Die Autoren, deren Werke Gegenstand dieses Kapitels sind, scheinen auf den ersten Blick nicht viel miteinander gemein zu haben – bis auf die Tatsache, dass sie alle der Gruppe 47 fernstanden. Sie alle gelten als Einzelgänger oder hielten sich dafür. Warum sie hier durch die Kapitelanlage zusammengefasst werden, hat jedoch andere Gründe. Sie repräsentieren teilweise eine literarische Strömung, die die Nachkriegszeit zu Beginn, jenseits der Trümmer- und Kahlschlagliteratur, dominierte und noch in die Vorkriegszeit zurückreicht. Das Zentrum dieser Strömung wird von Autoren gebildet, die um 1900 geboren wurden. Dazu zählen Elisabeth Langgässer, Hermann Kasack, Ernst Kreuder, Horst Lange, aber auch Hans Erich Nossack und Heinz Risse. Gerade von letzteren beiden sind einige Werke für die Frage nach dem unzuverlässigen Erzählen interessant.

Der Hauptgrund für die Integration ihrer Werke in diese Untersuchung liegt in diesen selbst begriffen: Die Welten, die in diesen Werken entworfen werden, sind eigen und problematisch, d. h. so gestaltet, dass sie dem unzuverlässigen Erzählen konzeptionell nicht entsprechen, weil die Mimesis-Präsumtion (s. o. Abschn. I.2.1) nicht zu gelten scheint. Aus demselben Grund sind in dieses Kapitel auch Analysen von Autoren aufgenommen, die jünger sind und nicht dem genannten Autorenkreis zugerechnet werden können. Denn die (vermeintliche) Instabilität der erzählten Welt spielt auch in den Werken von Marlen Haushofer, Arno Schmidt und Thomas Bernhard eine Rolle. Freilich ist sie nicht auf diese Autoren beschränkt. Sie wird uns auch später noch beschäftigen.

1 Instabile Welten als Herausforderung für das unzuverlässige Erzählen

1.1 Die „vermurkste Realität“ (Ernst Kreuder)

Was ist das Problem mit diesen (vermeintlich) instabilen Welten? Wenn, wie anscheinend in Hans Erich Nossacks Spätestens im November (1955), eine Erzählerin sich am Ende als tot herausstellt, wird dem vorher über weite Strecken mimetischen Erzähldiskurs der Boden entzogen. Unzuverlässig erzählt wäre der Roman unter dieser Interpretation höchstens insofern, als die Erzählerin lange indirekt zu verstehen gibt, dass die Mimesis-Präsumtion gilt (weil sie nichts erzählt, was uns übernatürlich o. dgl. erscheint), am Ende aber sich erweist, dass sie nicht gilt, weil sie von ihrem eigenen Tod erzählt. Das allerdings wäre wohl keine sonderlich ergiebige Zuschreibung. Man würde eine andere Interpretationsrichtung einschlagen. Die erzählte Welt wäre nämlich instabil, weil man – vorausgesetzt, diese Interpretation stimmte – am Ende annehmen müsste, dass die Naturgesetze, wie wir sie kennen, in dieser erzählten Welt zumindest hinsichtlich des Lebens der Protagonistin und Ich-Erzählerin nicht gelten. Was wahr ist und was falsch, ließe sich dann nicht mehr unterscheiden, die Mimesis-Präsumtion wäre außer Kraft und die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit an die Ich-Erzählerin sinnlos. Man würde nun stattdessen danach fragen, was es zu bedeuten hat, dass plötzlich ein übernatürlicher Vorgang die Romanwelt bereichert.Footnote 1 Kommt man jedoch zu dem Schluss, dass die Rede von ihrem eigenen Tod in den Bereich dessen fällt, wovon die Erzählerin unzuverlässig berichtet, wäre die Welt stabil.

Für die Zuschreibung der Kategorie mimetischer Unzuverlässigkeit ist es eine unabdingbare Voraussetzung, dass die Welt, von der erzählt wird, stabil ist. „Stabil“ heißt in diesem Zusammenhang, dass über die Eigenschaften dieser Welt in dieser Welt wahre oder falsche Aussagen getroffen werden, d. h. Aussagen, die das Potential in sich tragen, falsch bzw. widerlegbar zu sein.Footnote 2 Die Welt müsste nicht in dem Sinne realistisch sein, dass sie keine übersinnlichen Züge trägt. Daher kann man den alten Terminus „mimetisch“ bemühen, um Missverständnisse, die der literaturgeschichtlich festgelegte Begriff des Realismus provoziert, zu vermeiden und zugleich der epistemischen Grundstruktur der betreffenden literarischen Werke Rechnung zu tragen. Doch wenn man sich die erzählten Welten anschaut, die tatsächlich Gegenstand unzuverlässigen Erzählens sind, dann sind wohl die meisten dieser Welten nicht nur mimetisch strukturierte, sondern auch in dem Sinne realistische Welten, dass sie von den im Allgemeinen akzeptierten rational-wissenschaftlichen, naturgesetzlichen Vorstellungen nicht abweichen.

Es ist darum kein Wunder, dass eines der frühesten erfolgreichen Werke der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur nicht unzuverlässig erzählt ist. Ernst Kreuders Die Gesellschaft vom Dachboden (1946) wird vom Autor selbst als „Versuch“ charakterisiert, „der eingeschworenen penetranten Grabesdüsternis der jüngeren deutschen Literatur zu entgehen, dem sogenannten ‚bitteren Realismus‘, der sich damit begnügte, mit Krematoriumsklängen unabwendbare Schicksale in der Liebe oder im Leben […] darzustellen“ (Kreuder 1977 [1945], 217). Unter Realismus verstand Kreuder den offen erkennbaren Zeitbezug, d. h. die durch faktuale Referenzen erzielte Fundierung der erzählten in der realen Welt. Im selben Brief an Horst Lange verleiht er seiner Hoffnung Ausdruck, „jener Zeit deutscher Bücher anzugehören, die man zu jeder Zeit lesen kann“ (ebd., 216). Um das zu erreichen, um also seinem Werk überzeitliche Bedeutung zu sichern, erteilt er der Einbindung der Wirklichkeit in seine Literatur eine Absage. In einem Brief vom 17.11.1947 schreibt er: „Fern liegt mir jeder sogenannte ‚Realismus‘. Der ist für mich nur eine andere Art von Geschichtsschreibung“ (ebd., 230).Footnote 3 Aus seinen Briefen spricht ein tiefsitzendes Ressentiment gegen die Autoren der Weimarer Republik, insbesondere gegen jene, die dem Umfeld der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden. Dabei fällt auch der Name Neumann (ebd., 219). Ob er Alfred oder Robert meint, ist unklar. Deutlich aber wird sein Literaturkonzept, das damals von vielen, nicht zuletzt von Literaturwissenschaftlern, geteilt wurde: dass nämlich Literatur zuständig ist für eine tiefere Wahrheit. Das unzuverlässige Erzählen aber ist ein Verfahren, das eher von Skeptikern genutzt wird.Footnote 4

Mit Bezug auf Die Gesellschaft vom Dachboden bekennt Kreuder, dass er zwar „etwas Heiteres darzustellen“ versucht habe, gewissermaßen als Antidot zu den oben erwähnten „Krematoriumsklängen“, aber „leider nicht ohne ‚doppelten Boden‘, nicht ohne ‚Untergründigkeit‘“ (ebd., 217). Die Metapher des doppelten Bodens wird auch gern zur Beschreibung des unzuverlässigen Erzählens verwendet (s. o. Abschn. II.4). Hier aber verweist sie auf das Anliegen, mit der heiteren Geschichte eine höhere, rational nicht zu erfassende Wahrheit zu vermitteln. Der doppelte Boden liegt in der Beschaffenheit der Welt, nicht im Ich-Erzähler. Kreuder kommt es prinzipiell darauf an, „durch diese vermurkste Realität hindurchzustossen in die Firmamente einer essentiellen, schwebenden, symbolträchtigen zeitlosen Welt“ (ebd. [1946], 224). Einerseits treffen die Mitglieder der titelgebenden Gesellschaft sich auf dem Dachboden eines Kaufhauses, andererseits trägt die Welt märchenhafte Züge. Man muss diese Welt akzeptieren, wie sie geschildert ist. Sie ist insofern stabil, als die Erzählrede im Prinzip auch falsche Aussagen über sie enthalten könnte, wenngleich sie, soweit ich sehe, das nicht tut. Ob sie auch homogen ist, steht auf einem anderen Blatt und muss hier nicht weiter erörtert werden. Gegen ihre Homogenität spricht, dass die Figuren teilweise Eigenschaften – kindliche und erwachsene – aufweisen, die in unserer Welt nicht in der Weise zusammengehen. Die Inkonsistenzen, die zu dem Werk gehören, sind Merkmale der erzählten Welt, nicht des Erzählers namens Berthold. Die gesamte Welt der Gesellschaft vom Dachboden ist demnach unrealistisch gestaltet, aber mimetisch zuverlässig dargestellt.

Dass mit mimetischer Zuverlässigkeit nicht unbedingt auch axiologische Zuverlässigkeit einher geht (und mit mimetischer Unzuverlässigkeit nicht unbedingt axiologische Unzuverlässigkeit), ist eine Möglichkeit, mit der man immer rechnen sollte. Allerdings gilt für die Werke, die man dieser literaturgeschichtlichen Strömung zurechnen kann, dass ihre Erzählinstanzen axiologisch zuverlässig sind. Das scheint mir auch der inneren Logik dieser Werke zu entsprechen, deren alternative Welten dazu da sind, positive Gegenwelten zu erschaffen, die der als trist empfundenen Realität entgegengesetzt werden. Wie die Analysen dieses Kapitels zeigen, sind selbst mimetisch unzuverlässige Erzählinstanzen axiologisch weitgehend zuverlässig.

1.2 Zwischen Tradition und Innovation

Das mimetisch unzuverlässige Erzählen (in seiner prototypischen Form) wahrt nach außen hin eine traditionelle Form. Das soll heißen, dass man einem unzuverlässig erzählten Roman nicht sofort ansieht, dass die Erzählinstanz ihre Welt in Teilen falsch darstellt. „Traditionell“ bedeutet, dass die Form an Romane bzw. Erzählungen des 19. Jahrhunderts erinnert, in denen das epistemische Privileg der Erzählinstanz in der Regel nicht angetastet wird.Footnote 5 Der modernetypische Zweifel an der Welt bzw. der Weise, wie wir sie wahrnehmen, wird beim unzuverlässigen Erzählen darum nicht über die Form geweckt – wie in formal innovativer Literatur mit den Mitteln z. B. der Montage, des Fragments oder des Bewusstseinsstroms –, sondern über Anomalien in der Sachverhaltsdarstellung; Ungereimtheiten also, die es als solche zu erkennen und in einer Reinterpretation des von der Erzählinstanz zu verstehen Gegebenen auszuräumen gilt.

Auch ein sensibler Literaturkritiker wie Wolfgang Grözinger, der von 1952 bis zu seinem Tod 1965 für die katholische Zeitschrift Hochland (als am Niederrhein geborener Protestant) zunächst zweimal, dann dreimal im Jahr Sammelrezensionen zu neu erschienenen Romanen veröffentlichte, durchschaute diese Schreibweise nicht, wie aus seinen Angaben zu zwei Romanen von Ernst Weiß hervorgeht. Nach der Publikation von Weiß’ letztem Roman Ich – der Augenzeuge aus dem Nachlass erschien 1965 eine Neuausgabe des 1936 erstmals publizierten Exilromans Der arme Verschwender. Da beide Romane im medizinischen Milieu angesiedelt sind und Weiß Arzt war, missdeutet der Kritiker sie als autobiographische Dokumente einer vergangenen Epoche. Nicht völlig zu Unrecht zwar sieht er den letztgenannten Roman in der Tradition des psychologischen Romans, an den Der arme Verschwender nach außen hin tatsächlich anknüpft. Da der Rezensent aber die den gesamten Roman durchziehende Unzuverlässigkeit des Erzählers nicht durchschaut, versteht er ihn bloß als historisches Sittengemälde. Grözinger (2004 [1965], 469) zufolge

führt der Roman stilistisch zum psychologischen Roman der Jahrhundertwende zurück, der für uns heute mehr dokumentarischen als literarischen Wert besitzt. Der autobiographische Einschlag des Buches ist bedeutend, und so nimmt man es vor allem aus menschlichem Interesse für den Autor und die Zeit der späten Donaumonarchie zur Kenntnis. In dieser Hinsicht ist es allerdings eine wahre Fundgrube historischer Information.

Tatsächlich macht der Erzähler sich und anderen ständig etwas vor, und es ist sehr schwierig, bisweilen gar unmöglich, zu ermitteln, was in der erzählten Welt der Fall ist.Footnote 6

Doch narrative Unzuverlässigkeit ist nicht auf einen vordergründigen Realismus festgelegt. Wie die vorliegende Untersuchung deutlich machen wird, ist das Verfahren narrativer Unzuverlässigkeit im Nachkriegsroman häufig in Kombination mit anderen modernetypischen Verfahren anzutreffen. Da solche anderen Verfahren wie Montage und Fragmentierung vordergründiger in dem Sinne sind, dass man sie auf den ersten Blick erkennt und dass sie das Verständnis der erzählten Welt von vorneherein erschweren, dominieren sie auch die Interpretation und die literaturgeschichtliche Einordnung solcher Romane. Dies wiederum ist ein Grund dafür, dass Unzuverlässigkeit mit Bezug auf diese Romane – etwa von Arno Schmidt, bei dem sie von vordergründigen sprachkünstlerischen Verfahren dominiert werden – bislang übersehen wurde.

In beiden Fällen ist das unzuverlässige Erzählen also ein Phänomen, dass leicht missachtet werden kann. Ist ein Roman in dem Sinne traditionell gestaltet, dass er mehr oder weniger den Erzählnormen des literaturgeschichtlichen Realismus zu entsprechen scheint, ist man versucht, das Erzählerprivileg gelten zu lassen. Ist ein Roman in dem erwähnten Sinne innovativ gestaltet, lenken die sprachkünstlerischen Verfahren ebenfalls von der Möglichkeit einer unzuverlässigen Erzählinstanz ab. Es ist kein Wunder, dass die Kategorie es darum nicht ganz leicht hatte, sich durchzusetzen. Wie sehr man bei der Betrachtung der damals neuesten Literatur am Erzählerprivileg auch in der Literaturwissenschaft festgehalten hat, geht aus dem letzten Kapitel von Theodore Ziolkowskis ursprünglich 1969 unter dem Titel Dimensions of the Modern Novel: German Texts and European Contexts erschienenen Untersuchung hervor. Darin stellt er einige Werke zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur unter dem Aspekt des Wahnsinns der Erzählerfiguren vor, die er grundsätzlich für zuverlässig zu halten scheint, denn man „ist aufgefordert, sich diesen Blick aus der Irrenanstalt zu eigen zu machen“ (Ziolkowski 1972, 284). Seine Ausführungen zeigen, dass er ausschließlich die verzerrte Darstellung der erzählten Welt im Blick hat, die er als Verfahren interpretiert, mit dem die Erzählerfiguren Kritik üben. Dass dies auch auf die Erzählerfiguren zurückfallen kann, kommt ihm nicht in den Sinn: „Der Blick aus dem Irrenhaus ist tatsächlich derjenige, mit dem sich der Autor identifiziert […], während die Alltagswelt verrückt und erlösungsbedürftig bleibt“ (ebd., 289).

Allerdings deckt sich ein Teilaspekt von Ziolkowskis um starke Verallgemeinerungen nicht verlegene Studie mit meinen Befunden. Wie oben erwähnt, sind die Erzählinstanzen oftmals axiologisch zuverlässig. Man darf nicht leichtfertig der Versuchung erliegen, unzuverlässiges Erzählen am Werke zu sehen, wo lediglich einige Indikatoren vorliegen und gerade aus heutiger Sicht eine äußerst dubiose Axiologie vertreten wird. Stattdessen muss man damit rechnen, dass dies genau das ist, was der Autor transportieren möchte. Schon das folgende Unterkapitel wird dafür einen Beleg bringen.

Wenn es rezeptionsseitig wenig Erfahrung mit dem unzuverlässigen Erzählen gab, wie nicht nur die Beispiele Grözinger und Ziolkowski lehren, sondern auch z. B. die Reaktionen auf Nossacks bereits erwähnten Roman (s. u., Abschn. III.3), mag es auch produktionsseitig wenig Motivation gegeben haben, dieses Verfahren einzusetzen. Zwar ist die Überlegung spekulativ, aber vielleicht doch von Interesse, dass es gerade in der bundesdeutschen und österreichischen Literatur im Zeichen der Neuformierung des literarischen Feldes nach dem Zweiten Weltkrieg einen erheblichen Innovationsdruck gab, unter dem subtile literarische Verfahren wenig Chancen hatten, wahrgenommen zu werden. Stattdessen probierten die Autoren lieber neuartige, starke bis plakative Verfremdungsverfahren aus. In diesem Sinne wäre zu überlegen, ob der Innovationsdruck nicht vor allem Werke beförderte, die literarische Verfahren einsetzten, deren Neuartigkeit ohne Schwierigkeit auf den ersten Blick erkannt werden konnte. Unzuverlässigkeit im prototypischen Sinne bot sich dafür nicht an. Warum nicht, sollte aus den obigen Ausführungen verständlich geworden sein: Das Verfahren war ohnehin kaum bekannt, und die realistisch-traditionelle Oberfläche, die ein Erzählen à la Ernst Weiß hatte, entsprach nicht dem literarisch progressiven Zeitgeist, der zu anti-realistischen oder mikro-realistischen Schreibweisen führte, deren Artistik leicht erkennbar ist.

Dass ausgerechnet in der Schweiz in Max Frischs Romanen unzuverlässiges Erzählen in geradezu exemplarischer Weise realisiert und von einigen jüngeren Autoren fortgeführt wurde, würde zu diesem Befund gut passen. Hier war ein scheinbar traditionelles Erzählen noch eher möglich, während in der Bundesrepublik gerade in der ersten Zeit jenseits der Kriegsliteratur nur zwei Möglichkeiten zur Wahl standen: entweder wie Kreuder u. a. artifizielle Gegenwalten zu schaffen oder formal innovativ vorzugehen wie Arno Schmidt oder, etwas später, Uwe Johnson.

Exemplarisch für den Kontrast zwischen Tradition und Innovation stehen die Werke zweier Autoren, die sich aus unterschiedlichen Gründen gewissermaßen an der Peripherie des unzuverlässigen Erzählens befinden. Der eine ist eindeutig dem innovativen Spektrum zuzurechnen: Arno Schmidt wurde schon angesprochen. In einigen seiner Werke ist Unzuverlässigkeit ein eher schwer zu erkennendes Sekundärphänomen, weil man es hinter den schmidttypischen Verfremdungsverfahren leicht übersieht. Der andere gehört demgegenüber zu jenem Bereich, der zuweilen auch unter dem Rubrum „Magischer Realismus“ firmiert.Footnote 7 Im Frühwerk des heute so gut wie ganz vergessenen Heinz Risse tauchen Motive auf, die typisch für das unzuverlässige Erzählen sind, obgleich diese Strömung, wie gezeigt, ansonsten wenig Affinitäten dazu hat. Ob es sich bei Risse tatsächlich um solches handelt, ist nicht so leicht zu beurteilen. Die Analyse wird zeigen, dass die potentielle Unzuverlässigkeit der Erzählerfiguren kalkuliert ist, auch wenn diese sich am Ende als zuverlässig herausstellen. Risses Romane sind beispielhaft für die Relevanz der Kategorie bei grenzwertigen Erzählerfiguren, deren Zuverlässigkeit gerade darin besteht, gegen allgemein gültige Regeln zu verstoßen.

2 Die Zuverlässigkeit der Asozialen und Besserwisser: Heinz Risses Außenseiter

2.1 Zur Erzählkonzeption: Zwei Romane im Vergleich

Eine Gemeinsamkeit haben die beiden Autoren Heinz Risse und Arno Schmidt: Sie waren beide tatsächlich Außenseiter des Literaturbetriebes. Im Gegensatz zu Nossack, der sich mehr für einen hielt, als dass er einer war (etwa angesichts seiner Kontakte zur Akademie für Sprache und Dichtung),Footnote 8 hielten sich sowohl Risse als auch Schmidt von allen Netzwerken fern. Doch im Gegensatz zu Schmidt, für dessen Werk sich immerhin einige prominente Förderer wie Alfred Andersch einsetzten, scheint Risse ganz und gar auf sich allein gestellt gewesen zu sein. Das blieb nicht ohne Auswirkung: Während Schmidt in jeder Literaturgeschichte vorkommt, ist Risse nicht einmal in Kindlers Literaturlexikon vertreten.Footnote 9 Dafür gibt es sicher auch einen literarischen Grund: Schmidt war ein bedingungsloser und innovativer Avantgardist, Risse auf den ersten Blick ein mehr oder weniger traditioneller Erzähler.

Sechzehn Jahre älter als Schmidt, begann Risse etwa zur selben Zeit (im Alter von fünfzig Jahren) zu veröffentlichen. Am Anfang der fünfziger Jahre war er durchaus ein erfolgreicher Autor.Footnote 10 So wurde er bei der Verleihung des René-Schickele-Literaturpreises, den 1952 Hans Werner Richter erhielt, zusammen mit u. a. Ilse Aichinger, Heinrich Böll und Siegfried Lenz für seinen ersten Roman Wenn die Erde bebt (1950) geehrt. Die Jury setzte sich aus Thomas Mann, Annette Kolb, Hermann Kesten, Alfred Neumann und Ernst Penzoldt zusammen (vgl. Boge 2009, 153 f.). Vier Jahre später erhielt Risse den Immermann-Literaturpreis seiner Heimatstadt Düsseldorf.Footnote 11 Risses erwähnter Romanerstling erschien in zwei englischen Ausgaben sowie in holländischer Übersetzung.Footnote 12 Sein Altersgenosse Hans Erich Nossack schrieb eine Eloge auf ihn und stellte ihn darin den jüngeren Autoren (den „Trümmer“literaten) gegenüber, denen es seiner Meinung nach an Verwurzelung in der literarischen Tradition fehlt und damit auch wohl auch an Tiefgang:

Risse ist heute um die Fünfzig, seine Bücher sind erst nach 1945 erschienen; sie konnten auch vorher gar nicht erscheinen. Er gehört also zu denen, die man in den letzten Jahren mit dem tragikomischen Ausdruck „Nachwuchs“ zu bezeichnen pflegte. Nachwuchs wovon, bitte? Ja, wenn man darunter Nachwuchs aus den ursprünglichen, abendländischen Wurzeln versteht, dann stimmt die Bezeichnung für Risse. Diese Wurzeln galten über ein Jahrzehnt für verschüttet und abgestorben, doch siehe da, eines Tages brechen sie mit neuen Trieben durch die geistfeindliche Gerölldecke, und zwar mit Trieben, die lebensträchtiger sind als die Trümmerblumen, die sich mit rührender Eile in dem angewehten Staub ansiedelten. (Nossack 1952, 3)

Kein Wunder, dass sich Nossack dem um drei Jahre älteren Kollegen verbunden fühlte, denn wie dieser und auch wie dessen Helden sah sich Nossack in Opposition zur vermeintlich materialistisch orientierten Gesellschaft im Allgemeinen und Teilen der literarischen Gemeinschaft im Besonderen. Zudem waren beide mit dem Wirtschaftsleben vertraut.Footnote 13 Wie Kreuder u. a. gehören sie zu der erwähnten Gruppe von Autoren, deren Literaturkonzeption von der Opposition zur Neuen Sachlichkeit und verwandten Strömungen geprägt ist. „Sie haben Anteil an einer zunehmend mythisch orientierten Konzeption der Wirklichkeit“, wie sie sich bei Autoren der Jahrhundertwende finde, „die mit ihrer Literatur zu den Urbildern des Seins, zum Eigentlichen der Wirklichkeit vorzudringen suchten, gegen Naturalismus und ‚Oberflächen-Dokumentation‘ gewandt, im Bestreben, die Entfremdung des Ich von den Dingen zu erfassen und zu überwinden“ (Trommler 1977, 171).

Der Düsseldorfer Arztsohn Heinz Risse (1898–1989) studierte nach Kriegsteilnahme Nationalökonomie und Philosophie, schloss das Studium mit der Promotion bei Alfred Weber in Heidelberg ab und ging 1922 in die Wirtschaft. Seit 1932 von Beruf Wirtschaftsprüfer, ließ er sich später in Solingen nieder und arbeitete auch während seiner Schriftstellerkarriere in seinem Beruf weiter.Footnote 14 Damit konnte er seine Unabhängigkeit als Autor wahren. Er war ein produktiver Autor und hinterließ ein umfangreiches Werk. Seine Erfolge in den frühen fünfziger Jahren konnte er indes nicht wiederholen. Der Literaturmarkt veränderte sich, und die Autoren seiner Generation verloren an Bedeutung, so dass er sich dem Kulturbetrieb fast schon trotzig verweigerte. „Er verbietet sogar seinen Verlegern, Rezensionsexemplare auszusenden“, schreibt Johannes Urzidil (1968, 11), einer der wenigen Autoren, die ihm nahestanden.

Zwei seiner frühen Romane scheinen aufgrund der Selbstcharakterisierung ihrer Ich-Erzähler prädestiniert zu sein für Fälle unzuverlässigen Erzählens. In seinem ersten Roman Wenn die Erde bebt (1950) notiert der namenlose Erzähler früh, dass „viele Menschen und insonderheit die Ärzte, mich für einen Wahnsinnigen halten – noch gestern machte der Professor mir den Vorwurf der Schizophrenie […]“. Und „Risses erfolgreichster Roman“ (Rühle 2010, Steinhausen o. J.), sein dritter, Dann kam der Tag (1953) beginnt mit dem Satz, laut dem „Oberamtsrichter Krusebaum […] meine Entmündigung verfügt“ hat. Während sich der Erzähler des letzteren Romans den Grund für seine Entmündigung bis zuletzt aufspart, erfährt man vom Erzähler des ersten Romans schon bald, dass er seine Frau erschlagen hat und nun, von einem meist „Professor“ genannten Arzt betreut, in einer Zelle auf sein, so vermutet er wenigstens, Todesurteil wartet. Aber auch hier ist es so, dass die näheren Umstände der Tat erst am Ende erzählt werden.

Beide Erzähler entsprechen dem Typ des Unzurechnungsfähigen, beide sind – jedenfalls aus der Sicht der sie umgebenden Gesellschaft – Verbrecher. Und damit ist die narrative Problematik in den Romanen auch schon benannt: Wer ist im Recht? Die jeweiligen Erzähler oder die anderen? Mindestens die Axiologie der Erzähler ist problematisch.

Es ist lehrreich, einen genaueren Blick auf diese Werke zu werfen, auch wenn sich am Ende herausstellt, dass sie in der zentralen Frage nicht unzuverlässig erzählt sind. Nicht nur lässt sich an ihrem Beispiel zeigen, dass ein typischer Indikator für unzuverlässiges Erzählen wie Wahnsinn nicht notwendigerweise eine Erzählung unzuverlässig macht, sondern sogar für eine besondere (axiologische) Zuverlässigkeit sorgen kann; darüber hinaus lehrt die Anwendung der Kategorie auf diese Romane, dass sie vielleicht nicht ganz so belanglos sind, wie man aufgrund ihres literaturgeschichtlichen Schicksals annehmen könnte. Auch wenn die Erzähler sich in der Interpretation letztlich als axiologisch zuverlässig erweisen, ist ihr Erzählen, textimmanent gesehen, ambivalent und die Frage, ob sie unzuverlässig sind oder nicht, auf der Basis der Texte allein nicht eindeutig zu beantworten. Ich würde sogar sagen, dass sie absichtsvoll darauf hin angelegt sind.

In der Rubrik „Vergessene Dichter“ des Merkur fragt Michael Rutschky (2014), warum Risse vergessen wurde. Seine Antwort lautet, dass Risses frühe Romane ein Fall fehlgeleiteter Kafka-Rezeption seien. Ihre auf allgemeingültige Wahrheiten abzielende Allegorizität gehe zu Lasten ihrer Sach- bzw. Welthaltigkeit. Hätten sie davon mehr, wären sie heute eher noch von Interesse.Footnote 15 Auch wenn sich gegen die Argumentation Einwände erheben lassen, ist die Prämisse nicht falsch.Footnote 16 Zumindest der Schauplatz des ersten Romans ist raumzeitlich kaum lokalisierbar. Es gibt darin keine geographischen Namen, keine historischen Ereignisse, die wir aus unserer Welt kennen. Hingegen ist der Charakter des späteren Romans diesbezüglich ganz anders. Der Held aus Dann kam der Tag reist immerhin nach Italien; vor allem aber wendet er sich direkt an einen Adressaten, lokalisiert die Ereignisse zeitlich, indem er seine Entmündigung „vor etwa sechs Monaten“ (DKT, 7) verortet und auf Zeitschriften Bezug nimmt, die dem Leser oder Hörer vorgelegen haben könnten. In der Erstausgabe ist sogar eine Bildtafel mit zwei Fotos bzw. Fotomontagen eingefügt, auf denen der Ich-Erzähler Karl Brocke im Alter von sechs und von siebzig Jahren abgebildet ist (s. u. Abschn. III.2.3.).Footnote 17 Gerade diese Zugabe sorgt für einen besonderen Authentifizierungsimpuls, der lediglich von der Gattungsbezeichnung des Werks und vom Namen des Autors neutralisiert wird.

In beiden Romanen wird die Lebensgeschichte der Protagonisten mehr oder weniger chronologisch, aber nicht kontinuierlich erzählt, sondern unterbrochen von Passagen, die die Situation der Erzählgegenwart thematisieren wie im ersten Roman oder die, wie in Dann kam der Tag, den ereignisreichen Tag im Leben des Ich-Erzählers zum Gegenstand haben, an dem er seine Umkehr vollzieht. Besonders in diesem Roman, in dem die übergeordnete diegetische, also zeitlich spätere Erzählebene ausgedehnter ist als im ersten Roman (in dem sie lediglich rahmenden Charakter hat), erinnern die eingestreuten autobiographischen Erzählungen an literarisch-moralische Exempla, die die Vorkommnisse des zentralen Tages kommentieren und remotivieren.Footnote 18

2.2 Allegorisches Erzählen in Wenn die Erde bebt (1950)

In Wenn die Erde bebt besteht die Rahmenhandlung lediglich aus Gesprächen zwischen dem Professor und dem Ich-Erzähler. Der naturwissenschaftlich denkende Professor – „Internist, ehe ich mich der Seelenheilkunde zuwandte“, sagt er von sich (WEB, 97) – dient vor allem als Kontrastfigur zum Erzähler. Aber er ist zugleich die dem Erzähler einzig verbliebene Verankerung in der Welt. Der Professor ist es nämlich, der ihn dazu bringt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Daran hat er mehr wissenschaftliches als therapeutisches Interesse. Der Erzähler kann der Aufforderung zu schreiben „etwas Gutes“ abgewinnen (WEB, 12). Die zurückliegenden Ereignisse hätten ihn „gewandelt“ und „meinem Geist jene äußerste Klarheit gegeben, die den Zweifel an der Unsichtbarkeit irgendeines Gipfels, und wäre er noch so hoch, erwachen läßt; in der Tat sehe ich nun, da ich in Nikarien lebe, Berge, deren Dasein ich früher nicht einmal ahnte; ihre Spitzen stehen wie königliche Szepter neben Gott […]“ (WEB, 12). Demnach sieht sich der Erzähler als Erleuchteten. Er ist voll von Gedanken und Gefühlen, aber erst die Idee des Arztes bringt ihn dazu, „den heimatlos und unsichtbar flatternden Seelen meiner Gedanken Körper zu leihen“ (WEB, 12 f.), um sie dem Tod zu entreißen und ihnen damit ewiges Leben in Form von Literatur zu schenken. Übertragen auf den Roman, äußert sich in diesen Worten nicht nur das Sendungsbewusstsein des Autors, sondern auch sein literarischer Anspruch bzw. seine Hoffnung auf überzeitliche Bedeutung.Footnote 19 Oder ist es als Anmaßung und Selbstüberschätzung des Erzählers und damit als Signum seiner Unzuverlässigkeit zu verstehen?

„Nikarien“ ist die Chiffre, die sich der Erzähler für seine Welt wählt.Footnote 20 Was zu seiner Wandlung geführt hat, erwähnt er auch schon an der zitierten Stelle, doch kann man es noch nicht einordnen: ein Erdbeben war es, worauf schon der Romantitel anspielt. Am Ende sind es zwei Erdbeben, die sich auf das Leben des Erzählers auswirken, eines in der Jugend, bei dem sein Vater, ein Arzt, ums Leben kommt, was dazu führt, dass der Erzähler nicht studieren kann, sondern eine Lehre in einer Versicherungsanstalt macht, und eines später, bei dem er schwer verletzt wird und die gesamte Gesellschaft aus den Fugen gerät. Es liegt nahe, diese Erdbeben als Allegorien auf die beiden Weltkriege zu verstehen.Footnote 21 Auch sonst wirkt die Welt des Erzählers einigermaßen bizarr, etwa wenn er davon berichtet, dass er „eine kleine Schrift“ liest, „die sich mit dem Glück in der Ehe“ auseinandersetzt, verfasst von einem Professor „für Ehewissenschaft“ (WEB, 126). Immerhin wundert er sich darüber, „daß es eine solche Wissenschaft überhaupt gab“ (WEB, 127). Auch was der Erzähler sonst zu sagen hat, trägt zu dem starken irrealen Eindruck bei. Er hat die Fähigkeit, manchmal den Tod von Mitmenschen vorherzusagen. Ihm erscheint ein Schatten, der sich kurzzeitig über die betreffende Person wirft, als Zeichen für ihren nahenden Tod.

