gegenseitig Falschaussagen vor – und einen anderen Zugang zu den Sachverhalten als über die beiden Erzähler gibt es nicht.

Der Text liefert einige weitere Indizien, die den Verdacht nähren, es könnte sich doch um die Aufzeichnungen von White handeln. Wilfried, Stillers Bruder, erkennt den Protagonisten zunächst kaum (vgl. S, 387). Stillers Waffenrock passt dem Protagonisten nicht, worauf sich der Leutnant für die Verwechslung entschuldigt: „[E]s war ihm gar nicht recht, daß einem Amerikaner in der Schweiz so etwas hatte passieren müssen“ (S, 506). Ein explizites Geständnis des Protagonisten, Stiller zu sein, fehlt zudem bis zuletzt. Noch bei der Wiedergabe des Gerichtsurteils markiert er Distanz, wenn er schreibt, er sei „für sie“ (S, 728) identisch mit Anatol Ludwig Stiller.

Das stärkste Indiz liefert jedoch die Schilderung des Zahnarztbesuches zu Beginn des siebten und letzten Heftes der Aufzeichnungen (vgl. S, 664–666). Der Zahnarzt findet etwas Unerwartetes vor. Ein Zahn, der tot sein sollte, wenn es sich um Stillers Zahn handelte, lebt noch:

[I]m Hinblick auf den alten Röntgen-Status, den sie in der Kartothek des Vorgängers gefunden haben, kann der junge Zahnarzt es einfach nicht fassen, daß mein Vierer-unten-links noch lebt, meines Erachtens empfindlich genug, auch wenn es auf dem Röntgen-Status (man zeigt mir den Vierer-unten-links, wie ihn der verschollene Stiller hatte) ganz und gar nach einer toten Wurzel aussieht. „Merkwürdig“, murmelt er, „merkwürdig.“ (S, 665)

Der Zahnarzt ist verwirrt und fragt die Gehilfin: „Ist das wirklich der Röntgen-Status von Herrn Stiller? […]. Sind Sie sicher?“ (ebd.). Die Frage bleibt offen – und mit dieser Frage bleibt bis zuletzt ein Restzweifel bestehen, ob es sich beim Protagonisten tatsächlich um Stiller handelt.Footnote 12

Diese Möglichkeit hält auch das Nachwort offen, indem Rolf eine wenig überzeugende Deutung der Entwicklung des Protagonisten liefert, die an seiner Urteilskraft zweifeln lässt (dazu im Folgenden ausführlicher).

2.4 Interpretationen

Die Auflistung von Indizien führt damit nicht zu einer definitiven Entscheidung, dass einem Erzähler auf ganzer Linie zu trauen ist und dem anderen nicht. Sie zeigt vielmehr an, dass in Stiller vom ersten Satz an zwei parallel verlaufende Plots angelegt sind. Der Komplexität der Erzählkonzeption von Stiller wird eine Interpretation insbesondere dann gerecht, wenn sie beide Plots berücksichtigt und zueinander in Beziehung setzt.

Der erste Plot – die Stiller-Fiktion – handelt von einem Mann, der nicht mehr er selbst sein will, aber dazu gezwungen wird (1). Der zweite Plot – die White-Fiktion – handelt von einem Mann, der dazu gezwungen wird, jemand anderes als er selbst zu sein (2). In beiden Plots wird die Identitätsfrage verhandelt – und der Roman zeigt so letztlich dasselbe auf zwei verschiedene Weisen: Es gibt keine Flucht in ein anderes Ich.

(1) Die Stiller-Fiktion

In der Stiller-Fiktion ist der Protagonist mimetisch unzuverlässig in Bezug auf seine juristische Identität. „Ich bin nicht Stiller“, ist – wörtlich genommen – eine Falschaussage. Beim Protagonisten handelt es sich um „Anatol Ludwig Stiller, Bürger von Zürich, Bildhauer, zuletzt wohnhaft Steingartenstraße 11, Zürich, verheiratet mit Frau Julika Stiller-Tschudy“ (S, 728). Nur Knobel, der Stiller nicht von früher kennt, glaubt zu Beginn, Stiller sei White. Für alle anderen handelt es sich bei seinem Rollenspiel um ein unverständliches ‚Hirngespinst‘.

Jedoch scheint Stiller mit seiner Behauptung „Ich bin nicht Stiller“ etwas anderes zu meinen als die bloße juristische – man könnte sagen: äußere – Identität. Wer er nicht mehr sein will, ist der alte Stiller, den er in seiner White-Rolle unter anderem als „Inbegriff einer männlichen Mimose“ (S, 457) und „Mann von krankhafter Ich-Bezogenheit“ (S, 458) beschimpft. Seine Selbstcharakterisierung ist Ausdruck von Selbsthass, von einem akuten Leiden am eigenen Ich. Ein zentraler Auslöser scheint die „Niederlage in Spanien“ (S, 496) gewesen zu sein, als Stiller im Krieg nicht schießen und sich nicht mehr als Mann sehen konnte (vgl. S, 490–496; 615–617). White soll nun das Gegenteil verkörpern – einen richtigen Mann: einen „vitalen Weltenbummler und Frauenhelden […], frei von Skrupeln, Ängsten und Hemmungen“ (Schmitz 1978, 12–13).Footnote 13

Auch andere Falschaussagen Stillers erhalten eine andere Bedeutung, wenn sie nicht wörtlich interpretiert werden, sondern als Ausdruck dieses existenziellen Ringens mit sich selbst. Wenn Stiller etwa in der Untersuchungshaft versucht, Julika „zu überzeugen, daß eine Ehe zwischen uns nie bestanden hat“ (S, 409), scheint er sagen zu wollen, dass sie in keiner richtigen Ehe gelebt haben, obwohl sie verheiratet waren und sind. Sagt Stiller zu Julika, er habe seine Gattin ermordet, meint er einen ‚seelischen‘ Mord, wie er später gegenüber Knobel präzisiert (vgl. S, 476). Der Ausdruck stammt dabei von Sibylle. Nachdem sich Stiller in Davos von Julika trennt, sagt sie: „Das ist doch Wahnsinn, Stiller, das ist doch Mord…“ (S, 649). Zuvor hat Stiller Rolf erzählt, es habe ihn Jahre gekostet, bis er eingesehen habe, der Mörder seiner Gattin zu sein (vgl. S, 385).

Sein in diesem Sinne uneigentliches Sprechen thematisiert Stiller in seinen Aufzeichnungen selbst: „[I]ch habe keine Sprache für die Wirklichkeit“ (S, 435). Deshalb versucht er sein Verschwinden mittelbar über Geschichten, die nur scheinbar nichts mit ihm zu tun haben, verständlich zu machen.Footnote 14 Sein Umfeld versteht diese „metaphorical paraphrases of his life and mental condition“ (Fonioková 2015, 184) jedoch nicht. So reagiert Bohnenblust auf die Geschichte von Rip van Winkle: „‚Märchen!‘ klagt er, ‚statt daß Sie mir ein einziges Mal eine klare und blanke und brauchbare Wahrheit erzählen!‘“ (S, 428). Stillers Fazit: „[I]ch kann mich nicht mitteilen, scheint es“ (S, 525).

Den alten Stiller – ihr Stiller, wie er mehrfach schreibt (vgl. 388; 401; 409; 411; 435) – will er nach einem Selbstmordversuch (vgl. 412; 420; 436; 701–702; 725–726) endgültig hinter sich lassen und erfindet eine neue Identität. Dabei weiß Stiller selbst, dass sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. In dieser Hinsicht erweist er sich als axiologisch zuverlässiger Erzähler. Wiederholt weist er in seinen Aufzeichnungen darauf hin und spricht ganz im Einklang mit der durch das Werkganze vertretenen Wertauffassung: „Heute wieder sehr klar: das Versagen in unserem Leben läßt sich nicht begraben, und solange ich’s versuche, komme ich aus dem Versagen nicht heraus, es gibt keine Flucht“ (S, 589).

Dass Stillers Einschätzung der zentralen These des Romans entspricht, zeigt der schlechte Ausgang. Stiller handelt wider besseres Wissen und wird dafür bestraft. Er kehrt zu Julika zurück, obwohl er weiß, dass es sich um einen Fehler handelt:

Warum ich zurückgekommen bin?! Das hast du nicht erlebt. Eine Idiotie, nichts anderes, eine Starrköpfigkeit! […] Ich habe sie nicht vergessen können. Das ist alles. Wie man eine Niederlage nicht vergessen kann. […] Warum haben wir uns nicht getrennt? Weil ich feige bin. (S, 768)

Stiller macht insofern keine Entwicklung durch, sondern ist zuletzt derselbe wie zuvor. Er wiederholt seine eigenen Fehler, obwohl er als White gerade vor dieser Wiederholung fliehen wollte (vgl. S, 421). Nach dem Tod Julikas bleibt Stiller allein in Glion zurück und wird sich, davon ist auszugehen, nun erst recht als ihr Mörder verurteilen.

In der Stiller-Fiktion ist nun Rolf zwar mimetisch zuverlässig in Bezug auf die juristische Identität Stillers. Die Überschrift über den Eintragungen des Protagonisten – „Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis“ – ist korrekt. Gleichwohl missversteht er Stiller gründlich. Das Werkganze lässt kaum daran zweifeln, dass sich Stiller in seiner White-Rolle ergebnislos im Kreis gedreht hat. Wenn Rolf hingegen über Stiller schreibt, dessen „Verstummen“ sei „ein wesentlicher, vielleicht sogar der entscheidende Schritt zu seiner inneren Befreiung“ (S, 730) gewesen, erweist er sich als axiologisch unzuverlässiger Erzähler, dessen Deutung von Stillers Handeln dem Werkganzen widerspricht. Rolf verwechselt – obwohl er in Glion Augenzeuge seines Leidens ist – Stillers Resignation und Rückfall in sein altes Ich mit einer Läuterung und Selbstannahme. Hiervon zeugt auch das Kierkegaard-Motto (vgl. S, 361), das Rolf den Aufzeichnungen Stillers (und nicht etwa Max Frisch seinem Roman Stiller) voraussetzt.Footnote 15 Rolf scheint sich mit dieser innerfiktionalen paratextuellen Ergänzung darauf festzulegen, Stiller sei tatsächlich durch Selbstwahl zu Freiheit gelangt. Stiller lebt in Glion jedoch in gleicher Weise in Unfrieden mit sich selbst und seinen Entscheidungen wie vor seiner vorübergehenden Flucht in die White-Rolle. Er ist gefangen in einem Ich, mit dem er keinen Frieden schließen kann. Dies legt er etwa in seiner selbstanklägerischen Erklärung offen, warum er zu Julika zurückgekehrt sei: „Aus Besoffenheit, mein Lieber, aus Trotz“ (S, 768).Footnote 16 Nach einer inneren Befreiung klingt dies nicht.