Es sind solche Details, die die Geschichte, nicht zuletzt aus heutiger Perspektive, leicht ungreifbar erscheinen lassen. Man ist versucht, den Roman als zeittypische eskapistische Literatur abzutun, die überdies eine religiöse Grundierung hat, so dass Risse als Autor literaturgeschichtlich noch hinter heute sowieso selten rezipierten, aber kanonischen Autoren wie Ernst Kreuder und Elisabeth Langgässer steht. Indes, durch den Schizophrenie-Verdacht, dem der Erzähler ausgesetzt ist, wird das Obskure legitimiert, und die Spannung, die durch die Unvereinbarkeit der Weltsicht des Professors und jener des Erzählers herrscht, wird aufrecht erhalten. Es stellt sich also die Frage, wie stabil die erzählte Welt ist. Ist es die Fiktion eines Irren in einer nach unseren Maßstäben funktionierenden Welt? Dann ließen sich alle Absonderlichkeiten, von denen es noch einige mehr gibt, als Wahnvorstellungen eines mimetisch unzuverlässigen Erzählers erklären. Diese würde auch die Axiologie des Erzählers fraglich erscheinen lassen. Oder ist die erzählte Welt so, wie sie der Erzähler darstellt? Dann gäbe es in ihr übernatürliche Phänomene, und der Erzähler wäre mimetisch und axiologisch zuverlässig.

Die Handlung der Binnenerzählung ist die Lebensgeschichte des Erzählers. Sie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Nach dem Eintritt in das Versicherungsunternehmen knüpft der Erzähler zu einem Kollegen mit Namen Rudolf Gebsattel Kontakt, der ihn eines Tages zu einem Ausflug mit dem Auto in die Berge einlädt. Es handele sich um seinen Geburtstag, und er wolle ihn mit seiner Verlobten und ihm verbringen. Gebsattel verhält sich merkwürdig, trinkt zu viel Alkohol und weigert sich, (wie geplant) in einem Berghotel zu übernachten. Sie fahren zu dritt nach Hause, es kommt zu einem Unfall, bei dem die Verlobte stirbt.Footnote 22 Der Erzähler meint, dass es ein geplanter Anschlag war, um die Frau zu beseitigen, die offensichtlich ein Kind von Gebsattel erwartete. Doch laut Gebsattel saß seine Verlobte am Steuer. Der durch den Unfall verletzte Erzähler ist zunächst unsicher, aber lässt sich dann doch nicht vom aus seiner Sicht wahren Hergang abbringen. Nach einer kurzen Zwiesprache mit der Toten, die ihm mit dem Hinweis auf seine Entscheidung, wie er sich verhalten soll, einen Freibrief erteilt (WEB, 62), verhilft der Erzähler Gebsattel zum Freispruch, um sich selbst der moralischen Besserung seines Kollegen anzunehmen. Als er merkt, dass er keine Chance hat, auf Gebsattels moralische Besserung Einfluss zu nehmen, und ihm Vorwürfe macht, gelingt es Gebsattel, seine Version des Unfallhergangs durchzusetzen und den Erzähler als traumatisiert darzustellen. Im Unternehmen gilt der Erzähler bald als Störenfried und wird in Urlaub geschickt, den Gebsattel nutzt, um in der Firmenhierarchie aufzusteigen. Nach dem Urlaub ist Gebsattel der Vorgesetzte des Erzählers.

Die Unfall-Episode hat Schlüsselcharakter, denn in der Begegnung mit der Toten liegt der Scheidepunkt sowohl für die mimetische als auch für die axiologische Zuverlässigkeit des Erzählers. Entweder es ist ein übernatürliches Phänomen – und als solches genießt es eine höhere Autorität – oder aber eine traumatische Erscheinung infolge des Unfalls, die sich auf seine gesamte Weltwahrnehmung danach auswirkt. Und in Abhängigkeit davon wäre der Rat der Toten entweder eine Handlungsanweisung in Übereinstimmung mit der Axiologie des Romans; oder aber es diente als Rechtfertigung der Unzurechnungsfähigkeit des Erzählers, die in dessen Verabsolutierung seines Individualismus besteht. Auch wenn man am Ende die Frage eindeutig beantworten kann, ist in dieser Episode zumindest die Möglichkeit angelegt, die Zweifel an der Version des Erzählers gestattet. Am Ende dieses Abschnitts komme ich darauf zurück.

In einer Versicherungsangelegenheit lernt der Erzähler seine künftige Frau Leonore kennen und verliebt sich in sie, weil sie eine Äußerung macht, die ihn im Innersten anrührt. Sie hat einen Aschenputtel-Hintergrund und ist von ihren zwei Schwestern bei einer Erbangelegenheit übervorteilt worden. Von einer juristischen Revision will sie nichts wissen, und der materielle Verlust bedeutet ihr offenbar nichts. Es gehe ihr nur darum, die Unschuld ihrer Mutter zu beweisen (vgl. WEB, 104 f., 116). Das nimmt den Erzähler für sie ein, weil er meint, in ihr eine Seelenverwandte zu erkennen. Sie scheint Ideelles über Materielles zu stellen.

Aber dies erweist sich als Irrtum. Dass sie bereits ein Verhältnis hatte und verführt wurde, kümmert ihn zu ihrer Überraschung (und wohl auch zu ihrem Verdruss) überhaupt nicht. Ihm bedeuten Konventionen wenig, wie sich besonders drastisch bei der Hochzeit zeigt, zu der der Erzähler ohne Trauzeugen erscheint. Während seine Braut auf dem Standesamt wartet, sucht er nach einem Trauzeugen und findet schließlich einen Bettler. Wieder zurück, hat die Trauzeugin der Braut empört das Amt verlassen. Auch für sie findet er Ersatz, eine Passantin auf der Straße, die sich bei der amtlichen Zeremonie als Gräfin entpuppt (vgl. WEB, 137). Schon auf der Hochzeitsreise kommen ihm „Zweifel, ob ich nicht ihr Verhalten anläßlich des Todes ihrer Mutter überschätzt hatte“ (WEB, 143). Sie reisen ausgerechnet in das Berghotel, das er von seinem Ausflug mit Gebsattel kennt.Footnote 23

Und Gebsattel kommt dem Erzähler auch hier in die Quere. Bald häufen sich die Hinweise, dass sie ihn betrügen. Im Schlafzimmer riecht er Rauch. Leonore bekommt ein Ekzem auf der rechten Handfläche. Er entfremdet sich seiner Frau. Man kann die Konstellation, die zwischen Gebsattel, Leonore und dem Erzähler besteht, als Auseinandersetzung zwischen dem Materialisten (Gebsattel) und seinem weltanschaulichen Gegenspieler (dem Erzähler) um die Gunst der Frau beschreiben.

Es kommt zu einem zweiten Beben, bei dem der Erzähler schwer verletzt und die Stadt zerstört wird. Nach längerem Krankliegen sucht er seine Frau auf, die bei ihren Schwestern Runtemund und Katharina untergekommen ist, mit denen sie sich zwischenzeitlich versöhnt hat. Selbstverständlich taucht auch Gebsattel wieder auf, der geläutert scheint. Er wohnt im nahen Dorf. Es verdichten sich jedoch die Anzeichen, dass es wieder eine Verbindung zwischen Leonore und ihm gibt. Ist Leonores Ekzem wieder da? Der Erzähler sieht absichtlich nicht hin, was später aufgegriffen wird (WEB, 370), als (per Prolepse) an ihrer Leiche keine Hinweise auf das Ekzem gefunden werden. Gebsattel wird in den „Ordnungsausschuß“ des Dorfes gewählt und scheint wieder obenauf. Seit seiner Wahl ist Gebsattel dem Hof ferngeblieben. Offensichtlich betrügt Leonore den Erzähler wieder mit ihm. Schließlich wird Gebsattel in die Leitung des Oberausschusses befördert. Er plant, in die Stadt zu ziehen. Dem Erzähler gefällt es nicht, dass Gebsattel meint, lang genug gebüßt zu haben. Er selbst möchte sich aus der Gesellschaft zurückziehen, aber auch Leonore hält ihn für verrückt (WEB, 372). Das zweite Erdbeben wird als Mahnung zur Umkehr verstanden, womit der Anfang des Erzählens wieder aufgenommen wird (WEB, 12). „Aber man kann doch nicht leben, als wenn es nur Erdbeben gäbe“ (WEB, 373), sagt Leonore, als sie ihn beim Holzhacken zur Rede stellt, und erteilt der Rigorosität des Erzählers eine Absage. Als er versteht, dass sie mit Rudolf gehen wird, verliert er das Bewußtsein. Beim Erwachen findet er sich in einer Zelle wieder, und ein Mann im „weißen Kittel“ (WEB, 374) teilt ihm mit, dass er seine Frau mit einem Beil erschlagen habe. Aus ärztlicher Sicht war er bei der Tat unzurechnungsfähig, aber er selbst besteht auf seiner Rationalität, denn es werde „keinen Menschen geben, der meine Tat mißbilligt, wenn er erst meine Gründe gehört haben wird, keinen vernünftigen Menschen jedenfalls“ (WEB, 14). Diese Gründe ließen sich aber nicht einfach auflisten – erst sein Buch, so möchte er sagen, sein Text aus „Millionen von Fäden!“ vermag ein angemessenes Bild von diesen Gründen geben (WEB, 14).

Aus heutiger Sicht könnte man annehmen, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählers in seiner Ignoranz der Bedürfnisse anderer, insbesondere seiner Frau, bestehe, in der Verabsolutierung des eigenen Standpunkts, der eigenen nicht-materialistischen Normen gegenüber jenen anderen Normen, die seine Umgebung präferiert. Dass er am Ende dafür auch noch einen Mord begeht, auf dessen gerechter und rationaler Motivation er obendrein besteht, sollte diese Annahme nur bestätigen, denn damit scheint der Erzähler sich und sein Handeln endgültig zu diskreditieren. Doch so ist es nicht gemeint. Umgekehrt, der Erzähler ist konzipiert als einsamer Rufer in der Wüste der konsumorientierten Materialisten, der als einziger über wahre Einsichten verfügt.

Für die Frage nach der Unzuverlässigkeit interessant ist, woran man dies eigentlich erkennen kann. Gewissheit darüber, wie die Äußerungen des Erzählers zu verstehen sind, kann man letztlich nur über die Einstellung des Autors erlangen, wie sie sich in seinen Essays kundtut (dazu unten mehr). Textimmanent gibt es immerhin eine Reihe von Indizien, etwa die durchaus negative Figurenzeichnung (insbesondere Gebsattels und Leonores), die durch keinerlei Andeutung relativiert wird. Zwar wird das gesamte Geschehen allein durch die Perspektive des Ich-Erzählers dargeboten, und es ist kein Wunder, dass er sie negativ darstellt. Aber es gibt keinerlei Anzeichen, die dafür sprechen, dass die negative Figurencharakterisierung des Erzählers gebrochen würde. Es deutet nichts darauf hin, dass Gebsattel oder Leonore in der Wirklichkeit der Romanwelt liebenswürdigere Charaktere sind, als der Erzähler sie darstellt.

Auffällig ist überhaupt die gänzliche Abwesenheit von Hinweisen innerhalb der Diegese, die die Weltdarstellung des Erzählers konkret konterkarieren. Die Möglichkeit dazu hätte es durch die Figur des Professors gegeben. Doch er fungiert lediglich als ideeller Gegenspieler. Auch der Mord am Ende widerlegt die Haltung des Erzählers nicht unbedingt. Sie ist konsistent. Es ist nicht so, dass er sich in Widersprüche verstrickt. Gewaltlosigkeit gehört nicht zu seinen wichtigsten Prinzipien, so dass das Fanal seiner Handlungen nicht durch seine Überzeugungen widerlegt würde. Es scheint tatsächlich so gemeint zu sein, dass der Mord die Konsequenz seiner (richtigen) Überzeugungen ist. Eher ist Leonore durch ihren sturen Materialismus selbst schuld, dass es so weit kommen muss.

Nossack (1952) trifft wohl den Nagel auf den Kopf, wenn er feststellt, dass der Auslöser für den Mord eine Äußerung Leonores ist, die im Gegensatz zu dem steht, was der Erzähler am Anfang ihrer Bekanntschaft von ihr vernommen hat. Es werde, sagt sie, „immer einige Menschen geben, denen es gut geht, und ich habe den Wunsch, zu diesen zu gehören“ (WEB, 373). Das seien nicht ihre, sondern Gebsattels Worte, dem sie in die Stadt folgen möchte, während sich der Erzähler diesem Angebot verweigert und stattdessen in eine verlassene Jagdhütte im Wald zurückziehen will. Er hat sie also an den Materialisten Gebsattel verloren. Sie: das ist nicht ihr Körper, sondern ihre geistige Haltung: „Nicht die körperliche Untreue fällt ins Gewicht, sondern einzig der schamlose Verrat am Geist verurteilt sie“ (Nossack 1952).

Nossack hält den Erzähler somit für axiologisch zuverlässig und versteht den Totschlag als Teil der allegorischen Erzählweise. Der Text ist natürlich keine Aufforderung zum Töten von Materialisten. Aber die Ablehnung der Einstellung der Getöteten, die sich in dem literarischen Totschlag manifestiert, ist echt. Der Autor steht auf der Seite seines Erzählers, er präsentiert ihn nicht als armen Verführten seiner abstrusen Vorstellungen, dem eigentlich nicht zu trauen ist. Die Ideologie, die dahinter steht, macht ihn wohl für die meisten suspekt. Es ist die Anmaßung, besser als die Mehrheit darüber Bescheid darüber zu wissen, was gut und was böse ist, die vielleicht auch dazu geführt hat, diesen Autor literaturgeschichtlich zu ignorieren.Footnote 24

Doch auch wenn Nossack mit seiner Interpretation richtig liegt, lässt sie sich nicht auf den Text allein stützen. Dieser erlaubt nämlich eine mimetisch-realistische Interpretation, der gemäß der Ich-Erzähler ein psychisch kranker Mensch mit ausgeprägten asozialen Verhaltensmustern ist. Immerhin ist er ein Verbrecher, der seiner Verurteilung wegen Totschlags entgegensieht. Nach der allegorischen Interpretation neutralisiert der positive Wert, geistigen Durchblick ins Reich des Transzendenten zu haben, den negativen Wert, den das Verbrechen an seiner Frau eigentlich hat. Doch gibt der Text allein keine zwingenden Gründe, ihm diese Umwertung des Verbrechens als seine Botschaft abzunehmen (sondern nur die erwähnten mehr oder weniger plausiblen Gründe wie die Abwesenheit positiver Charaktermerkmale bei Gebsattel oder wenigstens Leonore).

Die Interpretation des Erzählers als mimetisch und axiologisch unzuverlässig ist zumindest als theoretische Alternative im Roman angelegt. So gesehen, lassen sich Details der Geschichte als mögliche Gründe für das Scheitern der Anschauungen des Erzählers interpretieren. Schon sein Ansinnen unmittelbar nach dem Unfall, selbst für die Läuterung Gebsattels zu sorgen, führt zu nichts. Und am Ende begeht er sogar einen Mord. Diese Tat ließe sich auch als letzte Konsequenz des schrankenlosen Individualismus interpretieren, der die Bedürfnisse und Rechte der anderen Individuen missachtet. Dass der Roman diese Möglichkeit nicht ausräumt, zeigt aus meiner Sicht, dass die potentielle Unzuverlässigkeit des Erzählers kalkuliert ist.

Das Schicksal des Erzählers ist im Roman entscheidend mit der Person seines Gegenspielers Gebsattel verknüpft. Die Konfrontation der beiden beginnt mit dem Unfall, und der Erzähler maßt sich an, für Gebsattels Besserung zu sorgen, anstatt dies den Behörden des Gemeinwesens zu überlassen. Im bereits oben erwähnten Gespräch mit der toten Verlobten Gebsattels wendet er selbst ein, dass er mit einer Falschaussage zugunsten Gebsattels die bestehende Ordnung verletzen würde: das „wäre ein Freibrief noch für die schlechtesten Handlungen“ (WEB, 62). Doch die Tote gibt ihm diesen Freibrief, denn „keine Ordnung gibt es außer der, die dein Gewissen gesetzt hat“ (WEB, 62).Footnote 25 Auch das Verhalten seiner Frau gegenüber ist nicht geprägt von dem Gefühl für ihre Bedürfnisse. Es gibt keine Auseinandersetzung mit dem anderen Standpunkt. Er wird von vornherein abgelehnt.

Der Roman spielt mit der doppelten Perspektive, die die Wahl eines geisteskranken Erzählers zulässt. Im Gespräch mit dem unterdessen, aber nur zeitweise geläuterten Gebsattel wiederholt der Erzähler unter Berufung auf die Tote, dass das Maß aller Dinge in seiner Person selbst liege, und meint damit das Gewissen (WEB, 321). Gebsattel durchschaut das Spiel und entgegnet: „Sie wünschen aus der realen Welt eine irreale zu machen“ (WEB, 321). Im Folgenden liefert er mit dem Hinweis auf dessen „Gehirnverletzung“ auch die Erklärung für die weltverachtende Einstellung des Erzählers (WEB, 323). Jener gemeinsame Autounfall ist der Wendepunkt im Leben des Erzählers und zugleich der Schnittpunkt seines pathologischen Wahnzustands einerseits und seiner in unmittelbarer Folge des Unfalls gewonnen höheren Einsicht.

Der Arzt schließt sich der Analyse Gebsattels letztlich an und nennt den Erzähler einen „Egoisten“, der „das Leben für ein Dasein auf Probe“ halte (WEB, 329). Dem hält der Erzähler schimpfend entgegen, „daß eben das Übermaß an Vernunft, auf die Sie pochen, diese Überfütterung, diese Hypertrophie des Rationalismus in Ihnen Ihre spezifische Form des Irreseins darstellt“ (WEB, 329). Wie schon gegenüber Gebsattel behauptet er, dass seine solitäre Weltsicht derjenigen der Mehrheit zumindest ebenbürtig sei. Man kann in den Reaktionen beider Gegenspieler des Erzählers erkennen, dass sie ihm argumentativ nicht unterlegen sind. Wägt man die Argumente gegeneinander ab, etabliert der Roman am Ende eine Patt-Situation.

Hilgart (2002, 16–61), der eine ausführliche Analyse des Romans bietet, zieht die, rein textimmanent betrachtet, im Roman angelegte Unzuverlässigkeit des Erzählers nicht in Betracht. In seiner Rekonstruktion der Gespräche zwischen dem Erzähler und dem Professor stellt er den Professor als Verlierer der Auseinandersetzung dar. Letztlich versteht er den Professor als Manifestation des Teufels und den Erzähler als Manifestation Gottes. Doch ist diese Interpretation einseitig zugunsten der Axiologie und des Weltverständnisses des Erzählers. Hingegen lässt sich alles, was der Erzähler äußert, formal gesehen, gegen ihn wenden. Man kann darin eine Art ästhetische Rückversicherung gegen das Eiferertum sehen, das der Erzähler an den Tag legt.

2.3 Authentizitätsmarker in Dann kam der Tag (1953)

Der Erzähler sieht seine weltverachtende Einstellung als bessere Wahl gegenüber der vor dem Erdbeben herrschenden Einstellung, wonach das Leben ein Kampf sei und man nur die Wahl zwischen Sieg oder Untergang habe (WEB, 325). Hier zeigt sich recht offensichtlich, dass er sich einerseits gegen den Nationalsozialismus positioniert, aber dass andererseits seine Einstellung in eine totale Zivilisationskritik mündet, die jegliche gesellschaftliche Entwicklung mit dem Nationalsozialismus in eins setzt.Footnote 26

Dies lässt sich durch die Anschauungen Risses, wie sie in seinen Essays zum Ausdruck kommen, bestätigen. Dazu später mehr. Ein Blick auf den anderen Roman Dann kam der Tag reicht dafür nicht, denn die Ambivalenz ist hier noch stärker durchgehalten. In diesem Roman ist das allegorische Moment zurückgenommen. Auch besitzt die Romanwelt nicht mehr in dem Maße die übernatürlichen Züge, die im ersten Roman zu entdecken sind. Schon zu Beginn erfährt man, dass der siebzigjährige Ich-Erzähler vor sechs Monaten entmündigt worden ist. Immer wieder kommt er auf das Verfahren zu sprechen, das sein Sohn mit Richter Krusebaum gegen ihn geführt hat. Wie im ersten Roman präsentiert sich der Erzähler als ein von der Mehrheitsgesellschaft weggesperrter Einzelgänger, der für sich einen Durchblick beansprucht, den ihm die anderen sogar juristisch aberkannt haben.

Über die Erzählsituation erfährt man sonst nichts. An die Stelle der Dialoge zwischen Erzähler und Psychiater im ersten Roman tritt hier die sukzessiv erzählte Erinnerung an den Tag, der dem Roman seinen Titel gegeben hat. Sie wird immer wieder unterbrochen von weiter zurückreichenden Erinnerungen an Episoden aus seinem Leben, so dass sich nach und nach ein Werdegang ergibt, dessen Höhepunkt am Ende des zentralen Tages liegt.

Karl Brocke ist ehemaliger Generaldirektor einer großen Firma, die Tonwaren herstellt. An dem Tag, von dem er erzählt, soll sein Geburtstagsjubiläum mit einem Festakt in der Firma gefeiert werden. Doch er entscheidet sich früh am Morgen, zu einem Landgasthof namens Hirschenblick zu spazieren, der, wie sich bald herausstellt, für seine Biographie von entscheidender Bedeutung ist und damit ein Anlass, sich an seine Kindheit zu erinnern.

Nach dem frühen Tod seines Vaters ist er in sehr jungen Jahren gezwungen, seine Mutter zu unterstützen, und verkauft Blumen an Gäste des Hirschenblick. Einer von ihnen bietet ihm an, eine Lehre zu machen. Obwohl Karl Kutscher werden soll wie sein Vater, lässt sich seine Mutter überreden. Karl nimmt sich vor, reich und mächtig zu werden. Das schafft er auch ziemlich schnell durch Fleiß und Erfindergeist. Es gelingt ihm, ein Verfahren zur besseren Verarbeitung und Herstellung der Waren zu finden, so dass seine Firma ihre Konkurrenten nach und nach übernehmen kann. Die geschäftlichen Ziele verfolgt er mit großer Umsicht, d. h. nicht konfrontativ, sondern so, dass für die anderen die Arbeitskosten immer höher werden und sie irgendwann selbst bei ihm vorsprechen, um sich von ihm übernehmen zu lassen. Er ist längst Teilhaber geworden und drängt dann auch noch seinen Kompagnon aus der Firma.

Fast immer hält er sich an Recht und Gesetz, findet die Konkurrenten ab, aber immer zu seinem eigenen Vorteil. Wenn er einmal ein Gesetz aus ökonomischen Zwängen heraus umgeht, dann weiß er es so geschickt einzufädeln, dass er damit niemandem schadet und er am Ende mit Glück seinen Betrieb nicht nur saniert, sondern noch besser dasteht als vorher. Auch heiratet er in eine angesehene Familie ein, aber seine Frau durchschaut ihn schon bald, und als er während eines festlichen Abends sie mit den Gästen allein lässt, um den Erben seines Kompagnons mit erpresserischen Mitteln aus dem Betrieb zu ekeln, trennt sie sich von ihm und dem gemeinsamen Sohn. Sie hinterlässt einen Brief, in dem sie ihm einen Spiegel vorhält, aber er macht weiter wie bisher, und der Erfolg scheint ihm rechtzugeben.

Ein entscheidendes Erlebnis ist seine vergebliche Suche nach dem ultimativen Herstellungsverfahren unzerbrechlicher Tonwaren. In einem fernen italienischen Dorf soll es einen Tüftler geben, der ein solches Verfahren kennt, aber niemand ist je an ihn herangekommen. Brocke gelingt es eher zufällig, sich über die Tochter des Erfinders Zugang zu verschaffen, die ihn zunächst für einen guten Menschen mit altruistischen Motiven hält. Als er aber die Gelegenheit nutzt, nachts in der Werkstatt zu stöbern, erkennt sie seine wahren Absichten und wirft ihn aus dem Haus.Footnote 27

Anlass für diesen biographischen Abschnitt ist eine Notiz, die ihm vorher das Hausmädchen ins Zimmer gebracht hat, in dem er sich inzwischen befindet, nachdem er von seinem Geschäftsführer aufgespürt (die Kellnerin hatte angerufen) und nach Hause gebracht worden war. Brocke, so steht nun fest, verweigert den Festakt, weil er nicht mehr so weiter machen will wie bisher. Ein Gewitter droht, und Brocke hat sich hingelegt, als ihm das Mädchen die Notiz überreicht (DKT, 132–136). Diese Szene befindet sich exakt in der Mitte des Romans. Auf dem Zettel, den angeblich Brassiani, der Erfinder, abgegeben hat, ist eine Botschaft für Brocke notiert, die das mit dem biblischen Adam verbundene Leitmotiv des Romans aufgreift: „Um aus Lehm Unzerbrechliches machen zu können, hätten Sie mehr einsetzen müssen, als Sie wollten oder vermochten. Darum sind Sie gescheitert“ (DKT, 135). Weiter heißt es, Brocke solle sich von dem oberflächlichen Lob, das ihm gilt, nicht beirren lassen. Es folgt die geschilderte Erinnerung an die Episode seines Lebens, in der Brocke alle Mitmenschlichkeit und Empathie an seine Gier verrät.

Als der Arzt Dr. Spandau mit Brockes Sohn eintrifft, ist der Zettel unauffindbar. Hier liegt begrenztes unzuverlässiges Erzählen vor, weil zumindest nicht deutlich zu verstehen gegeben wird, dass es nur ein Traum ist, zumal Brocke selbst an die (höhere) Realität der Notiz glaubt (vgl. DKT, 185). In Bezug auf die einfache Existenz des Zettels ist Brocke also tatsächlich unzuverlässig. Dass die Passage als Traum zu interpretieren ist, wird durch Kleinigkeiten markiert. Das Dienstmädchen spricht anders als gewöhnlich, und der Zettel hat eine ungewöhnliche Flugbahn, als Brocke ihn fallen lässt, doch ist er zu „müde, über die ungesetzliche Erscheinung nachzudenken“ (DKT, 136). Der aufgeweckte Leser kann aber verstehen, dass Brocke auf der Ebene der Realität träumt und etwas Falsches glaubt, während ihm auf der Ebene der höheren Realität etwas Wahres schwant. Unzuverlässigkeit kann man Brocke also nur attestieren, sofern man die einfache fiktive Romanrealität zugrunde legt. In diesem Zettel manifestiert sich jedoch eine höhere Realität, zu deren Anwalt sich der Roman bzw. sein Autor schließlich macht.

Höhepunkt der Gegenwartshandlung ist am Ende, dass Brocke einen Brand legt und anschließend die Argumente seines Sohnes (dass er ihn, aber auch die Belegschaft schädige) in den Wind schlägt. Brocke Senior ist überzeugt von seiner geistig-moralischen Wende und Sendung. Aufgrund seiner fundamentalen Einsicht meint er im Recht zu sein. Die Reichtümer, die er angehäuft hat, stünden ihm (und dem Sohn) aus moralischen Gründen gar nicht zu – deswegen sei es auch gerecht, sie zu vernichten. Es mag sich die Frage anschließen, ob dies auch geboten sei, aber so weit geht der Erzähler nicht. Am Ende stellt er es dem Adressaten (den er immer wieder anspricht) anheim, selbst zu bestimmen, wer im Recht ist. Den Sohn hält er für einen hoffnungslosen Fall, der seinem früheren Ich ähnelt. Brocke Junior jedenfalls lässt sich nicht überzeugen, sondern erklärt seinen Vater für unzurechnungsfähig.

Risse bemüht sich um Authentizität, indem er dem Roman eine Bildtafel mit einem Foto und wohl einer Fotomontage beifügt, die den Helden, immerhin eine fiktive Figur, als Jungen und als alten Herrn zeigen. Dies verstärkt die Geltung der mimetischen Ebene und gibt ihr gerade auch im Vergleich mit dem ersten Roman ein größeres Gewicht. Die Frage nach der Bewertung der im Roman vorgetragenen Positionen stellt sich dadurch umso dringlicher. Dass eine höhere Realität die Antwort liefert, wie noch im ersten Roman durch die übersinnlichen Fähigkeiten des Erzählers angelegt, lässt sich aufgrunddessen nicht mehr so leicht feststellen (Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

Beiliegende Bildtafel aus Heinz Risse: Dann kam der Tag. München: List, 1953

Abb. 2
figure 2

Porträt von Heinz Risse aus Welt und Wort 6 (1951), 269

Noch deutlicher als der erste Roman spielt dieser mit der prinzipiellen Offenheit der Frage, wer im Recht ist: der vermeintlich unzurechnungsfähige Vater oder der Sohn.Footnote 28 Vieles spricht gegen den Erzähler, der äußerst egoistisch handelt. Trotzdem fühlt er sich im Recht. Aber ist das die Botschaft des Romans: dass die Frage prinzipiell nicht entscheidbar ist, wer von beiden recht hat?

Weiterhelfen kann es an dieser Stelle, wenn man mehrere Bezugsbereiche unterscheidet. Mit Bezug auf die Bewertung seiner konkreten Handlungen in der erzählten Welt ist der Erzähler Brocke unzuverlässig, sofern man sich für die Etablierung des Maßstabs am Schaden orientiert, den der Erzähler seinen Mitmenschen zufügt. Hält man sich zunächst an die Daumenregel (R) aus Abschn. I.1.6., so liegt es jedenfalls nahe, die ‚Vermeidung von Gefahren für Mitmenschen‘ als positiven Wert anzusehen, den der Erzähler verletzt. Doch manifestiert sich dieser Maßstab in der Figur des Sohns. Da dieser in der Perspektive des Vaters sein Gegenspieler ist, stellt sich die Frage, wie verbindlich dieser Maßstab ist. Sie lässt sich auf der Basis des Textes allein nicht beantworten, sondern erfordert die Berücksichtigung weiterer textexterner Informationen und damit das Betreten einer höheren Interpretationsebene. Diese Informationen geben Aufschluss über die Einstellung des Autors und darüber, wem seine Sympathien letztlich gehören. Für die Beurteilung des Erzählverfahrens entscheidend aber ist, dass der Autor davon abgesehen hat, diese Einstellung unmissverständlich im Text zu verankern. Selbst wenn man, wie ich gleich anhand von einigen Zitaten ausführen werde, dem Autor mit Hilfe seiner nicht-literarischen Äußerungen eine bestimmte Anschauung bzgl. der von seinen Romanen aufgeworfenen axiologischen Fragen nachweisen kann, bleibt es dabei, dass der Romantext die axiologische Unzuverlässigkeit seines Erzählers zumindest als Interpretationsoption vorsieht. Auch dafür lassen sich Belege beim Autor finden, der mit seinen sich um moralische Probleme drehenden Fabeln seine Leser zum Selberdenken animieren wollte. In der ansonsten vor elitärem Kulturpessimismus strotzenden Dankesrede bei der Verleihung des Immermann-Preises äußert er Sympathie für den Gedanken, „daß Wahrheit im eigentlichen Sinne von Menschen nicht gefunden werden könne“ (Laaths/Risse 1957, 22).

2.4 Risses Weltanschauung

Trotz dieser ästhetischen Einstellung, die sich durchaus zu einer gewissen Ambivalenz und Offenheit bekennt, ist Risse in moralischer Hinsicht ähnlich rigoros wie seine Erzähler. So fragwürdig sich der Erzähler in Dann kam der Tag seinen Mitmenschen gegenüber zu verhalten scheint, seine Handlungen stehen in Beziehung zu einer höheren Realität geistiger Werte, von denen sich Brocke leiten lässt. Durch die Anerkennung dieser Werte ist er axiologisch zuverlässig. Daher kann man sagen, dass Brockes Handeln falscher Ausdruck richtiger Werte ist. Gerade das Paradoxale dieser Formulierung steht im Einklang mit Risses Kunst- und Lebensauffassung.

Wenn man nicht-literarische Äußerungen des Autors heranzieht, wird schnell klar, dass er zu eindeutigen Botschaften tendiert. Risse lässt in seinen Essays nichts im Ungefähren, so dass man – sobald man (R) durch ein stärkeres Kriterium ersetzt, das sich auf die Werte des Autors beruft – den Ich-Erzähler Brocke nicht als axiologisch unzuverlässigen Erzähler ansehen kann, sondern als Sprachrohr seines Autors. Damit zeigt sein durch die Entmündigung erfolgter Ausschluss aus der Gesellschaft, dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist, einen Aussteiger wie ihn zu dulden. Was an ihm unzuverlässig ist, geht gewissermaßen auf das Konto der anderen, der vielen.