(2) Die White-Fiktion

In der White-Fiktion ist der Protagonist hingegen zuverlässig in Bezug auf seine juristische Identität. Er ist White, wie er behauptet, wird aber in die Stiller-Rolle gezwungen. Nach dem Zahnarztbesuch notiert White vielsagend: „Vielleicht, ich frage mich, müßte man sich überall wehren, wo man verwechselt wird, und ich dürfte es keinem Empfangsfräulein durchlassen, daß sie mich als Herr Stiller verbucht; eine Sisyphos-Arbeit!“ (S, 666). Diesen Kampf gibt er zuletzt auf und lässt sich in „eine fremde Haut […] stecken“ (S, 361).

Möglich ist dies, weil er Stiller durch die Erzählungen seines Umfeldes – durch deren Stiller-Bildnisse – derart gut kennengelernt hat, dass er nicht nur ein detailliertes Psychogramm von ihm entwerfen (vgl. S, 600–601), sondern ihn auch nachahmen kann. So etwa im Gespräch mit Sturzenegger:

Eine volle Stunde lang spielen wir Sturzenegger und Stiller, und das Unheimliche: es geht vortrefflich, reibungslos. Sein Spaß und sein Ernst sind heute noch, sieben Jahre nach ihrer letzten Begegnung, dermaßen auf den verschollenen Freund eingespielt, daß ich (jedermann an meiner Stelle) meistens ohne Schwierigkeit erraten kann, wie ihr Stiller sich in diesem oder jenem Punkt eines Gesprächs verhalten hat, also auch jetzt verhalten würde. (S, 591)

White überlegt sich in der Haft, „was für ein Mensch ich sein müßte, um den Erinnerungen und Erwartungen“ (S, 679) seines Umfeldes zu entsprechen. Er beginnt sein Rollenspiel schon in seinen Aufzeichnungen, das einerseits Freiheit, andererseits ein Leben mit Julika verspricht: „Ich möchte sie lieben. Und vorausgesetzt, daß Frau Julika Stiller-Tschudy mich nicht für ihren verschollenen Gatten nimmt, wage ich zu sagen: Warum soll es nicht möglich sein?“ (S, 687).Footnote 17

Doch auch Whites Verhalten ist zum Scheitern verurteilt – und auch er weiß es selbst: „[W]as sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle“ (S, 401). Whites Einschätzung steht damit in gleicher Weise wie Stillers im Einklang mit dem Werkganzen. Für White endet die Geschichte konsequenterweise ebenso schlecht wie für Stiller. Er ist nicht mehr in Haft, aber auch nicht frei, sondern gefangen in einem fremden Ich. Als Stiller kann White nur Stillers Fehler wiederholen.

Rolf ist in der White-Fiktion als sowohl mimetisch als auch axiologisch unzuverlässiger Erzähler zu klassifizieren. Er irrt sich wie alle anderen in der Identität Whites. Folglich kann auch seine Deutung im Nachwort nicht korrekt sein. Whites Gefangenschaft im falschen Leben deutet er als Stillers Selbstannahme.

2.5 Fazit

Stiller erzählt in der ausgeführten Weise zwei Geschichten. Die Stiller-Fiktion zeichnet der Text als die wahrscheinliche, die White-Fiktion jedoch nicht als unmögliche aus. In diesen parallel verlaufenden Plots muss unterschiedlich über die Zuverlässigkeit der Erzähler geurteilt werden. In der Stiller-Fiktion ist Stiller mimetisch unzuverlässig, aber axiologisch zuverlässig; Rolf hingegen mimetisch zuverlässig, aber axiologisch unzuverlässig. In der White-Fiktion ist White mimetisch und axiologisch zuverlässig; Rolf hingegen mimetisch und axiologisch unzuverlässig. So wird Stiller als Romanganzes zu einem Beispiel von Frischs uneindeutigem Erzählen, das nicht eindeutig festlegt, was in der erzählten Welt der Fall ist, sondern verschiedene bedeutungstragende Möglichkeiten präsentiert.

Die Interpretationen der Stiller-Fiktion und der White-Fiktion haben dabei einen gemeinsamen Kern: So wie Stiller nicht Whites Identität annehmen kann, kann White nicht Stillers Identität annehmen. Was der Protagonist als „wirkliches Leben“ bezeichnet – „Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen: daß einer mit sich selbst identisch wird“ (S, 417) – erreichen weder Stiller noch White.

Das Identitätsproblem verhandeln beide Fiktionen in einer psychologisch realistischen Weise. Die inneren Identitätskonflikte von Stiller und von White – ihr Ringen mit dem eigenen Ich und den Bildnissen ihres Umfeldes – machen den Kern von Stiller aus. Hingegen ist die äußere Handlung beider Plots in einer illusionsstörenden Weise unrealistisch. Frisch setzt damit eine Übertagung von Brechts Theatertheorie auf die Epik um: Es wird „die Illusion zerstört, nämlich die Illusion, daß die erzählte Geschichte ‚wirklich‘ passiert sei“ (Frisch 1976, 601; vgl. Fonioková 2015, 191–192). Neben dem unzuverlässigen Erzählen lenkt auch diese Unwahrscheinlichkeit beider Plots als Verfremdungseffekt die Aufmerksamkeit auf die Künstlichkeit der Ausgangslage und die Gemachtheit des Romans.

Frischs in der Kapiteleinleitung beschriebene Kombination von unzuverlässigem und metafiktionalem Erzählen zeigt sich etwa besonders deutlich, wenn es in den Aufzeichnungen des Protagonisten heißt: „Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln“ (S, 416). Den Roman „im richtigen Sinne zu lesen, in Richtung seiner Form“ heißt folglich, wie Dürrenmatt schrieb, ein Spiel mitzuspielen, „im Bewusstsein eben, dass wir mitspielen“ (Dürrenmatt 1971 [1954], 12). Im Sinne der hier vorgenommenen Analyse bedeutet dies, die ‚Spiegelungen‘ während der Lektüre nachzuvollziehen und den Roman sowohl aus der Perspektive von Stiller als auch von White zu interpretieren.

Auch wenn der Protagonist anmerkt, „gerade die enttäuschenden Geschichten, die keinen rechten Schluß und also keinen rechten Sinn haben, wirken lebensecht“ (S, 416), steckt darin eine metafiktionale Pointe. Stiller hat erstens keinen rechten Schluss, sondern zwei mögliche Schlüsse. Zweitens ist am Ende beider Möglichkeiten nichts geklärt: „Alles bleibt offen, ungelöst, unbewältigt“ (Mayer 1971 [1963], 50).

3 „… die Wahrheit ist ein Riss durch den Wahn“: Homo faber (1957) (von Matthias Aumüller)

„Die Wahrheit ist keine Geschichte, sie ist da oder nicht da, die Wahrheit ist ein Riss durch den Wahn“ (Frisch/Bienek 1961, 36), so lautet der ganze Satz von Frisch im Interview mit Horst Bienek.Footnote 18 Es ist das Thema, das Frisch umtreibt. Jeder gebe sich eine Geschichte, die die meisten akzeptierten, um mit dem Leben zurecht zu kommen. Nur Leute wie er wüssten: Damit mache man sich etwas vor. Jede dieser Geschichten, die man – seiner Meinung nach – erfindet, sei ein Versuch, „Erfahrung darzustellen“ (ebd.). Erfahrung sei kein „Ergebnis von Vorfällen“, sondern man suche sich selbst aus dem großen Sammelsurium der Wirklichkeit die passenden Details, die einem als dem Subjekt der Erfahrung in einer gegebenen Situation akzeptabel, schlüssig oder vorteilhaft erscheinen. In einer anderen Situation wähle man andere Details mit dem Effekt, eine ganz andere Geschichte aus dieser Erfahrung zu machen.

Hier spricht vernehmlich schon der Autor des Gantenbein-Romans. Im Homo faber liegt der Fokus noch darauf, dass sich Walter Faber, der Erzähler und Protagonist seiner eigenen Geschichte, ein fehlerhaftes Bild von sich selbst macht. Es ist nicht nur falsch, es funktioniert auch nicht. Was aber falsch ist, kommt nicht aus ohne die Wahrheit. Diese, die Wahrheit über Faber, die nicht mit Fabers subjektiver Wahrheit übereinstimmt, ist also eine Voraussetzung für das Verständnis des Romans.

In Kap. I wurden bereits Grundzüge des unzuverlässigen Erzählens in Frischs zweitem Nachkriegsroman dargelegt. Da er zu denjenigen Werken der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, die nahezu ausanalysiert und -interpretiert sind, erübrigt sich an dieser Stelle eine detaillierte Betrachtung. Stattdessen soll an seinem Beispiel einer speziellen Frage nachgegangen werden, der Frage danach, ob am Ende Faber eine Lösung für sein Problem findet und, wenn ja, ob sie darin besteht, eine Wahrheit über sich selbst erkannt zu haben.

3.1 Bloß angelegte und bestehende Sachverhalte: Fabers ausgebliebene Heirat

Im Gespräch mit Enrico Filippini zieht Frisch eine Linie zwischen seinem noch nicht genauer bezeichneten neuen Projekt (dem Gantenbein) und den beiden früheren Romanen. Da er keinen anderen Begriff dafür hat, spricht er mit Bezug auf Stillers und Fabers Erzählhaltung von „Ironie“ (Frisch/Filippini 2017 [1959], 26). Gemeint ist ihre Selbsttäuschung, die sich jeweils in ihrem unzuverlässigen Erzählen ausdrückt, bei Faber schon allein in der Bezeichnung „Ein Bericht“, der Objektivität heischt, aber nicht objektiv ist und aus seinem Munde alles andere als ironisch ist.Footnote 19

Wenn Stiller und Faber auf Selbsttäuschung hin angelegte Erzähler sind, gibt es eine Ebene in den Romanen, die man als wahr annehmen muss und über deren Beschaffenheit sie sich in bestimmten Hinsichten irren. Frischs erste Nachkriegsromane arbeiten also mit einer in der Fiktion als wahr anzunehmenden Realität ihrer Geschichten, die Leser erkennen müssen, um die Irrtümer der Erzähler zu durchschauen. Frischs Begriff zur Erfassung des Verhältnisses von in der Fiktion bestehender Sachverhalte und ihrer Kenntnisnahme durch Leser ist der der Illusion. In der Folge Brechts möchte er die Illusion immer weiter reduzieren: „Aber in Zukunft möchte ich viel weiter gehen! Es müsste gelingen, die Illusion gänzlich aufzulösen, das heißt, ich möchte nicht erzählen, als ob die Geschichte je geschehen wäre, sondern Fiktion erzählen als Fiktion“ (ebd.). Im Umkehrschluss heißt das: Stiller und Homo faber sind noch auf ein gewisses Maß an Illusion hin angelegte Romane, deren Geschichten jeweils eine als (in der Fiktion) wahr anzunehmende Realität zur Grundlage haben.