In dem Essay „Horror vacui. Ein Fragment“ bekennt sich Risse ausdrücklich zu einer Auffassung, die von einer höheren Realität ausgeht: „Das Irrationale ist stets stärker als das Rationale“ (Risse 1952, 844). Dies münzt er im Folgenden auf die Literatur. Während er „jene Begebenheit, die den Helden auf Grund ungerechter Behandlung zum Verbrecher werden läßt“ (1952, 846) als Inhalt von Kleists Kohlhaas bestimmt, spricht er der „Geschichte eines Landvermessers, der sein Leben lang versucht, von einer Schloßverwaltung angestellt zu werden“ ab, der Inhalt von Kafkas Romanfragment zu sein (ebd.); denn

[W]er diese Fabel als Inhalt nimmt, hat aus dem Rankenwerk der Worte nicht herausgefunden – er vergißt, daß jedes von ihnen für sich genommen einen offenen Sinn hat, ihre Zusammenführung aber sehr wohl ins Geheime führen kann, wo eines dem andern widerspricht. Diesen geheimen Sinn spürbar zu machen, ist sicherlich der Wunsch des Künstlers, aber nicht, damit jeder ihn sogleich enträtsele, sondern nur in der Weise, daß er als etwas über den Worten Schwebendes empfunden wird. (Ebd.)

„Inhalt“ ist demnach für Risse „geheimer Sinn“, und das sei „keiner freilich, der Anspruch darauf erheben dürfte, allein als gültig betrachtet zu werden; dies nämlich würde seine rationale Erfaßbarkeit voraussetzen. Gerade daran aber fehlt es überall, wo das Geheime auftritt […]“ (ebd.). Daraus schließt Risse mit einer Anspielung auf Wittgenstein, „daß die Behauptung vom Zusammenfallen der Grenzen der Welt eines Menschen mit denen seiner Sprache falsch ist – vieles liegt jenseits, dort eben, wohin das Wort nicht mehr reicht.“Footnote 29

Risse formuliert eine Dreistufentheorie des Verhältnisses von Menschen zu Objekten: Auf der ersten legt er ihnen einen Zweck bei, auf der zweiten einen rationalen Sinn, und „auf der höchsten schließlich besitzen die Inhalte ihren Wert, ohne daß es nötig wäre, ihn zu begründen; sie fielen unverzüglich auf die niedrigere Stufe zurück, wenn sie begründet werden könnten“ (1952, 847).

Hieraus folgert Risse etwas, das auch für die Frage nach der Unzuverlässigkeit seiner Erzählinstanzen nicht ohne Belang ist, nämlich „daß im Irrationalen die Gesetze der Logik nicht gelten […]: hier ist es also auch möglich, daß etwas wahr ist und zugleich falsch“ (1952, 848). Allerdings wird dieser Satz in Risses Argumentation nicht auf literarische Darstellungen bezogen, sondern auf die irrationale Qualität des Lebens, wie er es versteht. Risses Aufsatz liest sich als Aufbäumen gegen den ökonomischen und geistigen Materialismus und versucht dem Menschen eine sozusagen vormoderne Eigenschaft zu erhalten. Sein Denken ist nicht geprägt von der Kapitulation oder der Annahme der kalten Vereinzelung des Menschen vor dem Hintergrund moderner Wissenschaft und Gesellschaft, wie es die Literatur der Moderne prägt.

Dabei kennt Risse durchaus die Argumente der Rationalisten, die darauf hinweisen, dass das Irrationale gefährlich ist und geradewegs in den Rassenhass, in den Faschismus bzw. Nationalsozialismus geführt habe. Doch Risse weist seinerseits darauf hin, dass auch positive Gefühle wie „die Liebe, die Verehrung des Göttlichen“ (1952, 851) im Irrationalen wurzelten.

Im Essay „Gesellschaftskritik“ wird Risses Fortschrittsfeindlichkeit deutlich. Sie rührt von Alfred Weber her, der nach Risse „einen Gegensatz zwischen dem Menschen und der Maschine“ sah und den „Gegensatz zwischen dem Menschen und dem Kapital“ negierte (Risse 1963, 70). Für ihn steht fest: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Fortschritt, der als das besondere Kennzeichen der modernen Zeit betrachtet wird, nicht nur Fortschritt, sondern zugleich Rückschritt ist“ (Risse 1963, 71). Und was im Allgemeinen gilt, das trifft nach Risse auch auf die Kunst im Besonderen zu: „Niemand wird behaupten, daß die Kunst unserer Tage einen Fortschritt darstellt gegenüber etwa der griechischen oder etruskischen Kunst […]. Auch innerhalb des gleichen Kulturkreises kann von Fortschritt der Kunst keine Rede sein“ (1963, 71).

Dass asoziale Moment, das seine Erzähler auszeichnet, ist für Risse keineswegs problematisch. Er vertritt es ganz offensiv. Der einzelne Mensch, so lautet der letzte Satz, „allein nämlich wird eines Tages die Entscheidung darüber zu treffen haben, ob die Gemeinschaft ihm gegenüber geistige Vormundschaftsrechte besitzt, und es wird sich alsdann erweisen, ob er seiner Aufgabe gewachsen oder dazu verdammt ist, das Leben der Termite zu führen“ (1963, 77).

Diese Zitate machen deutlich, dass sich Risse apodiktisch äußerte und klare Positionen vertrat. Zweifel kommen bei ihm nicht vor. Fortschrittsfeindlichkeit und Irrationalismus sind zwei grundlegende Auffassungen, die er darin zum Ausdruck bringt (und mit denen er damals sicherlich nicht allein stand). Sie zeigen, dass die Erzähler, so wenig sie sich textimmanent bestätigen bzw. widerlegen lassen, dennoch eine eindeutige Botschaft vertreten und damit axiologisch zuverlässig sind.

Man kann in Risses Romanen, wie gezeigt, mitunter passagenhafte Unzuverlässigkeit entdecken. Das ist aber nicht das, was an ihnen interessant ist. Interessant ist die Konstruktion, dass, textimmanent gesehen, die Unzuverlässigkeit ihrer Erzähler nicht nur nicht ausgeschlossen ist, sondern auch durch ihr sonderbares Verhalten sowie durch ihre Anlage als jedenfalls vordergründig Wahnsinnige bzw. Geistesschwache nahegelegt wird; und dass sie sich aber als zutiefst zuverlässig erweisen, wenn man in Rechnung stellt, dass die Romane die gesellschaftliche Außenseiterposition, die der Autor Heinz Risse vertrat, durch die Wahl genau dieser Erzählverfahren, die ansonsten häufig als Indikatoren für unzuverlässiges Erzählen gelten können, ins Werk setzen.

3 Unzuverlässiges Erzählen als Verfahren zur Vermeidung von Kitsch in Hans Erich Nossacks Spätestens im November (1955)

Wie eingangs erwähnt, ist Unzuverlässigkeit kein Phänomen, dass mit der literarischen Strömung, zu der man Risse zählen kann, viel zu tun hat. Auch der Risse nahestehende Hans Erich Nossack ist jemand, in dessen Werk Gegenwelten zur Realität entworfen werden. Sein erfolgreicher Roman Spätestens im November ist eher eine Ausnahme, nicht nur innerhalb seines œuvres, sondern auch, weil er unzuverlässig erzählt ist.

Auch wenn es mit Blick auf das Gesamtwerk Nossacks alles andere als ausgemacht ist, dass das unzuverlässige Erzählen dafür charakteristisch ist, liegt mit dem Roman Spätestens im November (1955) ein Werk von ihm vor, das als ein relativ klares Beispiel für diese Erzählweise gelten kann.Footnote 30 Die kleine Einschränkung, die in dem Wort „relativ“ liegt, werde ich noch genauer erklären, denn die Art der Unzuverlässigkeit hängt von einer interpretatorischen Entscheidung ab, deren Gründe zwar Plausibilität beanspruchen können, aber keineswegs zwingend sind. Es geht um die erwähnte Mimesis-Präsumtion, also um die Frage, ob die erzählte Welt stabil ist oder natürliche mit übernatürlichen Eigenschaften kombiniert. Der zweite Aspekt, weshalb Spätestens im November interessant ist, hängt damit zusammen, dass die mimetische Unzuverlässigkeit mit einer besonderen axiologischen Zuverlässigkeit kombiniert wird.

Nossack gehört wie die anderen Autoren, deren Werke in diesem Kapitel untersucht werden, zu jenen, die nicht Mitglied der Gruppe 47 waren. Trotzdem blieb er nicht ohne Kontakte. Entgegen seiner Selbstdarstellung war er, wenngleich mitunter widerwillig, sogar ausgesprochen aktiv im literarischen Leben. Er wohnte zeitweilig in Darmstadt und gehörte zum Umkreis der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, deren Vizepräsident er in den 60er Jahren war. Außerdem war er ein Autor des Suhrkamp-Verlages, zu dem er mit Spätestens im November gekommen war. Es sollte sein einziger finanzieller Erfolg bleiben. Das ahnte er damals jedoch nicht und gab seinen Brotberuf auf, mit 55 Jahren. Obwohl er ein renommierter und anerkannter Autor war, warfen seine weiteren Bücher kaum etwas ab, weshalb der Hamburger eine Zeitlang mit seiner Frau in einem Dorf bei Augsburg wohnte, unterstützt von einem Geschäftsmann und Mäzen.

Die Handlung von Spätestens im November lässt sich grob als die Geschichte eines amour fou beschreiben, der die Ehefrau eines erfolgreichen Geschäftsmannes für den Schriftsteller Berthold Möncken befällt. Sie, Marianne Helldegen mit Namen, erzählt diese Geschichte selbst in drei Teilen. Im ersten lernt sie den Autor, der einen von ihrem Mann gestifteten Literaturpreis erhält, kennen und verlässt mit ihm kurzerhand Mann und Sohn. Im zweiten Teil erzählt sie von dem schwierigen Zusammenleben mit dem ständig schreibenden Künstler, den sie nach einiger Zeit wieder verlässt, um in den Schoß der Familie zurückzukehren. Der dritte Teil berichtet davon, dass sie ihm erneut verfällt, als er zur Premiere seines neuen Stückes in die Stadt kommt und sie danach zuhause aufsucht, um sie mitzunehmen. Zusammen fahren sie in den Tod.

Mit Lahn (2000) liegt eine Untersuchung des Romans vor, deren Ergebnisse ich den folgenden Überlegungen zugrunde legen kann. Sie führt eine Reihe von Belegen an, die für die Annahme sprechen, dass Marianne Situationen nicht richtig einschätzt und sich vor allem über ihre eigenen Motive nicht im Klaren ist. Für die Annahme, dass der Roman unzuverlässig erzählt ist, sprechen nicht zuletzt Äußerungen Nossacks selbst, die Lahn zusammengetragen hat. So vergleicht Nossack (2001, 574) in einem Brief vom 3. Juni 1955 an Peter Suhrkamp seinen Roman mit Frischs Stiller, um dem Verleger gegenüber sein Manuskript einzuordnen. Es sei „weniger anspruchsvoll und daher vielleicht folgerichtiger als ‚Stiller‘.“ Wie wir später noch bei Andersch sehen werden, ist Frischs Roman auch hier, wenn nicht direkte Inspiration, so doch ein wesentlicher Katalysator für die weitere Etablierung unseres Erzählverfahrens in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

In diesem Brief an Suhrkamp wie auch in einigen anderen Briefen aus dieser Zeit wird deutlich, dass Nossack Spätestens im November von seinen anderen Werken unterscheidet.Footnote 31 Möglicherweise auch, um den Roman dem Verleger schmackhaft zu machen, schreibt Nossack, „daß er leichter zu verkaufen ist als mein sonstiges Zeug“ (ebd.). Der Grund ist der folgende: „Das Buch ist leicht lesbar, von einer Frau erzählt und vermutlich etwas für Frauen; es wird nicht reflektiert, und wenn ein Pferdefuß darin ist, so merkt man ihn jedenfalls nicht gleich“ (ebd.). Was er hier lediglich andeutet, benennt er später geradeheraus. In einem Brief an Rolf Schroers vom 26. Oktober 1955 schreibt er kurz nach der Veröffentlichung des Romans, „es ist unglaublich enervierend für den Autor, sich vierhundert Seiten lang zurückzuhalten und nicht ein einziges Mal dazwischenzurufen: Halt! So ist das nun doch nicht!“ (Nossack 2001, 593).Footnote 32 In demselben Sinn äußert sich Nossack in einem Brief vom 13. Dezember 1955 an Hans Paeschke: „Aber wenn man so will, rettet es vielleicht gerade das kitschige Thema, daß alles, aber auch wirklich alles da ist, nur daß es falsch aus dem Blickwinkel der Frau gesehen wird, ohne daß der Autor korrigierend eingreift“ (Nossack 2001, 611).Footnote 33

Nossack hat sogar dafür gesorgt, dass die Unzuverlässigkeit der Erzählerin nicht nur durch die „schiefe Perspektive“ (ebd.) offenbar wird, sondern auch durch ihren Stil, namentlich falsche Konjunktive, für die er zuerst vom Korrektor und dann, als er darauf bestand, wenigstens einige davon zu erhalten, auch von einigen Rezensenten gerügt wurde, wie er ebenfalls in dem Brief an Schroers erzählt (vgl. Nossack 2001, 594). An den Reaktionen wird deutlich, dass das Verfahren auch unter literarisch sensiblen Leuten weitgehend unbekannt war.

Daneben kann man in Nossacks Fall sehen, dass die Einsetzung des Verfahrens das Ergebnis mehrfacher Umarbeitungen einer Geschichte ist, deren Kern autobiographisch ist, und dass es dazu dient, psychologisch gesprochen, Distanz zu den persönlichen Ereignissen aufzubauen, oder, poetologisch gesprochen, die Geschichte zu verfremden, um dem traditionellen Ehebruch-Topos eine neue Qualität zu verleihen.Footnote 34

Anfang der 50er Jahre kommt es während eines Kuraufenthalts im Harz zu Nossacks Bekanntschaft mit einer „vermögenden und unabhängigen Geschäftsfrau“ (Söhling 2003, 161), aus deren Sicht er die Ereignisse schließlich schildert, wobei „er mit jeder Fassung eines ums andere persönliche Detail“ weglässt (ebd., 163). Gewisse Indizien blieben aber stehen, so etwa der Vorname des männlichen Protagonisten Berthold Möncken, der auch in Nossacks Pass stand. Söhling (ebd.) weist darauf hin, dass Nossack hier zum ersten Mal nah am eigenen Erleben schrieb, und deutet damit an, dass dies die Intensität erzeugt haben könnte, die den Erfolg des Romans mit sich brachte. Dabei erschien ihm auch die zweite Fassung noch „zu kitschig“ (ebd., 164). Erst dann entschied er sich für formale Änderungen, vor allem für den Perspektivwechsel, der die Geschichte weiter verfremdet und die Voraussetzung für das unzuverlässige Erzählen bildet. Nossack selbst erklärt die Wahl des Verfahrens dem ehemaligen Verleger Wolfgang Krüger gegenüber entstehungsgeschichtlich mit seiner Überlegung, „daß dieser November-Kitsch nur dann kein Kitsch sein werde, wenn ich die Geschichte von der nicht sehr intelligenten Frau in ziemlich ausgelaugtem Deutsch erzählen ließe“ (Nossack 2001, 606).

Wie dies im Roman umgesetzt ist, muss hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden.Footnote 35 Dass Mariannes Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht, macht sich gleich zu Beginn des Romans bemerkbar, wenn Marianne ihr Erzählen selbst problematisiert. Das könnte an dieser Stelle ebenso noch für eine erhöhte Zuverlässigkeit stehen. In dem Falle wäre sie eine Erzählerin, die um ihre Grenzen Bescheid weiß. Doch so ist es nicht. Sie ringt kaum um Klarheit, sondern hat längst kapituliert. Nicht nach Wahrheit oder Klarheit sucht sie; sie erzählt, um für sich eine Version ihres Lebens zu konstruieren, mit der sie leben kann.

Doch das Ende scheint durch den gemeinsamen Unfalltod im Auto die mimetisch-realistische Logik des Erzählens auszuhebeln. Mit dem Ende erweist sich anscheinend, dass die Ich-Erzählerin als Tote erzählt. Damit wäre der Roman zumindest auch insofern unzuverlässig erzählt, als die Ich-Erzählerin die ganze Zeit über zu verstehen gibt, dass sie lebt; denn nichts weist darauf hin, dass sie bereits tot ist, während sie erzählt, und es gibt auch keinerlei Hinweis darauf, dass die erzählte Welt eine ist, in der Tote etwas erzählen können. Andererseits wären in diesem Falle bestimmte Aussagen Mariannes nicht unbedingt als Andeutung ihrer Unzuverlässigkeit einzustufen, so etwa wenn sie irgendwelche Ahnungen äußert, für die es keinen rationalen Anlass gibt, oder Gespräche wiedergibt, denen sie nicht persönlich beigewohnt hat (vgl. Lahn 2000, 184). Solche Auffälligkeiten sind in einer surrealen oder phantastischen Welt, in der Tote erzählen können, keine Anomalien. Vieles von dem, was unter der Mimesis-Präsumtion als unzuverlässige Einschätzung anzusehen ist, wie etwa auch Mariannes Überzeugung, dass Berthold für sie etwas Ähnliches empfindet wie sie für ihn, wird schon durch Berthold erneutes Auftauchen revidiert und den gemeinsamen Tod schließlich gewissermaßen sanktioniert.

Wenn man jedoch Gründe dafür findet, dass das Ende der Phantasie der Ich-Erzählerin entspringt – und in der erzählten Welt nicht wirklich stattgefunden hat –, dann gibt es keinen Anlass, die erzählte Welt für eine surreale zu halten; dann bleibt ihr reales Gefüge erhalten und damit auch die Interpretation, wonach Marianne sich in weiten Teilen etwas vormacht. Dafür gibt es in der Tat einige Hinweise im Text. So schreibt ihr Berthold eine „erstaunliche Phantasie“ zu (SN, 112). Und weiter heißt es: „Es ist mir schon immer so gegangen: ich male mir etwas aus, wenn ich allein bin, und nachher weiß ich nicht mehr, ob ich es mir nur ausgedacht habe oder ob ich wirklich dabei gewesen bin“ (ebd.). Lahn (2000, 186–188) führt außerdem vier Beobachtungen an, die für die Annahme sprechen, dass Marianne das Ende in der erzählten Welt lediglich imaginiert: Sie habe einen Todeswunsch, sei gerade an dem letzten Tag angetrunken und psychisch destabilisiert; überdies sieht Lahn (ebd., 187) vor der Schlußszene „in ihrem [Mariannes] Erzählfluß eine deutliche Zäsur“ und entdeckt in der Darstellung von Bertholds Verhalten am Schluss Züge, die sein ungestümes Benehmen als Mariannes Wunschvorstellung ausweisen, da er vorher anders charakterisiert worden sei.

Es lässt sich ergänzen, dass Marianne bereits am Anfang, als sie sich kennenlernen, Bertholds Reaktionen nicht recht wahrnimmt, sondern ihn überrumpelt. Die Darstellung von Bertholds Verhalten ist schon da inkonsistent, denn sie beschreibt ihn in dem Moment sowohl als zögerlich als auch als draufgängerisch, insofern es ihm plötzlich nicht schnell genug gehen kann, sich von dem Empfang bei der Preisverleihung zu entfernen. Die diegetische Erklärung dafür könnte so lauten, dass ihm die Situation unangenehm ist und er deshalb versucht, ihr schnell zu entkommen, wohingegen Marianne es so darstellt, als kochten die Gefühle in ihm ebenso wie in ihr (vgl. SN, 20–28).

In einem Artikel zum Roman in Kindlers Literatur Lexikon (Hoffmann 2009) wird die realistische zugunsten einer „surrealistischen“ Interpretation mit Hinweis auf einen Brief Nossacks an Suhrkamp zurückgewiesen. Gemeint ist offenbar sein Brief vom 27. Juni 1955 aus der Zeit während der Überarbeitung des Manuskripts. Nossack analysiert vom Lektorat entdeckte vermeintliche „Fehler“ und unterteilt sie in zwei Gruppen. „Die beiden ersteren lassen sich realistisch lösen, aber die drei anderen …? Beinahe hätte ich gesagt: surrealistisch“ (Nossack 2001, 585). Gemeint sind möglicherweise Gespräche, denen Marianne nicht beiwohnt und die sie trotzdem wörtlich wiedergibt. Offenbar nicht gemeint ist die Schlussszene bzw. der Eindruck, dass sie als Tote erzählt. Das ist ein wichtiger Hinweis, denn gerade dies kann als surrealistisches Element verstanden werden, das die Mimesis-Präsumtion untergräbt. Doch das ist nicht das, was Nossack mit dem Begriff des Surrealismus meint. Überhaupt scheint er hier eher behelfsmäßigen als terminologischen Charakter zu haben. Es ist, würde ich sagen, ein ad hoc gebildeter Gegenbegriff, der deutlich machen soll, dass in der erzählten Welt sich nicht alles so verhält, wie es die Ich-Erzählerin darstellt.

Nossack fährt fort und bringt den Begriff mit seinem oben bereits erwähnten Bestreben, Kitsch zu vermeiden, in Zusammenhang: „Ich sehe nämlich, daß in der Gesamtkonzeption der Erzählung ein gewisses surrealistisches Element enthalten ist, vielleicht ist es sogar das, was das Buch vom Kitsch unterscheidet […]“ (ebd.). Wie dargestellt, sah Nossack die Entwicklung des Verfahrens einer „schiefen Perspektive“, sprich, der unzuverlässigen Ich-Erzählerin als unmittelbare Folge seiner Befürchtung, lediglich eine kitschige Liebesgeschichte zu erzählen. Damit wird recht deutlich, dass „Surrealismus“ für ihn in diesem Brief nicht das bedeutet, was es gemeinhin bedeutet, sondern so etwas wie doppelte Perspektive oder eben narrative Unzuverlässigkeit, wofür er noch keinen Begriff hatte.

Man sieht also, es spricht viel dafür, dass die erzählte Welt frei ist von mythischen oder übernatürlichen Zügen und dass Marianne eine, wenn man so will, kitschige Auffassung von ihren Erlebnissen hat. Wenn man dieser Interpretation folgt und die Welt als realistisch und mimetisch dargestellt auffasst, dann ist Marianne ganz und gar ihren Wünschen und Projektionen ausgeliefert. Der imaginierte Tod mit dem Wunschbild des Geliebten ist ihre Antwort auf die Ausweglosigkeit ihrer tristen Ehe. Für diese Interpretation spricht außer den angeführten Beobachtungen Lahns, dass sie besser in den Text integriert ist und alle seine Teile miteinander verkettet. Demgegenüber kann sich die Surrealismus-Annahme nur auf den Schluss stützen, der, wäre diese Annahme richtig, plötzlich die über 90 % des Textes geltenden metaphysischen Bedingungen der erzählten Welt über den Haufen wirft. Das Verfahren käme einer deus ex machina-Figur gleich, denn es wird vom Text in keiner Weise vorbereitet. Der Roman legt an keiner Stelle vorher eine solche Interpretation nahe, und daher ist diese Annahme weniger gut im Text verankert als die Realismus-Annahme. Immerhin ist zuzugeben, dass die Entscheidung für die Realismus-Annahme das Ergebnis eines Abwägens ist. Wie wir sehen werden, wird uns dieses Problem noch öfter begegnen, und nicht immer spricht mehr für die Realismus-Annahme als für die gegenteilige Annahme.

Das ist der erste der beiden eingangs angesprochenen Aspekte, auf die es mir hier ankommt. Der andere ist, dass die mimetische Unzuverlässigkeit in diesem Text nicht damit einher geht, die Erzählerin axiologisch zu diskreditieren. Die Pointe von Lahns Interpretation ist, dass Nossack mit Marianne nicht unbedingt eine Frau entwirft, die scheitert. Im Gegenteil, man kann das Ende auch so verstehen, dass die Absage an die Realität tatsächlich einen Ausweg aus dem wenig erhebenden Dasein mit seinen faulen Kompromissen darstellt. Mariannes imaginierter Tod ist demzufolge eine Art Allegorie auf die Macht der Phantasie und der Kunst, die allein es vermag, dem Leben ein Schnippchen zu schlagen.

Ihr Leben als Gattin eines Industriellen ist geprägt von einem oberflächlichen, verlogenen Umgang. Als sie von ihrem ersten Ausbruch mit Berthold zurückkehrt, ist sie Max, ihrem Mann, zunächst dankbar, dass er ihr keine Vorwürfe macht und offensichtlich vermeidet, bei ihr für schlechte Gefühle zu sorgen. Er macht ihr die Wiedereingliederung in den verlorenen Alltag leicht. Doch die Kehrseite dieses zuvorkommenden Verhaltens ist das, was sie immer schon gestört hat, ohne es zu durchschauen: Letztlich gilt seine Rücksicht nicht ihr, sondern dem Bild seiner Familie in der Öffentlichkeit. Sie versucht, sich dem unterzuordnen, und es ist wiederum ein Zeichen ihrer Unfähigkeit, sich selbst richtig einzuschätzen, mithin ihrer Unzuverlässigkeit, dass sie im dritten Teil die Katastrophe – also den neuerlichen Ausbruchsversuch – allein darauf zurückführt, dass sie die geplante Reise nach Mailand verschieben mussten. Wären sie rechtzeitig gefahren, hätte sie die Premiere nicht gekümmert und alles wäre gut, so ihre Logik. Doch das eigentliche Problem hätte sie damit nicht gelöst, denn es hätte nur bedeutet, sich selbst und ihre Gefühle weiter zu verleugnen.

Allgemein gesprochen, sind Gefühle genauso wie die Kunst in der Welt von Max (der Berthold zwar einen Preis verleihen lässt, aber weder der Feier beiwohnt noch das ausgezeichnete Werk kennt) der Ökonomie untergeordnet.Footnote 36 Sie bestimmt das Leben und die Moral, und dagegen setzt sich Marianne mit ihren Ausbruchsversuchen zur Wehr. Auch hierfür lässt sich wieder ein Beleg in Nossacks Briefen finden. In dem bereits erwähnten Brief an Krüger heißt es: „Und das ‚November‘-Buch ist nur auf dem Klappentext eine Liebesgeschichte, von mir aus ist es als Zeitkritik gedacht“ (Nossack 2001, 606).Footnote 37

4 Traum und Realität in Marlen Haushofers Die Tapetentür (1957)

Das nächste Beispiel aus der Reihe der Romane, die außerhalb der Gruppe 47 entstanden, stammt von der österreichischen Autorin Marlen Haushofer. Obwohl in der Forschung bereits als unzuverlässig charakterisiert, ist der Roman aus meiner Sicht kein Fall davon und eignet sich daher gut zur Abgrenzung, denn er fällt nicht einmal unter einen weit verstandenen Begriff von Unzuverlässigkeit.

Der Roman ist grundsätzlich heterodiegetisch erzählt und enthält ausgedehnte Tagebuchpassagen der Protagonistin Annette, einer dreißigjährigen Bibliothekarin. Sie beginnen mit einem Eintrag am 1. September. Bereits im Oktober lernt sie Dr. Gregor Xanthner kennen, der bald ihr Liebhaber wird und sie, als sie ein Kind erwartet, Anfang Januar heiratet. Sie verlässt ihre Wohnung und zieht zu ihm. Annette liebt ihn und fügt sich in ihr weibliches Schicksal, das darin besteht, Mutter zu werden und sich von einer Geliebten in eine Ehefrau zu verwandeln. Sie möchte den Zustand, solange es geht, hinauszögern und vermeidet es, Gregor zu erkennen zu geben, dass sie weiß, dass er sie betrügt und dass sie für ihn nicht mehr attraktiv ist. Bis zuletzt kann sie die Fiktion aufrecht erhalten und ihn im guten Glauben lassen, dass sie ihm einen Nachkommen schenkt. Doch hat sie eine Totgeburt.

Laut Westphal (2011) handelt es sich um unzuverlässiges Erzählen einer heterodiegetischen Erzählinstanz, weil die Erzählung gegen Ende angeblich einen „Kohärenzbruch“ enthält, als Annette, zuhause im Bett liegend, eine Tapetentür entdeckt, die ihr früher nie aufgefallen war. „Dem primacy-Effekt folgend, wird das Betreten eines neuen Raumes im Haus nahegelegt“ (Westphal 2011, 566). Der Gedanke lässt sich auch ohne kognitionswissenschaftlichen Begriff formulieren. Westphal will damit sagen, dass die Erzählinstanz zu verstehen gibt, dass Annettes Betreten des Raums hinter der Tapetentür fiktional wahr ist, obwohl es unwahr ist, weil Annette nur davon träumt.

Diese These ist gleich in mehrfacher Hinsicht falsch. Man kann sie mit Hilfe eines Zitats einfach widerlegen. Nach dem sogar autoreferentiell so bezeichneten letzten Tagebucheintrag setzt die heterodiegetische Erzählung folgendermaßen ein:

Im schwachen Licht der Straßenlaterne konnte Annette deutlich die dunklen Ränder der Tapetentür erkennen. Aber es konnte kein Traum sein, denn die Leuchtziffern der Uhr zeigten auf halb zwölf, und ein Wecker hat in einem Traum nichts zu suchen. Besonders dieser Wecker war viel zu neu, um sich das erlauben zu können. Wie war es nur möglich, daß sie acht Monate die Wand vor den Augen gehabt hatte, ohne die Tür zu sehen? Es war beschämend und typisch Annette.

Wohin führte sie nur? Aber sie konnte ja nirgendwo hinführen, wahrscheinlich lag nicht dahinter als ein schmaler Raum Kleider oder Schuhe.

Und dann schwang die Tür lautlos auf. Also doch ein Traum. Annette setzte sich auf und starrte in das dunkle Viereck. Ganz ferne konnte sie einen schwachen Lichtschimmer sehen, der langsam näherkam. Aber nein, das war kein Lichtschimmer, das war das gelbe Fell eines großen Hundes, der nun über die Schwelle trat. (Ta, 167)

Falsch ist zunächst, dass die Erzählinstanz zu verstehen gibt, Annette trete durch die Tapetentür, ohne dass deutlich werde, dass sie das träumt. Wie man sieht, liegt sie noch im Bett, als es heißt: „Also doch ein Traum.“ Erst später setzt sie sich auf den Hunderücken und reitet durch die Tür, und es gibt keinen Anlass zu glauben, dass es sich nicht um einen Traum handelt.

Immerhin könnte man es so auffassen, dass am Anfang der Eindruck erweckt wird, Annette halte etwas für wirklich, was in der erzählten Welt nicht existiert: die Tapetentür. Selbst wenn sich Westphal im Detail irrt, könnte die grundsätzliche Beobachtung doch richtig sein. Aber auch hier sind Zweifel anzumelden. Der narrative Trick ist ein nicht unüblicher. Laut dem ersten zitierten Satz muss man davon ausgehen, dass dort eine Tapetentür ist, weil Annette eine solche erkennt. Das Wort „erkennen“ wird in der Regel so gebraucht, dass das Objekt des Erkennens existiert, sonst wäre es ein sinnloser Satz. Streng genommen aber schreibt die Erzählinstanz einer Figur eine Wahrnehmung zu, und dass sie diese Wahrnehmung hat (eine Tapetentür zu sehen), ist nicht falsch. Falsch ist lediglich die Überzeugung, die sie aufgrund dieser Wahrnehmung bildet, nämlich dass diese Tapetentür in der erzählten Wirklichkeit existiert. Aber hat sie diese Überzeugung überhaupt? Die nächsten Sätze sind in erlebter Rede verfasst und geben Aufschluss darüber, was in ihrem Kopf vor sich geht. Sie überlegt, ob sie träume oder wache, und kommt zunächst zu der Überzeugung, dass sie träume. Muss aber auch der Leser diese Überzeugung bilden? Und gibt die Erzählinstanz zu verstehen, dass es sich um eine (in der erzählten Welt) wahre Überzeugung handelt? Nein, würde ich sagen. Allein die Tatsache, dass hier die Möglichkeit des Träumens in Betracht gezogen wird, suspendiert die Gewissheit, dass das, was vor sich geht, als wahr angenommen werden muss. Darüber hinaus ist der Grund, den Annette für sich selbst als Wirklichkeitsindikator begreift (ein Wecker mit Leuchtziffern als vermeintlicher Beweis dafür, dass sie die Tür nicht träumen könne), nicht unbedingt ein Grund, den man ihr abkaufen muss.

Unzuverlässig erzählt sein könnte Die Tapetentür aber vielleicht aus anderem Grund. Annette wiederholt ein ums andere Mal, dass ihr Mann an ihrer Misere keine Schuld trage (vgl. Ta, 179). Die Erzählinstanz korrigiert diese Einstellung nicht. Sollte es sich um axiologische Unzuverlässigkeit handeln? Demnach wäre unzuverlässig erzählt, dass Annettes Inschutznehmen des sie betrügenden Mannes unwidersprochen bleibt.

Doch hier verhält es sich wie bei vielen Fällen, in denen der Text nichts behauptet, sondern offen lässt, wie die erzählte Situation zu bewerten ist. Mit der Erzählung wird ein Lebensgefühl der Frau zum Ausdruck gebracht, bewertet wird es jedoch nicht. Die Erzählung ist diesbezüglich offen. Wer glauben möchte, Annette sei in ihrer Hingabe und Passivität eine tragische Figur, die mit ihrem Verhalten verhängnisvollerweise das Falsche tut, kann dies dem Roman entnehmen ebenso wie derjenige, der glaubt, dass sich in Annette das natürliche Schicksal der Frau offenbare, das Gegenteil.

Auch andere Werke Haushofers wie Wir töten Stella (1958) und Die Wand (1963) sind nicht unzuverlässig erzählt. Während letzterer Roman eine geschlossene nicht-realistische, aber ebenfalls stabile Welt entwirft, in der nichts auf ihre Unwirklichkeit hinweist und die deshalb allegorisch oder schlicht phantastisch zu deuten ist, enthält die zuerst genannte Novelle wiederum ein axiologisches Problem, insofern sie die Frage nach der Verantwortung der Familienmitglieder am Selbstmord ihres Dienstmädchens aufwirft. Aber wie auch im Falle der Tapetentür gilt, dass das Aufwerfen axiologischer Fragen nicht gleichzusetzen ist mit Unzuverlässigkeit.

5 Innere Welt in Hermann Lenz’ Der russische Regenbogen (1959)

Die Frage nach der Unzuverlässigkeit stellt sich eher als bei Haushofers Roman noch anlässlich eines anderen Romans vom Ende der fünfziger Jahre, der allerdings kaum bekannt ist und schon deswegen nicht für die Frage nach der Unzuverlässigkeit in Betracht gezogen wurde. Auch wenn die Antwort wie bei Haushofer am Ende abschlägig ausfallen wird, ist der Fall nicht ganz so klar. Instruktiv ist die kurze Analyse sowohl deshalb als auch mit Blick auf das Verhältnis von Magischem Realismus und Unzuverlässigkeit, das uns schon bei Heinz Risse begegnet ist. Die Welt in Haushofers Tapetentür ist vollkommen stabil. Das lässt sich vom Russischen Regenbogen nicht behaupten.

Wie Haushofer ist Hermann Lenz ein Autor, der erst spät zu Anerkennung gelangte. Als er bereits sechzig Jahre alt war, verhalf ihm Peter Handkes 1973 in der Süddeutschen Zeitung publizierte „Aufforderung, Hermann Lenz zu lesen“ zu größerer Bekanntheit. Allerdings hatte er zu diesem Zeitpunkt eine bereits jahrzehntelange Publikationsgeschichte hinter sich, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht. Literaturgeschichtlich liegen seine Anfänge im Magischen Realismus. Berühmt wurde er später allerdings für seine autobiographisch geprägten Romane mit dem Protagonisten und alter ego Eugen Rapp, die seit den sechziger Jahren erschienen und in Teilen auch als Schlüsselromane, man könnte auch sagen, als eigentlich kaum verschlüsselte historisch-faktuale Berichte lesbar sind.Footnote 38 Literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit aber haben sie erhalten, weil man in ihnen die Vorwegnahme einer wichtigen literarischen Strömung der 70er Jahre sieht, der Neuen Subjektivität (oder auch Neuen Innerlichkeit).

Von Lenz’ Eugen Rapp-Romanen umfasst die erzählte Handlung von Der Fremdling (1983) die Zeit von der zweiten Hälfte der vierziger bis zum Ende der fünfziger Jahre. Darin gibt es eine kurze Schilderung des Treffens der Gruppe 47 in der Laufenmühle 1951, bei der auch Lenz las und (angeblich) durchfiel.Footnote 39 Seine Darstellung ist von großer Distanz geprägt. Es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht erheblich, ob seine Wiedergabe wahr ist oder angemessen mit Bezug auf das historisch-reale Geschehen im Jahre 1951. Allerdings könnte man auf die Idee kommen, dass das Bild, das das heterodiegetische Erzählen (das charakteristischerweise von regelmäßigen Du-Passagen ergänzt wird, die als innere Rede Rapps interpretierbar sind) von der Persönlichkeit Eugen Rapps präsentiert, nicht das Bild ist, das der Autor bzw. der Roman von ihm vermitteln will. Nicht zuletzt in der Du-Rede lässt sich erkennen, dass Rapp jemand ist bzw. vordergründig als jemand präsentiert wird, dem fast jegliches Selbstvertrauen fehlt. Vor allem projiziert das Erzählen das Bild von Eugen Rapp als Versager ständig auch in das Bild, das sich – gemäß seiner Darstellung – die anderen von ihm machen, sein Vater etwa, aber auch andere Schriftsteller, mit denen er zu tun hat. Zugleich soll er jemand sein, der damit zufrieden ist, für sich selbst zu schreiben, und Anerkennung nicht nötig hat. Man könnte nun einige Argumente sammeln, die dafür sprechen, dass uns das Erzählen im Verbund mit Eugens Du-Reflexionen diesbezüglich etwas vormacht. In der Romanwirklichkeit ist Eugen jemand, der unzufrieden ist und unter seiner Erfolglosigkeit leidet.

Man kann an diesem Beispiel sehen, dass psychologische Einschätzungen für die Theorie des unzuverlässigen Erzählens ein Problem darstellen können. In diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass man es hier wohl nicht mit einer vom Autor unterschiedenen Erzählinstanz zu tun hat, die der Kommunikation mit dem Leser zwischengeschaltet ist. Wenn der Roman tatsächlich zeigte, dass es zu dem vordergründig vermittelten Bild von Rapps Persönlichkeit ein dahinter verborgenes wahres Bild seiner psychologischen Struktur gäbe, so mag das auch auf den Autor selbst zutreffen. Wir wären damit auf dem Gebiet der Literatur- und Autorpsychologie.

Auch frühere Romane von Hermann Lenz sind für die hier verhandelte Frage von Interesse, insofern sie sich zur Abgrenzung vom unzuverlässigen Erzählen eignen. In Andere Tage (1968), dem zweiten Band der insgesamt neun Bände umfassenden Reihe von Eugen Rapp-Romanen, ist in weiten Teilen nicht Eugen der Reflektor bzw. die fokalisierte Figur, sondern seine etwas jüngere Schwester Margret. Sie hat offensichtlich andere Präferenzen als ihr geistig interessierter Bruder und wünscht ihn sich lebhafter und aufgeschlossener für andere Menschen. Mit seinem in sich selbst versponnenen Wesen kann sie wenig anfangen. Auch ist die Familie Hitler gegenüber zunächst positiv eingestellt, während Eugen von Anfang an seine Abneigung äußert. Trotzdem lässt er sich, weil er ein noch minderjähriger Student ist, der vom Vater finanziert wird, überreden, in die SA einzutreten. Das Argument der Eltern sind die beruflichen Aufstiegschancen, die sie sich von der Mitgliedschaft versprechen. Dem – trotzdem gutmütigen – Vater als ehemaligem Soldaten ist wichtig, dass der in seinen Augen etwas weichliche Eugen sich dort soldatische Tugenden aneignet. Eugen jedoch ist dieses Denken völlig fremd. Er ergreift die erstbeste Gelegenheit, dem Nazi-Verein seinen Rücken zu kehren, als er sich krankmelden muss und am Hals operiert wird.

Diese grundlegende Andersartigkeit Eugens, seine Opposition zu den elterlichen Erwartungen (wie auch zu den schwesterlichen Interessen) wäre eigentlich ein höchst geeigneter Anlass für eine Darstellung aus der Perspektive Margrets, die ihn unter den für die Familie geltenden Normen als defizienten Charakter erscheinen lassen könnte. Dann würde sich immerhin die Frage nach heterodiegetischer Unzuverlässigkeit stellen. Aber das ist nicht der Fall, denn Margrets Perspektive ist bei aller Reserve doch auch geprägt von Empathie und Sympathie für ihren Bruder. Immer wieder lässt sie Respekt für sein Anderssein anklingen und auch einen gewissen Stolz. Daher wird hier nichts Falsches zu verstehen gegeben, sondern allenfalls Ambivalentes. Und es werden auch keine Werturteile gefällt, die man als unrichtig erkennen soll.

Dringlicher stellt sich die Frage nach narrativer Unzuverlässigkeit im Falle von Lenz’ homodiegetisch erzähltem Roman Der russische Regenbogen (1959).Footnote 40 Schon in den ersten Sätzen wird deutlich, dass wir es nicht nur mit einer homodiegetischen Erzählinstanz zu tun haben, sondern, weil es eine Ich-Erzählerin ist, die überdies aus Russland stammt, mindestens mit Rollenprosa. Der Autor signalisiert durch das andere Geschlecht und die andere Herkunft von vornherein Distanz zwischen sich selbst und dem, was er seine Erzählerin sagen lässt. Das kann ein Indiz für unzuverlässiges Erzählen sein, muss es aber nicht.Footnote 41 Wie wir sehen werden, handelt es sich in diesem Fall nicht um unzuverlässiges Erzählen. Aber ganz unkompliziert liegt der Fall nicht.

Das Erzähl-Ich wird von anderen Tamara genannt und hat Medizin studiert. Sie ist, wie man erfährt, bis zum Einsetzen der erzählten Zeit im Juli 1944 Zwangsarbeiterin in einem deutschen Feldlazarett und wird zu Beginn der Narration „mit anderen russischen Mädchen und Frauen“ (RR, 7) auf einen ostpreußischen Gutshof verfrachtet.

Die Geschehnisse sind auf sechs Kapitel verteilt, die jeweils einer Etappe von Tamaras Irrfahrt durch das letzte Kriegsjahr gewidmet sind. Über ein Pfarrhaus (II.) verschlägt es sie in einen Militärzug, mit dem sie bis in eine süddeutsche Stadt gelangt (III.), wo sie nach einem schweren Bombenangriff erst bei einer älteren Dame unterkommt (IV.), dann aber freiwillig in ein Lager für Zwangsarbeiterinnen wechselt (V.), bis sie nach Kriegsende in eine Unterkunft für displaced persons übersiedelt (VI.). Am Ende bricht sie in die Heimat auf, wo sie möglicherweise nichts Gutes erwartet.Footnote 42

Tamaras Flucht aus Ostpreußen wird begleitet von Andeutungen, die das Attentat vom 20. Juli 1944 betreffen. Der Bauer, der den Hof bewirtschaftet, ist in die Anschlagsvorbereitungen verwickelt und verhilft ihr mit seiner Nichte zur gemeinsamen Flucht. Doch wirkt Tamaras Erzählung trotz dieser Wirklichkeitsreferenzen nichts weniger als historisch-realistisch. Das liegt zum einen daran, dass sie vom Grauen des Krieges während ihrer Reise so gut wie unberührt bleibt, und zum anderen daran, dass die Welt, die sie schildert, unwirklich klein und manchmal bizarr ist. Aus diesem Grunde gewinnt man den Eindruck, dass es eine Erzählung ist, die immer wieder an das Phantastische oder Traumhafte rührt. Unzuverlässigkeit scheint hier nicht nahe zu liegen, weil der Roman den mimetischen Grundcharakter von Tamaras Erzählen durch den unwahrscheinlichen Verlauf der Geschichte immer wieder in Frage stellt.

Unzuverlässig erzählt wäre der Roman höchstens dann, wenn sich erwiese, dass die Absonderlichkeiten auf Tamaras eigenartige Wahrnehmung zurückzuführen sind und dass die Verhältnisse in der erzählten Welt in der fiktiven Wirklichkeit anders sind. In diesem Falle wäre nicht die Welt instabil, sondern Tamaras Wahrnehmung. Dafür aber gibt es, meine ich, kaum Hinweise. Es liegt nicht an Tamaras Wahrnehmung; die Welt des Romans greift trotz ihrer grundlegenden mimetisch-realistischen Verfasstheit immer wieder ins Absonderliche aus. Unwahrscheinlich ist etwa, dass sie nie entdeckt wird, freiwillig ins Lager geht und immer wieder mit dem Soldaten Abel Heyn konfrontiert wird. Andererseits werden auch immer wieder Motivierungen bzw. Begründungen für ihr Glück angeführt. Diese Motivierungen funktionieren realistisch, d. h. sie restituieren, weil sie die kausale Verknüpfung der Ereignisse stärken, den mimetischen Rahmen, der aufgrund der Unwahrscheinlichkeit der Ereignisse immer wieder aus den Fugen gerät.

Das ist schon zu Beginn der Fall. Auf dem Gutshof werden die russischen Zwangsarbeiterinnen von dem einfach Soldaten Abel Heyn für die Landarbeit eingeteilt, wobei ihm ein Mädchen, wie es scheint, spielerisch hilft, indem sie die Arbeiterinnen hereinruft, mit der offenbar unschuldig gemeinten Anrede „Meine Herrschaften!“. Tamara betritt als letzte die verglaste Veranda und sagt: „Ich kann nicht Bauernarbeit“, offenbar ohne zu wissen, was sie erwartet. Das Mädchen bringt sie mit Abels Einverständnis in den angrenzenden Salon und versteckt sie anschließend auf dem Heuboden.

Abel Heyn begegnet Tamara noch mehrmals. Zunächst erweist sich die ältere Dame, bei der sie in der deutschen Stadt unterkommt, als Abels Mutter. Tamara zieht aus, wie sich erst gegen Ende herausstellt, weil sie nicht in Abels Zimmer bleiben kann (während sie zunächst vorgibt, es sei ihr zu gemütlich bei Frau Heyn und sie wolle nicht von ihr abhängig sein). Später zitiert sie einen Ausspruch Abels, von dem eine andere Zwangsarbeiterin sagt, sie habe einmal einen gekannt, der dasselbe gesagt habe. Am Ende kommt ihr am Bahnhof ein Kriegsheimkehrer entgegen, der so aussieht wie Abel, sie aber nicht anblickt. Schon vorher hat ein Puppenspieler sie an ihn erinnert.

Gerade in dem Verhältnis von Tamara zu Abel zeigt sich, wie klein die erzählte Welt ist. Es mag an Tamara liegen, dass sie überall Abel zu begegnen meint. Tamaras Wahrnehmung könnte trügerisch sein, und sie könnte sich nur einbilden, ihn zu sehen. Doch ihre Perspektive ist im Roman unhintergehbar. Konsequent spricht sie als erlebendes Ich. Nirgendwo präsentiert sie ihre Erlebnisse als vergangene. Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass die Dame nicht Abel Heyns Mutter ist, und es bleibt vage, ob Tamara ihm am Ende im Bahnhof begegnet oder nicht. Letztlich ist es sogar plausibler anzunehmen, dass ihre Wahrnehmung zuverlässig ist, weil sie von anderen Figuren zum Teil gestützt wird.Footnote 43

Mit Abel sind trotzdem zwei Ereignissequenzen verknüpft, die die Frage nach dem unzuverlässigen Erzählen aufwerfen. Einmal ist es die mögliche Andeutung, dass Abel und Tamara sich schon kennen, als sie sich auf dem Gutshof in der bereits skizzierten Szene begegnen. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob es sich überhaupt um eine Andeutung handelt. Wenn nein, dann erübrigt sich damit auch die Frage, ob Tamara an der Stelle unzuverlässig erzählt, weil es keinen Konflikt mehr gibt; wenn ja, dann ist die Frage zu beantworten, ob mit der Andeutung etwas Falsches zu verstehen gegeben wird.

Als Tamara Abel das erste Mal sieht, gibt sie zumindest zu verstehen, dass sie ihn nicht mit Namen kennt. Sie beobachtet das Mädchen, das ihn mit seinem Namen anredet, und registriert für sich: „Ich ging weiter und dachte: der heißt also Abel“ (RR, 9). Es ist am wahrscheinlichsten, dass die Konnektivpartikel „also“ sich auf ihre unmittelbar vorher gemachte Beobachtung bezieht, aus der sie den Schluss zieht, dass „der weiß, daß man mit Nagelschuhen nicht auf einen Teppich tritt“ (RR, 8), womit sie sagen will, dass „der“, also Abel, ein deutscher Wehrmachtssoldat mit ungewöhnlich guten Manieren ist. Sie selbst hebt sich gleichfalls durch Bildung (als Medizinerin und fließend Deutsch Sprechende), Aussehen (sie trägt kein Kopftuch wie der Rest der Frauen) und Verhalten („nicht unterwürfig“) von der Masse der Zwangsarbeiterinnen ab (RR, 10).

Dass sich „also“ auch auf eine nicht geschilderte frühere Begegnung mit Abel bezieht, ist damit zwar nicht ausgeschlossen, aber bislang spricht dafür nichts. Sie könnte ihn schon länger kennen, aber sie gibt es nicht zu verstehen. Dass sie ihn wiedererkennt, gibt sie an dieser Stelle nicht zu verstehen. Sie wäre mit Bezug auf die Bekanntschaft mit Abel mimetisch unzuverlässig, wenn sich herausstellte, dass sie ihn doch länger oder besser (wenn auch nicht mit Namen) kennt.

Dafür könnte nun das Folgende sprechen: Das Mädchen nennt im Gespräch mit Abel kurz darauf, als sie die Zwangsarbeiterin spontan im Salon verstecken, Tamara „Ihre russische Freundin“ (RR, 12). Es wiederholt dieses Wort noch zweimal und sagt obendrein, als sie vorübergehend zu dritt in der Waschküche sind: „Da habt ihr euch. Nun feiert Verlobung“ (RR, 13). Das Mädchen tut so, als sollten Abel und Tamara einander küssen, während es sich abwendet. Zeigt dies, dass Abel und Tamara sich in Wahrheit besser und länger kennen? – Wohl nicht, denn das Mädchen spielt und ist sich des Ernsts der Lage überhaupt nicht bewusst.Footnote 44 Tamara zu verstecken ist für das Mädchen ein Abenteuer, dessen mögliche Konsequenzen es nicht völlig überblickt. Dass ein Vorgesetzter von Abel diesem droht, er habe mit drastischer Strafe zu rechnen, wenn er sich bei der Registrierung der Zwangsarbeiterinnen vertut, nimmt das Mädchen auf, um Abel zu ärgern, und fügt hinzu: „Aber ist es nicht verständlich, daß ich Eifersucht verspüre?“ (ebd.). Damit tut es so, als könnte es ihn ans Messer liefern, um ihn für seine vermeintliche Liebe zu Tamara zu bestrafen. Das Benehmen des Mädchens im Eingangskapitel ist geprägt von seinem Spieltrieb, zu dem auch gehört, sich in (damals jedenfalls stereotype) weibliche Verhaltensmuster einzuüben, kurz gesagt, es kokettiert, und entsprechend sind die potentiellen Hinweise des Mädchens, Tamara und Abel kennten sich schon länger, nicht als Andeutungen auf eine längere Bekanntschaft zu verstehen, sondern charakterisieren ausschließlich den Unernst des Mädchens. Auch dass das Mädchen kurz darauf bemerkt, dass Tamara und Abel sich duzen (RR, 14), ist in diesem Sinne zu verstehen. „Das denkst du jetzt auch“, sagt Tamara (ebd.) auf seine in indirekter Rede wiedergegebene Erfahrung hin, dass er sich an der Front frage, wie er sich verhalten werde. Tamara zieht eine Analogie von dieser Fronterfahrung zur gegenwärtigen Situation. Sie könnte aber den Satz auch auf sich selbst gemünzt haben. Das Duzen mag am ehesten als Ausdruck der Nähe aufzufassen sein, die Tamara Abel gegenüber verspürt, wenn sie sich nicht gar selbst anspricht.

Auch die andere Sequenz erweist sich nicht als unzuverlässig erzählt. Sie betrifft den Umstand, dass Abel der wahre Grund für Tamaras Quartierwechsel ist. Tamara täuscht möglicherweise Frau Heyn und die Leser darüber, dass sie das Haus verlässt, weil sie nicht länger in Abels Zimmer sein kann, und gibt stattdessen zu verstehen, sich nicht von Frau Abel abhängig machen, „fort aus der faulen Idylle“ (RR, 84) zu wollen.

Doch das ist gar nicht unwahr. Der Grund, den sie anführt, ist nicht unplausibel, weil sie ihn auch bei anderer Gelegenheit äußert. Sie gehört nicht zu denen, die es sich mit allen Mitteln leicht machen wollen. Im Gegenteil. Sie gibt also nicht einen falschen Grund an, sondern nur einen anderen. Dies erkennt Tamara durch eine rhetorische Frage sogar selbst an: „Oder gab’s noch einen anderen Grund, den ich mir nur nicht eingestand?“ (ebd.). Damit zeigt sich, dass damit wieder ein Fall von Unvollständigkeit vorliegt, zu der sich die Erzählerin überdies selbst bekennt, nicht aber von mimetischer Unzuverlässigkeit.

Bleibt noch die Frage nach axiologischer Unzuverlässigkeit. Es fällt auf, dass Tamara anfangs egoistisch handelt. Sie stellt für das Mädchen und ihren Onkel, die sie auf ihrer Flucht mitnehmen, eine zusätzliche Gefahr dar. Doch sie nimmt sich später explizit ein Beispiel am Mädchen und nimmt sich vor, sich um Franka zu kümmern, wie das Mädchen sich um sie gekümmert hat. Tamara macht also eine Entwicklung vom Egoismus zum Altruismus durch. Ihr Egoismus am Anfang erklärt sich zudem aus ihrem Schicksal als Zwangsarbeiterin. Sie ist als Zwangsarbeiterin das Opfer. Die Umstände sanktionieren ihren Egoismus.

Wie die eingehende Interpretation des Romans ergibt (vgl. Aumüller 2021c), ist Tamara als alter ego des Autors zu verstehen, dem er ein Lebensgefühl verleiht, das auch seine eigene Kriegserfahrung bestimmt hat. Zwar kann man auch ein alter ego einsetzen, um die Unzuverlässigkeit der Ich-Position herauszustellen. Im Falle von Hermann Lenz gibt es dafür aber keine überzeugenden Belege. Das hat nicht nur mit dem (bis auf Geschlecht und Herkunft) konsonanten Verhältnis von Erzählerfigur und Autor zu tun, sondern auch mit der Nähe der Erzählform zum Magischen Realismus, auch wenn sie hier nicht mehr so stark ausgeprägt ist wie in anderen frühen Werken von Lenz.

Legt man die Definition des literarischen Magischen Realismus von Scheffel (2000) zugrunde, so wird der Roman nicht in allen Hinsichten von ihr erfasst.Footnote 45 Das würde dafür sprechen, dass der Roman ein Übergangswerk ist. Zwar gibt es in Lenz’ Roman mit dem Attentat vom 20. Juli 1944, erstens, einen „direkte[n] Bezug auf die zeitgenössische Lebenswelt“ (ebd., 526). Zweitens liegt auch eine „geschlossene Erzählform“ vor (ebd.), jedenfalls insofern, als es die immer anwesende Tamara ist, die ausschließlich als erlebendes Ich erzählt. Auch ist das Kriterium der Homogenität der erzählten Welt erfüllt. Scheffels viertes Kriterium – das der Stabilität der erzählten Welt, die sich in der Abwesenheit von „durch die Form des Erzählens bedingten Antinomien“ auszeichne (ebd.) – ist jedoch problematisch. Ob in der erzählten Welt ausschließlich Naturgesetze gelten, ist fraglich, so dass nicht in allen Fällen klar ist, was der Fall ist und was nicht. So nimmt das Kind im Laufe der gemeinsamen Flucht engelhafte Züge an. Es wird nicht nur so angesprochen, es verfügt nun auch über prognostische Fähigkeiten und sieht seinen eigenen Tod voraus. Offen bleibt, ob die Welt tatsächlich von einem sterbenden Engel bewohnt wird oder ob dies in Tamaras Auffassung von der Welt begriffen liegt. Die Folge ist, dass die Geltung der Mimesis-Präsumtion vom Lauf der Ereignisse zumindest herausgefordert (wenngleich nicht aufgehoben) wird. Scheffels fünftes Kriterium hängt damit eng zusammen. Der Roman weist zumindest im Ansatz insofern die „Einbindung eines Geheimnisses in die erzählte Welt“ auf sowie die „Brechung des realistischen Systems durch eine Verbindung spezifischer formaler oder auch inhaltlicher Mittel“, als „auf der Figurenebene das Erlebnis einer besonderen, ‚überdeutlichen‘ Wahrnehmung“ vorliegt (ebd.). Tamaras Auffassung reicht von wenigen sehr realen Beobachtungen wie der, dass die Sowjetunion eine Diktatur ist, bis zu vielen selbstvergessenen Alltagsbeobachtungen, die das Grauen des Krieges auszublenden scheinen. All das wirkt ebenso rätselhaft wie der unwahrscheinliche Lebensweg, von dem der Roman erzählt. Transzendenz scheint sich immer wieder anzudeuten und ist doch durch eine psychologische Erklärung rationalisierbar. Das Besondere am Russischen Regenbogen ist, dass all diese Hinweise zwischen magischen und psychologischen Momenten changieren. Letztere verdanken sich der besonderen Sensibilität, mit der Lenz Tamara ausstattet, wozu auch gehört, das, was sie nicht an sich herankommen lässt, nicht vollständig zu ignorieren, sondern anzudeuten.Footnote 46

Eine kurze Passage aus dem in diesem Abschnitt zuerst erwähnten späteren Roman von Lenz scheint wie gemacht für diese Beobachtung, auch wenn sie sich auf eines der anderen Werke von Lenz bezieht. Im dritten Teil des Fremdling wird aus der Sicht des Vaters von Eugen Rapp erzählt. Heimlich liest der Vater ein Manuskript des Sohns, das ihn irgendwie rührt: „Das Bittere und Widerwärtige lag nicht offen da, wurde einem nicht unter die Nase gerieben, meldete sich aber trotzdem an.“Footnote 47

Was im Russischen Regenbogen so eigenartig und rätselhaft anmutet, verdankt sich der Spannung zwischen einer in dieser Welt (und nur in dieser) wirkenden Kraft und der speziellen Weltwahrnehmung Tamaras, die zusammenfällt mit Lenz’ künstlerischer Sensibilität. Daher ist Unzuverlässigkeit in diesem Fall keine Option, die genannten Brüche oder Antinomien zu überwinden. Was Tamara wahrnimmt und als erlebendes Ich äußert, ist in der Welt des Romans wahr, und was sie durchmacht, führt sie, axiologisch gesehen, zu einer altruistischen Einstellung.

6 Fiktive Gegenwelten bei Arno Schmidt

Diskussionswürdig ist die Frage nach der Unzuverlässigkeit auch im Falle Arno Schmidts. Obwohl aufgrund zahlreicher offensichtlich autobiographischer Elemente Schmidts Ich-Erzähler lange mit ihrem Autor identifiziert wurden, mehren sich seit einiger Zeit die Stimmen, die diese Identifikation für vorschnell halten (vgl. Zymner 1995, 258 f.). Selbstverständlich begründet das Auseinanderfallen von Autor und Erzählinstanz noch kein unzuverlässiges Erzählen (sondern allenfalls Rollenprosa); wohl aber ist eine vom Autor unterschiedene Erzählinstanz mit „eigener“ (d. h. vom Autor strategisch eingesetzter, fingierter) Agenda eine Voraussetzung für das unzuverlässige Erzählen, zumindest in seiner prototypischen Form.

6.1 Mimetische Unzuverlässigkeit in Gadir und Enthymesis oder W. I. E. H. (1949)

Bereits in Schmidts frühen Nachkriegserzählungen lässt sich unzuverlässiges Erzählen nachweisen, etwa in Gadir oder erkenne dich selbst (1949), die in seinem ersten veröffentlichten Band abgedruckt ist und zu seinen Antike-Erzählungen gehört. Während einer Lesung im Februar 1956 gab Schmidt selbst Auskunft über die Vorgeschichte seines erzählenden Protagonisten Pytheas von Massilia.Footnote 48 Inspiriert von der gleichnamigen historischen Gestalt, denkt sich Schmidt seinen Helden als Gefangenen, der seit 52 Jahren in der Festung von Gadir (dem heutigen Cádiz) von den Karthagern gefangen gehalten wird.Footnote 49 Sein Vergehen war laut Schmidt, dass er sich auf eines der phönizischen Handelsschiffe geschlichen hat, um auf ihm entlang der Atlantikküste nach Nordeuropa zu gelangen und danach darüber einen Bericht zu verfassen. Die Karthager sollen über das Monopol der Reiseroute verfügt und kein Interesse an der Verbreitung von Informationen darüber gehabt haben. Daher ließen sie ihn in Schmidts Fiktion verschwinden.Footnote 50

Die Erzählung ist wie die anderen frühen Erzählungen als Tagebuch inszeniert. Zumindest geben die (kursivierten) Überschriften, die den Text gliedern, das zeitliche Gerüst vor und weisen den darunter stehenden Text als an dem jeweiligen Tag verfassten aus. Es beginnt mit „52 Jahre 118 Tage“ (G, 57). Pytheas lauscht am Anfang der Wache, die unter seinem vergitterten Fenster patrouilliert. Er hält sich fit in seiner Zelle und hegt Fluchtgedanken: „Gleich ein paar Übungen gemacht : ich fühle mich doch noch recht kräftig (trotz Brot und Wasser und gesiebter Luft); bis zur Insel könnt’ ich noch schwimmen; klar“ (G, 57). Die letzten dieser Zeitangaben sind „Nachmittag schon (und also 52, 123)“ (G, 67) und, jetzt aber (aus gutem Grund) nicht kursiv: „Macht 52, 124 – – oder nein : Nein ! ! 0,1 ! !)“ (G, 71).

Ob man sich den Text als geschriebenen vorstellen soll, lässt sich aus diesen Zeitangaben allerdings nicht schließen. Manche Passagen haben tatsächlich tagebuchartigen Charakter, etwa wenn präsentische Eindrücke von einer Erinnerung an ein früheres Ereignis an dem Tag unterbrochen werden, so am 120. Tag: „Gegen Mittag tobte eine grell gelb und braun geflammte Hornisse durchs Gitterfenster“ (G, 60). Außerdem versteckt er sein Heft, als die Wache kommt und ihn zum Kleiderwechsel abholt. Allerdings ahmt der Text an dieser Stelle schwerlich ein Tagebuch nach:

Da

die Riegel klappen ! ! – Schnell Heft verstecken –

Zurück

Ich zittere am ganzen Leibe; ich … (G, 61)

Die auch im Original kursivierten Wörter haben hier eine ähnliche Funktion wie der Nebentext im Drama. Während man sich beim „Zurück“ noch vorstellen kann, dass es geschrieben steht, scheint mir das beim „Da“ und den folgenden Wörtern nicht der Fall zu sein, einfach weil die Zeit dazu nicht reicht. Was der Erzähler schreibt und denkt bzw. nur denkt (aber nicht schreibt), geht ineinander über, und so repräsentiert der Text – wenn es denn erlaubt ist, bei einem Schmidt-Text eine Erzählsituation zu bestimmen – meiner Meinung nach kein Tagebuch, sondern Pytheas’ Gedanken beim Schreiben, von denen einige dann tatsächlich in seinem Heft stehen mögen, andere aber nicht. Dieser Befund mag nun etwas übergenau daherkommen, aber er harmoniert mit der Unzuverlässigkeit des Erzählers, wie gleich deutlich wird.

Man kann jedenfalls sagen, dass es sich um einen inneren Monolog handelt. Noch deutlicher wird dies, wenn Pytheas von seiner Flucht spricht, die er nach dem 123. Tag unternimmt. Einerseits erbeutet er, als er in der Kleiderkammer ist, einen stählernen Schuhbeschlag, mit dem er die Gitterstäbe durchfeilen will (G, 63); andererseits biegt er sie dann einfach auseinander und zwängt sich durch: „Ja ! Ja ! ! ! : Sie biegen sich !“ (G, 68). Sodann springt er über den Wachgang zur Außenmauer, lässt sich an ihr mit Hilfe geknoteter Stoffe hinunter und schwimmt zur Insel. Er flieht weiter. Am Ende gelangt er auf ein schwarzes Schiff, dessen Kapitän, „hoch (und dürr) im schwarzen Mantelgeflatter, mit langem bleichem Gesicht“, er „Patron!“ anredet (G, 74 [Kurs. i. Orig.]). Kaum ist er an Bord, legt das Schiff ab. Er schwankt, am Bug stehend, mit dem Boot auf und ab. Schaukelt und: „Seh nichts mehr“ (ebd.). Es folgt ein abgesetzter Epilog, dessen Erzähler Abdichiba ist, einer der Aufseher der Festung. Er meldet seinem Herrn das Ableben des Gefangenen, den sie tot am Tisch in seiner Zelle gefunden und dann ins Meer geworfen haben.

Damit erweist sich die Erzählung der Flucht als Phantasie des Erzählers in der Stunde seines Todes, dies seit Ambrose Bierce’ An Occurrence at Owl Creek Bridge (1890) eines der inzwischen klassischen Motive narrativer Unzuverlässigkeit (vgl. Köppe/Kindt 2014, 237–240). Man kann annehmen, dass hier eine direkte Einflussbeziehung vorliegt, denn Schmidt soll diese Erzählung gekannt haben.Footnote 51

Vor dem Hintergrund dieser Pointe werden bestimmte Anspielungen zuvor verständlich. Zweimal erwähnt wird Pytheas’ heiße Stirn, auch gibt der Arzt ihm nur noch acht Tage zu leben (G, 62, 67). Auf diese Weise wird seine Fluchtimagination als Fieberwahn erklärbar, aus dem er nicht mehr herausfindet. Gibt er zunächst zu verstehen, dass seine Flucht in der Fiktion real ist, erweist sich dies in Abdichibas Nachwort als irreal. So gesehen, wäre es unlogisch, hätte man es tatsächlich mit einem Tagebuch zu tun. Der Text bietet, fiktional gesehen, lediglich eine partielle Repräsentation des Tagebuchs, das Pytheas in den letzten Augenblicken seiner Existenz führt. Es spricht mithin alles, bis ins Detail, dafür, dass Pytheas als mimetisch unzuverlässiger Erzähler konzipiert ist.