Wie in Kap. I skizziert, ist der Bezugsbereich von Fabers Unzuverlässigkeit sein Selbstbild. Hier noch ein einfaches Beispiel dafür, dass sein äußeres Verhalten seine Selbstbeobachtung widerlegt: Faber spielt Schach mit Herbert, von dem er inzwischen weiß, dass er der Bruder von seinem Jugendfreund Joachim ist. Faber liegt im Spiel „mit einem Pferdchen-Gewinn im sicheren Vorteil“ (HF, 28), als er im Gespräch erfährt, dass Joachim damals Hanna heiratete. Das war unerwartet. Faber fährt fort zu berichten: „Ich ließ nichts merken, glaube ich“ (ebd.). Aber er zündet trotz strengem Rauchverbot eine Zigarette an und verliert eine Figur nach der anderen, so dass Herbert sich wundert und fragt, was mit ihm los sei. Fabers Verhalten und Herberts Reaktion zeigen offensichtlich, dass er doch etwas merken lässt. Der behauptete Sachverhalt besteht also nicht.

Tatsächlich muss Faber erschüttert sein, so können wir schließen. Eingestehen kann er sich das jedoch nicht, weil er glaubt, wie ein Schachspieler (im Prinzip) alles berechnen zu können. Diese kleine Szene ist eines der vielen Beispiele, die zeigen, dass und wie sich Faber über sich selbst täuscht. Darüber hinaus ist sie eines der vielen Puzzle-Teilchen, aus denen sich seine Identität eines rationalen Rechners zusammensetzt, der er eben nicht ist.

Fabers Verhalten mit Bezug auf das Schachspiel zeigt noch einen weiteren Selbstwiderspruch zwischen Fabers Auffassung von sich selbst und seinem Verhalten. Er preist das Spiel, „weil man Stunden lang nichts zu reden braucht“ (HF, 23). Genau das tut er dann aber, und es provoziert ihn, dass Herbert sich gerade so verhält, wie Faber glaubt, dass er, Faber, sich normalerweise selbst beim Schach verhält, nämlich schweigsam. Jetzt aber stellt Faber laufend Fragen, vorgeblich „zum Zeitvertreib“ (HF, 28), aber man kann wohl annehmen, dass ihn Joachim etwas angeht, noch immer nach all den Jahren, und dass Faber emotional involviert ist, etwas, das er sonst mit Hinweis auf seine vermeintliche Sachlichkeit abstreitet.

Dass sich Faber hier anders verhält als gewöhnlich, macht ihn nicht zu einem unzuverlässigen Erzähler, aber die Einschätzung, dass er „zum Zeitvertreib“ frage, verbirgt seine eigentliche Motivation, seine Betroffenheit. Eine ähnliche Szene spielt sich noch einmal kurz darauf ab, als er nach Hanna fragt (HF, 31 f.). Man kann hier eine Diskrepanz zwischen seinen Fragen und Herberts unkonzentrierten Antworten erkennen. Herbert ist beim Spiel, Faber nicht.

Zu Fabers Selbstbild gehören seine Erinnerungen. Hier lässt sich ein Unterschied feststellen. Während die Widersprüche aus Verhalten und Selbsteinschätzung als Widerstreit von Behauptungen über bestehende und nicht bestehende Sachverhalte beschrieben werden können, sind die Erinnerungen epistemisch prekärer. Ob ein bestimmter Sachverhalt in der Vorgeschichte, also der ersten Bekanntschaft von Faber und Hanna, besteht oder nicht, lässt sich weniger leicht ermitteln. Aber ob sie bestehen oder nicht, ist nicht beliebig. Ein Beispiel ist der Sachverhalt der nicht zustande gekommenen Heirat.

Ich hätte Hanna gar nicht heiraten können, ich war damals, 1933 bis 1935, Assistent […], arbeitete an meiner Dissertation […], eine Heirat kam damals nicht in Frage, wirtschaftlich betrachtet, abgesehen von allem anderen. Hanna hat mir auch nie einen Vorwurf gemacht, daß es damals nicht zur Heirat kam. Ich war bereit dazu. Im Grunde war es Hanna selbst, die damals nicht heiraten wollte. (HF, 33)

So formuliert Faber seine Erinnerung an das Thema. An erster Stelle steht das ökonomische Argument, aber es wird noch mehr angedeutet. Was Fabers damalige Motivationslage angeht, ist der Absatz inkonsistent. Erst heißt es, „eine Heirat kam damals nicht in Frage“, womit er präsupponiert, dass objektive Gründe dagegen sprachen. Dann aber spricht er von seiner Bereitschaft und davon, dass Hanna abgelehnt habe. Inkonsistent ist es insofern, als der erste Satz besagt, es habe eigentlich keiner Diskussion bedurft, eine Heirat näher zu erwägen, und das Ende des Absatzes andeutet, dass die Pläne doch konkreter waren und jedenfalls keine Einigkeit zwischen den beiden bestand. „Im Grunde“ ist ein vielsagender Heckenausdruck, der markiert, dass Hannas Nicht-Wollen nicht ganz klar war. Überdies drückt sich in dem Satz, dass sie ihm nie einen Vorwurf gemacht habe, aus, dass er sich möglicherweise selbst einen Vorwurf macht.

In der nächsten Passage, die das Thema betrifft, betont Faber zunächst ihre damalige Jugend und Unbeschwertheit, deutet aber mit der Sorge von Fabers Eltern einerseits und mit Hannas jüdischem Vater andererseits weiteres Konfliktpotenzial an (HF, 45 f.). Er wiederholt sich: „Im Grund war es Hanna, die damals nicht heiraten wollte; ich war bereit dazu“ (HF, 46). Nun aber bekommt seine damalige Motivationslage neue Facetten. Zum einen deutet er ein moralisches Motiv an: Er sei bereit zur Heirat gewesen, um sie vor der Judenverfolgung zu schützen, „falls ihr je die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden sollte“ (HF, 46). Das ist das Motiv, das er selbst vor allem sieht. Zum anderen aber erklärt sich seine Bereitschaft auch durch die Opposition zu seinen Eltern, deren latenter Antisemitismus ihn erbost. „Ich war, im Gegensatz zu meinem Vater, kein Antisemit, glaube ich“ (HF, 47). Außerdem hätten sich die Eltern um seine Karriere gesorgt, würde er „eine Halbjüdin heiraten“ (HF, 45). In beiden Fällen erscheint Fabers Motivation – das ist hier das Entscheidende – fremdgesteuert. Zwar beteuert er immer wieder seine Liebe zu Hanna, was vielleicht eine der wenigen zuverlässigen Selbstaussagen ist; aber aus diesem Gefühl adäquate Handlungen zu entwickeln gelingt ihm nicht. Er rechnet eigentlich nicht mit einer Fortsetzung ihrer Beziehung und hält sein Verliebtsein für Liebe.Footnote 20

In dieser Passage notiert Faber außerdem mehrfach, dass er nicht wisse, wieso es nicht zur Heirat gekommen sei. Beiläufig heißt es, dass Hanna schwanger gewesen sei, und es deutet sich an, dass darüber keine Einigkeit bestand. Am Ende geht Faber davon aus, dass sie einem Schwangerschaftsabbruch zustimmt, denn „es war ausgemacht, daß unser Kind nicht zur Welt kommen sollte“ (HF, 57). Daran hält er auch noch in der Erzählgegenwart fest (HF, 105). Faber hat sich zudem inzwischen entschieden, eine Arbeit im fernen Ausland anzunehmen, in Bagdad. Hanna musste klar sein, dass es keine gemeinsame Zukunft gibt.

In dem Konflikt um die Schwangerschaft zeigt sich das Muster, das wir schon kennen: „Wenn du dein Kind haben willst, dann müssen wir natürlich heiraten“ (HF, 48). Für Hanna ist das nicht akzeptabel.Footnote 21 Trotzdem kommt es fast zur Heirat. Erst auf dem Standesamt sagt sie ab, und es folgt die Trennung. Deutlich wird, dass Fabers Erinnerungen an die Heirat ein Nebenkriegsschauplatz sind. Das eigentliche Problem ist der klassische Sinn und Zweck des Heiratens: dass Hanna ein Kind erwartet. Noch Fabers letzte Aufzeichnungen beschäftigen sich mit dieser Frage, dann hauptsächlich aus Hannas Sicht (HF, 200–203). Es ist die von Faber verweigerte Annahme des gemeinsamen Kindes, die die Katastrophe bewirkt. Er wiederholt diese Weigerung, indem er den aufkeimenden Verdacht seiner Vaterschaft im Zusammensein mit Sabeth ignoriert. Es ist nicht nur eine Flucht aus der Verantwortung, sondern zugleich Ausdruck der ethischen Dimension des Romans, wonach Faber beharrlich das Leben ignoriert, dessen Symbol das Kind ist. Als er Hanna zum Schwangerschaftsabbruch überredet, stützt er sich auf Sachzwänge (ökonomische Situation, bevorstehender Stellenantritt in Bagdad), die seine Entscheidung gegen Kind, Heirat und Liebe bemänteln.Footnote 22

Aus den Angaben Fabers zu den Heiratsplänen lässt sich nicht mit Gewissheit erschließen, was genau ihn bewegt hat und was Hanna. Es werden nur einige Möglichkeiten angedeutet. Aber im Kontext der anderen Selbstaussagen Fabers geben seine Angaben eine Richtung vor. Der Fokus der erzählten Erinnerungen liegt offensichtlich nicht darauf, dass Erinnerungen generell trügerisch sind, und es geht nicht darum, dass die in der Geschichte angelegten Sachverhalte um die nicht zustande gekommene Heirat von vornherein nicht rekonstruierbar seien. Im Einklang mit Fabers sonstigen Selbsttäuschungen liegt eine der Funktionen dieser Vorgeschichte darin, dass Faber auch hier wieder sich über sich selbst täuscht. Er unternimmt nichts, um seine vermeintliche Liebe in Erfüllung zu bringen. Das gemeinsame Kind wäre die beste Gelegenheit dazu gewesen. Auch gibt er seine Dissertation zugunsten der Anstellung in der Ferne auf. An einer Stelle gibt er zu, dass er damals noch nicht bereit gewesen sei für ein Kind. Damit kommt er der Wahrheit wohl am nächsten.