Pytheas bleibt nach Fränzels Auslegung trotzdem „völlig ungebrochen“ (Fränzel 2002, 27). Wie in den anderen frühen Erzählungen sieht er darin eine „Apologie des Eskapismus vor dem Hitlerregime“ (ebd., 28). „Das Individuum vermag Gefangenschaft und Isolation weitgehend unbeschadet zu überstehen, sofern es in der Lage ist, sich eine reiche innere Welt zu erschaffen“ (ebd.). Der Grund soll darin liegen, dass sich Pytheas erfolgreich etwas vormacht, obwohl die Umstände es ihm eigentlich nicht erlauben. Pytheas’ innere Welt kann sich demnach gegen sein äußeres Scheitern behaupten. In dieser Interpretation verbindet sich mit der mimetischen Unzuverlässigkeit des Erzählers seine axiologische Zuverlässigkeit.

Man könnte es allerdings auch anders deuten, immerhin stirbt Pytheas. Die Entkopplung von der Welt in der Phantasie führte demnach in den Tod. Der totalen Phantasie wäre damit kein Überleben beschieden. So gesehen, würde sich die mimetische Unzuverlässigkeit auf die Axiologie auswirken, diese gewissermaßen mit ihrer negativen Konnotation, die im Nichterkennen besteht, infizieren. Für diese Deutungsrichtung könnte der Rang sprechen, den Schmidt dem Erkenntnisvermögen des Menschen zumaß. Vor dem Hintergrund, dass Pytheas als Sinnbild eines humanen Werten verpflichteten Geistesmenschen ein Gefangener einer inhumanen Diktatur war, erhält der Widerspruch zwischen erlösender, aber todbringender bzw. nur im Tod sich erfüllender Phantasie einen spezifischen Sinn: dass nämlich der Widerspruch nur zwischen freier Phantasie und Kunst einerseits und unfreier, d. h. diktatorischer Gesellschaft andererseits besteht, nicht aber zwischen Kunst und Gesellschaft schlechthin.

Dass die Antike-Erzählungen zum Teil als Allegorien auf die Nazi-Zeit verstehbar sind, lässt sich auch an Enthymesis oder W. I. E. H. (1949) zeigen.Footnote 52 Fiktiver Verfasser bzw. Erzähler dieser wiederum als Tagebuch präsentierten Erzählung ist Philostratos, der sich mit einigen Gefährten auf einer geographischen Expedition in der Sahara zur Vermessung ihrer Ausdehnung nach Süden befindet. Nach einem Streit kehrt ein Teil der Gruppe zurück. Philostratos erschießt hinterrücks den römischen Anführer Aemilianus und zieht allein weiter, wo er bald den Tod findet. Das Manuskript wird von Eratosthenes, dem berühmten Universalgelehrten und Leiter der Bibliothek von Alexandria, der auch die Expedition losgeschickt hatte, später gefunden. Philostratos charakterisiert Rom in einer Weise, die auch auf Nazi-Deutschland zutrifft, und krönt seine Ausführungen mit der Abwandlung des nationalsozialistischen Propagandaliedes „Es zittern die morschen Knochen“ von Hans Baumann: „[…] ‚… denn heute gehört uns Roma, und morgen die ganze Welt …‘, so singen ja die Zehnjährigen bei ihren Marschübungen“ (E, 17).

Während diesbezüglich kein (axiologisch) unzuverlässiges Erzählen vorliegt, weil Philostratos’ Überzeugungen denjenigen Schmidts nahekommen, gibt es jedoch eine Reihe anderer Äußerungen, die ihn zu einem (mimetisch) unzuverlässigen Erzähler machen. Unter dem Einfluss „von dem glashellen scharfen Branntwein“ am frühen Morgen, noch vor Sonnenaufgang, erinnert er sich eines Gesprächs mit Eratosthenes, in dem er mit folgender Nonsens-Schlussfolgerung bewiesen haben will, dass die Erde eine Scheibe sei: „Das Kennzeichen des Geistes ist, daß er die Unendlichkeit will; nun sei die Scheibe unendlicher als die Kugel, also müsse die Erde eine Scheibe sein“ (E, 15). Danach wird deutlich, dass es seine allgemeine Menschenverachtung ist, die ihn zu dieser Annahme führt, ja, dass es sich in Wahrheit eher um einen Wunsch handelt als eine Überzeugung: „Nein, nein, ich will daß sie eine Scheibe und so unendlich sei“ (ebd.). Wenn die von Philostratos zum Ausdruck gebrachte Menschenfeindlichkeit auch wiederum die Nähe zum Autor durchscheinen lässt, so zeigt ihn Schmidt doch als einen wahnhaften Menschen, der nicht nur naturwissenschaftlich falsch liegt, sondern dessen Weltbild von seinen Emotionen geformt wird. Am Ende dieser Passage kündigt sich bereits sein Marsch in die Unendlichkeit der Wüste an, den er, offenbar von einer Luftspiegelung verleitet, in seiner Vorstellung, dazu singend, vorweg nimmt.

Daneben gibt es eine Reihe von Anachronismen (Fränzel 2002, 23), die den mimetischen Charakter des Textes insofern unterminieren, als sie den antiken Referenznahmen sprengen. So erwähnt der Erzähler im Zusammenhang mit dem allgemeinen Vorwurf an die Philosophen, dass sie „das Wesen der Zeit und des Ichs viel zu einfach“ darstellten, den Namen „Dacqué“ (E, 11), der schon allein aufgrund seiner Schreibung aus der erzählten Zeit herausfällt.Footnote 53 Auch erwähnt er das Bild „junge Frau in der Morgensonne“, das ein gewisser „F.“ (im Text nur diese Abkürzung) „vor 120 Jahren malte“ (E, 16), und diverse „Schriftrollen“ wie z. B. „der traurige Ritter, die Felseninsel“ u. a. (E, 28).Footnote 54 Anders als im Falle des Namens wird der antike Rahmen von diesen Angaben nicht zerstört. Aber die Anspielungen auf Caspar David Friedrichs „Frau am Fenster“ (ca. 1820) und Cervantes bzw. Schnabel sind so deutlich, dass die Fiktion sich hier selbst in Frage stellt.Footnote 55

Von diesen fiktionsdurchbrechenden, anti-mimetischen Passagen wird auch das unzuverlässige Erzählen erfasst. Diese Unstimmigkeiten (explizite Anachronismen wie „Dacqué“ und „Bücher“) machen den Erzähler nicht unzuverlässig, da sie ihm gar nicht mehr sinnvoll zuschreibbar sind. Sie stellen vielmehr den artifiziellen Charakter des literarischen Werks aus. Trotzdem heben sie die Unzuverlässigkeit des Erzählers nicht vollständig auf, denn über weite Passagen wird der antike Rahmen der Erzählung beibehalten, und viele Passagen blieben unverständlich, akzeptierte man nicht für sie die Fiktion der antiken erzählten Welt, innerhalb deren die Erzählerfigur Philostratos sich als jemand erweist, der sich nicht in die Gemeinschaft der Naturforscher einfügen kann, sondern lieber seinen eigenen Weg geht. Wie im Falle von Pytheas ist diese scheiternde Weltflucht ambivalent, denn wie Pytheas erhält sich Philostratos seine persönliche Fiktion, aber der Preis ist hoch: Er gibt nicht nur sein Leben, sondern stirbt auch als jemand, der die wahre Beschaffenheit der Welt (ihre Kugelgestalt) leugnet. Eratosthenes beschreibt ihn am Ende – in einem strukturell analogen Epilog zu dem des Wachmannes in Gadir – als „phantastisch und schwärmerisch“ (E, 31). Arno Schmidt könnte damit sein früheres Ich sozusagen abgeschrieben, seine alte vorbehaltlose Liebe zur Romantik verabschiedet haben.Footnote 56 Dies zeichnet sich bereits ab in dem noch zu seinen Juvenilia zählenden Übergangswerk Pharos oder von der Macht der Dichter. „Er [Schmidt] überwand sie [seine Leitfigur] schließlich, indem er die Romantik für sich revidierte und ihr verborgen-realistisches Prinzip prononcierte“ (Sudhoff, 1990, 85). Entsprechend lassen sich die Gegenwelten, die die meisten folgenden Werke entwerfen, zumindest teilweise auch als scheiternde Idyllen begreifen. Das wurde auf die folgende „Formel“ gebracht: „Widrige Wirklichkeit im geschlossenen Raum + Fluchtversuch in die Gegenwelt im Gedankenspiel, der grundsätzlich scheitert + Sich-Wiederfinden im immer bestimmend gebliebenen Raum und Rahmen der Wirklichkeit = Diktatur der Wirklichkeit“ (Schneider 1984, 126).

Die Axiologie ist demnach uneinheitlich. Analogisiert man Philostratos’ Opposition zu den Römern mit Schmidts Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, muss man ihn für axiologisch zuverlässig halten. Das gilt auch für seine Bewertung der Literatur und seine Vorliebe dafür, sich vom Rest der Menschheit abzugrenzen.Footnote 57 Bezieht man hingegen seine pseudowissenschaftlichen Aussagen auf die Haltung Schmidts, lässt sich ein umgekehrter Schluss ziehen. Die Missachtung wissenschaftlicher Fakten und das Hineinsteigern in eine illusionäre Welt führen in den Tod und tragen nicht dazu bei, das, was in der Welt falsch läuft, zu verhindern. Philostratos’ Ende ist mindestens ambivalent, und es gibt keinen Grund, diese Ambivalenz nicht als Interpretationsergebnis zu akzeptieren.

6.2 Das Nebeneinander von instabiler Welt und mimetischer Unzuverlässigkeit in Aus dem Leben eines Fauns (1953)

Auch für Schmidts weitere Werke lässt sich auf das unzuverlässige Erzählen als eines von mehreren Verfahren hinweisen.Footnote 58 Nicht zuletzt der sog. Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns (1953) weist solche Merkmale auf.Footnote 59 Der „Faun“ ist Heinrich Düring, 1939, im ersten Jahr der Handlung, ein 51jähriger Mitarbeiter im Landratsamt Fallingbostel und frustrierter Ehemann, der ein Auge auf die Nachbarstochter, eine Oberschülerin, wirft. Er befindet sich in innerer Opposition zum Nazi-Regime, lässt sich das aber nicht anmerken. Als er von seinem Vorgesetzten den Auftrag erhält, ein Archiv aufzubauen, vergräbt er sich in der Welt der alten Akten. Der Faun ist also vielerlei: eine Geschichte über Weltflucht in der Nazizeit, über sexuelle Nöte in der zweiten Hälfte des Lebens, vor allem aber über einen menschlichen Geist und seine kognitiven Zustände samt Inhalt (was die zahllosen Allusionen auf das Bildungsgut bedingt, mit dem sich Düring – wie auch der Autor – beschäftigt).

Wieder sind es Anachronismen, die ins Auge fallen. An sie ist die Frage zu stellen, ob sie die Unzuverlässigkeit des Erzählers begründen. In diesem Fall könnte man sie (unter Wahrung der Mimesis-Präsumtion) als Hinweis darauf verstehen, dass der Zeitraum des Erzählens nicht, wie der Text vorzugeben scheint, zwischen 1939 und 1944 liegt, sondern nach Kriegsende (Fränzel 2002, 81 f.). So wäre folgende Anspielung nicht nur im metafiktionalen Sinne zu verstehen, sondern erhielte ihre Funktion innerhalb des gesetzten fiktiven Rahmens. Der mit dem Zug aus Hamburg zurückfahrende Heinrich Düring, der Ich-Erzähler, steigt in Visselhövede um und muss währenddessen an Samuel Christian Pape denken, der dort gelebt hat: „auch so ein armer Teufel, der sich zuviel um die Rezensionen seiner Gedichte gegrämt hatte (anstatt sich, in souveräner Wurschtigkeit, wie Walter Scott oder Schmidt, um den ganzen Bettel überhaupt nicht zu scheren)“ (LF, 350). Die Erwähnung von „Schmidt“ ist, wenn damit Arno Schmidt, der Autor, gemeint ist, innerhalb der Fiktion stark erklärungsbedürftig, weil nicht klar ist, wie Düring ihn kennen kann (denn Schmidt hat zu dem Zeitpunkt noch nichts veröffentlicht). Wenn es sich nicht nur um einen metafiktionalen Scherz handelt, so könnte das eines der Indizien sein, die dafür sprechen, dass der Zeitraum des Erzählens später liegt als angegeben. Dann nämlich könnte Düring schon von Schmidt und seiner „Wurschtigkeit“ in Bezug auf das Urteil anderer gehört haben.

Dies ist keineswegs der einzige Anachronismus. Der Text ist geradezu gespickt damit.Footnote 60 Gewissermaßen der Gipfel der Anachronismen ist, dass Düring in der Hamburger Kunsthalle das expressionistische Gemälde „Mädchen im Grünen“ (1920) von Otto Mueller bewundert: „Es ist der wohl peinlichste Faux-pas Schmidts im Faun überhaupt und mir völlig unverständlich, wie ihm dieser Fehler unterlaufen konnte. Die zarten, locker-freien Mueller-Figurinen von südländischem Typus in der expressionistischen Landschaft; und das zu einer Zeit des germanistisch stramm-straffen Herrenmenschentums der Nazi-Ideologie“ (Krüger 1988, 109).Footnote 61 Das Gemälde galt den Nazis als „entartet“, und es ist sehr auffällig, dass Düring es in einem offiziellen Museum betrachten kann.

Während die frühe Schmidt-Philologie an den zahlreichen „Fehlern“ geradezu verzweifelt (und sich mit einer gewissen Hilflosigkeit daran erinnert, dass Schmidt seiner gestrengen Forderung nach historischer Akkuratesse offenbar selbst nicht nachkam), darf man wohl davon ausgehen, dass Schmidt damit doch etwas bezweckte – zu offensichtlich und zu zahlreich die (vermeintlichen) Fehler. Die Frage ist, ob er seinen Erzähler damit desavouiert, sprich, als unzuverlässigen gestaltet; oder ob er einen anderen Zweck damit verfolgt.

Es mag sich lohnen, auf dieses Werk einen genaueren Blick zu werfen, damit man Fränzels erwähnte These, dass die Anachronismen auf einen späteren Erzählzeitpunkt hindeuteten, besser verstehen kann. Dass sie Dürings Unzuverlässigkeit indizieren, ist nur eine mögliche Erklärung, die zudem ihrerseits noch erklärt werden müsste. Vorausgesetzt, die These stimmte, dass es einen großen zeitlichen Abstand zwischen erzähltem Ereignis und Zeitpunkt des Erzählens gebe, der durch die Anachronismen erkennbar wird: Was soll sich in dieser Unzuverlässigkeit Dürings dem Leser mitteilen?

Als alternative Erklärung wird erwogen, dass die Anachronismen „einige Ereignisse der Nachkriegsjahre und damit aus Schmidts Cordinger Zeit festhalten“ und somit „als vorsichtiges Bekenntnis Schmidts zu einem autobiographischen Charakter dieses Werks gelesen werden“ könnten (Lowsky 1988, 112). „Eine andere Möglichkeit ist, hierin einen Deutungswink auf den zeitenthobenen Gehalt des Erzählten zu sehen“ (ebd.). Die Frage bleibt jedoch in beiden Fällen, warum Anachronismen bzw. erzähllogische Brüche dafür herhalten müssen.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass den Anachronismen eine zeitlich sehr akkurate Verankerung historischer Ereignisse im Text gegenübersteht. Die Genauigkeit hier schließt zwar Nachlässigkeit dort nicht aus, macht sie aber unwahrscheinlich. Damit das deutlich werde, ist es nützlich, sich die Etablierung des Zeitgerüsts der erzählten Ereignisse klar zu machen. Es beginnt damit, dass die drei Teile, aus denen der Roman besteht, mit Zeitangaben überschrieben sind: „(Februar 1939)“ (301), „(Mai/August 39)“ (333) und „(August/September 1944)“ (367). Hier ist von tagebuchartigem Charakter die Rede (Lowsky 1988, 99).

Das aber scheint mir keine überzeugende Beschreibung des Textes zu sein, und zwar schon deshalb nicht, weil die Zeitangaben eingeklammert sind. Die Parenthese ist zwar nichts Besonderes für Schmidt. Aber zu einem Tagebuch passen diese wenigen und ungenauen Zeitangaben natürlich gar nicht, und es gibt noch andere Gründe, zu denen ich später komme. Was auf die erste Zeitangabe im Text folgt, ist zunächst der Bericht eines mehr oder weniger typischen Tagesablaufs des Ich-Erzählers, der zur Bahn geht, in Fallingbostel auf dem Landratsamt arbeitet und abends nach Hause kommt.

Die historischen Ereignisse, auf die im Text Bezug genommen wird, sind in der Regel stimmig. So werden im zweiten Teil mit genauen Daten die Ereignisse im August 1939 erwähnt, z. B. „23.8.1939 : Pakt mit Sowjetrußland“ (LF, 361, Kursive getilgt). Das gilt auch für die am Anfang erwähnten historischen Ereignisse. So hört Düring am Abend des ersten Tages im Radio, dass „‚Papst Pius der Soundsovielte : schwer erkrankt‘“ sei (LF, 306, Kursive getilgt). Der nächste Tag ist ein „Sonnabend“ (ebd.). Da Pius XI. am 10. Februar 1939 nach einer Herzattacke verstorben ist und dies ein Freitag war, sind die Angaben also historisch wahr.Footnote 62 Ebenso wahr sind die Anspielungen auf die sich im Februar zuspitzende Krise in der Tschechoslowakei, die im März erst zur Abspaltung der Slowakei und dann zur Besetzung Tschechiens durch die Wehrmacht führte.

In großer Nähe zu der Nachricht vom Papst steht eine der ersten evidenten Falschangaben, die Düring macht. Sie ist bemerkenswert. Nach dem Radiohören geht er zu Bett und „schlug die biegsame blaue Kröner-Ausgabe auf, und las den Brief, den Friedrich Nietzsche 1891 von der Hebrideninsel Skye an Jakob Burckhardt gerichtet hat“ (LF, 397, Kursive getilgt). Eine solche Ausgabe gibt es zwar, und sie enthält auch Briefe an Burckhardt. Aber Nietzsche war bekanntlich seit 1889 geistig so verwirrt, dass er keine Briefe mehr schrieb, und auf Skye war er ohnehin nie (vgl. Kuhn 1986, 33). Es folgt ein vermeintliches Zitat dessen, was Düring liest, und „(dann verwirrte sich aber der Text, und ich schlug die Seite um, und geriet in Fragmente und Notizen, bis ich erwachte […])“ (ebd.). Damit erweist sich mindestens das Zitat als geträumt.

Hier berichtigt der Erzähler sich also. Daher kann man von nun an damit rechnen, dass er etwas für in der erzählten Welt tatsächlich geschehen ausgibt, das jedoch so nicht passiert ist. Schon was in der Folge geschieht, ist nicht ganz klar. Düring hält sich in der Küche auf, während die Familie schläft; draußen regnet es wie schon zuvor. Dann schließt eine Beschreibung der Atmosphäre draußen an. Hat Düring das Haus verlassen? Orientierung erhält man erst, als er wieder im Zug sitzt und zum Landratsamt fährt.Footnote 63

Wie später noch deutlich werden wird, passt es zum Erzählkonzept, dass Düring nicht von den Momenten des Einschlafens erzählen kann. Das hat zur Folge, dass das Ende eines Tages nicht eindeutig markiert ist im Text, und schließt die Möglichkeit ein, dass der diegetische Realitätsstatus (Traum, Phantasie, Realität) bestimmter Dinge, die erzählt werden, nicht immer erkennbar ist. Durch die oben analysierten Erzählungen wissen wir, dass damit bei Schmidt immerhin zu rechnen ist.

Der nächste Tag ist der angekündigte Samstag (LF, 308), an dem im Landratsamt gearbeitet wurde, denn darauf folgt die Schilderung eines freien Tages (LF, 313–320).Footnote 64 Ausführlich werden – vorausgesetzt, es wird chronologisch erzählt – die entscheidenden Erlebnisse des folgenden Montag erzählt, an dem der Landrat Düring zu sich erst ins Büro und dann für den Abend zu sich nach Hause bittet, um ihm den erwähnten Auftrag zu erteilen, woran eine Freistellung von drei Tagen pro Woche geknüpft ist (LF, 324), weil Düring zu den verschiedenen Gemeinde- und Pfarrämtern des Kreises fahren muss, um die Akten zusammenzutragen.

Natürlich begegnet Düring in diesen Tagen mehrmals auch Käthe Evers, der Nachbarstochter. So wendet er sich am Ende recht unbeholfen an sie mit der Bitte, seiner Frau mitzuteilen, dass er wegen der Abendeinladung des Landrats später nach Hause kommt. Dabei siezt er sie und spricht sie erst beim Nachnamen, dann immer noch mit „Fräulein“ an (und macht so deutlich, dass er sie, die er ja, Nachbarskind, das sie ist, von Kindesbeinen an kennt wahrscheinlich, nun als junge Frau wahrnimmt), während sie auf der vertraulichen Anredeform nur mit dem Vornamen besteht. Das macht sie aber so, als hätten sie noch nie miteinander gesprochen. Düring „schluckte verwirrt und taumelig“, und sie „wiederholte […] gleichmütig“ seine Worte „und versenkte sich kalt wieder in das Studium der Wadenlinie“ ihrer eigenen Beine oder derjenigen einer Frau auf einem Kinoplakat (LF, 325). Offenbar existiert zwischen beiden ein emotionales Gefälle, zumindest nimmt Düring sie als „gleichmütig“ wahr.

Damit endet das erste Kapitel. Die Zeitstruktur des zweiten ist weniger straff, wie schon die Angabe der Kapitelüberschrift deutlich macht. Es gibt narrative Ellipsen, und die einzelnen Tage werden nur ausschnittweise geschildert.

Der Auftrag, Archivalien zu sammeln, erfüllt nicht nur den Zweck, dass der Autor Schmidt mit seinen Kenntnissen der Regionalgeschichte glänzen kann, sondern dient vor allem dazu, den weiteren Gang der Geschichte einzuleiten, die zu einem großen Teil von Dürings Wunschvorstellung handelt, sich aus seiner Umgebung zurückzuziehen. In einem Aktenkonvolut mit der Aufschrift „Franzosenzeit“ findet er eine öffentliche Bekanntmachung vom Anfang des 19. Jahrhunderts, die „zum Einfangen entsprungener französischer Soldaten“ auffordert (LF, 340). Darüber hinaus entdeckt er in den Akten Personenbeschreibungen immer wieder desselben Menschen, der ihn interessiert, weil er in derselben Gegend untergetaucht ist, in der Düring selbst wohnt:

Hier wieder : ein Bauernmädchen war am Herbstabend im Moor von einem Unbekannten in zerstückeltem Deutsch gefragt worden : ob er nicht mal. Und hinterher hatte er ihr noch n halben Sack Kartoffeln abgenommen. (Deswegen hatte sie s eigentlich nur gemeldet ! – Und wieder war er „klein und hager“ gewesen; das Gesicht hatte sie in der Dämmerung nicht mehr genau erkannt […], aber ein älterer Mann : und ich überlegte lüstern, woran sie das wohl festgestellt haben mochte. (LF, 340).

Düring fühlt sich davon offenbar angesprochen. Mit Hilfe der Personenbeschreibungen auf einer Liste von Deserteuren kann er die in Frage kommenden Namen eingrenzen. Auch dass er desertiert ist, scheint in Düring etwas auszulösen: „Und ich kniff die Stirne und sah auf meinen pferdeapfelfarbenen Windjackenärmel : war ganz einfach desertiert ! Mit einem Satz aus Reih und Glied ins freie Moor gesprungen (und hatte scheinbar jahrelang dort versteckt gelebt […] man kann also so was machen !)“ (LF, 341). Düring projiziert demnach sein eigenes Schicksal auf diesen Deserteur, denn die Zeit der Gegenwart erlebt er als eine militaristische, die ihn abstößt. So ist auch sein folgender Wunsch eben davon inspiriert: „Ach, ich verurteilter Papiermensch : wenn ich doch bloß 10 000 Mark hätte, fürn Blockhaus, irgendwo einsam in Moor und Wald gedommelt !“ (LF, 345).

Es arbeitet weiter in ihm, so als er sich wäscht: „Mal im Freien übernachten müßte man ! : der kurze Schauer prallte zierlich auf mich. (Käthe drüben hatte auch noch Licht)“ (LF, 349, Kursive getilgt). Am nächsten Tag fährt Düring nach Hamburg und schließt seinen Aufenthalt mit dem erwähnten Besuch der Kunsthalle ab, wo er hinter Nazi-Kunst seltsamerweise das expressionistische Gemälde Muellers entdeckt und „der klugen Direktion“ innerlich ein „kleines Kompliment“ dafür macht (LF, 355). Weil es nun doch später wird als gedacht, übernachtet er in Visselhövede und geht am nächsten Morgen zu Fuß nach Cordingen. Auf dem Weg findet er dann seinen locus amoenus. Dabei kommt ihm der Zufall zu Hilfe. Ein Schwarm Bremsen zwingt ihn zur Flucht in den Wald, wo er sich auf einem Baum in Sicherheit bringen kann.Footnote 65 Dank der guten Aussicht aus zehn Metern Höhe sieht er plötzlich direkt unterhalb des Baums das Dach einer alten Bretterhütte. Da ist, was er sich erträumt hat, und, was mehr, er findet sogar einen alten Uniformrock darin!

Welchen Status dieses Ereignis in der erzählten Welt hat, scheint mir zumindest fraglich. Ein Detail lässt aufmerken: Düring stellt zunächst seine „Aktentasche hinter einen Busch“ (LF, 358). Dann rennt er vor dem Insektenschwarm davon und erklimmt den Baum. Als er später, „am Türpfosten gelehnt“ (LF, 360), sich zum Aufbruch nach Hause entschließt, braucht er sich nur zu bücken und seine Aktentasche aufzunehmen. Dass die Aktentasche plötzlich wieder in seiner Nähe ist und dass überhaupt die Rede von ihr ist, lässt sich als Anomalie in der sonst so sorgfältig ausgestatteten erzählten Welt verbuchen.

Ebenfalls seltsam ist die slapstick-artige Verfolgungsszene selbst. Auch wenn der Bremsenüberfall an sich wohl nicht unmöglich ist, eben weil Regenbremsen laut Brehms Thierleben durchaus gemeinschaftlich agieren, sind die Umstände doch bizarr für eine Geschichte, die sich bislang eher alltäglich entwickelt hat. Existiert die Hütte vielleicht nur in seiner Phantasie? Den Wunsch hatte er ja schon geäußert. Offiziell existiert die Hütte nämlich nicht, wie Düring zuhause merkt, wo er auf einer Karte nachsieht. Später, es ist – im Einklang mit der Zeitstruktur – Sonntag (LF, 360), geht Düring noch einmal spazieren und trifft prompt auf Käthe, mit der er sich in die Hütte zurückzieht, um mit ihr zu schlafen (vgl. Kuhn 1986, 195). Das ging ja schnell auf einmal.

Es gibt vorher keinerlei Hinweis darauf, dass sich Käthe und Düring nähergekommen seien und einen vertrauteren Umgang miteinander gewonnen hätten.Footnote 66 Die Anbahnung des Liebesverhältnisses wäre doch immerhin ein wichtiger Zwischenschritt gewesen. Man kann also zumindest Zweifel anmelden, dass diese unvermutete Zusammenkunft in der erzählten Welt so stattgefunden hat. Auch hier könnte der Wunschtraum die Oberhand in der Darstellung von Dürings Erlebnissen gewonnen haben.

Anschließend gibt es eine deutliche narrative Ellipse, die durch das Datum des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 markiert wird (LF, 361), einem Mittwoch, der, wie gesagt, direkt auf einen Sonntag folgt. Das politische Ereignis ist Anlass für Düring, Lebensmittel und andere nützliche Sachen zu horten, weil er einen Kriegsausbruch befürchtet, und dies auch Käthe zu raten, der er dafür sogar Geld in die Hand gibt, immerhin 50 Mark (LF, 362). Dies wiederum könnte den Eindruck erwecken, dass die beiden, meinen Zweifeln zum Trotz, inzwischen vertrauter miteinander geworden sind, doch ist Käthes Reaktion eher von Unverständnis geprägt – und nicht von Leidenschaft oder Hingabe.

Mit weiteren Anspielungen auf den Anfang des Zweiten Weltkriegs endet das zweite Kapitel des Fauns. Das dritte setzt ganze fünf Jahre später ein und beginnt – vielleicht nicht von ungefähr – mit einem Traum, in dem Düring mit Käthe nach Hamburg fährt. Auch einer der nächsten Absätze beinhaltet nur einen Tagtraum: „ich stellte mir vor, ich sei ein berühmter Toter, und Witwe Berta führe die Leute durchs ‚Düring-Museum‘“ (LF, 368). Es ist die Passage, in dem von einem Spiegel-Reporter die Rede ist. Er fragt in Dürings Vorstellung die Witwe nach den letzten Worten des Verblichenen.Footnote 67

Erst nach diesen in der erzählten Welt auch so gekennzeichneten fiktiven Passagen erfährt man, dass Düring einen Arbeitstag zu bewältigen hat, einen „Sonnabend“ (LF, 369). Wie gehabt, fährt er mit der Bahn und geht ins Büro. Beiläufig ist zu erfahren, dass einige Kollegen in Gefangenschaft geraten oder gefallen sind. Aber Düring weiß, dass die deutschen Armeen sich auf dem Rückzug befinden. Er sehnt das Ende herbei und ist bereit, dafür auch Entbehrungen auf sich zu nehmen: „Und wenn ich dann noch 5 Jahre von Wasser und Brot leben soll : aber daß die Lumpen weggefegt sind, Nazis und Offiziere, wird mir alles vergolden !“ (ebd.). Natürlich kann der mittlerweile 56jährige Düring hier auch einfach nur geahnt haben, dass nach einem verlorenen Krieg eine Zeit des Darbens beginnt. Doch als er während seiner Mittagspause vor einer Buchhandlung steht, geht ihm durch den Kopf, dass man zu „Eduard Vehses 48bändigem Werk ‚Geschichte der Deutschen Höfe, des Deutschen Adels und der Deutschen Diplomatie seit der Reformation‘ […] die Ergänzung bis 1950“ benötige (LF, 370). Auch dies ist zwar kein zwingender Hinweis darauf, dass der Zeitpunkt des Erzählens (wie der des Verfassens durch den Autor) nach 1950 liegt; aber man kann es durchaus so verstehen. Die Frage ist eben, ob sich darin ein narrativer temporaler Index von Dürings Erzählperspektive offenbart oder ein metanarrativer, fiktionsdurchbrechender von Arno Schmidt.

Nach der Pause ist Düring wieder im Büro, wo es heiß ist und sogar „Augen gähnten“ (LF, 372); kurz danach heißt es in Parenthese: „‚Pan schläft‘ : das hat ein kaufmännischer Angestellter erfunden, Nachmittags gegen 15 Uhr“ (ebd.), die Zeit, die vorher als Büroschluss an diesem Tag angegeben ist (LF, 369). Hierin kann man einen recht deutlichen Hinweis sehen, denn Pan ist die griechische Bezeichnung des römischen Faunus, und vom Büroschluss ist jetzt nicht die Rede. Die Erzählung setzt stattdessen die Szene auf dem Amt fort. Düring wird zum Chef gerufen, der ihm mitteilt, dass in der Gegend, wo seinerzeit der französische Deserteur unterwegs gewesen sein soll (wovon ihm Düring einmal berichtet habe), wieder jemand bereits seit Jahren sein Unwesen treibe. Dabei macht er überdeutliche Anspielungen darauf, dass er Düring für den „neuen ‚Faun‘“ hält (LF, 373), und kündigt für nächste Woche eine „Razzia“ an. Düring beschließt sogleich, die Hütte niederzubrennen, um alle Spuren zu beseitigen.

Danach aber ist Büroschluss, und Düring geht offenbar nach Hause. Dass es nun regnet, markiert die Kontinuität der Handlung, denn der ist angekündigt und verstärkt sich. Düring hört durch Lautsprecher Propagandabotschaften, und wieder kommt es zu einem relativ klaren Überschreiten des zeitlichen Horizonts der erzählten Handlung, als es heißt: „das war eine köstliche Zeit, 1944 !“ (LF, 374). Hier durchbricht die Erzählgegenwart die Handlungsgegenwart, denn die Angabe mit der Nennung des Jahrs wirkt ausgesprochen retrospektiv.Footnote 68

Düring kommt nach Hause, wo ihn Berta zu einem Kinobesuch überredet. Wenig später kehrt auch Käthe von ihrem Arbeitseinsatz zurück. Aber ins Kino möchte sie nicht mitkommen. Gegen 20 Uhr ist die Vorstellung zu Ende. In dem folgenden Absatz sinniert Düring anhand von Kunstpostkarten über die Farbe Grün. An dieser Stelle ist die Kontinuität der Handlung aufgebrochen, aber der Anschluss zu den Ereignissen wird gleich wieder hergestellt, wenn Düring seinen Nachbarn nach einer Zündschnur fragt und nach der obligatorischen Verdunkelung spätabends Radio hört. Der Strom ist allerdings sehr schwach.