Das Resultat dieser Beobachtungen ist, dass die im Prinzip offene Motivationslage in Fragen der Heirat nur im Lichte von Fabers sonstigem Erzählverhalten als unzuverlässig erzählt aufgefasst werden kann. Stellt man sich in einem kontrafaktischen Gedankenexperiment die Heirat-Passagen isoliert vor, könnte man auf die Idee kommen, dass ihr Sinn gerade darin besteht, dass die vergangene Wahrheit nicht mehr rekonstruierbar ist. Das ließe sich auch mit einer überraschenden Analogie zwischen Faber und Hanna belegen. Obgleich sie als Kontrastfiguren angelegt sind, haben sie hier eine Gemeinsamkeit. Hannas Heirat mit Piper erfolgt aus einem ähnlichen Impuls wie Fabers Bereitschaft zur Heirat, um ihr die Aufenthaltsbewilligung zu sichern. „Hanna heiratete ihn aus einem Lager heraus (soviel ich verstanden habe) ohne viel Besinnen“ (HF, 143 f.). Freilich lässt auch diese Passage offen, ob Faber es richtig verstanden hat oder ob er es an seine eigenen Erfahrungen anpasst.

Doch, wie gesagt, Offenheit und Relativität von Erinnerungen sind nicht der konstruktive Faktor, der die Heirat-Passagen steuert. Das Bestehen vergangener Sachverhalte wird nicht angezweifelt, selbst wenn nicht einwandfrei geklärt werden kann, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht.

Damit wird erneut deutlich, dass Frisch im Homo faber das Konzept der illusionsstiftenden, fingierten Realität noch nicht verabschiedet hat. Sein Akzent liegt darauf, dass einer wie Faber diese Realität fehlerhaft zusammensetzt und dass diese subjektive, fehlerhafte Realität eine direkte Folge seines Selbstbildes ist. Homo faber operiert also wesentlich mit einer als wahr anzunehmenden Realität innerhalb der Fiktion, die für die Anwendung des unzuverlässigen Erzählens in seiner prototypischen Form unabdingbar ist.

Interessant ist nun die Frage, ob Faber schließlich zu einem Selbstbild gelangt, das ihm entspricht. Mit anderen Worten: Sollen wir auch für das Selbstbild eine Wahrheit annehmen wie für die Realität, die außerhalb der Figuren liegt? Oder ist die Quintessenz die, dass es das eine wahre Selbstbild nicht gibt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir herausbekommen, ob Fabers Wandlung auf der „Zweiten Station“ zu einem wahren bzw. angemessenen Selbstbild führt oder nicht.

3.2 Fabers geändertes Selbstbild

Fabers Bericht ist bekanntlich zweigeteilt. „Erste“ und „Zweite Station“ sind die beiden Teile überschrieben. Macht man auf einer Reise Station, liegt eine Etappe hinter einem. Faber ist viel auf Reisen. Daher mag die ungewöhnliche Kapitelbezeichnung naheliegen. Im übertragenen Sinne ist auch das Leben eine Reise, und so wird man leicht darauf kommen, dass hier zwei unterschiedliche Etappen eines Lebens beschrieben werden.

Dass von Stationen die Rede ist, kann man aber auch wörtlich verstehen, denn beide Teile entstehen, während Faber an einem Ort Station macht. Den ersten Teil verfasst er in Caracas zwischen dem 21. Juni und dem 8. Juli. Die erzählte Zeit reicht bis zum 4. Juni, bis zu Sabeths Tod. Den zweiten, erheblich kürzeren Teil beginnt Faber am 19. Juli in Athen. Wie lange er daran schreibt, ist nicht genau zu ermitteln. Es wechseln sich handschriftliche (im Druck kursivierte) Passagen mit maschinenschriftlichen Passagen ab. Wenn man davon ausgeht, dass er jeden Tag eine Passage mit der Hand und eine mit der Maschine schreibt, dauert die Erzählzeit sieben Tage. Am 26. morgens soll Faber operiert werden.

Auffälligerweise ist er beide Male krank und deswegen ans Bett gefesselt, in Caracas in einem Hotel, in Athen im Krankenhaus, wo er sich eigentlich nur hat untersuchen lassen wollen, aber gleich dabehalten wird. Die Beschäftigungslosigkeit bringt ihn zum Schreiben. Obwohl die beiden Teile chronologisch ineinandergreifen (weil Faber im zweiten Teil retrospektiv davon berichtet, was er zwischen Sabeths Tod und seiner erzwungenen Pause in Caracas erlebt hat), unterscheiden sie sich doch erheblich voneinander, wie in zahlreichen Untersuchungen des Romans festgestellt wurde.

Das Selbstbild, wie es sich in dem Abschnitt der „ersten Station“ äußert, ist das des kühlen Rechners. Über diese Selbsttäuschung müssen wir uns nicht weiter auslassen, sondern können gleich der Frage nachgehen, ob Faber schließlich zu sich selbst kommt oder nur einer anderen Fiktion über sich selbst aufsitzt.

Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, zumindest auf den ersten Blick nicht. Das scheint daran zu liegen, dass der zweite Teil nicht in der Weise unzuverlässig erzählt ist wie der erste. Faber hält sich mit Selbstcharakterisierungen zurück, die durch seine Umgebung widerlegt werden. Es ist aber auch nicht so, dass er seinen im ersten Teil dokumentierten mehrfachen Selbstbetrug durchschaut. Er gelangt also nicht auf eine höhere Stufe der Selbsterkenntnis, auch wenn er plötzlich vor Spiegeln keine Scheu mehr hat (HF, 170 f.). Das spricht schon einmal gegen eine Wandlung auf allen Ebenen. Auch in den handschriftlichen Passagen, in denen er von Hannas Besuchen bei ihm im Krankenhaus berichtet, drückt sich dies aus, wenn er Hannas Technik-Kritik nicht folgen kann: „Was Hanna damit meint, weiß ich nicht“ (HF, 169).

Was er ändert, ist sein Verhalten. Besonders anschaulich wird das in der Kuba-Episode, die sich unmittelbar an den Aufenthalt in Caracas, wo er ja den ersten Teil abgefasst hat, anschließt. Sein bisheriges Lebenskonzept einer vita activa wird ersetzt durch eine (natürlich nicht religiös, sondern eher ästhetisch gemeinte) vita contemplativa, ein auf den jeweiligen Augenblick gerichtetes bewusstes Erleben und Wahrnehmen der Umgebung.Footnote 23

Dass das ausgerechnet in Habana auf Kuba geschieht, ist vielleicht kein Zufall. Der Ortsname birgt eine phonische Äquivalenz mit dem Namen Hanna. Sie ist eine ausgebildete Kunsthistorikerin, und ihre Tochter übernimmt das künstlerische Interesse von ihr. Bedeutsam ist, dass er nicht mehr seine Kamera schauen lässt, sondern lieber selbst alles ansieht und auf sich wirken lässt. Auch hier können wir die Analyse abkürzen. Es ist oft genug beschrieben worden, dass und wie sich seine Umkehr im Hinblick auf seinen technizistischen Zugang zur Welt ausdrückt: in seinem neuen Verhältnis zum American Way of Life, in verschiedenen Leitmotiven, die nun umgekehrt werden (in seinem Verhältnis zur Sexualität etwa, als er sich auf die beiden Prostituierten einlässt, „die Blamage“ [HF, 178]), in seinem Sprachstil. Aber – seine zitierte Reaktion auf Hannas Äußerungen belegt es – er kann es kognitiv nicht erfassen.

Der Faber, der in Habana das Leben preist, wie er selbst sagt (HF, 181), und angeblich glücklich ist, gibt dort ein seltsames Bild ab.Footnote 24 Er scheint seine Tochter imitieren zu wollen, indem er zu singen anfängt. Dies wird als Argument dafür angeführt, dass er hier zu sich selbst kommt und eine Wandlung hin zum Besseren und Wahren durchlebt: „Seine Tochter kann Faber durch seinen Gesang nicht wieder zum Leben erwecken. Aber er kann damit zum Ausdruck bringen, dass er von ihr gelernt hat, im Einklang mit sich selbst zu sein“ (Lachner 2018, 96). Doch ist diese Art der Anverwandlung der richtige Weg für Faber? Macht er es sich damit wieder nicht zu einfach?

Seine Wandlung ist nicht nachhaltig, seiner Vergangenheit kann er ebenso wenig entkommen wie den Gegebenheiten der modernen Welt. In Düsseldorf sieht er sich seine Filme an und kann seinen Blick nicht abwenden von den Aufnahmen, die ihm seine Tochter zeigen. Das bekommt ihm nicht: „Warum nicht diese zwei Gabeln nehmen, sie aufrichten in meinen Fäusten und mein Gesicht fallen lassen, um die Augen loszuwerden?“ (HF, 192), fragt er sich selbst rhetorisch, als er im Speisewagen auf der Fahrt von Düsseldorf nach Zürich sitzt. Er ist fertig mit dem Leben, wie sich auch im Krankenhaus mitteilt, als er das Fleisch einen Fluch nennt (HF, 171). Seine Äußerungen lassen sich als Vorausdeutungen verstehen, die vielleicht nicht ihm, dafür aber den Lesern seinen nahen Tod verkünden sollen. Sie drücken aber auch seinen Lebens- und Selbstekel aus. Das ist nach der Inzest-Geschichte vielleicht nicht verwunderlich. Nur: Selbstannahme teilt sich darin gerade nicht mit. Stattdessen widerlegt er damit sein Preisen des Lebens.

Was Faber in Habana erlebt, ist daher nur eine Episode. Er bildet sich ein, mit Hanna weiterleben zu können und auf diese Weise nachzuholen, was er versäumt hat. „Ich werde Hanna heiraten“ (HF, 165), notiert er im Krankenhaus. Das ist ein Irrtum, auch wenn sein Bericht darüber keine Auskunft mehr geben kann. Dieser Sachverhalt ist in der Geschichte angelegt, auch wenn man nicht direkt am Text belegen kann, ob der fragliche Sachverhalt besteht oder nicht. Man kann aber begründen, dass sein Irrtum wahrscheinlicher ist als eine Wandlung Hannas, die sich plötzlich seinen Wünschen fügt. Dass die narrative Unzuverlässigkeit des zweiten Teils sich nicht sofort erschließt, liegt daran, dass sich ihr Bezugsbereich in der Zukunft der Geschichte befindet.

Faber verdrängt weiterhin seinen Tod, ganz abgesehen davon, dass er Hanna wohl nicht gefragt hat, ob sie mit einer Heirat einverstanden wäre. All das spricht doch eher dafür, dass er sich weiter etwas vormacht und dass er auch nach den niederschmetternden Ereignissen sich etwas vornimmt, das ihm nicht entspricht, diesmal eben etwas anderes, ein einfaches Leben ohne Ansprüche. Wiederum sitzt er einem Lebensentwurf auf, der mit der Realität nichts zu tun hat, denn er erkennt trotz wiederholt zum Ausdruck gebrachten Ängsten seinen eigenen Zustand nicht, noch gibt er Hanna ein Mitspracherecht für ihre gemeinsame Zukunft. Was er für Zuneigung während ihrer Krankenbesuche halten mag, ist vermutlich nur Mitleid ihrerseits.