Wieder kommt es zu einem gewissen Bruch, als eine Reflexion über die christlichen Bekenntnisse eingefügt wird. Doch geschieht das nicht von ungefähr, denn danach kommt es sozusagen zur negativen Apotheose, zum Finale des Romans. Die im Radio angekündigten Bomberverbände greifen nicht Berlin an, sondern die „Eibia“, die Munitionsfabrik in der Nähe. Die Anwohner stürzen auf die Straße, und Düring hat nichts Besseres zu tun, als mit Käthe zu fliehen. Während des Bombardements irren sie umher, wobei sich Käthe am Fuß verletzt, aber zuletzt finden sie zu Dürings Hütte, wo es wieder schnell zu Geschlechtsverkehr kommt.

Soll man es glauben? – Man könnte denken, dass die Erinnerungen Dürings sich mit seinen Phantasien mischen. Die Grenze ist aber kaum zu identifizieren. Die oben zitierte Bemerkung „Pan schläft“ jedenfalls könnte anzeigen, dass Düring im Büro einschlummert und die Warnung seines Vorgesetzten vor der Razzia träumt. Da es danach kein Indiz gibt, dass er erwacht, könnte auch das Ende von Dürings Erlebnissen (der Bombenangriff und die Flucht mit Käthe) erträumt sein.

Wie immer der Realitätsstatus des Erzählten am Ende ist, am nächsten Morgen räumen Käthe und Düring auf, versenken die nicht brennbaren Utensilien im Teich und machen sich auf den Weg. Düring legt Feuer an die Lunte. Aber dass die Hütte brennt, wird nicht mehr erzählt, obwohl noch Gelegenheit dazu wäre. Düring und Käthe unterhalten sich auf dem Rückweg, aber einen Blick zurück gönnen sie sich nicht. Mit der Aussicht, dass Käthe noch zehn Tage da sein wird, klingt der Kurzroman aus.

Betrachtet man die Zeitstruktur dieses dritten Kapitels, so gibt es keinerlei explizite Hinweise darauf, dass die erzählte Zeit viel mehr als 24 Stunden umfasst. Durch die erwähnten Kontinuitätsbrüche ist es jedoch auch nicht ganz ausgeschlossen, dass narrative Ellipsen vorliegen – genauso wie nach dem ersten Beischlaf mit Käthe in der Hütte. Bislang war die Einhaltung der zeitlichen Gegebenheiten durch entsprechende Angaben im Text meist gewährleistet. Nur die Passagen, die die Idylle mit Käthe schildern, entbehren auffälligerweise die akkurate Zeitdarstellung. Dieser Befund erschüttert daher den Realitätsstatus der betreffenden Ereignisse innerhalb der erzählten Welt.

Auch Dürings Zusammensein mit Käthe ist wieder reichlich bizarr. Zwar liebt er seine Frau nicht, aber dass Käthe ihre Familie sich selbst überlässt, um mit Düring in den Wald zu fliehen, ist noch eine Anomalie mehr, und dass sie gleich nach dem Inferno Geschlechtsverkehr haben, ist ebenfalls als solche zu werten. Auch wenn man nicht – wie in den früheren Erzählungen anhand der angefügten Epiloge – beweisen kann, dass die Liebesbeziehung zwischen Käthe und Düring in der Fiktion fiktiv ist, reichen die bislang dokumentierten Hinweise aus, um zu sehen, dass dies als Möglichkeit im Text angelegt ist.

6.3 Funktionen der Anachronismen und Schmidts Poetik

Meine Rekonstruktion lässt sich im Hinblick auf drei Typen von Anachronismen und deren Funktion folgendermaßen zusammenfassen: Schon von der Schmidt-Forschung wurden zahlreiche faktische Anachronismen festgestellt, die ein Wissen des Ich-Erzählers um Dinge voraussetzen, die jenseits der erzählten Zeit zwischen 1939 und 1944 liegen, genauer gesagt, deutlich nach Kriegsende. Dies betrifft solche Dinge wie den Spiegel-Reporter. Ist die erzählte Welt diskret und stabil, muss die eigentliche Erzählgegenwart nach Kriegsende liegen. Sodann werden Dinge erzählt und dabei zeitlich verortet, die sich zur im Faun angegebenen Zeit (meist 1939) nicht zugetragen haben können, etwa das Betrachten des Muellerschen Gemäldes in der Kunsthalle oder der Arbeitsdienst von Dürings Arbeitskollegen im nahen KZ Bergen-Belsen 1939, das erst später errichtet wurde. Hier macht Düring also Fehler, und es fragt sich, was diese fehlerhaften Zuordnungen zu bedeuten haben. Ein Deutungsangebot ist, dass Düring, eben weil die Erzählgegenwart nicht gleich Handlungsgegenwart ist, sondern eine zeitliche Distanz von mehreren Jahren dazwischen liegt, einfach einiges durcheinanderbringt. Dass er Muellers Bild in der Kunsthalle sah, mag zwei Jahre früher gewesen sein, als es noch dort hing, und es mag auch sein, dass er damals für sich der Direktion jenes Kompliment gemacht hat, weil schon damals expressionistische Gemälde aus den Schauräumen der Museen verschwanden. Davon zu unterscheiden ist ein dritter Typ von Anachronismen, der nicht auf der Ebene der erzählten Tatsachen zu finden ist, sondern in der Zeitstruktur selbst. Es gibt verstreute Hinweise darauf, dass der Zeitpunkt bzw. -abschnitt des Erzählens – die Erzählgegenwart – später ist als der zeitliche Abschnitt der Handlung, z. B. wenn das Jahr 1944 in retrospektiver Manier als „köstliche Zeit“ bezeichnet wird.Footnote 69

Lassen sich die drei verschiedenen Typen von Anachronismen miteinander vermitteln? Lassen sie sich zu einer kohärenten Geschichte integrieren? Ein Blick auf den Anfang des Faun kann hier weiterhelfen. Es ist von Erinnerung die Rede. Im oft zitierten vierten Absatz spricht das Ich davon, dass sein Leben „kein Kontinuum“ sei, sondern „ein Tablett voll glitzernder snapshots“ […], „so rennt mein Leben, so die Erinnerungen“ (LF, 301). Hier klingt etwas an, womit sich Schmidt auch in seinen poetologischen Berechnungen I etwa zur selben Zeit beschäftigt.Footnote 70 Darin beklagt er „unseren mangelhaften Sinnesapparat“ (BA III/3, 167) und bezeichnet das Gedächtnis als „ein mitleidiges Sieb“ (ebd., 168).

Schmidt ordnet in Berechnungen I seine eigenen Werke in Gruppen (was er in den Berechnungen II fortführt). Eine Gruppe läuft unter der Überschrift „Erinnerungen“, eine zweite unter einem Etikett, für das er in Berechnungen II die Bezeichnung „Musivisches Dasein“ findet (BA III/3, 275). Gemeint ist damit die eben beschriebene snapshot-Verfassung des gelebten Lebens. Dieser Gruppe ordnet er den Faun ebenso zu wie die beiden anderen Teile der Trilogie, während Die Umsiedler (1953) und Seelandschaft mit Pocahontas (1955) der ersten Gruppe zugeschlagen werden. Aber daraus den Schluss zu ziehen, der Faun lasse sich nicht als Wiedergabe von Erinnerung verstehen, wäre verfehlt; denn die Trennung zwischen Erinnerung und musivischem Dasein entwickelte Schmidt erst nach und nach. In dem ersten, damals unveröffentlichten Text Berechnungen tauchen die Stichworte noch zusammen auf: „Jeder vergleiche sein eigenes beschädigtes Lebensmosaik; die Ereignisse springen : grundsätzlich ergibt sich durch unsere mangelhafte Gehirnleistung mit ihrem ‚Vergessen‘ eine poröse Struktur unseres Daseins : die Vergangenheit ist uns immer ein Rasterbild“ (BA III/3, 103). Seine Trilogie versteht er weiter „als konkreten Ausdruck solch löchrigen Lebens“ (ebd.).

Damit zeigt sich, dass das Leben Dürings als erinnertes präsentiert wird und dass diese Erinnerung porös und löchrig, sprich, unter Umständen auch unzuverlässig ist. In die löchrig präsentierte Haupthandlung dringen die Anachronismen ein, Erinnerungs- und Phantasiefetzen aus anderen Phasen. Dass der narrative Rahmen als Erinnerung zu verstehen ist, erklärt schließlich auch, warum das Einschlafen von der Erzählerrede nie erfasst wird, denn der Zeitpunkt des Einschlafens fällt zusammen mit dem Ausschalten des Wach-Bewusstseins, so dass dieser Augenblick oder diese Momente nicht erinnert werden können. Träume wiederum können sehr wohl Gegenstand der Erinnerung sein.

Demnach spricht einiges dafür, dass das, was der Text des Faun besagt, als Erinnertes zu verstehen ist, das einen entsprechend prekären epistemischen Status hat. Dies wiederum heißt, dass der Ich-Erzähler kein Diarist ist, auch keiner, der einen inneren Monolog von sich gibt (wobei Handlungs- und Erzählgegenwart zusammenfallen), sondern ein Erinnernder. Da der Text den Vorgang des Erinnerns thematisiert, ist diese Interpretation durch den Text gedeckt; die anderen Möglichkeiten (Tagebuch, innerer Monolog) nicht. Man kann sich diesbezüglich auch an Gadir erinnert fühlen, die Erzählung, die lediglich vorgibt, ein Tagebuch sein, tatsächlich aber Pytheas’ inneren Monolog beim Verfassen seines Tagebuchs. Der Faun geht hier noch einen Schritt weiter.

Wenn man diese Erzählsituation bzw. diesen diegetischen Rahmen akzeptiert, dann stellen sich weitere Fragen: wie viel Zeit zwischen Erinnerungsvorgang und Erinnertem liegt; wie viele bzw. ob es mehrere Erinnerungsvorgänge gibt oder einen einzigen; warum der diegetische Rahmen gerade als Erinnerung konzipiert ist. Die Antworten ergeben sich teils aus dem Text (durch die den Zeitrahmen der Handlung überschreitenden Andeutungen) und teils aus Schmidts Poetik, wie sie in den Berechnungen formuliert ist.

Mir scheint, dass es im Wesentlichen zwei Erklärungsmöglichkeiten für die Anachronismen gibt. So oder so liegt der Zeitraum des Erinnerns mehrere Jahre nach Kriegsende. Entweder man folgt Fränzel und nimmt eine stabile erzählte Welt an – dann ist Düring derjenige, der sich teilweise falsch erinnert, mit dem die Phantasie in Bezug auf seine Erlebnisse mit Käthe durchgeht und in dessen Erinnerungen der zeitliche Abstand manchmal durchdringt – oder aber man geht von einer instabilen erzählten Welt aus, in der metanarrative Einlassungen des Autors eingebaut sind, die den Fiktionsstatus des Romans aushebeln und den artifiziellen Charakter des Kunstwerks ausstellen, die also eine illusionsbrechende oder anti-mimetische Funktion haben. Damit gingen die Anachronismen, die auf die Zeit nach 1944 verweisen, auf das Konto nur des Autors. Die Anachronismen aber, die eine fehlerhafte zeitliche Zuordnung beinhalten, wären auch in diesem Falle als Erinnerungsfehler Dürings zu verstehen. Ihr Sinn bestünde darin, die Verlässlichkeit des Erinnerungsprozesses wenigstens punktuell zu diskreditieren. In dem Falle wäre also immer noch Düring ein unzuverlässiger Erzähler, aber die Reichweite wäre eingeschränkt auf die Anachronismen des zweiten Typs. Auch die zweifelhaften sexuellen Erlebnisse mit Käthe gehörten noch in diesen Bereich.

Der Vorteil von Fränzels Interpretation läge darin, dass sie alle drei Typen von Anachronismen abdeckt. Das Problem ist, dass keine Erklärung auf der Hand liegt für den zeitlichen Abstand zwischen den erinnerten Ereignissen zwischen 1939 und 1944 und dem Erinnerungsvorgang. Während in dem anderen Fall dieser zeitliche Abstand durch Schmidts Arbeit am Faun recht simpel zu erklären ist (und dies durch eine recht einfache, allgemeine Erklärung – Stichwort: Antiillusionismus – gestützt werden kann), fehlt eine solche weitergehende Erklärung, wenn man um der Mimesis-Präsumtion willen annimmt, dass es Düring ist, der sich nach 1950 an die Zeit zwischen 1939 und 1944 erinnert.

In der Summe ergibt sich nach alldem für das unzuverlässige Erzählen im Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns folgendes Bild:

  1. 1.

    Wie sich anhand der frühen Erzählungen Schmidts zeigen lässt, insbesondere am Gadir, war er mit der Struktur des unzuverlässigen Erzählens vertraut.

  2. 2.

    In der Sekundärliteratur zum Faun wird immer wieder auf die vielen Anachronismen und historischen Fehlgriffe hingewiesen.

  3. 3.

    Diese lassen sich mit Hilfe der Theorie des unzuverlässigen Erzählens als Anomalien beschreiben, weil der narrative Rahmen des Kurzromans als Erinnerung konzipiert ist.

  4. 4.

    Aufgrund einiger der Anachronismen – sowie aufgrund der erwähnten Texthinweise auf die Zeitstruktur – muss der Zeitraum des Erinnerns/Erzählens nach 1950 liegen.

  5. 5.

    Es gibt (bislang) keine triftige diegetische Erklärung für diesen zeitlichen Abstand, weshalb die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit nur in einzelnen Fällen und nur unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt werden kann.

  6. 6.

    Demnach könnten einige Anachronismen, die sich Düring leistet, so zu verstehen sein, dass er einige seiner Erlebnisse aus anderen Jahren in die erzählte Zeit einbaut; die Erklärung dafür ist, dass der Erinnerungsprozess eben fehleranfällig ist.

  7. 7.

    Meine Untersuchung hat darüber hinaus ergeben, dass es gute Gründe dafür gibt, am Realitätsstatus weiterer Erlebnisse Dürings zu zweifeln, so etwa die Existenz der Hütte betreffend und die Erlebnisse mit Käthe.

  8. 8.

    Diese Befunde ergänzen die Anachronismen insofern, als sie die Fehleranfälligkeit von Dürings Erinnerung auf einer weiteren Ebene ansiedeln und damit zusätzliche Gründe für die Annahme liefern, dass Düring ein unzuverlässiger Erzähler ist.

  9. 9.

    Im Unterschied zu den früheren Erzählungen gibt es keinen Epilog einer übergeordneten, privilegierten Erzählinstanz mehr, die Gewissheit über die Unzuverlässigkeit von Dürings Erinnerungen verbürgt.

  10. 10.

    Die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit zu akzeptieren ist demnach abhängig davon, dass man (a) die Stabilität und Diskretheit der fiktiven bzw. erzählten Welt akzeptiert und (b) die Anomalien, die der Text aufweist, mit dieser stabilen Welt vermittelt.

Aus diesen Gründen komme ich zu dem Ergebnis, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählers im Faun eine im Text angelegte Deutungsmöglichkeit ist. Sie erklärt eine Reihe von Textphänomenen, die ansonsten als Fehler gelten müssten, was bei Schmidts Arbeitsweise äußerst unwahrscheinlich ist. Eine alternative Erklärung könnte darin liegen, dass man sie als anti-mimetische Spielerei bezeichnet, die das Ziel hat, naive, also mimetische Lektürehaltungen zu unterlaufen. Diese Erklärung ist jedoch im Vergleich mit der Erklärung durch Unzuverlässigkeit viel allgemeiner, da sie auf jede Anomalie gleich lautet. Demgegenüber bietet die Erklärung durch Unzuverlässigkeit die Möglichkeit, mehrere Textstellen miteinander in Verbindung zu bringen und sich gegenseitig zu erhellen. Die Erklärungskraft ist mithin stärker.

Zwar lassen sich einige fiktionsdurchbrechende „Fehler“ wie die Erwähnung eines Spiegel-Reporters im Rahmen von Dürings Geschichte nur unter Annahmen normalisieren, die (soweit ich sehe) nicht explizit vom Text gedeckt sind. Doch gibt es immerhin indirekte Hinweise, die man dafür in Anschlag bringen kann: etwa die einleitenden Bemerkungen über die Erinnerung oder Erwähnungen Dürings, die die Zeit nach 1945 betreffen.

Bleibt am Schluss zu fragen, warum Düring als unzuverlässiger Erzähler angelegt ist. Hierzu ist es nötig, sich zu vergegenwärtigen, was im Bezugsbereich von Dürings Unzuverlässigkeit liegt. Es liegt auf der Hand, dass es im Wesentlichen zwei Elemente sind, die eng miteinander zusammenhängen: die Hütte im Wald und das sexuelle Verhältnis zu Käthe. Beides existiert laut der Unzuverlässigkeitsthese in der erzählten Welt nicht wirklich, sondern nur in Dürings Phantasie. Während die Hütte in erster Linie einen Fluchtraum für Dürings Unbehagen an der (nationalsozialistischen) Gesellschaft bietet, gibt ihm Käthe die sexuelle Erfüllung, nach der er sich offensichtlich sehnt. Praktischerweise dient die Hütte auch als Ort dieser Erfüllung. Verstünde man dies als zuverlässig erzählt und damit als in der erzählten Welt reale Ereignisse, ließe sich das als Affirmation der inneren Emigration interpretieren. Der letzte Teil zeigte, dass eine Idylle möglich ist, selbst im Moment der totalen Zerstörung ringsum. Entsprechend wird zusammengefasst: „Auch Heinrich Düring […] findet in der Hütte des napoleonischen Deserteurs für einige Zeit einen sicheren Schlupfwinkel vor den Zumutungen der NS-Zeit, in dem er seine Wunschträume realisieren kann“ (Hilgart 2002, 89 f.).

Hält man dies jedoch für in der erzählten Welt irreal und mithin für mimetisch unzuverlässig erzählt, dann wird die Idylle als trügerisch erkennbar. Der Ausweg, den Düring findet, ist nur einer, der in seiner Phantasie existiert. An dieser Stelle wird auch der Umstand, dass der Roman mit der Traumsituation endet, funktional. Die Realität wird in der Erinnerung, als die der Roman konzipiert ist, ausgeblendet. Übrig von der Kriegszeit bleiben allein die erträumte Idylle und die Zerstörung, die als Bombennacht in den Traum zwar hineinragt, aber in ihn, dabei sie verharmlosend, integriert wird.

Die enge Verbindung von Gesellschaftsflucht und Sexualität hält zudem weitere Erklärungsmöglichkeiten bereit, die zwar etwas aus der Mode gekommen, aber nicht unbedingt falsch sind, insofern sich freudianische Einsichten und Hypothesen damals zumindest unter progressiven Intellektuellen allgemeinen Interesses und verbreiteter Zustimmung erfreuten. Diesbezüglich war Arno Schmidt keine Ausnahme. So gesehen, lassen sich Dürings intellektuelle Interessen als Sublimierung verstehen und seine Erlebnisse in der Hütte mit Käthe als Wunschträume.

Die Feststellung, dass die Passagen, die Dürings Idylle schildern, unzuverlässig erzählt sind, ist ein Argument mehr, das für die Interpretation von Horst Thomé spricht, der Schmidts Natur- und Gesellschaftsbild miteinander konfrontiert und das idyllenhafte Naturerlebnis nicht als Lösung sieht, sondern als „illusionär“: „Die Defekte der Gesellschaft sind durch die Flucht in die Natur nicht zu heilen, weil sie durch die menschliche Natur selbst bedingt sind. Das natürliche Refugium in Aus dem Leben eines Fauns erscheint von diesem Aspekt aus als illusionär“ (Thomé 1981, 83). Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Feststellung wie der Kühlmanns (1981, 63), „daß in der fiktionalen Organisation der Texte […] die linearen Zeit- und Raumkategorien intakt [bleiben]“, gibt ein präziser Autor wie Schmidt guten Grund zu der Annahme, dass ein Ort wie die Hütte im Faun, der eben diese Organisation sprengt, als in der erzählten Welt fiktiv anzusehen ist, was wiederum die Möglichkeit einer Idylle in der erzählten Welt in das Reich der Fiktion verbannt und dadurch als unwirklich markiert. Da Düring dies ebenso wie Schmidts ältere Helden nicht durchschaut, bleibt er überdies in seinem Selbstbetrug gefangen.

Dass davon auf solche Art unzuverlässig erzählt wird, zeigt, dass die häufig als Sinnbild auf die innere Emigration gedeutete Idylle nicht nur als positive Gegenwelt zu interpretieren ist. Stattdessen ist sie mindestens ambivalent. Ähnlich wie in Enthymesis zeigt das irreale Moment – wonach die Idylle eben nicht wirklich ist, sondern lediglich geträumt –, dass durch den Rückzug auf das Ich und die Entkopplung von der Welt in Form von Illusionen keine Lösung des eigentlichen Problems zu erwarten ist, sondern allenfalls ein höchst privater Ausweg.

7 Zwischen Unsinn und Unzuverlässigkeit: Thomas Bernhards Frost (1963)

Das letzte Beispiel dieses Kapitels ist der erste Roman von Thomas Bernhard, auch er ein Solitär der deutschsprachigen Literatur, dessen gesamtes Werk sich bis zuletzt eine Eigentümlichkeit bewahrt, die es von anderen leicht unterscheidbar macht. Dies teilt es, wenn auch auf ganz andere Weise, mit dem von Arno Schmidt, während die übrigen Werke der anderen Autoren dieses Kapitels typologisch weniger spezifisch sind. Auch in Frost gibt es das Problem der instabilen Welt. Die Frage stellt sich dabei etwas anders als bei Schmidt, der mit den Konzepten ‚Traum‘ und ‚Erinnerung‘ zwei diegetische Erklärungsmuster für die Unzuverlässigkeit seiner Erzähler bereit hält. In Frost wird die Mimesis-Präsumtion auf andere Weise herausgefordert.

7.1 Zwischen Sprachrohrhypothese und Rollenprosa

Es ist fast ein Topos der Thomas Bernhard-Forschung, einzelne Werke des Autors vor dem Hintergrund des Gesamtwerks zu interpretieren. Wegen der großen formalen und inhaltlichen Ähnlichkeit der einzelnen Werke liegt das nahe. Man zieht Rekurrenzen, die sich im Gesamtwerk beobachten lassen, dazu heran, Passagen eines einzelnen Werks zu erhellen, die, für sich betrachtet, dunkel blieben; und umgekehrt wird insbesondere der erste Roman als Präfiguration des Gesamtwerks verstanden (vgl. Pfabigan 1999). Dieses Vorgehen mache ich mir nicht zu eigen, sondern betrachte den ersten Roman isoliert.

Vor allem die frühe Rezeption bewegte die Frage, ob die in den berühmten monologischen Räsonnements geäußerten Überzeugungen im Sinne einer Sprachrohrhypothese als Ansichten des Autors zu verstehen seien oder nicht.Footnote 71 Da es in den Werken Bernhards, fiktionalen sowie nicht-fiktionalen, in Bezug auf einzelne Ansichten Widersprüche gibt, lässt sich die Sprachrohrhypothese, jedenfalls in ihrer simpelsten Form, leicht widerlegen (Marquardt 1990, 13), es sei denn, man akzeptiert die Prämisse, dass Bernhard seine Ansichten oft geändert habe. Daraus den entgegengesetzten Schluss zu ziehen, Bernhard identifiziere sich mit keiner der ausgesprochenen Ansichten, wäre jedoch auch voreilig.

Wenn man der Sprachrohrhypothese nicht folgt, erzwingen die bizarren Monologe mit ihrer berüchtigten hyperbolischen Rhetorik geradezu die Frage nach der Unzuverlässigkeit des Erzählens – sofern man sie in einen mimetisch-realistischen Deutungsrahmen stellt und die Rede wörtlich versteht. Entsprechend gibt es Hinweise auf unzuverlässiges Erzählen gerade auch in Bernhards frühen Romanen, namentlich Frost (Judex 2010, 54). Wenn man den Begriff des unzuverlässigen Erzählens nicht wie Strowick (2004, 470 f.) im Hinblick auf Bernhards Erzählung Gehen (1971) einfach in der Weise poststrukturalistisch umdefinieren will, dass darunter nun mimetisch unentscheidbares Erzählen verstanden und die Frage nach Wahrheit oder Falschheit umstandslos suspendiert wird, muss man das Verhältnis von Erzählinstanz und Figur mit Blick auf die Fragen nach dem (fiktionsinternen bzw. diegetischen) Wahrheitsgehalt und nach den Wertvorstellungen der beiden Instanzen untersuchen. Zunächst bot sich dafür der Begriff der Rollenprosa an (vgl. Schweikert 1974; Huntemann 1990). Im Unterschied zum Begriff des unzuverlässigen Erzählens ist darunter allerdings nur zu verstehen, dass sich der Autor einer narrativen persona bedient. In der von Schweikert (1974, 2) vorgeschlagenen Begriffsvariante kommt ein zweiter Aspekt hinzu, nämlich „daß Erzähler-Ich und Autor-Ich ineinander übergehen“. Gerade das „Changieren zwischen Artistik und Aussage“ betrachtet Schweikert (1974, 2 f.) als „formale[s] Konstituens der Rollenprosa“. Somit ist der Begriff der Rollenprosa interpretationstheoretisch anders verortet als der des mimetisch unzuverlässigen Erzählens. Während dieser an der Vermittlung der erzählten Welt ansetzt und die vermittelten Sachverhalte problematisiert, betrifft jener die Aussage des Werks im Spannungsfeld zwischen Autor und Erzählerfigur.Footnote 72

7.2 Überblick über Handlung und Erzählstruktur

Sieht man zunächst von der Erzählstruktur ab, so handelt Frost von dem überwiegend negativen oder, wenn man so will, depressiven Weltempfinden eines ehemaligen Kunstmalers und Hilfslehrers namens Strauch, der in einem Gasthaus in Weng lebt, einem Dorf im Pongau südlich von Salzburg, in einer Gegend mit Industrieanlagen. Die Einlassungen des Malers bilden, quantitativ gesehen, den größten Anteil am Roman. Ihnen entstammt auch das titelgebende Leitmotiv des Romans, das gleichsam Sinnbild für dieses Weltempfinden ist. Der Maler kommt so oft zu Wort, dass es für den Roman als Buch ausgereicht hätte, wenn er nur sie enthielte. Doch präsentiert der Roman Strauchs Ansichten stets als von einem homodiegetischen Erzähler vermittelte Monologe (teilweise auch in Dialogen). Daher scheint die Kombination mit einer Erzählinstanz ein für den Roman bedeutungstragender Aspekt zu sein; denn sonst hätte Bernhard auch darauf verzichten können.Footnote 73

Der Erzähler ist ein namenloser Wiener Medizinstudent, der eine Famulatur in der Chirurgie des nahen Schwarzacher Krankenhauses macht und von dort aus nach Weng kommt mit dem Ziel, Strauch zu beobachten. „Strauch und der Famulant, zwei Stadtflüchter“, nennt Pfabigan (1999, 53) sie. Brochs Romanfragment Verzauberung, das Bernhard, wenn er es denn gelesen hatte, damals wohl eher unter dem Titel der Erstpublikation Der Versucher bekannt gewesen sein dürfte, zeichnet sich als möglicher Prätext ab, denn hier wie dort werden zwei Ortsfremde in der Provinz miteinander konfrontiert und hier wie dort erliegt ein Arzt (einmal ein angehender, einmal ein alternder), der sich zu seinen beruflichen Zweifeln bekennt, seinem Versucher, der eigentlich sein Untersuchungs- bzw. Versuchsobjekt ist. Beide Romane lassen sich als bedeutsame Kontrafakturen des Heimatromanschemas verstehen.

Doch während es in Brochs Roman eher um ein kollektives Phänomen geht, steht in Bernhards Roman das Individuum mit seiner Subjektivität im Mittelpunkt. Auch das narrative Szenario in Frost unterscheidet sich von dem in Brochs Bergroman. Während dieser ein retrospektiver Bericht ist, ist Frost formal als Tagebuch bzw. tagebuchähnlich angelegt und schildert eine Sequenz von Erlebnissen, ehe die folgende sich ereignet hat. Lediglich die einzelnen Tage werden retrospektiv erzählt. Gewöhnlich lassen sich aus dieser Anlage bestimmte Umstände, die in der erzählten Welt gelten, ableiten. Aber wie bei den inhaltlichen Aspekten die Grenzen des Szenarios rasch offenbar werden, so birgt schon die Form minimale Unwägbarkeiten, die in der Sekundärliteratur oft übersehen und nie eingehend erörtert wurden. Sie unterminieren Rückschlüsse auf die Sachverhalte der erzählten Welt, wie ich im Folgenden darlegen werde.

Die Anlage als Tagebuch zu charakterisieren liegt nahe, aber diese Charakterisierung wird dem Text doch nicht ganz gerecht. Der Roman besteht aus täglichen Aufzeichnungen sowie Briefen eines Ich, des Medizinstudenten oder „Famulant[en]“ (F, 317), wie er sich einmal selbst im ersten Brief an den Assistenten bezeichnet, und ist entsprechend nach Tagen gegliedert; aber es gibt keine Datumsangaben, wie sie in Tagebüchern üblich sind. Die jeweiligen Einträge sind mit aufeinanderfolgenden Ordinalzahlen überschrieben: „Erster Tag“, „Zweiter Tag“ bis „Siebenundzwanzigster Tag“. Einige dieser Kapitel enthalten Unterkapitel, die mit inhaltlichen Überschriften versehen sind: die Tage 20, 21, 25, 26, wobei das letzte zwei solcher Unterkapitel enthält. Zwischen dem vorletzten und letzten Eintrag sind sechs ebenfalls mit Ordinalzahlen bezeichnete Briefe eingelegt. Bis auf das erste Kapitel, das aus einem einzigen Absatz besteht, sind die einzelnen Einträge in mehrere Textblöcke gegliedert, die durch eine Leerzeile voneinander getrennt sind. Es gibt auch Absätze ohne Leerzeile. Der letzte Absatz nach zwei Leerzeilen bildet einen eigenen Abschnitt, einen kurzen Epilog, der nicht zum Kapitel des 27. Tages gehört.

7.3 Das Ende

In diesem Epilog berichtet der Medizinstudent, dass er nach seiner Rückkehr nach Schwarzach einer Zeitung die Vermisstenmeldung des Malers entnahm und noch am selben Tag die Famulatur „beendete“ und „in die Hauptstadt“ zurückfuhr (F, 336). Wie groß der Zeitraum ist, der zwischen der Abreise aus Weng und der Lektüre der Vermisstenmeldung liegt, ist unklar, aber allzu groß ist er nicht, denn es ist noch Winter. In einer gewissen Spannung dazu steht, dass der Student in seinem letzten Eintrag am 27. Tag davon berichtet, dass er sich aus dem Krankenhaus seinen Wintermantel kommen lassen wolle, weil er jetzt Weng nicht verlassen könne (F, 332). Das heißt entweder, dass er tatsächlich noch geblieben ist und die entsprechenden Aufzeichnungen fehlen, oder, dass er überstürzt abgereist ist. Da es für die erste Möglichkeit gar keine Anzeichen gibt, wird die Aussparung wohl eher bedeuten, dass der Student entgegen seinem ursprünglichen Plan spontan abreist. Analoges gilt dann auch für die Famulatur, denn der Student beabsichtigte, sie nach seiner Rückkehr nach Schwarzach fortzusetzen. Am Schluss des vierten Briefes heißt es entsprechend: „Natürlich reflektiere ich auf eine ordnungsgemäße Fortsetzung meiner Famulatur in Schwarzach…“ (F, 326). Wie lange er schon wieder in Schwarzach war und ob er die Famulatur „ordnungsgemäß“ beendet hat, geht aus dem Text nicht hervor. Post hoc ergo propter hoc, lautet ein bekannter Fehlschluss, der zugleich aber ein bewährtes narratives Prinzip ist: Man unterstellt einen Zusammenhang zwischen der Vermisstenanzeige und der Abreise, die, weil sie noch am selben Tag erfolgte, dann wohl spontan, wenn nicht überstürzt war, woraus man, allerdings nicht mit Notwendigkeit, schließen könnte, dass er seine Famulatur eben nicht zu einem ordnungsgemäßen Ende gebracht hat.

Wenn es in der erzählten Welt wahr ist, dass der Student jeweils – erst aus Weng und dann auch aus Schwarzach – früher als geplant abreist, dann unterschlägt er entscheidende Informationen und gibt etwas anderes zu verstehen, als sich tatsächlich ereignet hat. Allein deshalb könnte man ihn einen unzuverlässigen Erzähler nennen. Zwei Vorbehalte müssen allerdings formuliert werden: Erstens ist die Prämisse, wie dargelegt, nicht zwingend, denn der Text lässt es immerhin in beiden Fällen zu, dass der Erzähler keine der beiden Vorhaben (die Beobachtung des Malers und seine Famulatur) abgebrochen hat, weil nicht klar wird, wie viel Zeit zwischen dem Ende der Aufzeichnungen und dem Epilog verstrichen ist; zweitens muss man sich die diegetische Erklärung dazu denken. Sie ergibt sich aber zwanglos aus dem Text und lautet, dass der Misserfolg bzw. der doppelte Abbruch dazu geführt hat, dass sich der Student nicht weiter um seine Aufzeichnungen gekümmert hat.

Damit könnte es schon sein Bewenden haben. Der weiteren Interpretation bleibt überlassen, eine Antwort darauf zu finden, warum der Student nicht zu Ende bringt, was er sich vorgenommen hat, und warum er sich darüber ausschweigt. Immerhin bestätigt das bedeutungsheischende Ende, dass der Erzähler nicht ein lässliches Epiphänomen ist, sondern dass sich im ungeplanten Abbruch die Folgen offenbaren, die das Unternehmen für den noch weitgehend unreifen Erzähler hat. Prinzipiell sind zwei einander entgegengesetzte Deutungen möglich: Entweder bricht der Erzähler ab, weil er scheitert, oder er kann sich gerade noch dem Wahn entziehen, dem er sich ausgesetzt hat. Um zu einer Antwort zu gelangen, ist es nötig, auf weitere Aspekte näher einzugehen.

7.4 Zur Frage nach dem zeitlichen Verhältnis von Erzählen und Erzähltem

Der seltsame Umstand, dass die Tagebucheinträge durchnummeriert statt nach Datumsangaben geordnet sind, lässt, streng genommen, ebenfalls offen, wie viel Zeit der Student in Weng verbringt. Er gibt selbst Auskunft über sein Vorgehen: „Ich schreibe also in der Nacht auf, was ich bei Tag registriere“ (F, 316). Man könnte daher davon ausgehen, dass er jeden Tag schreibt und keinen auslässt. Sicher ist das aber nicht. Manchmal wird ein Thema an einem neuen Tag aufgenommen, womit der Eintrag des vorangegangenen Tages endet. Aber es gibt nur selten kontinuierliche Handlungsteile, die über mehr als ein zeitliches Nacheinander der einzelnen Elemente miteinander verbunden sind (wie etwa Unfall mit Todesfolge und Begräbnis).Footnote 74 Ins Leere laufende Bezugnahmen durch deiktische Ausdrücke wie „gestern“ bekräftigen eher den Eindruck diskontinuierlicher Aufzeichnungen. „Es war fürchterlich, ihn gestern mit dem Eisenbahner reden zu hören“ (F, 333), heißt es am 27. Tag über Strauch. Das müsste sich auf den 26. Tag beziehen, wenn er nachts darüber schreibt, was tagsüber vorgefallen ist, aber am 26. Tag ist von keinem Eisenbahner die Rede. Das ist kein Widerspruch, der Erzähler kann das Gespräch Strauchs mit dem Eisenbahner am Vortag einfach ausgelassen haben – möglich ist aber auch, dass er einen Tag ausgelassen hat. Unpassend ist schließlich die Verwendung des bestimmten Artikels, dessen Gebrauch üblicherweise etwas bezeichnet, das man als bekannt voraussetzt. Doch von einem Eisenbahner war bislang nicht die Rede. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Zitaten der Aussprüche Strauchs in den Briefen, die offenbar nicht den Aufzeichnungen des Erzählers entnommen sind. An Textstellen wie diesen offenbart sich die hohe Selektivität des Erzählers.

7.5 Der Auftrag

Man kann daher sagen, dass das narrative Szenario bereits von subtilen formalen Irritationen wie der Kapiteleinteilung bzw. -bezeichnung oder wie dem nicht adäquaten Gebrauch sprachlicher Mittel zumindest potentiell unterlaufen wird. Ähnlich sieht es aus, wenn man das narrative Szenario auch unter seinen inhaltlichen Voraussetzungen betrachtet. Ein zentraler Teil des Szenarios wurde bislang unterschlagen. Dieser Teil beantwortet die Frage, wieso der Student überhaupt dazu kommt, den ihm völlig unbekannten Maler Strauch zu beobachten. Er erhält von seinem Vorgesetzten im Krankenhaus, dem „Assistenten“ Dr. Strauch, den „streng geheim[en]“ Auftrag (F, 12), seinen Bruder zu beobachten. Der Famulant dürfe den Maler aber keinesfalls merken lassen, dass sein Bruder ihn entsendet habe. Deshalb gibt der Erzähler sich als Jura-Student aus.

Der Assistent übernahm die Reise- und Aufenthaltskosten. Er gab mir einen Geldbetrag, der ihm reichlich erschien. Er verlangt von mir eine präzise Beobachtung seines Bruders, nichts weiter. Beschreibung seiner Verhaltensweisen, seines Tagesablaufs; Auskunft über seine Ansichten, Absichten, Äußerungen, Urteile. Über seine Art, zu gestikulieren, aufzubrausen, „Menschen abzuwehren“. Über die Handhabung seines Stockes. (F, 12)

Warum der Assistent diesen Auftrag erteilt, wird nicht recht klar, aber die einschlägigen Textstellen lassen den Schluss zu, dass der Arzt sich um den Bruder sorgt und sich ein Bild von seinem gegenwärtigen Zustand machen möchte, ohne selbst mit ihm in Kontakt zu treten. Immerhin weiß er oder meint zu wissen, dass sein Bruder „heillos verwirrt“ sei (F, 12) und „ein Menschenhasser“ (F, 13). Die Brüder hätten sich zwanzig Jahre lang nicht gesehen und vor zwölf Jahren den Briefkontakt abgebrochen. Obwohl der Maler mit Bezug auf das Verhältnis der Brüder von „Feindschaft“ spreche, wolle sein Bruder, „als Arzt“, wie er zitiert wird, „einen Versuch“ unternehmen (F, 12), offenbar einen Versuch, das Verhältnis zu bessern, wie man ergänzen könnte.Footnote 75 Dazu benötige er die Beobachtungen. „Dieser Auftrag ist eine Privatinitiative des Assistenten, und er gehört zu meiner Schwarzacher Famulatur“ (F, 13), heißt es dann resümierend, aber widersprüchlich.

Man erhält also früh eine Motivierung für das Unterfangen des Erzählers, den Maler zu beobachten und seine Reden zu notieren, eine Motivierung im Sinne einer kausalen Verankerung des Geschehens in einer Vorgeschichte. Doch was ist von dieser Motivierung zu halten? Sie für nicht stimmig zu halten, ist das Mindeste. Immerhin findet die Famulatur bei einem Chirurgen statt. Einen Auftrag wie diesen würde man eher in der Psychiatrie erwarten. Wie er zu der Famulatur gehören kann, ist also nicht nur medizinisch unplausibel, sondern auch arbeitsrechtlich, denn wie kann der Auftrag dienstlich sein „und“ zugleich als „Privatinitiative“ bezeichnet werden (F, 13)? Ein „aber“ statt des „und“ würde den Widerspruch anerkennen, und man wäre eher geneigt, ihn hinzunehmen. Die Selbstverständlichkeit des Unvereinbaren, die das „und“ bedeutet, provoziert Zweifel schon an den Voraussetzungen der Geschichte. Schließlich ist auch die zitierte Spezifizierung des Auftrages „absurd“ (Marquardt 1990, 31; vgl. auch Gößling 1987, 27). Nach dem Hinweis auf die „Handhabung seines Stockes“ zitiert der Erzähler den Assistenten noch einmal wörtlich: „Beobachten Sie die Funktion des Stockes in der Hand meines Bruders, beobachten Sie sie genauestens“ (F, 12). Der Erzähler scheint den Hinweis ernst zu nehmen, denn er greift ihn im vierten der Briefe auf (F, 324). Warum aber und inwiefern das Halten des Stockes bedeutsam sein kann, bleibt völlig unklar.Footnote 76

Es ist also deutlich, dass das Szenario, das den Rahmen für die Aufzeichnungen des Erzählers gibt, auch aufgrund inhaltlicher Gesichtspunkte unplausibel wirkt. Methodisch gesprochen, haben wir es mit Anomalien zu tun, die erklärungsbedürftig sind. Eine Möglichkeit ist, sie mit der Unzuverlässigkeit des Erzählers zu erklären. (Die Anomalien selbst sind noch kein Beweis seiner Unzuverlässigkeit, sie sind, um ein anders Wort zu benutzen, lediglich Indikatoren, die potentiell Unzuverlässigkeit anzeigen, dann nämlich, wenn sich auf ihrer Grundlage falsch dargestellte Sachverhalte nachweisen lassen.) Eine weitere Möglichkeit ist, sie symbolisch zu erklären. Beide Möglichkeiten sind kompatibel miteinander, aber es kann sein, dass der mimetische Deutungsrahmen in dem Text gar nicht vorgesehen ist, weil er durch kleine Ungereimtheiten immerzu unterlaufen wird.

7.6 Der narrative Status der Aufzeichnungen und die Frage nach der Entwicklung

In der Tat gibt es weitere Anomalien, die den Wahrheitsgehalt des Erzählten unterminieren. Schwieriger indes ist, wie sich zeigen wird, eine akzeptable diegetische Erklärung zu finden, die dann nicht nur als Indiz, sondern als Beweis der Unzuverlässigkeit des Erzählers dienen kann. Zu fragen ist nun, welchen narrativen Status die Aufzeichnungen haben. Was sagt der Student selbst von seinem Text? Wie er dem Assistenten in seinem ersten Brief mitteilt, sind die Aufzeichnungen nicht für ihn bestimmt, sondern dienen dem Studenten als potentielle Erinnerungsstütze, als Material für seinen erst noch zu erstellenden Bericht. Er spricht denn auch von einem „Behelfsbericht“ und hebt dieses Wort eigens hervor (F, 316).Footnote 77

Dies stützt die Vorläufigkeit des Geschriebenen ebenso wie die schon vermerkte Sukzessivität der einzelnen Notate, die offenbar nach und nach zustande kommen, ohne dass der Schreiber das Ende der Geschichte bereits erlebt hat. Deiktika wie „heute“ stützen diesen Eindruck und bestätigen seine im Brief an den Assistenten beschriebene Vorgehensweise, nachts zu notieren, was am Tage geschehen ist.Footnote 78 Vor diesem Hintergrund läuft die Standardinterpretation des Romans darauf hinaus, dass der Student sich mit fortschreitender Zeit immer mehr an den Maler verliert.Footnote 79 Das Tagebuch enthalte keine „Ergebnisse“, sondern sei eine Vergewisserung seiner Beobachtungen (Marquardt 1990, 31). Insbesondere die Briefe stützen diese Interpretation, da der Student zunächst noch von seiner Leidenschaftslosigkeit überzeugt ist, die aber in den weiteren Briefen zunehmend der Übernahme der Einstellung des Malers zu weichen scheint.Footnote 80 Den Aufzeichnungen ist diese Entwicklung weniger gut abzulesen, da der Student keinerlei Selbstgewissheit zum Ausdruck bringt, sondern stattdessen schon früh sogar Selbstzweifel äußert, etwa mit Blick auf seine Motivation, Medizin zu studieren (F, 53 f.). Bereits nach der zweiten Begegnung (der ersten längeren) mit dem Maler heißt es: „Der Maler ging hinter mir her wie eine ungeheuere Belastung meines Nervensystems“ (F, 17). Am 13. Tag – also nach fast der Hälfte der Tage, an denen er Aufzeichnungen macht – zweifelt der Erzähler an seiner Aufgabe und notiert, dass „ich mich tief in Gedankengänge verrannt habe, die ihren Ursprung im Maler haben“ (F, 136). Am 14. Tag reflektiert er sie weiter und mag dadurch den Eindruck erwecken, er habe sie und sich noch im Griff, weil er immerhin erkennt, dass der Maler möglicherweise „schlechte Einflüsse“ auf ihn ausübe (F, 144). Er erkennt also eine Gefahr, und durch die Erkenntnis müsste er sich wappnen können. Doch der ganze Satz erweist sich am Ende als unsinnig, wenn er mit der Konjunktion „denn“ die zuvor gegebene Argumentation aushebelt, indem er „gut“ mit „schlecht“, die er zuvor kontrastiert hat, nun konfundiert: „Ich bin natürlich in Gesellschaft des Malers ständig schlechten Einflüssen ausgesetzt. Aber ich sehe sie, und ich kann genau unterscheiden, wo die schlechten Einflüsse anfangen, wo die schlechten Einflüsse nicht gut sind, denn schlechte Einflüsse können gut sein“ (F, 144). Im folgenden Absatz über Strauchs Sprache wird deutlich, dass der Erzähler sich dieser Sprache bedient, um sie zu beschreiben. Am selben Tag dokumentiert er später im Zusammenhang mit seiner vermutlichen Ex-Freundin S. sein Verständnis für die defätistische Einstellung des Malers (F, 154). Am nächsten Tag überlegt er, wie er nach der Famulatur mit seinen Prüfungen zurecht kommen würde, und stellt fest, dass er „hier“ keine Zeit für die Vorbereitung habe. Die Begründung ist sein Eingeständnis, dass er bereits verloren ist: „Denn ich stehe ganz unter dem Einfluß des Malers, ich muß mit ihm gehen, und muß gar nicht, ich kann nicht anders, als mit ihm gehen: selbst wenn er mich nicht immer dazu auffordern würde, ginge ich mit“ (F, 169). Auch wenn sich damit zeigt, dass der Erzähler bereits von Anfang an die Wirkung des Malers bemerkt und zu einem frühen Zeitpunkt gesteht, dass er sich ihrer nicht mehr erwehren kann, lässt sich vielleicht eine gewisse Steigerung in den Aufzeichnungen feststellen, denn am 25. Tag schreibt er: „Ich bin nicht mehr ich“ (F, 299). Man könnte diese späten Passagen aber auch als lediglich etwas drastischere Formulierungen desselben Gedankens auffassen. So gesehen, macht der Erzähler kaum eine Entwicklung durch.

Es gibt Hinweise auf weitere Nichtübereinstimmungen zwischen den Briefen und den Aufzeichnungen. Eine Auffälligkeit betrifft die im vierten Brief geäußerte Frage, ob der Student seinen Auftrag „nach dreizehn, vierzehn Tagen“ abbrechen könne (F, 325). Der vierte Brief ist der einzige, den er in seinen Notizen erwähnt, und zwar am 18. Tag. Erklären kann man sich das damit, dass er selbst hier einen Bruch in seiner Wahrnehmung sieht. Man kann die Nicht-Korrespondenz zwischen Briefen und Aufzeichnungen als weitere Anomalie einstufen, die entweder an der Einstellung, die in den Briefen zum Ausdruck kommt, zweifeln lässt oder aber den Verdacht provoziert, dass die Aufzeichnungen möglicherweise retrospektiv überformt sind. Wenn sich dieser Verdacht bestätigt, dass die Aufzeichnungen überarbeitet sind, dann wäre der Text tatsächlich unzuverlässig erzählt mit Bezug auf seinen narrativen Status. Er gäbe etwas als authentisches Notat aus, was in der erzählten Wirklichkeit eine retrospektive Rekonstruktion ist. Was spricht dafür?

7.7 Die mimetische Lesart: Wurden die Aufzeichnungen nachträglich bearbeitet?

Die auffälligste Eigenart des Textes besteht ja, wie schon am Anfang erwähnt, in den ausgreifenden Monologen des Malers, die der Student mal wörtlich, mal in indirekter Rede wiedergibt. Überträgt man den mimetischen Interpretationsansatz darauf, so kann man sich fragen, in welchem Maße die Wiedergabe authentisch ist. Unwahrscheinlich, dass der Student sich alles hat merken können. Entweder wir haben es mit einer traditionellen narrativen Lizenz derart zu tun, wonach die wörtlichen Zitate, die homodiegetische Erzähler liefern, vom Mimesispostulat entbunden und daher nicht in ihrer Authentizität in Frage zu stellen sind, oder der Erzähler täuscht die wörtliche Wiedergabe der Rede wenigstens teilweise vor. Die Länge der Monologe allein reicht nicht aus als Beleg dafür, dass der Erzähler die Wörtlichkeit der Rede nur vorgibt, eben weil es diese narrative Lizenz gibt. Es sähe aber anders aus, wenn man ein weiteres Indiz finden könnte, dass die Authentizität der Wiedergabe hintertreibt.

Unterlegt man dem Zustandekommen des Textes ein mimetisch-realistisches Szenario, dann wäre er eine überarbeitete Fassung, die der Student aus seinen vermutlich stichpunktartigen Notaten zusammengestellt hat. Damit wäre der Text vom Ich retrospektiv überformt und mindestens mit Bezug auf seinen Vermittlungsstatus unzuverlässig, denn die Art der Strukturierung gibt vor, dass das Ich sukzessive, also Tag für Tag, notiert, ohne zu wissen, was am nächsten folgt. Träfe das beschriebene realistische Szenario zu, dann hätte das Ich die Reden des Malers jedoch eben im Wissen darum, was folgt, rekonstruiert.

Diese Hypothese würde mit einem anderen Befund gut harmonieren. Es würde nämlich erklären, warum der Student schon am Anfang so schreibt bzw. Dinge notiert, die bereits an den Maler erinnern, den er noch gar nicht kennt. So verhält es sich mit der hyperbolischen Beschreibung der Landbevölkerung am 2. Tag. Die ersten Eindrücke, die der Student von dem Ort hat, sind befremdlich, ja unglaubwürdig. Weng sei „von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert […], die man ruhig schwachsinnig nennen kann. Nicht größer als ein Meter vierzig im Durchschnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt“ (F, 11).Footnote 81 Was der Ich-Erzähler hier äußert, unterscheidet sich kaum von dem, was kurz darauf Strauch zu sagen hat. Noch deutlicher wird es in einem längeren Eintrag, nachdem der Student dem Maler das erste Mal begegnet ist und ihn nach dem Weg zum Gasthaus gefragt hat. Er beschreibt die Atmosphäre und endet: „Weng liegt in einer Grube, von riesigen Eisblöcken jahrmillionenlang gegraben. Die Wegränder verführen zur Unzucht“ (F, 16).Footnote 82 Das zeigt, wie nahe das Empfinden des Studenten dem des Malers bereits zu einer Zeit ist, als er noch nicht viel mit ihm gesprochen hat.

Die Frage ist, ob man die Größenangabe wörtlich verstehen und den Erzähler deswegen für unzuverlässig halten soll. Mit der Körpergröße ist ein nicht nur fiktiver Sachverhalt betroffen, und die Widerlegung der Sachverhaltsaussage müsste über die Wirklichkeit erfolgen; denn der Text gibt hierzu keine weiteren Auskünfte. Meiner Meinung nach ist es aber ein Fall der hyperbolischen Sprechweise, die typisch für den Maler ist und die der Erzähler hier vorwegnimmt oder übernimmt. Strauch selbst gibt einen Hinweis. So sagt er laut dem Erzähler: „Ich neige ja, wie Sie schon bemerkt haben, überhaupt nicht zur Übertreibung“ (F, 42). Natürlich übertreibt er ständig. Das bedeutet, dass er entweder die Unwahrheit sagt oder etwas anderes meint, nämlich das Gegenteil – ein klassischer Fall von Ironie.Footnote 83 Auch die Angabe der Körpergröße entbehrt des Anspruchs darauf, dass man sie wörtlich nehmen soll, sondern ist dem übertreibenden Sprechen des Malers nachempfunden. Ein Urteil wie zuletzt von Gößling (2018, 39), wonach der Erzähler ein „Protokollant“ ist und „eine konsistente Fiktionswelt [evoziert]“, ist aus diesen Gründen nicht angemessen.

Die Frage ist demnach, ob und, wenn ja, warum der dargebotene Text eine bereits unter dem Einfluss des Malers entstandene Rekonstruktion dessen sein soll, was der Student vernommen hat. Es würde dafür sprechen, dass der Student tatsächlich dem Maler erlegen ist und dass selbst die Darstellung des bizarren Anfangs der Geschichte, der im Auftrag des Bruders besteht, unter den Auspizien des Malers entstanden ist.

Mir scheint jedoch, dass die Annahme, der Text sei retrospektiv überformt worden, nicht haltbar ist. Die Überzeugungen, die der Erzähler noch vor der näheren Bekanntschaft mit dem Maler zum Ausdruck bringt, und die Formulierungen, die er wählt, ähneln zwar denjenigen des Malers, aber es gibt, soweit ich sehe, ansonsten keine im Text angelegte Erklärung dafür, dass der Erzähler seinen eigenen Text nachträglich manipuliert habe.

Wenn also das, was der Student vom Maler nach und nach übernommen hat, nicht die Wiedergabe der ersten Tage überformt und er nachträglich keine retrospektive Rekonstruktion vorgenommen hat, ohne sie als solche auszuweisen, dann könnte die große Ähnlichkeit in stilistischer und inhaltlicher Hinsicht noch auf andere Weise erklärt werden: Student und Maler sind sich zutiefst wesensähnlich.Footnote 84

Unter der Maßgabe eines mimetisch-realistisch zu verstehenden Szenarios scheint mir das die wahrscheinlichste Lösung zu sein. Im Studenten haben wir es mit einer jüngeren Ausgabe des Malers zu tun, dem die Erfahrungen noch bevorstehen, die der Maler bereits hinter sich hat. Seine Erlebnisse in Weng sind ein Teil davon. Wenn das Szenario einen realistischen Sinn haben sollte, dann kann er wegen der Ähnlichkeit der beiden Figuren nur darin liegen, dass die Ähnlichkeit der Figuren die Absolutheit der Weltsicht bestätigt, die vor allem vom Maler geäußert, aber eben auch vom Erzähler von Beginn an geteilt wird. Der Erzähler wäre demnach auch keine Kontrastfigur, sondern diente als Verstärker, zumindest als Prophet des Malers, als der er die exklusiven Monologe zu Papier bringt und der Nachwelt erhält (vgl. Maier 2004). Und er wäre unzuverlässig in Bezug darauf, dass er gar nicht versteht, dass er dem Maler bereits ausgeliefert ist, noch ehe er ihn kennenlernt. Durch das, was er im Sinne seines quasi-ärztlichen Auftrags zu verstehen gibt, gibt er sich als unvoreingenommene Kontrastfigur zum Maler aus. Aber das ist er nicht.

7.8 Die mimetische Unzuverlässigkeit des Erzählers

Wenn man die Reichweite des mimetischen Anspruchs untersuchen möchte, kann man sich zunächst vornehmen, die im Text genannten, historisch belegten Ortsangaben zu prüfen. An diesen Angaben entzündete sich anfangs der Protest gegen das Buch, dessen Darstellung einer konkreten österreichischen Provinz als Verunglimpfung aufgefasst wurde (vgl. Gößling 2018, 43). Diese Reaktionen gelten unter Literaturwissenschaftlern nicht zuletzt deshalb als unangemessen, weil sie die fiktiven mit realen Ortschaften verwechseln. Nach Weng gelangt der Student von Schwarzach über Sulzau mit der Bahn. Das ist unmöglich, sofern man unterstellt, dass damit reale Orte gemeint sind. Man könnte also die geographischen Fehler als Indiz dafür verstehen, dass es hier um eine vollständig fiktive Welt geht. Zwar ist man schnell bei der Hand mit der Erklärung, dass Bernhard nicht die realen Orte meint; aber sie könnten immerhin gemeint sein, und dann wäre die Bahnreise auch in der erzählten Welt nicht in der Weise möglich, wie der Erzähler sie beschreibt. In der fehlerhaften Geographie, die bereits an den Anfang gesetzt wird, könnte man demnach genauso gut einen Indikator der bereits von Anfang an verwirrten Sinne des Erzählers erblicken.

Es kann nun sein, dass sich Bernhard um die genaue Geographie nicht in der akribischen Weise gekümmert hat, wie man das von anderen Autoren kennt.Footnote 85 Doch gibt es weitere topographische Anomalien, die nicht im Widerspruch zu realen Gegebenheiten stehen, sondern innerhalb der erzählten Welt zu beobachten sind und also ausschließlich auf Textangaben beruhen, ohne zu einer Beantwortung der leidigen Frage nach der Referenzialisierbarkeit zu zwingen.

Solche textinternen Anomalien sind nicht nur ein zusätzlicher Grund, sondern auch ein besserer Indikator für die Unzuverlässigkeit des Erzählers. Wie die oben (Anm. 78) bereits erwähnte höchst selektive Schilderung der Schlittenfahrt wirft auch die Erzählung von der ersten Begegnung mit dem Maler die Frage auf, ob es wahr sein kann, was der Erzähler zu verstehen gibt. Die Vergegenwärtigung der erzählten Situation, die nicht kontinuierlich, sondern mittels Analepsen erzählt wird, ergibt folgendes Bild vom Eintreffen in Weng: Der Student verlässt mit dem ersten Zug gegen 04:30 Uhr Schwarzach und fährt zusammen mit Arbeitern, die ihre Nachtschicht hinter sich haben (F, 8), über Sulzau nach Weng. Obwohl sich der Waggon füllt, bleibt der Platz neben ihm frei. Keiner möchte neben dem Fremden sitzen.

Offenbar kommt er noch am Vormittag an, denn er verbringt die „Essenszeit“ (F, 10), also wohl die Zeit während des Mittagessens, in seinem Zimmer. Dort schläft er für zwei Stunden ein. Dann: „Um vier Uhr verließ ich das Gasthaus“ (F, 13). Draußen fällt er fast über einen „Eisklumpen“ und geht zu einem „Baumstumpf in zwei Dutzend Meter Entfernung“ (F, 13). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er nach dem Verlassen des Gasthauses eine längere Strecke zurückgelegt hätte. Man muss annehmen, dass er gleich nach Verlassen des Hauses stolpert. Er befindet sich also noch in seiner unmittelbaren Nähe. „Da sah ich aus dem Waldstück, keine hundert Meter von mir entfernt, einen herausstapfen, ohne Zweifel den Maler Strauch“ (F, 13). Der Student ergreift die Gelegenheit, ihn gleich kennenzulernen, weshalb er sich vornimmt, „ihm den Weg abzuschneiden“ (F, 14).

Sie treffen demnach in einem Radius von maximal 120 Metern um das Gasthaus aufeinander; eher weniger, denn der Maler bewegt sich ja auf ihn zu. Das Reisegepäck wird nicht erwähnt, und man wird wohl annehmen dürfen, dass der Student es im Gasthaus gelassen hat. Aufmerken lässt nun, wie der Student sein Beobachtungsobjekt anspricht: „‚Ich suche das Gasthaus‘, sagte ich. Und alles war gut gegangen. Er musterte mich, denn mehr unheimlich als vertrauenerweckend war mein plötzliches Auftauchen – und nahm mich mit“ (F, 14).

Ist das eine überzeugende Schilderung des ersten Aufeinandertreffens? Kann das „gut gegangen“ sein? Das Gasthaus im Rücken und ohne Gepäck, muss der Student dem Maler aufgrund dieser Frage sofort suspekt sein. Der Maler lässt aber – gemäß den Aufzeichnungen – nicht erkennen, dass er den Studenten seltsam findet. Dieser Fall lässt mehrere Schlüsse zu: Der Erzähler merkt nicht, dass seine Lüge vollkommen durchsichtig ist; er lügt gar nicht, sondern hat einen äußerst schlechten Orientierungssinn und zudem gar nicht prätendiert, dass er noch nicht im Gasthaus war; der Maler merkt nicht, dass die Frage nach dem Gasthaus in der Nähe des Gasthauses seltsam ist.

Nichts davon lässt sich am Text direkt belegen. Aber es gibt ein Detail, das sich dazu in Beziehung setzen lässt und die Schlussfolgerung erlaubt, dass der Maler dem Studenten von Beginn an nicht glaubt – was der Vermittler der Geschichte, weil er derart blind für sich selbst und seine Umgebung ist, natürlich nicht erkennen kann. Das Zeichen angedeuteter Skepsis des Malers ist, dass er am letzten Tag indirekt nachfragt, ob der Erzähler „Jus“ studiere (F, 333). Warum fragt er das? Als Jura-Student hat sich ihm der Student bereits am Anfang vorgestellt – zumindest hat er es sich vorgenommen (F, 12). Der Maler greift diese Information dann auch auf und bestätigt somit den Erzähler (F, 19). Die Frage am Ende könnte daher den Unglauben andeuten, der den Maler bewegt.

So oder so, nicht nur das Ende, schon der Anfang der Bekanntschaft zwischen dem Erzähler und dem Maler ist unter mimetischer Betrachtungsweise zumindest ein Anlass, die Annahme weiter zu verfolgen, dass unzuverlässig erzählt wird, denn der Erzähler gibt zu verstehen, dass er den Maler kennenlernt, ohne Verdacht zu erregen; doch sind die Angaben, die er über die Situation macht, so obskur, dass es schwerfällt zu glauben, das Kennenlernen sei völlig reibungslos verlaufen.

Wenn man all die Anomalien zu einer mimetisch erzählten Welt zu integrieren versuchte, müsste die Geschichte „hinter“ der erzählten Geschichte ungefähr folgendermaßen lauten: Schon beim ersten Aufeinandertreffen merkt der Maler, dass der Student ein Lügner ist. Er erkennt, dass die Frage nach dem Gasthof ein unglücklich gewählter Vorwand ist. Da aber von dem jungen Mann kein Ärger zu erwarten ist, lässt der Maler ihn sich ihm anschließen und erzählt ihm allerlei, um sich mit ihm die Zeit zu vertreiben. Dabei muss der Student bereits den Auftrag des Assistenten missverstanden haben. Was wir lesen, ist die kaum zu durchschauende bizarre Weltsicht des Erzählers, der nicht alles, was er hört, notiert, sondern nur das, was er hören will.Footnote 86 Dafür spricht, dass der Student bereits seltsame Vorstellungen zum Ausdruck bringt, noch ehe er den Maler kennenlernt. Schon seinen Auftrag fasst er in einer Weise auf, wie er, immer noch vorausgesetzt, es handelt sich um eine mimetisch-realistisch modellierte Welt, kaum erteilt werden könnte – es sei denn, der Assistent wäre selbst unzurechnungsfähig. Die weiteren Anomalien wie die Schlittenfahrt, das Berichten über „gestern“ Vorgefallenes und das Kenntnis voraussetzende Erwähnen von Leuten, die noch gar nicht eingeführt worden sind, dienen dazu, die Distanz zwischen Bericht und Welt aufrecht zu erhalten. Das Ende könnte man in diesem Sinne ebenfalls als unaufrichtig auffassen, nämlich als ein uneingestandenes Scheitern des Studenten. Demgemäß wird er erst vom Maler und dann, aus Anlass der Zeitungsmeldung, vom Assistenten verstoßen. Es wäre eine Niederlage, die er vor sich selbst nicht anerkennen kann.

Folgt man der Unzuverlässigkeitsthese, ist eine andere Interpretation kaum plausibel. Sie lässt sich mit einigen Textbeobachtungen in Zusammenhang bringen. Demnach will er sich nicht eingestehen, dass ihn der Maler am Ende verbannt, weil er sich nicht als Lügner offenbart. Da der Maler gemäß der hier verfolgten Lesart weiß, dass er kein Jura-Student ist, gibt er ihm mit der unerwarteten Nachfrage bzgl. des Studiums eine letzte Chance, die Wahrheit zu sagen und eine freundschaftliche Beziehung zu ermöglichen, worauf der Erzähler aber nicht eingeht. Stattdessen reist er ab, weil er sich ertappt fühlt. Davor gibt es Hinweise, die zeigen, dass der Maler den jungen Mann braucht – er macht sich Sorgen um ihn (F, 186, 274, 304) – und dass der geduldige Zuhörer ihm durch seine Aufmerksamkeit Erleichterung verschafft. Auffällig ist am Schluss, dass der Erzähler am 27. Tag zwar Monologe des Malers notiert, aber unklar ist, ob sie vom selben Tag stammen. In den Passagen über sich selbst bzw. über sein Zusammensein mit dem Maler ist zweimal von „gestern“ die Rede. Vielleicht hat er am 27. Tag gar nicht mehr mit ihm geredet. Zwar benutzt er auch „heute“ (F, 332), dies aber im Zusammenhang mit seinem Wunsch, sich Mantel und Buch schicken zu lassen. Nach vier Wochen im Winter ohne Mantel? Auch das könnte ein Hinweis darauf sein, dass er nicht die Wahrheit schreibt, sondern darüber hinweg täuscht, dass er seinem Auftrag nicht weiter nachkommen will.

Die mimetisch-realistische Interpretation konsequent zu Ende gedacht, könnte man zu dem Schluss kommen, dass der eigentlich Wahnsinnige der Student ist, der seine bereits ganz am Anfang anklingende krude Weltsicht dem Maler in den Mund legt. Diese Interpretation hat nur den Schönheitsfehler, dass es für sie keine direkten Belege gibt, die zeigen könnten, dass die Manipulation des Studenten so weit reicht, die Rede des Malers zu verfälschen. Eher vertretbar ist daher die These, dass der Student im Maler einen Gleichgesinnten trifft. Was im Einzelnen wahr ist, lässt sich aber nicht ermitteln. Es gibt nur eine Menge Hinweise, dass die Abläufe in der Geschichte von Student und Maler nicht so reibungslos sind, wie der Student sie darstellt. Mithin gibt es gute Gründe für die Annahme (immer mit Bezug auf die mimetisch-realistische Lesart), dass der Student immer wieder etwas Falsches zu verstehen gibt.