Auch hier ist es, analog zu der Heirat-Passage, wieder so, dass diesbezüglich Fabers Unzuverlässigkeit eher eine Extrapolation ist, als dass man das Bestehen dieser beiden Sachverhalte mit Gewissheit feststellen könnte. Insbesondere die Aussichten auf ein gemeinsames Leben mit Hanna kann man nicht abschließend in die eine oder andere Richtung festlegen. Das liegt daran, dass wir nicht wissen, wie Hanna sich dazu verhält. Aber die wahrscheinlichere diegetische Erklärung weist in die Richtung, dass Faber sich irrt. Es ist auch ein Resultat seines monologischen Zugangs zu dieser Frage, der das Gegenüber nicht einbezieht.

3.3 Schlussfolgerungen und kurzer Ausblick

Mit dieser Pointe dreht Frisch, wenn man so will, im Homo faber die Schraube der mimetischen Uneindeutigkeit, die im Gantenbein kulminiert (aber selbst darin, wie sich zeigen wird, nicht gänzlich gelöst werden kann), ein kleines Stück weiter auf. Stiller mag sich am Ende fügen und ein falsches Leben im Richtigen führen. Für Faber jedoch gibt es kein richtiges Leben, jedenfalls kein richtiges Selbstbild. Wenn man das verallgemeinert, lautet der Schluss, dass man das, was man erlebt, wie Faber immer und notgedrungen in einen konzeptuellen Zusammenhang bringt, der in Teilen eine Lüge ist.

Davon ist auch Hanna nicht frei, die „Henne“ (HF, 137, 201), wie sie Joachim und später auch Faber nennen. Zumindest kann man die wenigen Angaben, die es über sie gibt, so verstehen. Sie definiert sich über ihr Kind, lässt sich sterilisieren, was zu Joachims Scheidung führt, und wählt damit auch einen extremen Weg. Auch sie ist eine Gescheiterte, der mit dem Tod der Tochter alles wegbricht, worauf sie ihr Leben gegründet hat. Entsprechend verzweifelt verhält sie sich. Sie hält ihr Leben für „verpfuscht“ und betont, dass sie keine Kinder mehr haben könne (HF, 139).

Auf den ersten Blick ist der zweite Teil des Berichts von Faber weniger unzuverlässig. Mit Bezug auf die zwei Sachverhalte, die in der Zukunft der Geschichte liegen, irrt sich aber auch der vermeintlich gewandelte Faber. Da sein Tod nicht erzählt wird (und erst recht nicht die in seiner Phantasie aufscheinende Möglichkeit eines Zusammenlebens mit Hanna), kann man zwar immer behaupten, das Ende bleibe offen. Nach allem, was bekannt ist, kann man jedoch schließen, dass sein Tod in der Geschichte ebenso angelegt ist wie sein fortgesetzter Irrtum über seine eigene und Hannas Situation. Er versucht noch, sich mit der Statistik, ebenfalls einem Leitmotiv, mental und emotional aus der Patsche der Agonie zu helfen; allein, „nervös“ ist er doch (HF, 164).

Demnach ist das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung, dass viel gegen eine Läuterung Fabers im zweiten Teil spricht. Auch nicht seine „Verfügung für den Todesfall“ (HF, 199), deren Idealisierung des einfachen Lebens ihm nicht entspricht, sondern lediglich das entgegengesetzte Extrem seines bisherigen Weltbildes darstellt (vgl. auch Foniokowá 2015, 167 f.). Faber bleibt in Bezug auf seine Situation und sein Selbstbild mimetisch unzuverlässig. Sein Handeln ist eine Folge dieser Irrtümer, sein Inzest eine Folge seiner Verdrängung der Wirklichkeit und der Missdeutung sowohl der äußeren Zeichen als auch der Hinweise seines Unbewussten.

Daher, so kann man zusammenfassen, ist seine axiologische Unzuverlässigkeit eine Funktion seiner mimetischen Unzuverlässigkeit. Mag er einen Teil seiner Schuld akzeptieren (Foniokowá 2015, 177), so erweist er sich in axiologischer Hinsicht am Ende als partiell rehabilitiert, aber auch Foniokowá (ebd., 178) gibt zu Protokoll, dass er weiterhin seine eigene Beteiligung am Gang der Ereignisse ignoriere und stattdessen sich auf externe Faktoren berufe. Damit weist sie auf eine weitere Motivkette hin, die zu seiner technizistischen Weltauffassung gehört – und die wie seine Praxis des unzuverlässigen Erzählens nicht ohne Widerhall in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur geblieben ist. Faber beruft sich wiederholt auf den Zufall, der die Abläufe in der Welt seiner Meinung nach bestimmt, und stellt diesen Begriff dem des Schicksals gegenüber. Diese eigenartige Gegenüberstellung findet sich bei einem anderen fiktiven Erzähler wieder, bei George Efraim, dem Protagonisten des gleichnamigen Romans von Alfred Andersch, der bei Frisch nicht nur die Erzählform borgt, sondern auch die Konfrontation von Zufall und Schicksal (s. u. Kap. IX).

Der von Frisch im Anschluss an Brecht angestrebte Illusionsbruch wird wie im Stiller auch im Homo faber sowohl durch die Unwahrscheinlichkeit der erzählten Geschichte als auch durch die Unzuverlässigkeit des Erzählers erreicht; diese zu erkennen setzt eine Fiktion im Sinne einer als wahr anzunehmenden Realität für die Figuren voraus, in Frischs Worten also eine begrenzte „Illusion“ (Frisch 1950, 601). Der Gantenbein ist der Versuch, diese Art von Fiktion preiszugeben, indem alles fiktionalisiert wird und eine zugrunde liegende innerfiktionale Realität nicht mehr zu haben ist. Der Effekt wäre die vollständige Abschaffung einer durch Fiktion bewirkten Illusion zugunsten eines Spiels mit Fiktionen, die als solche ausgewiesen sind. Der folgende Abschnitt wird zeigen, dass es eine Lesart des Gantenbein gibt, die zeigt, dass die absolute mimetische Uneindeutigkeit der Geschichte nicht zur Gänze durchzuhalten ist, sobald man den dargebotenen Fiktionalisierungsfragmenten aufgrund einiger Textkonstanten eine gewisse Kohärenz zubilligt, die dann zumindest Eckdaten einer fiktiven Geschichte festzulegen erlaubt.

4 Zwischen Möglichkeitserzählen und Unzuverlässigkeit: Mein Name sei Gantenbein (1964) (von Dana Kissling)

Im Anschluss an die Romane Stiller und Homo faber treibt Max Frisch mit Mein Name sei Gantenbein seinen Erzählstil der Verbindung von MetafiktionalitätFootnote 25 und Unzuverlässigkeit in ihrer Anwendung auf das Identitätsproblem auf die Spitze. Ähnlich wie bei den Vorgängerromanen geht es auch in Gantenbein um die Suche nach dem eigenen Ich. Die Art und Weise dieser Suche verläuft aber anders, was insbesondere im Kontrast zu Stiller hervortritt. Während der Protagonist in Stiller schon im ersten Satz seiner Aufzeichnungen eine Behauptung mit Wahrheitsanspruch zu seiner Identität aufstellt, geht der Erzähler des Gantenbein-Romans anders an die Sache heran. Anstatt seine Identität zu postulieren, begibt er sich auf eine IdentitätssucheFootnote 26: „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung…“ (MNG, 8).

4.1 Grundlegendes zur Erzählweise

Die prominenteste räumliche VerortungFootnote 27 des Erzählers erfolgt mittels der wiederkehrenden Szene der verlassenen Wohnung, die der Erzähler einst mit seiner Geliebten, Lila, bewohnt hat (vgl. MNG, 18–20; 198; 313 f.). Diese Szene bildet die Haupthandlung der Rahmengeschichte. Mittels repetitiven Erzählens wird die Szene immer wieder neu aufgerollt und bleibt trotzdem gleich. Was bleibt, sind die Einsamkeit und das Bedürfnis nach einer Geschichte, die die Erfahrung einzufangen vermag. In der Folge erfindet der Erzähler Figuren, die Geschichten erleben, um seiner eigenen Erfahrung möglichst nahe zu kommen. Er erfindet Enderlin, Gantenbein/Philemon und Svoboda, die alle mit der gleichen Frau, Lila/Baucis, in eine Beziehung treten. Die einzelnen Handlungen laufen immer wieder auf dasselbe hinaus: Liebesdreiecke, Eifersucht und schließlich eine gescheiterte Beziehung.Footnote 28

Ein weiteres für den Roman typisches narratives Element, das in der Folge noch wichtig werden wird, sind die (Nicht-)Fiktionalitätsmarker, die verwendet werden, um die Binnenerzählungen einzuführen.Footnote 29 Am häufigsten begegnet man der Formulierung „Ich stelle mir vor“ (z. B. MNG, 98). Davon gibt es aber auch Variationen wie „Oder“, „Möglich“, usw. (MNG, 132). Diese beiden Variationen illustrieren, dass die fiktiven Sachverhalte, die durch Vorstellungsaufforderungen des Erzählers auf den intradiegetischen Ebenen hervorgebracht werden, teilweise aktiv verändert werden. Es werden also konkurrierende Sachverhaltsaussagen „S“ getätigt. Weiterhin werden die Binnengeschichten nicht an einem Stück erzählt. Der Roman ist von einem andauernden Wechsel zwischen der Rahmenerzählung und den verschiedenen Binnenerzählungen gekennzeichnet. Ferner herrscht AchronieFootnote 30: Die zeitlichen Verhältnisse sind meist nur schwer, manchmal auch gar nicht rekonstruierbar.

Kurz: Der Erzähler begibt sich auf eine gedankliche Reise in die Erinnerung und Fiktion. Es entstehen Binnenfiktionen, die, gerade weil sie so nahe an Erinnerungen sind, Grenzfälle zwischen Analepsen und fiktionalen Binnengeschichten darstellen. Das MöglichkeitserzählenFootnote 31 in Mein Name sei Gantenbein hat daher eine metafiktionale Funktion und resultiert in Überschneidungen und Vermischungen von Ebenen.

In der Folge wird eine solche hochgradig metafiktionale Passage näher betrachtet. Die Analyse dieser Passage soll exemplarisch zeigen, wie das Möglichkeitserzählen bei Frisch einhergeht mit Verdachtsmomenten auf mimetische Unzuverlässigkeit, was letztlich zu Frischs Sonderform der Unzuverlässigkeit, der mimetischen Uneindeutigkeit, führt.

4.2 Analyse: Ein näherer Blick auf Enderlin

Die folgende Passage ist insbesondere exemplarisch für Frischs Spiel mit dem Auflösen von Grenzen und dem Brechen von Erwartungen. Bis zu diesem Punkt im Erzählverlauf kann die Erzählanlage des Romans recht ‚einfach‘ beschrieben werden: Ein Mann stellt sich verschiedene Dinge vor. Die Frage, was davon stimmt, stellt sich nicht, denn die Aussagen werden als Binnenfiktionen, als Möglichkeiten, ausgestellt.

Nun befindet sich der Erzähler in einer Bar und trifft die Frau desjenigen, den er eigentlich hätte treffen sollen. Da die Passage von keinem Fiktionalitätsmarker eingeführt ist, kann vorerst davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um einen Teil der Rahmenerzählung handelt. Genauer ist es eine Analepse in der Form einer Erinnerung des Erzählers. „Wir schauen zu, wie der Barmann hantiert: Eis, Whisky, Soda… Der fremde Herr, als er später (ca. 15.30) ihren bloßen Arm faßt, ist verlegen nicht vor ihr, aber vor mir“ (MNG, 63). Dieser fremde Herr ist Enderlin. Die Stelle zeigt eine Metalepse, die daraus besteht, dass der Erzähler (Teil der Rahmenerzählung) und die Figur Enderlin (Teil der Binnenerzählungen) ineinander übergehen, womit gleichzeitig die Grenze zwischen Analepse und Binnenfiktion verwischt wird.

Der Erzähler präsentiert in der Folge zwei verschiedene Versionen dessen, was nach diesem Treffen geschehen könnte. Version (A) zeigt die Geschichte, wie der Mann die Bar verlässt und die Frau nie mehr sieht. Version (B) beinhaltet, dass der Mann die Frau am Abend wiedersieht, daraus zunächst eine Liebesnacht entsteht und später eine Beziehung. Je nach Version ist der Mann aber ein anderer – zumindest wird dieser Eindruck durch den Erzähler vermittelt. In Version (A) fügt sich der Erzähler selbst als Akteur ein; in Version (B) übergibt der Erzähler die Rolle des Akteurs dem fremden Herrn, Enderlin. Da der Erzähler in der Rahmenhandlung anzusiedeln ist, wäre der naheliegendste Schluss, dass sich die Erzählversion (A) auf der extradiegetischen Ebene befindet, Erzählversion (B) jedoch auf einer intradiegetischen Ebene. Somit könnte man schließen, dass Version (A) qua Rahmenhandlung eine Erinnerung ist und deshalb den tatsächlichen Sachverhalt S zeigt, während Version (B) lediglich einen möglichen alternativen Handlungsablauf darstellt. Im weiteren Erzählverlauf zeigt sich aber ein anderes Bild:

Ich stelle mir die Hölle vor:

Ich wäre Enderlin, dessen Mappe ich trage, aber unsterblich, so, daß ich sein Leben, meinetwegen auch nur einen Teil seines Lebens, ein Jahr, meinetwegen sogar ein glückliches Jahr, beispielsweise das Jahr, das jetzt beginnt, noch einmal durchzuleben hätte mit dem vollen Wissen, was kommt, und ohne die Erwartung, die allein imstande ist, das Leben erträglich zu machen, ohne das Offene, das Ungewisse aus Hoffnung und Angst. Ich stelle es mir höllisch vor. Noch einmal: euer Gespräch in der Bar, Geste für Geste, seine Hand auf ihrem Arm […]. (MNG, 123)

Diese Passage illustriert zwei Aspekte. Erstens ist sie klar metaleptisch: Die Vermischung der Akteure und damit der Ebenen zeigt sich erneut in Phrasen wie ‚Ich wäre Enderlin, dessen Mappe ich trage‘. Zweitens sticht die Formulierung ‚noch einmal durchzuleben‘ hervor. Sie setzt voraus, dass der Erzähler genau das, was er als Enderlins Zukunft darstellt, bereits selbst erlebt hat, was zur Vermutung führt, dass Enderlin die Vergangenheit des Erzählers repräsentieren könnte und somit Version (B) den wahren Sachverhalt S darstellt. So erinnert sich der Erzähler an das Kennenlernen mit der Frau in der Bar, woraus eine Beziehung entstehen wird. Er erinnert sich aber nicht nur, sondern versetzt sich erneut in die damalige Lage hinein. Beim Durchspielen der Situation versucht er, nicht mehr dieselbe Rolle anzunehmen, andere Entscheidungen zu treffen und anders zu handeln. Aus diesem Grund verurteilt er Enderlins Verhalten, das nichts weniger darstellt als seine eigenen früheren Handlungen. Dies erklärt auch, warum der Erzähler im Erzählverlauf Enderlin immer wieder verwerfen möchte, was aber nicht gelingt.Footnote 32 Trotz seiner Ablehnung Enderlins ist dieser ein Teil von ihm, den er nie wirklich loswerden kann.Footnote 33

Zurück zur zu analysierenden Passage: Ein Tag später befinden sich die Akteure, Enderlin und der Erzähler, am Flughafen. Das Hin und Her zwischen den Akteuren zusammen mit der Ungewissheit darüber, was wirklich geschehen ist, setzt sich fort, wenn der Erzähler sich fragt, ob Enderlin nach Hause fliegen wird oder ob er der Versuchung nachgibt, wieder zu ihr (Lila) zu gehen:

So oder so:

Einer wird fliegen –

Einer wird bleiben –

Einerlei:

Der nämlich bleibt, stellt sich vor, er wäre geflogen, und der nämlich fliegt, stellt sich vor, er wäre geblieben, und was er wirklich erlebt, so oder so, ist der Riß, der durch seine Person geht, der Riß zwischen mir und ihm, wie ich’s auch immer mache […]. (MNG, 130)

Diese Passage bestätigt die Überlegung, dass Enderlin stärker mit dem Erzähler verstrickt ist, als man anfangs vermuten würde. Einer verkörpert das, was geschah, und der andere das, was hätte geschehen können. Dies ist von Bedeutung, weil folglich die beiden Versionen eben nicht nur Möglichkeiten sind: Eine Version muss sich tatsächlich zugetragen haben. Weiter erhärtet wird diese Hypothese, wenn Version (B) weitererzählt wird. Enderlin bleibt:

Ich stelle mir vor:

Ihr Haus von außen… […]

Ich stelle mir vor:

Fassade verputzt, vierstöckig, Kreuzstöcke aus Sandstein […]

Oder:

Das Haus hat gar kein viertes Stockwerk (ich bin sicher, daß es im vierten Stock war) auf dieser Seite, und man kann nicht um das Haus herumgehen […]

Möglich:

Ein Briefträger, der gerade aus der Türe kommt, fragt Enderlin, wen er suche […]

(Möglich aber nicht wahrscheinlich.)

Sicher:

Ich erinnere mich an den wankenden Widerschein einer Straßenbogenlampe im Wind, wankend die ganze Nacht […] (MNG, 131 f.)

Hier fallen insbesondere die verschiedenen (Nicht-)Fiktionalitätsmarker auf. Der Erzähler verwendet nicht wie üblich nur den Marker ‚Ich stelle mir vor‘, sondern verwendet auch Marker wie ‚Möglich aber nicht wahrscheinlich‘ und ‚Sicher‘. An dieser Stelle autorisiert der Erzähler einerseits das vierte Stockwerk: ‚ich bin mir sicher, daß es im vierten Stock war‘ und die Straßenbogenlampe: ‚Sicher: Ich erinnere mich an den wankenden Widerschein einer Straßenbogenlampe im Wind‘. Somit sagt der Erzähler explizit, dass er sich zumindest an die Lage der Wohnung erinnert und sich diese nicht nur vorstellt, und er gibt folglich implizit zu, dass er die Nacht eben doch in dieser Wohnung verbracht hat und nicht im Hotel. So rückt diese spezifische Form des Möglichkeitserzählens immer näher an das Paradigma des unzuverlässigen Erzählens. Die Sachverhaltsaussagen „S“ der Version (B) wirken immer schlüssiger, während die Sachverhaltsaussagen „S“ der Version (A) immer mehr Widersprüchlichkeiten aufweisen.

Das Vorstellungs- und Erinnerungsspiel kulminiert schlussendlich in den Gedanken des Erzählers, der sich im weiteren Verlauf der Version (A) im Flugzeug befindet:

Ich bin doch gespannt:

wer mich jetzt am Flughafen erwartet.

Ich schaue:

wenn sie schwarzes Haar hat und wassergraue Augen, große Augen und Lippen voll, aber so, daß sie die oberen Zähne nie verdecken, und ein winziges Muttermal hinter dem linken Ohr, dann bin ich’s, der damals nicht geflogen ist. (MNG, 137)

Diese Textstelle zeigt eine der wohl frappantesten Anomalien des Romans. Zusätzlich zu der bisher dargelegten Verflochtenheit Enderlins und des Ichs tritt in diesem Zitat eine zeitliche Komponente hinzu. ‚Dann bin ich’s, der damals nicht geflogen ist‘ birgt einen zeitlichen Widerspruch, denn wenn sie ihn am Flughafen erwartet, müsste dieser Flug viel später stattfinden, als der Erzählzusammenhang suggeriert. Zudem impliziert die Aussage, dass der Erzähler für dieses Handlungsresultat gleichzeitig fliegen und nicht fliegen muss.Footnote 34 Diese Anomalie in der Form einer mise en abyme erhärtet den Verdacht auf mimetische Unzuverlässigkeit. Die wichtigste falsche Sachverhaltsaussage, die der Erzähler in der ganzen Passage implizit tätigt, ist, dass Enderlin eine Erfindung, beziehungsweise eine Möglichkeit ist. Das Möglichkeitserzählen funktioniert aber genau andersherum. Enderlin repräsentiert das, was geschah, während der Erzähler in seinem Erinnerungsspiel versucht, anders zu handeln. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Auch wenn er fliegt und somit anders handelt als sein früheres Ich, erwartet ihn die Frau am Flughafen.