Auch die dritte Figur weist Ähnlichkeiten mit den beiden anderen auf. Obwohl der Bruder deutlich als Kontrastfigur zum Maler angelegt zu sein scheint, ist er durch den seltsamen Auftrag ebenfalls kompromittiert, sofern er ihn so erteilt hat, wie der Erzähler sagt. Darüber hinaus gibt es weitere Konfusionen. Nicht nur überlappen die Rede des Malers und die Rede des Erzählers, auch die Rede des Assistenten zeigt Ähnlichkeiten mit der seines Bruders, wie der Erzähler sogar selbst feststellt. Im zweiten Brief zitiert er einen Ausspruch des Assistenten: „Das kann ein Mensch sein […], durchaus am Rand der Jahrtausende“ (F, 317), und meint, dass dieser Satz genauso gut „ein Produkt Ihres Bruders“ sein könnte, „der pausenlos solche Sätze hervorstößt“ (F, 317).

Wiederum gilt, dass dies unter Wahrung der Mimesis-Präsumtion insofern konsequent ist, als der Erzähler gar keine Entwicklung durchmacht, sondern von vornherein fragwürdige Dinge äußert, auch wenn die Fragwürdigkeit durch die Herausfilterung des rationalen Handlungsgerüsts leicht aus dem Blick gerät. Unter der Voraussetzung, dass der Erzähler selbst hochgradig deformiert ist, nimmt es nicht wunder, dass hier weniger Unterschiede als wiederum vor allem Ähnlichkeiten zu entdecken sind.

Diese Anomalien zu einer kohärenten Interpretation zu integrieren, die die wahre Geschichte hinter der vom Erzähler präsentierten Geschichte offenbart, ist mit Blick auf die unstimmigen Details möglich. Man wird allerdings zugestehen müssen, dass eine umfassende diegetische Erklärung spekulativen Charakter hat. Das muss einem aber bei einem modernen Text nicht unbedingt Bange machen. Man könnte es dem Text als besondere Konsequenz anrechnen, dass der Erzähler alles ausblendet, was eine Erhellung seines Geisteszustandes ermöglichen könnte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die von einer mimetischen Darstellung ausgehenden Interpretationen, die es gibt, über allgemeine Zuschreibungen nicht hinausgehen, sondern auf die Offenheit des Textes abzielen. Die Darstellung werde, so Marquardt (1990, 31), „von der Subjektivität des Berichtenden dominiert“. Marquardt unterlegt ihrer Interpretation ein realistisches Szenario, hält aber die Subjektivität des Erzählers für unhintergehbar und damit für eine Aufforderung, die Wiedergabe der Welt von Frost zu hinterfragen: „So evoziert die Form selbst Fragen nach Wahrnehmung und Reflexion dessen, was der Tagebuchschreiber hört, sieht und erlebt“ (ebd.).

Auch Pfabigan (1999, 61) stellt fest, dass „prinzipiell offenbleibt, was in ‚Frost‘ auf der Ebene des Textes beschriebene Realität und was beschriebene Wahrnehmungsverzerrung einer pathogenen Persönlichkeit ist“. Das ist wohl eher auf den Maler gemünzt, trifft aber angesichts der hier zusammengetragenen Textbeobachtungen noch mehr auf den Erzähler zu. „Der Leser ist der subjektiven Sicht des Famulanten ausgeliefert, die alles andere als zuverlässig ist. Die Schilderungen verlieren in dem Maß an Glaubwürdigkeit, in dem der Beobachter aller Eigenschaften beraubt wird, die den verläßlichen Berichterstatter auszeichnen“ (Marquard 1990, 35). Dieser Schluss gründet jedoch, wie gesagt, nicht auf der Basis einer im Text durch Andeutungen versteckten und daher ermittelbaren Wahrheit, sondern lediglich auf der Basis von nicht ohne eine gehörige Portion Mutmaßung auflösbaren Ungereimtheiten, die sonst nur um den Preis auszuräumen sind, die mimetisch-realistische Lesart aufzugeben.

7.9 Die anti-mimetische Lesart

Die Dynamik des realistischen Szenarios – Student erhält Auftrag, kommt nach Weng und geht mit dem Maler tagelang spazieren, wobei er durch dessen Einwirkung eine mentale Deformation erleidet – erweist sich damit als trügerisch. In Wahrheit ist die Welt des Romans so statisch, wie schon sein Titel besagt. Die erzählte Welt ist von Beginn an erstarrt. Durch die vielen bislang beschriebenen Irritationen wird das realistische Szenario immer wieder herausgefordert, und die Unzuverlässigkeit des Erzählers kann dafür als Erklärung dienen. Aber diese Erklärung erfasst vielleicht nur Teilaspekte des Romans, der auch oder stattdessen darauf angelegt sein könnte, den realistischen Deutungsrahmen zwar nahezulegen, diesem aber immer wieder den Boden zu entziehen. Durch den Bruch der Mimesis-Präsumtion wäre die Welt, so statisch sie ist, instabil.

Dies erfasst auch die Zuschreibung der Unzuverlässigkeit an den Erzähler. Angesichts der Ähnlichkeiten zwischen Erzähler und Protagonist sowie der aufgeführten Anomalien bietet sich die Unzuverlässigkeit des Erzählers zwar an, aber mit der Preisgabe der Mimesis-Präsumtion würde die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit in Bezug auf die – nun vermeintlichen – Fehler des Erzählers in Frage stehen.

Suspendiert man die Mimesis-Präsumtion, handelt es sich ja nicht mehr um Fehler, sondern um Absurditäten. Es ließe sich schließen, dass das, was vor dem Hintergrund eines realistischen Bildes von ärztlichen bzw. medizinischen Forschungsaufträgen seltsam und unglaubwürdig erscheint, in der erzählten Welt von Frost gar nicht seltsam ist. Etwas kann in einer Welt nur als seltsam empfunden werden, wenn diese Welt als ganze vor allem nicht seltsam ist. Wenn aber der Auftrag, wie der Erzähler ihn auffasst, und seine anderen Schilderungen nicht seltsam sind, ist auch die Welt nicht seltsam, jedenfalls nicht für ihre Bewohner. Sie ist es nur für uns.

Die Frage ist, was sich in dieser nicht-mimetischen Seltsamkeit der Welt mitteilt. Schon Mixner (1983, 47) vertritt die Auffassung, „daß es sich hier um eine Art Bewußtseins-Ausschreitung handelt, also nicht um eine Abbildung realer Vorgänge oder um eine Widerspiegelung der Fiktion von wirklicher Wirklichkeit, sondern um die Fiktion von Bewußtseinswirklichkeit. […] Bernhard hat diese Künstlichkeit des Textes gezielt durch einen realistischen Rahmen kaschiert“. Maier (2004, 24) spricht analog von „einer (pseudomimetischen) Kommunikationssituation“, in der ein realistischer Rahmen bloß vorgetäuscht werde. Charakteristisch ist nach Maier für diese spezielle Kommunikationssituation weiter, dass der Erzähler nur als Zuhörer fungiere, dessen Funktion hauptsächlich darin bestehe, die Monologe des Malers zu verstehen zu versuchen. Er trete nicht in eine Diskussion mit dem Maler ein. „Der Erzähler beglaubigt also immerfort, daß es mit den Gedanken des Redners etwas auf sich habe“ (Maier 2015, 535), und manipuliere auf diese Weise den Leser, weil dieser eben durch den alles akzeptierenden Vermittler gar nicht mehr auf die Idee komme, den Gehalt der Maler-Monologe zu hinterfragen.

Wenn sich auch einige Äußerungen Bernhards als Beleg für eine anti-mimetische Deutung anführen lassen, bleibt die Frage unbeantwortet, warum hier etwas „kaschiert“ wird, wie Mixner sagt. Auch wenn Gößling (1987) darauf abzielt, mimetische und anti-mimetische Deutungen miteinander zu vermitteln, tendiert er stark zur anti-mimetischen Lesart. Aufgrund von (angeblich) nicht in einen mimetisch-realistischen Deutungsrahmen integrierbaren Widersprüchen mit Bezug auf die Figur des Assistenten in Frost identifiziert Gößling (1987, 22 f.) diese Nebenfigur als übergeordnetes „Bewußtsein“ des Textes und begreift den erzählenden Medizinstudenten und den Protagonisten Strauch als dessen antagonistische Emanationen (so auch noch Gößling 2018, 40–42). Das wiederum ist keine sonderlich textnahe Interpretation.

7.10 Die Instabilität der Frost-Welt

Auch wenn man die Konsequenzen der mimetischen Lesart nicht teilt, die in der Unzuverlässigkeit des Erzählers münden, sollten doch wenigstens die Ergebnisse dieses Interpretationsansatzes zur Kenntnis genommen werden. Es gibt zahlreiche konkrete Unstimmigkeiten im Text, die nach einer Erklärung verlangen, und auch ohne primär mimetisch ausgerichtete Lektürehaltung deuten sie zumindest darauf hin, dass hier keine Entwicklung geschildert wird. Die Dynamik, die die mimetischen Rudimente der Erzählerrede andeuten, existiert nicht. Daran sieht man, dass auch die anti-mimetische Lesart nicht vollends befriedigen kann. Der Grund liegt darin, dass sich anti-mimetische Lesarten nicht vollständig durchhalten lassen, sondern immer mimetische Bausteine enthalten, damit das Ganze nicht zusammenstürzt.

Somit bleibt als Ergebnis übrig: Selbst wenn man zu dem Schluss käme, dass die Rede des Erzählers in weiten Teilen unsinnig ist, müsste man konzedieren, dass der Erzähler als intentionales Subjekt etwas anderes zu verstehen gibt. Er gibt zu verstehen, dass er sich für vernünftig hält. Da seine Rede jedoch in Teilen unsinnig ist (wenn sie nicht mimetisch falsch ist), ist er auch in diesem Fall mimetisch unzuverlässig – nicht mit Bezug auf die konkreten von ihm wiedergegebenen Sachverhalte, sondern in Bezug auf den semantisches Status seiner Rede sowie in Bezug auf seine allgemeine Geisteshaltung.

Der Witz ist, dass man zunächst das an dem ganzen Szenario herausfiltert, was unverständlich ist, und für die Rekonstruktion sich nur auf das beruft, was in geläufige Schemata passt und rational ist. Auf diese Weise erhält man das Handlungsgerüst „Auftrag – Reise – Dialoge – Ende“, das eine Entwicklungsdynamik nahelegt. Das aber stellt genau den Leim dar, auf den man Bernhard geht. Die Darstellung des Szenarios ist von Anfang an geprägt von einer irrationalen Sicht auf die erzählte Welt, die sich lediglich rational geriert. Mindestens darin kann man unzuverlässiges Erzählen erkennen.

Man sieht: Die beiden unterschiedlichen Lesarten kommen letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass nach anti-mimetischer Lesart die gesamte erzählte Welt unsinnig ist, wohingegen es nach mimetischer Lesart der Verstand des Erzählers ist, der den Unsinn produziert und fast alles ausblendet, was als Korrekturinstanz in Frage kommt, weil er alles, was ihn bewegt, an den Maler delegiert.

Mein Fazit lautet daher: Man kann den Text unter Maßgabe der Mimesis-Präsumtion verstehen, aber das ist keineswegs zwingend.Footnote 87 Was unter der Mimesis-Präsumtion als Indikator der Unzuverlässigkeit des Erzählers dient, das lässt sich auch als Unterlaufen der Mimesis-Präsumtion selbst auffassen. Was wahr ist und was falsch, steht immer wieder zur Disposition. Die Welt von Frost ist aufgrund des speziellen Erzähler-Arrangements höchst instabil, und sie ist mindestens insofern unzuverlässig erzählt, als der Erzähler eine stabile Welt vortäuscht.

Zum Abschluss sei die Frage gestellt, was sich in der Instabilität der dargestellten Welt bzw. der Darstellung selbst mitteilen soll. Es ist aus quantitativen Gründen naheliegend, die Aussagen des Malers in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen und nach ihren Inhalten zu fragen. Die Antwort ist bekannt. Man kann sie zusammenfassen als Verzweiflung an der Welt. Aber damit bleibt die Frage unberührt, warum es dieser seltsamen narrativen Anlage bedarf, um den Sermon des Malers in Szene zu setzen. Was teilt sich in der instabilen Welt, für deren widersprüchliche Ausstattung ja nicht der Maler, sondern der Erzähler sorgt, mit?

Dazu mag es nützlich sein, zum Anfang des Romans zurückzukehren. Der Auftrag ist die Voraussetzung für die ganze Geschichte. Daher könnte im Auftrag der Schlüssel zu einer Interpretation liegen, die eine Erklärung für die Instabilität anbietet. Der Erzähler selbst gibt in seinem ersten Kapitel, das noch vor der Abreise in Schwarzach geschrieben worden sein muss, einen Hinweis. Das Eingangskapitel ist inhaltlich in zwei Hälften strukturiert und handelt zunächst davon, was eine Famulatur primär beinhaltet, und in der zweiten davon, was sie darüber hinaus bedeutet. Eine Famulatur, so lässt sich zusammenfassen, bestehe nicht nur aus chirurgischen Eingriffen an Körpern und aus dem – lügnerischen – Vertrösten von Patienten, sondern müsse „auch mit außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten rechnen“ (F, 7). Der Student mutmaßt, „daß das Außerfleischliche, nämlich das ohne Zellen, das ist, woraus alles existiert, und nicht umgekehrt und nicht nur eines aus dem andern“ (ebd.). Das „Außerfleischliche“ sei, so der Student, nichts Seelisches. Das ist einigermaßen kryptisch, lässt sich aber als Wink auffassen, wie das, was folgt, zu verstehen ist: als die Überführung eines inneren Zustands in Sprache anhand der Reden eines Individuums, das mehr ist als die Summe seiner Zellen und durch diesen inneren Zustand auch etwas anderes (und ganz eigenes) als das im Prinzip austauschbare materielle Substrat eines Menschen, das nur aus Zellen besteht.

Angesichts des Umstands, dass mit dem Auftrag eines Mediziners und seiner Ausführung durch einen labilen Menschen, der dem Auftrag nicht gerecht wird und diesen wohl nicht einmal angemessen verstehen kann, zwei unterschiedliche Weltauffassungen miteinander konfrontiert werden (wobei die medizinische Auffassung nur erwähnt wird, aber sonst nur in der Interpretation des Erzählers vorliegt), kann man zur Stützung dieser Interpretationshypothese Hilfe noch beim Autor selbst suchen. In seiner Dankesrede nach der Verleihung des Bremer Literaturpreises konfrontiert Bernhard nämlich auch zwei Systeme: das der Wissenschaft und ein anderes, das er kaum spezifiziert. „Das Leben ist nur noch Wissenschaft, Wissenschaft aus den Wissenschaften“ (Bernhard 1965, 21). Das Leben selbst werde zur Wissenschaft und scheint damit etwas zu verlieren. Was immer das ist, es ist vielleicht genau das, was sein Roman, der die Wissenschaft gerade nicht zu Worte kommen lässt, in Worte fasst, während seine Rede davon das Negativ bietet. Darin deutet er die emotionale und spekulative Ödnis an, die eine durchrationalisierte „Wissenschaftswelt“ seiner Meinung nach bedeutet:

Wir sind von der Klarheit, aus welcher uns unsere Welt plötzlich ist, unsere Wissenschaftswelt, erschrocken; wir frieren in dieser Klarheit; aber wir haben diese Klarheit haben wollen, heraufbeschworen, wir dürfen uns also über die Kälte, die jetzt herrscht, nicht beklagen. Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu. Diese Klarheit und diese Kälte werden von jetzt an herrschen. Die Wissenschaft von der Natur wird uns eine höhere Klarheit und eine viel grimmigere Kälte sein, als wir uns vorstellen können. (Bernhard 1965, 22 [Kurs. i. Orig.])

Roman und Rede sind vor allem über das Motiv der Kälte miteinander verbunden, indirekt aber auch über das der Klarheit. Klarheit ist ein Begriff, der seit Descartes mit einem universalistischen Wissenschaftsethos und Rationalismus in enger Verbindung steht.Footnote 88 Nach dem zu urteilen, was Bernhard in seiner Rede äußert, hält er den wissenschaftlichen Fortschritt für unausweichlich. Aber er habe seinen Preis: eben Kälte. Von diesem Widerspruch handelt Frost, d. h. von zwei unwissenschaftlichen Individuen, die sich in ihr Inneres zurückzuziehen versuchen, während alles um sie herum erstarrt ist. Der Maler ist am Ende „abgängig“. Er wird damit in den Zustand der kalten Erstarrung überführt, ein Bild für die Unausweichlichkeit des Erkenntnisfortschritts, an dessen Ende für Bernhard die kalte Mechanisierung der Natur steht und die Auslöschung des Individuums.

Somit kann man am Ende konstatieren: In der Instabilität der Welt bzw. der Darstellung dieser Welt findet die Unklarheit ihren künstlerischen Ausdruck. Sie ist das einzige, was Kunst und Individuum noch geblieben ist.

8 Zusammenfassende Betrachtungen: Eine Zwischenbilanz

Je weiter die Nachkriegszeit zurückliegt, desto mehr verliert sie an Bedeutung für die Gegenwart. Diese einfache Wahrheit betrifft auch die Literatur jener Zeit. In der Zwischenzeit ist eine Menge Literatur hinzugekommen, und die Aufmerksamkeit reicht nicht mehr aus, die ganze Bandbreite der damaligen Literatur im Blick zu behalten. Ein einzelner vermag dies schon gar nicht. Die Literaturwissenschaft steht immer vor dem Problem der Lückenhaftigkeit ihrer Korpora. Es könnte sein, dass man, denkt man an die Nachkriegsliteratur, künftig oder auch jetzt schon nur noch die Gruppe 47 wahrnimmt. Dies ist einer der Gründe, warum dieses Kapitel so heißt, wie es heißt.

Der andere Grund ist in einer Gemeinsamkeit der hier analysierten Werke zu sehen, die der Titel des Kapitels ebenfalls benennt. Die Welten, die diese Werke entwerfen, stehen mal mehr, mal weniger im Verdacht, instabil zu sein. Wie wir sehen werden, ist das kein Unterscheidungskriterium zu allen Werken von Autoren der Gruppe 47. Aber das Merkmal der Instabilität könnte doch eine Tendenz markieren. Es zeichnet Werke aus, deren Realitätsgehalt in Frage steht. Aussagen der Erzählinstanzen können dann nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Mangelnde Überprüfbarkeit ist jedoch allein kein Kriterium für ein instabile erzählte Welt, sondern allenfalls für eine märchenhafte oder sonstwie phantastische Welt. Dass eine erzählte Welt irreal ist, ist nicht mit ihrer Instabilität gleichzusetzen. Es gibt, wie das Beispiel Kreuders am Anfang zeigen sollte, Welten, die in ihrer Irrealität stabil und zuverlässig erzählt sind. Mimetisch instabil ist eine erzählte Welt erst dann, wenn die Aussagen der Erzählinstanz sowohl eine mimetische als auch eine anti-mimetische Interpretation zulassen.

8.1 Instabile Welten und ihr mimetisches Substrat

Typischerweise werden solche Welten, die als instabile in Frage kommen, von Erzählinstanzen verantwortet, deren Geisteszustand fraglich ist. Stellt sich heraus, dass sie es sind, die wahnhaft dargestellt sind, dann ist nicht die Welt, von der sie erzählen, instabil, sondern sie selbst. Die Aussagen Marianne Helldegens, der Erzählerin in Hans Erich Nossacks Roman Spätestens im November, lassen sich so interpretieren, dass sie zwischen Realität und Phantasie nicht immer zu unterscheiden vermag und für real hält, was sie sich lediglich einbildet, darunter schließlich auch ihr eigener Tod. Demnach ist die dargestellte Welt, dem ersten Anschein zum Trotz, stabil, die Erzählerin aber mimetisch unzuverlässig. Zugegebenermaßen handelt es sich bei diesem Ergebnis um einen Indizienbeweis. Man kann die erzählte Welt auch für instabil halten, in der es Elemente gibt, von denen man nicht genau sagen kann, welchen Status sie haben: sie mögen übernatürlich oder auch allegorisch sein.

Ähnlich verhält es sich mit den beiden Romanen von Heinz Risse: Wenn die Erde bebt und Dann kam der Tag. Im Unterschied zu Nossacks Erzählerin sind die beiden Erzähler dieser Romane offen als Unzurechnungsfähige gekennzeichnet. Daher lassen sich alle phantastischen Elemente der erzählten Welten als Wahnvorstellungen vor dem Hintergrund einer stabilen Welt interpretieren. Man kann die phantastischen Ingredienzen aber auch als Bestandteile in dieser Welt bestehender Sachverhalte auffassen. Daher sind die Welten instabil. Dabei gehen die betrachteten Romane von Risse durchaus unterschiedlich mit dieser Eigenschaft um. Während sie im ersten Roman aufgrund zahlreicher übernatürlicher oder auch nicht-mimetischer Details besonders ausgeprägt ist, erscheint sie im anderen Roman stark reduziert. Vor allem die Bildtafeln sorgen für einen – zumal in der damaligen Zeit – außerordentlichen Eindruck von mimetischer Authentizität. Nur wenige Details entkräften diesen Eindruck und lassen damit Zweifel an der Stabilität der Welt aufkommen. Das Interessante an diesen Werken des inzwischen fast völlig vergessenen Autors ist, dass die Instabilität der erzählten Welten durch das spezielle Profil der Erzählerfiguren gewissermaßen weginterpretierbar ist. Anders gesagt, ihre potentielle mimetische Unzuverlässigkeit ist einkalkuliert.

Ganz anders verhält es sich mit der Instabilität der Welten in Arno Schmidts Werken. In den Erzählungen, die antike Welten vorstellen, wird ihre Ausstattung durch Anachronismen mit einem starken anti-mimetischen Effekt aufgebrochen. Dasselbe gilt für den Faun-Roman, dessen Welt auf die Jahre 1939 bis 1944 festgelegt ist, während in ihrer Ausstattung Elemente auftauchen, die nicht in diesen Zeitabschnitt passen. Instabil sind die Welten der hier näher betrachteten Werke aber auch von einer anderen Seite her, insofern sie längere Passagen enthalten, die von einer Parallelwelt zu handeln scheinen. Im Falle der Antike-Erzählungen lassen sie sich allerdings mimetisch integrieren, da ihre Erzähler deutlich als wahnhaft bzw. fieberkrank gekennzeichnet sind. Anders im Faun-Roman, in dem die die mimetische Darstellung herausfordernden Erlebnisse Dürings mit Käthe in der Hütte im Wald nur indirekt als erträumte erschließbar sind. Man kann daher sagen, dass die mimetischen Anteile in den Werken größer sind, als man zunächst meinen könnte, und insofern ist es auch berechtigt, von mimetisch unzuverlässigen Erzählern zu sprechen.

Das letzte Beispiel einer instabilen Welt ist Thomas Bernhards Frost. In diesem Roman ist äußerst unklar, wovon man ausgehen soll, wenn man die erzählte Welt beurteilen soll. Viele Aussagen des Erzählers machen den Eindruck, als handele es sich um eine stabile Welt mit einer konkreten geographischen Region, dem Pongau, südlich von Salzburg, in der ein Maler seltsame Sachen sagt, die der mit einem medizinischen Auftrag angereiste Erzähler notiert. Doch wenn man die Angaben, die der Erzähler macht, genauer prüft, dann erweisen sie sich – wie bereits der Auftrag selbst – als unsinnig. Man kann seine Notate als Zeugnisse über eine instabile Welt auffassen oder aber als unzuverlässiges Gefasel über eine eigentlich stabile Welt, die aber so gut wie gar keine textuelle Basis hat. Im Vergleich zu den anderen unzuverlässig erzählten Werken dieses Kapitels, in denen die Texte diegetische Erklärungen für die mimetische Unzuverlässigkeit ihrer Erzählinstanzen anbieten, bleiben die Motive des Studenten weitgehend im Dunkeln.

Wie immer man die Welten Schmidts oder Bernhards beurteilen mag – ob als stabil oder instabil –, die Untersuchungen ihrer Werke haben gezeigt, dass ihre Instabilität nicht jeden ihrer Winkel betrifft. Es gibt demnach ein mimetisches Substrat, auf das sich Verstehensbemühungen richten und an dem sie ansetzen. Dafür, dass die Erzählinstanzen mit diesem mimetischen Substrat zum Teil fragwürdig umgehen, ist ihre mimetische Unzuverlässigkeit daher zumindest partiell eine explanative Option.

Bei zwei Werken ist die Prüfung auf Unzuverlässigkeit negativ ausgefallen. Sie sind nicht einmal in Teilen mimetisch unzuverlässig erzählt. Die Tapetentür von Marlen Haushofer wurde hier berücksichtigt, weil das Werk in der Vergangenheit als unzuverlässig erzählt beurteilt wurde. Allerdings ist die fragliche Textpassage deutlich als Traum markiert, so dass nicht nur die Stabilität der Welt gewahrt bleibt, sondern auch das Erzählen darüber nicht anders als zuverlässig genannt werden muss. Der hier zugrunde gelegte Begriff eignet sich damit auch zur Widerlegung fragwürdiger Zuschreibungen.

Dagegen wirkt Der russische Regenbogen von Hermann Lenz vor dem Hintergrund der Mimesis-Präsumtion, deren Geltung durch die Anspielungen auf ein historisch konkretes Ereignis wie das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gestützt wird, potentiell unzuverlässig erzählt, weil die Erlebnisse der Erzählerin so unwahrscheinlich sind. Doch hat meine Untersuchung keine belastbaren Hinweise für die Zuschreibung von Unzuverlässigkeit ergeben. Die Indizien, die der Text gibt, haben sich nicht als triftig erwiesen. Daher muss man die erzählte Welt als in Teilen instabil ansehen. Ihr mimetisches Substrat steht in einem unauflösbaren Konflikt mit der seltsam harmonisierenden Weltsicht der Erzählerin und mit ihren, alles in allem, für die historische Kriegszeit sehr glücklichen Erlebnissen. Diese Elemente der erzählten Welt dienen nicht dazu, die Sicht der Erzählerin zu diskreditieren; sie sind so, wie sie dargestellt werden.

8.2 Zur Axiologie der Erzählinstanzen und Werke

Für einen Teil der in diesem Kapitel betrachteten Werke gilt, dass ihre Erzählinstanzen – ob mimetisch unzuverlässig oder nicht – axiologisch zuverlässig sind. Das betrifft jedenfalls die Werke von Risse, Nossack und Lenz, die im weiteren Umkreis des Magischen Realismus zu verorten sind. Allerdings ist die positive Axiologie der Erzählinstanzen mit Hilfe der im I. Kapitel vorgestellten Daumenregel (R) auf einer grundlegenden Interpretationsebene kaum ermittelbar. Am ehesten dürfte das noch bei Risses Wenn die Erde bebt möglich sein, da die negative Darstellung der Ehefrau des Erzählers sowie seines Gegenspielers keine Umdeutung im Sinne axiologischer Unzuverlässigkeit des Erzählers zulassen. Doch schon Risses anderer Roman, Dann kam der Tag, lässt mit Blick auf die Axiologie des brandschatzenden Erzählers alle Fragen offen. Hier kann die positive Axiologie des Erzählers erst aufgrund von Äußerungen des Autors ermittelt werden. Da diese nicht im Text eindeutig feststellbar ist, kann man sagen, dass in ästhetischer Hinsicht das Spiel mit der axiologischen (Un)Zuverlässigkeit in der Erzählkonzeption angelegt ist.

In Nossacks Spätestens im November macht sich die Erzählerin des Ehebruchs schuldig, aber das ist nicht die Norm, deren Bruch die Axiologie des Werks bestimmt. Daher ist sie diesbezüglich nicht axiologisch unzuverlässig. Dies lässt sich, meine ich, bereits auf der Basis von (R) feststellen, denn der Ehebruch wird im Roman kaum als Problem angesehen. Interessant ist nun im Vergleich zu Risses Werken, dass die Bestimmung der Erzählerin als mimetisch unzuverlässig oder, alternativ, die Bestimmung der erzählten Welt als instabil keine Auswirkung auf die axiologische Zuverlässigkeit der Erzählerin hat. In beiden Fällen kommen die (positiv zu bewertenden) geistigen, künstlerischen und zwischenmenschlichen Bedürfnisse der Erzählerin in der ausschließlich auf Repräsentation angelegten Geschäftswelt ihres Ehemannes zu kurz. Auch hier ist es so, dass die Handhabung dieser Werte im Roman erlaubt, die Axiologie auf der Basis von (R) zu bestimmen. Zieht man zusätzlich Nossacks Einstellung zu Rate, lässt sich diese Bestimmung leicht bestätigen.

Im Gegensatz dazu sind Axiologie und mimetischer Anspruch von Risses Erzählern stärker miteinander verquickt. Wer sich bei Wenn die Erde bebt auf die Seite des Psychiaters schlägt und die mimetischen Aussagen des Erzählers nicht als Ausweis einer instabilen Welt, sondern als Beleg für seine Phantasterei und damit für seine mimetische Unzuverlässigkeit versteht, der wird auch die Axiologie des Erzählers auf der Basis von (R) negativ bestimmen. Die Axiologie des Erzählers in Dann kam der Tag ist ohnedies so angelegt, dass sie werkintern nicht ermittelbar ist. Trotzdem scheint es mir kein Zufall zu sein, dass die Erzählinstanzen dieser Romane in ihrer grundsätzlichen Haltung, gleich ob diese sich in den jeweiligen Texten eindeutig manifestiert oder nicht, axiologisch zuverlässig sind. Auch Tamara aus Lenz’ Der russische Regenbogen gehört in diese Reihe. Ziel der Autoren ist es, positive Gegenwelten zu entwerfen, die in Opposition zum bedauerlichen irdischen Dasein stehen. Die Besonderheit bei Nossack ist in dieser Hinsicht, dass mit Marianne keine geistige Vorbildfigur für diese Haltung eingesetzt wird. Während bei Risses und Lenz’ Erzählerfiguren ihre grundsätzlich positive Axiologie durch ihr exzeptionelles geistiges Dasein unterstrichen wird und diese dadurch jeweils als alter ego der Autoren erkennbar werden, unterläuft Nossack durch den zur Banalität neigenden Charakter Mariannes die vollständige Identifikation der Erzähl- mit der Autorposition.

Wie dargelegt, sind auch die Gegenwelten, die Arno Schmidt mit Hilfe seiner Erzählerfiguren entwirft, häufig als axiologisch positive Gegenwelten interpretiert worden: als Rückzugsgebiete künstlerisch veranlagter Charaktere, die in der ungeistigen irdischen Welt insgesamt keine Chance auf ein ihnen gemäßes Dasein haben oder aber in der Welt des Nationalsozialismus. Die Fiktivität dieser Gegenwelten in den erzählten Welten reflektieren einerseits die Fiktionalität von Schmidts Werken in unserer Welt; andererseits bricht die Fiktivität der Gegenwelten auch ihre im Grundsatz positive Axiologie auf. Wenn Philostratos, der Erzähler in Enthymesis oder W. I. E. H., die naturwissenschaftlich nachweisbare Kugelgestalt der Erde ignoriert, kann ein wissenschaftlich aufgeschlossener Autor wie Arno Schmidt nicht voll und ganz hinter ihm stehen. Auch die Bestimmung der Gegenwelt im Faun-Roman als axiologisch positive Idylle wird vor diesem Hintergrund fragwürdig.

Man kann in mimetischer Unzuverlässigkeit ein Argument auch für die Zuschreibung axiologischer Unzuverlässigkeit erblicken, sofern einzelne Anomalien, die für mimetische Unzuverlässigkeit sprechen, mit axiologischen Aspekten eines Werks in Verbindung stehen und dadurch zu einer Reinterpretation der Axiologie einladen. Das muss aber nicht so sein. Axiologische Ambivalenz ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Es gibt auch axiologisch neutrale oder offene Werke. Dazu gehört sicherlich ein Roman wie Marlen Haushofers Die Tapetentür, der, unabhängig davon, dass er weder mimetisch noch axiologisch unzuverlässig erzählt ist, die Frage nach der Abhängigkeit der Frau vom Mann zwar aufwirft, aber nicht beantwortet und insofern offen ist. Anders verhält es sich bei Thomas Bernhards Romanen, in denen axiologische Fragen möglicherweise nur rhetorisch eine Rolle spielen und insofern als axiologisch neutral zu betrachten wären.

Als Ergebnis dieses Kapitels lässt sich festhalten, dass es in der Werkgruppe, deren Gemeinsamkeit darin besteht, Gegenwelten zu entwerfen, durchaus Werke gibt, in denen unzuverlässiges Erzählen eine Rolle spielt. Doch sind dies nach meiner Kenntnis eher Ausnahmen. Von einer Tradition, die man retrospektiv als solche literaturgeschichtlich postulieren könnte, lässt sich nicht sprechen. Wie die folgenden Kapitel zeigen, gibt es eine solche aber. Sie wird von schweizerischen Autoren gebildet. Später setzt sich das unzuverlässige Erzählen auch in der DDR-Literatur immer mehr durch. Das ist kein Zufall.