Im weiteren Erzählverlauf stellt sich jedoch heraus, dass sich mimetische Unzuverlässigkeit im strengen Sinne doch nicht attestieren lässt. Dieselben Szenen werden erneut durchgespielt mit der Abänderung, dass Lila ein Kind hat: „Soeben bemerkte ich nicht ohne Schrecken, daß Lila, wie immer ich sie mir bisher vorzustellen versucht habe, nie ein Kind hat. Ich habe einfach nie dran gedacht. Ein Kind von wem?“ (MNG, 263). So, wie der Erzähler die Szene einführt, liegt zwar der Schluss nahe, dass dies nur eine Möglichkeit ist, sonst hätte er wohl nicht vergessen, sich Lila mit Kind vorzustellen. Trotzdem rüttelt diese Abänderung am Befund, dass es sich bei der ersten Version mit Enderlin als Akteur überhaupt um eine mit Metalepsen durchzogene Analepse handelt oder eben doch nur um eine weitere Möglichkeitserzählung. Dass es sich bei den Sachverhaltsaussagen „S“ der Erzählrede N bezüglich der Version (B) um S handelt, ist nach wie vor wahrscheinlich, aber nicht sicher.

Am Schluss bleiben die sich konkurrierenden Sachverhaltsaussagen „S“ nebeneinander stehen und der wahre Sachverhalt S kann nicht abschließend ermittelt werden. Gleichzeitig handelt es sich aber auch nicht um einen klassischen zuverlässigen Erzähler. Dies liegt daran, dass das Möglichkeitserzählen eben nicht so funktioniert, wie man anfangs meinen könnte. Präsentiert werden nicht voneinander abgrenzbare, verschiedene Binnenfiktionen, von denen alle denselben hypothetischen Status haben. Durch den Einbezug der Rahmenhandlung und verschiedene Autorisierungsandeutungen kommt immer wieder der Verdacht auf, dass sich eine Version wirklich zugetragen haben könnte. So wird die Erzählanlage des Romans zum Paradebeispiel für Frischs Sonderfall der mimetischen Uneindeutigkeit durch die Verbindung von Metafiktionalität und Techniken des unzuverlässigen Erzählens.

4.3 Interpretation

Zur Frage, warum Mein Name sei Gantenbein mimetisch uneindeutig erzählt ist, kann folgende These aufgestellt werden:

TU:

In Mein Name sei Gantenbein wird das Möglichkeitserzählen ergänzt mit Techniken mimetischer Unzuverlässigkeit, weil sowohl zuverlässiges als auch unzuverlässiges oder metafiktionales Erzählen allein die Erfahrung der Realität des Erzählers weniger adäquat abbilden würden.

Der Erzähler tritt als einer auf, der die passende Geschichte zu seiner Erfahrung sucht und deshalb „Geschichten an[probiert] wie Kleider“ (MNG, 22). Somit wird bereits in der Ausgangslage des Romans offensichtlich, dass zunächst nicht von Interesse ist, ob ein Sachverhalt S besteht oder nicht. Trotzdem sind die Sachverhalte nicht beliebig und nicht zufällig. Offenbar gibt es ein Substrat aus Erlebnissen, das sie speist. Daraus folgt weiterhin, dass nicht alle S mit Bezug auf ihren epistemischen Status gleich sind. Gerade weil die Geschichten im Detail zwar variabel, in Bezug auf ihre Grundmuster aber relativ konstant sind, können grundlegende Sachverhalte herausgearbeitet und als bestehend vorausgesetzt werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Erzähler eine gescheiterte Beziehung verarbeitet oder dass die Figuren Varianten seines Ichs repräsentieren. Weiterhin gibt es wenige Details, wenige Teile des Puzzles, die scharf gestellt werden: „Sicher: Ich erinnere mich an den wankenden Widerschein einer Straßenbogenlampe im Wind“ (131 f.).

Die Suche des Erzählers besteht aus dem Durchspielen sinnstiftender Geschichten, um irgendwann die Erfahrung in eine adäquate Lebensgeschichte integrieren zu können. Mit diesem Ziel müssen die klassischen Techniken des zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählens gleichermaßen verworfen werden, denn beide setzen einen klar ermittelbaren Sachverhalt S voraus. Gleichzeitig ist aber auch das Möglichkeitserzählen in seiner klassischen Form nicht geeignet, denn dort geht man davon aus, dass keine Version der Sachverhaltsaussagen „S“ stimmt. Aus diesem Grund wird das metafiktionale Erzählen kombiniert mit Techniken des unzuverlässigen Erzählens, womit illustriert werden soll, dass die verschiedenen Versionen alle einen wahren Kern haben. Dabei werden sie kontinuierlich als mehr oder weniger wahrscheinlich ausgezeichnet. Lesende müssen sich auf ein besonderes Spiel einlassen, um an die Wahrheit heranzukommen. Nicht nur werden verschiedene Versionen präsentiert, sondern gleichzeitig werden sie mit Elementen versehen, die Lesende dazu einladen, den Sachverhalt S doch ermitteln zu wollen. Die Möglichkeiten sind nicht reine Binnenfiktionen, sondern gewissermaßen ein Echo auf die in Mein Name sei Gantenbein bestehenden Sachverhalte, ohne dass sich für jeden einzelnen einwandfrei ermitteln ließe, ob er nun besteht oder nicht.

Kurz: Was der Erzähler im Modus des Möglichkeitserzählens präsentiert, sind verschiedene Entwürfe möglicher Welten. Dabei bleibt am Schluss offenFootnote 35, welche der Binnenerzählungen im Detail der wahren Geschichte am nächsten kommt. Eine Auflösung ist auch nicht nötig, denn sicher ist: Das, was der sich immer wieder in seine Binnenfiktionen einmischende Erzähler seine Figuren tun lassen möchte, ist nicht so geschehen. Dies kann nicht nur bei Enderlin, sondern auch bei den anderen Figuren gezeigt werden, hier zum Beispiel in Bezug auf Philemon: „Es wäre ihm lieber, wenn ich nicht zugegen wäre. Ich weiß ja schon, daß er es überleben wird. Ob sie den andern wirklich liebe und wie sie sich die Zukunft vorstelle, lauter Fragen, die ich auch schon gestellt habe, ich kann’s nicht hindern, daß Philemon sie trotzdem stellt; aber ohne meine Anteilnahme“ (MNG, 183 f.). Immer, wenn der Erzähler machtlos bezüglich seiner eigenen Erfindungen ist, lässt sich erahnen, dass die Wahrheit wohl näher ist, als der Erzähler zu verstehen geben möchte. Der fehlende Einfluss, den der Erzähler auf seine Fiktionen hat, lässt die Binnenfiktionen immer wieder näher an Analepsen in der Form von Erinnerungen rücken.Footnote 36

Der springende Punkt der Uneindeutigkeit ist damit nicht, dass keine Version wahr ist, sondern dass allein alle sich teilweise sogar widersprechenden Handlungsstränge der möglichen Welten in ihrem Neben-, Gegen- und Miteinander so nahe wie nur möglich an die tatsächliche Erfahrung des Erzählers und somit an S herankommen. Der Erzähler verrät sich durch das Erzählen. Einen ähnlichen Gedankengang artikuliert Max Frisch selber in seiner Poetik-Vorlesung von 1981:

Die Fiktion entlarvt unsere Erfahrung der Realität.

Ich behaupte:

Wenn Sie mir nichts von Ihrem Leben erzählen, nichts von der Not mit dem Vater oder was immer es sei, nichts von alledem, keine Memoiren – wenn Sie, stattdessen, nur fantasieren und wenn ich von Ihnen siebenundsiebzig Geschichten gehört habe, traurige und lustige, lauter erfundenes Zeug, so haben Sie von Ihrer wirklichen Person mehr verraten, als wenn Sie, und sei es noch so ehrlich, Ihre Biographie erzählen.

Ich meine:

Es gibt keine Fiktion, die nicht auf Erfahrung beruht. (Frisch 2008 [1981], 30)

4.4 Noch einmal: Brecht bei Frisch

Im Rahmen dieser Betrachtungen darf ein Blick auf die Spuren Brechts in Mein Name sei Gantenbein nicht fehlen. Frischs Idee, „das Epische aus dem Theater zurück in die Epik zu holen“ (Kindt 2018[b], 99), wird wohl in keinem anderen Roman so konsequent verwirklicht. Zentral für das Brecht’sche „anti-illusionistische Erzählen“ (ebd.) bei Frisch ist das Erzählen von Varianten. Durch das Nebeneinanderreihen, Vermischen und gegenseitig Konkurrierende der Ich-Entwürfe des Erzählers geschieht der Illusionsbruch. Dies ist genauer zurückzuführen auf die Strategien der Metafiktionalität und Unzuverlässigkeit, die in Anlehnung an Brecht als V-Effekte verstanden werden können. Dadurch wird sowohl die Fiktionsillusion (a.) als auch die Natürlichkeitsillusion (b.) gebrochen, was in der Folge genauer erklärt werden soll.

(a.) Dass Metafiktionalität die Fiktionsillusion durchbricht, ist dem Phänomen inhärent und muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Darüber hinaus dient die Unzuverlässigkeit in diesem Fall der Bewusstmachung der Wahrheit in der Fiktionalität. Auch wenn die Sachverhaltsaussagen der Binnenfiktionen im Detail nicht den tatsächlichen Sachverhalten der fiktiven Welt entsprechen, verrät sich der Erzähler in seinen persönlichen Themen: Herzschmerz, Eifersucht und Identität. Oder wie Frisch selbst in seinem Aufsatz „Ich schreibe für Leser. Antworten auf vorgestellte Fragen“ formuliert: „Nicht beliebig, nein, aber die Person ist eine Summe von verschiedenen Möglichkeiten, meine ich, eine nicht unbeschränkte Summe, aber eine Summe, die über die Biographie hinausgeht. Erst die Varianten zeigen die Konstante“ (Frisch, GW, V.2, 327).

(b.) Auch die Natürlichkeitsillusion wird in Mein Name sei Gantenbein gebrochen, indem der Unterschied zwischen Realität und deren Interpretation zu einer der grundlegenden Problemstellungen des Romans wird. Illustriert werden kann dies anhand der Geschichte des Pechvogels, der im Lotto gewinnt, nur um gleich darauf die volle Brieftasche zu verlieren:

Und ich glaube, es war ihm lieber so […] andernfalls hätte er sich ja ein anderes Ich erfinden müssen, der Gute, er könnte sich nicht mehr als Pechvogel sehen. Ein anderes Ich, das ist kostspieliger als der Verlust einer vollen Brieftasche, versteht sich, er müsste die ganze Geschichte seines Lebens aufgeben, alle Vorkommnisse noch einmal erleben, und zwar anders, da sie nicht mehr zu seinem Ich passen – (MNG, 52)

Diese Geschichte zeigt, dass die gleiche Erfahrung eine völlig unterschiedliche Bedeutung für das eigene Leben haben kann, je nachdem, welches Verständnis man für sich selbst hat. Die meisten Menschen würden sich wohl über einen Lottogewinn freuen. Der Pechvogel aber ist erschüttert: „Es war ein Schlag für ihn […]. Als ich ihn auf der Straße traf, war er bleich, fassungslos, er zweifelte nicht an seiner Erfindung, ein Pechvogel zu sein, sondern an der Lotterie, ja, an der Welt überhaupt“ (MNG, 51). Analog funktioniert die Identitätssuche des Erzählers. Je nach Figur, anhand derer er Teile seiner Erfahrung verhandelt, werden andere Schwerpunkte der ‚realen‘ Erfahrung zentral, weil die Figuren andere Rollen, andere Identitäten repräsentieren. So geht es bei den Gantenbein-Binnengeschichten oft um den Umgang mit Eifersucht, während bei Enderlin immer wieder Beziehungsangst und Selbsttäuschung thematisiert werden.Footnote 37 Die Metafiktionalität als V-Effekt erreicht den Bruch der Natürlichkeitsillusion also dadurch, dass anhand des Durchspielens von Möglichkeiten die Lebensgeschichte als Konstruktion entlarvt wird. Eine Erfahrung bleibt nicht Erfahrung, sondern wird früher oder später in die Geschichte des eigenen Lebens integriert und verliert damit schleichend ihren Realitätsbezug. Die Unzuverlässigkeit als V-Effekt knüpft an diesen Bruch an und bietet einen Lösungsansatz. Dadurch, dass Widersprüchlichkeiten und Realitätsferne nicht nur akzeptiert, sondern aktiv ausgereizt werden, ist die Ausgangslage für eine erneute Annäherung an die Realität geschaffen. Dies wird anhand des Erzählers gezeigt, der gerade dadurch, dass er die wahren Sachverhalte S zu verschleiern versucht, sich in seinen tatsächlichen Verhaltensmustern verrät und die Realität, die Natürlichkeit, so wieder näher heranrücken lässt. Passend hat der Erzähler gegen Ende des Romans folgende Einsicht über sich selbst: „Ich möchte im Innersten verraten sein. Das ist merkwürdig“ (MNG, 270).

4.5 Axiologische Unzuverlässigkeit

Abschließend wird hier die Frage beleuchtet, inwiefern der Roman auch axiologisch unzuverlässig erzählt ist. Insbesondere wenn man die Figuren der Binnenfiktionen als Teile der Vergangenheit und der Verhaltensmuster des Erzählers versteht, mangelt es nicht an Handlungen, die im Romanganzen als nicht gut bewertet würden. So zum Beispiel die Variationen eifersüchtigen Verhaltens der Binnenfiguren. Dadurch, dass der Erzähler aber seine Verhaltensmuster von sich abspaltet und diese laufend kritisiert, kann dort keine axiologische Unzuverlässigkeit festgestellt werden. Einen weiteren Ansatz, den man verfolgen könnte, ist eine genauere Betrachtung der Gerichtsverhandlung rund um Camillas Tod. Dort wird dadurch, dass Gantenbein den Beschuldigten nicht entlastet, um seine Rolle nicht auffliegen zu lassen, die moralische Schattenseite des Spiels mit Rollen und Identitäten beleuchtet. Der Erzähler bemerkt als Abschluss nüchtern: „Jede Rolle hat ihre Schuld… Ich bin gespannt auf den Wahrspruch“ (MNG, 279). Diese Bemerkung zeigt zwar Einsicht, jedoch keine Verurteilung. Da die Handlung Gantenbeins aber in einer Binnenfiktion stattfindet, die der Erzähler selbst erschaffen hat, gelten dort prinzipiell auch dessen moralische Regeln, was eine Ermittlung eines externen Bezugsrahmens B verunmöglicht. Aufgrund dieser Schwierigkeiten wird klar, dass ein übergeordneter Wert, der auch auf der Rahmenhandlung gilt, ermittelt werden muss. Der Erzähler muss losgelöst von seinen Fiktionen und innerhalb der Welt, in der er tatsächlich lebt, bewertbar werden.

Als Grundlage dient erneut das Beispiel des Pechvogels. Die dort geschilderte Situation kann auf die Ausgangslage des Erzählers übertragen werden. In der verlassenen Wohnung sitzend, steht er vor einer Entscheidung: ein neues Ich oder die Wiederholung. Mittels der Analogie des Pechvogels liegt der Schluss nahe, dass das kostspieligere Vorgehen der Suche nach einem neuen Ich besser wäre, da sich der Pechvogel sonst mittels selbsterfüllender Prophezeiung immer wieder selbst zum Pechvogel macht.Footnote 38 Zudem wird in der Geschichte des Pechvogels geradezu unterstrichen, dass dieser sich selbst belügt: „[E]r zweifelte nicht an seiner Erfindung, ein Pechvogel zu sein, sondern an der Lotterie, ja, an der Welt überhaupt“ (MNG, 51) Auch die Tatsache, dass der Roman exakt aus diesen verschiedenen Selbstentwürfen besteht, die die Suche nach einem neuen Ich illustrieren, legt nahe, dass der Erzähler dieses Vorgehen als das bessere bewertet. Jedoch behauptet er an anderer Stelle plötzlich das Gegenteil: Ein Botschafter hat die Einsicht, „dass er gar nicht die Exzellenz ist, für die ihn die Welt […] zu halten vorgibt“ (MNG, 119). Doch er tritt nicht zurück. „Er wählt das Größere: die Rolle.“ (ebd.) Und die Rolle zu wählen bedeutet, sich mit dem alten Ich, der alten Geschichte und der Wiederholung zu arrangieren. Diese konkurrierenden Wertaussagen „W“ werden noch durch eine erst spät im Erzählverlauf auftretende dritte Lösungsvariante ergänzt. Plötzlich idealisiert der Erzähler die Vorstellung, gar keine Geschichte zu haben. Im Kontext der schwimmenden Leiche in der Limmat bemerkt er zum Schluss resigniert: „Dabei hätte er’s beinahe erreicht, […] [a]bzuschwimmen ohne Geschichte“ (MNG, 319). Somit enthält die Erzählrede N drei verschiedene Wertaussagen „W“, die miteinander konkurrieren.

Um den tatsächlichen Wert W der erzählten Welt zu eruieren, hilft ein Blick auf den Schluss des Romans. Dieser zeigt, dass der Erzähler es irgendwie geschafft hat, wieder zufrieden zu sein. Geschildert wird eine Idylle, präsent ist die Gegenwart, nicht die Vergangenheit: „Alles ist wie nicht geschehen… […] alles ist Gegenwart, […] Leben gefällt mir –“ (MNG, 319 f.). Wie der Erzähler an diesen Punkt gelangt ist, bleibt jedoch offen. Hat er seine Geschichte verändert und ein neues Ich kreiert; hat er seine alte Geschichte und somit sein altes Ich akzeptiert; oder ist er abgeschwommen ohne Geschichte und hat ergo vielleicht alles verdrängt? So herrscht auch in Bezug auf die Axiologie Uneindeutigkeit vor.Footnote 39 Der Erzähler steht eingangs vor einer Identitätskrise, für deren Lösung er verschiedene Wege aufzeigt, die er allesamt sowohl gutheißt als auch dementiert. Gerade weil er unzuverlässige Anteile in sich hat, hat er mehr narrative Freiheiten und kann diese Widersprüche bestehen lassen. Er kann die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit und somit auch sich selbst mit seinen wertbezogenen Gegensätzen fassen.

4.6 Fazit

Es wurde gezeigt, dass Mein Name sei Gantenbein gerade kein Paradefall des Möglichkeitserzählens oder des unzuverlässigen Erzählens ist, sondern der Paradefall der Kombination der beiden Erzähltechniken, der mimetischen Uneindeutigkeit. Im Roman werden zunächst verschiedene Möglichkeiten entworfen, die der Erzähler sukzessive als wahrscheinlicher, dann wieder als weniger wahrscheinlich auszeichnet. So oszilliert sein Erzählverhalten zwischen Möglichkeitserzählen und unzuverlässigem Erzählen. Das zentrale Merkmal der Möglichkeiten ist, dass sie wahre Kerne haben, aus denen grundlegende Sachverhalte S abgeleitet werden können. Es sind solche S, mit denen der Erzähler sein unzuverlässig geprägtes Versteckspiel treibt. Am Beispiel von Enderlin wurde gezeigt, wie bei zwei alternativen Handlungsabläufen immer evidenter wird, welcher dem zu Grunde liegenden Sachverhalt S näherkommt. Was als zwei Möglichkeiten begann, entpuppte sich letztlich als eine Möglichkeit und eine höchst wahrscheinlich wahre Version. Was genau geschah, kann aber trotzdem nicht mit hundertprozentiger Sicherheit bestimmt werden.

In dieses Bild fügt sich die Betrachtung der axiologischen Unzuverlässigkeit ein. Auch dort lassen miteinander verschiedene miteinander konkurrierende Wertaussagen ermitteln, die nebeneinander stehen bleiben. Dem kann die Funktion zugeschrieben werden, zu illustrieren, dass eine Person auch wertbezogene Widersprüche in sich vereinen kann.

Die Techniken des metafiktionalen und unzuverlässigen Erzählens können schließlich als V-Effekte verstanden werden. Die Rolle der Unzuverlässigkeit ist dabei, den durch die Metafiktionalität entstandenen Bruch wiederum zu brechen. Wenn durch die Metafiktionalität die Fiktionsillusion gebrochen wird, dient dies der Bewusstmachung der Fiktionalität. Die Unzuverlässigkeit bricht den Eindruck der Fiktionalität, indem ihre Zuschreibung voraussetzt, dass es Wahrheit in der Fiktionalität gibt, dass das, was als fiktional oder bloß möglich ausgegeben wird, etwas Wahres als Grundlage hat. Der Bruch der Natürlichkeitsillusion durch Metafiktionalität bewirkt die Bewusstmachung der Lebensgeschichte als Konstruktion. Die Unzuverlässigkeit als V-Effekt knüpft wiederum am Resultat des Illusionsbruchs durch Metafiktionalität an. Die verschiedenen, aneinandergereihten Möglichkeiten werden in ihrer offensichtlichen Widersprüchlichkeit zur Ausgangslage dafür, sich der Realität wieder annähern zu können.

Auf der Grundlage aller Betrachtungen wird die mimetische Uneindeutigkeit insbesondere durch ihren Anteil an Unzuverlässigkeit zum Lösungsansatz für den Umgang mit Erfahrung. Der Lösungsweg ist das Fingieren. Das Ziel ist die Fülle an Geschichten, die bewusste Entfernung von der Realität, um in einem zweiten Schritt ein Stück der Wahrheit, der Realität und des wahren Ichs zwischen den Zeilen zu finden. Um mit den Worten des Romans zu schließen: „‚Ich kann es mir nur vorstellen.‘ Das ist das Wahre an der Geschichte“ (MNG, 117).