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1 Pflege als Interaktionsarbeit und ihre technische Unterstützung

In diesem Beitrag wird ein „Modell zur Beteiligungsqualifizierung in der Pflege“ vorgestellt, dessen Umsetzung die Beteiligung von Pflegefachkräften an der Entwicklung digitalisierter Pflegetechnik erleichtert und so die Chancen vergrößert, Digitaltechnik als Unterstützung für pflegerische Interaktionsarbeit wirksam werden zu lassen.

Dazu werden zunächst aktuelle Probleme bei der Nutzung technischer Unterstützungssysteme für die Interaktionsarbeit „Pflege“ analysiert und dann ein Modell zur Beteiligungsqualifizierung in der Pflege entwickelt, das auf einer Beschreibung der Auswirkungen zunehmenden Technik- und Computereinsatzes aufbaut. Die praktische Umsetzung dieses Modells in konkreten Schulungsmodulen des Projektes „DigiKomp-Ambulant“ (siehe ► Exkursbox: Projektbeschreibung DigiKomp-Ambulant) wird dargestellt und erste Schulungstermine werden ausgewertet, bevor in einem Fazit ein Ausblick auf weitere Perspektiven des hier vorgestellten Modells aufgezeigt wird.

Pflege als professionelle Dienstleistung umfasst alle Aspekte der präventiven und kurativen Versorgung von Menschen mit Hilfebedarfen, bedeutet aber immer auch Kommunikation und Interaktion mit den Pflegebedürftigen – und zwar nicht nur in ihrer Rolle als Inanspruchnehmende von Pflege, sondern auch als individuelles menschliches Gegenüber. Pflegende verfügen über ein pflegefachliches Einschätzungsvermögen bezogen auf die vorliegende medizinische bzw. pflegerische Problemlage und sind sich ihrer Rolle als kommunikatives und interagierendes Gegenüber der alten Menschen bewusst. Dabei ist das Bewusstsein über die Gelingensbedingungen der Interaktionsarbeit (vgl. z. B. Böhle et al., 2015; Kooperationsarbeit, Emotionsarbeit, Gefühlsarbeit und subjektivierendes Arbeitshandeln) und des – damit verbundenen – situativen Handelns von besonderer Bedeutung.

Das situationsbezogene Handeln in der konkreten Interaktion gleichen Pflegekräfte mit ihrem pflegefachlichen bzw. pflegewissenschaftlichen Wissen ab. Pflegerisches Handeln basiert damit auf einer fallorientierten Verbindung übergreifenden fachlichen Wissens mit den jeweils einzigartigen Interaktions- und Kommunikationsbedingungen bezogen auf das Individuum des konkreten pflegebedürftigen Gegenübers. Gute Pflege kann so in dieser „Doppelseitigkeit“ wissenschaftlicher Fundierung und empathischer situationsbezogener Kommunikation gelingen (vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Böhle, 2017 zu subjektivierendem Arbeitshandeln). Dabei ist jeder Prozess professionellen pflegerischen Handelns in organisationale Rahmenbedingungen von stationären, halbstationären oder ambulanten Settings eingebunden, die die Chancen für die Umsetzung einer vorstehend beschriebenen „guten Pflege“ wesentlich mitbestimmen.

Soll also pflegerische Arbeit technisch unterstützt werden, so ist einerseits darauf zu achten, dass die Technik ihren Werkzeugcharakter in Bezug darauf zur Anwendung bringt, dass die Pflegekräfte unterstützt werden, ihr pflegefachliches Wissen einzusetzen und die individuelle und situationsbezogene Kommunikation und Interaktion mit dem pflegebedürftigen Gegenüber positiv zu gestalten. Des Weiteren muss der Technikeinsatz so in einen organisatorischen Rahmen eingebettet sein, dass die individuelle pflegerische Dienstleistung unterstützt und nicht behindert wird. Denn in der Vergangenheit ist durch verschiedene Untersuchungen festgestellt worden, dass neu entwickelte, pflegeunterstützende Technologien ihr langfristiges Ziel in der Pflegepraxis bzw. auf dem Pflegemarkt vielfach nicht erreicht haben. So stellen Weinberger & Decker (Weinberger & Decker 2015) fest, dass zwar viele Systeme am Markt verfügbar sind, aber „… trotz der Marktverfügbarkeit und der durch positive Evaluierung in Feldtests ausgewiesenen Potenziale wird bisher der Markt nicht durchdrungen, d. h., die Produkte kommen bis auf wenige Ausnahmen nicht im Pflegealltag an …“ (Weinberger & Decker 2015, S. 37).

Diese Einschätzung teilen auch die Autor*innen des Memorandums „Arbeit und Technik 4.0 in der professionellen Pflege“ (Fuchs-Frohnhofen et al., 2018), wenn sie argumentieren: „IKT Lösungen in der Pflege (wie die Digitalisierung des Pflege insgesamt) werden unzureichend kommuniziert oder/und sind unzureichend praktisch und praktikabel, sodass die Akzeptanz seitens der Pflegekräfte reduziert wird und sich die Sinnhaftigkeit von Technik(-einsatz) nicht erschließt“ (Fuchs-Frohnhofen et al., 2018, S. 8).

Eine Ursache für die fehlende Markt- und Nutzendenakzeptanz dieser Technologien für die Pflege ist die mangelnde Beteiligung der Endnutzer*innen an den entsprechenden Entwicklungs- und Einführungsprozessen. Selbst wenn eine solche Beteiligung gewollt und organisiert wird, tun sich die Pflegefachkräfte vielmals schwer, ihre Rolle in diesen Prozessen zu finden und gut auszufüllen. Hier setzt die in diesem Beitrag beschriebene Beteiligungsqualifizierung an, denn sie befähigt und ermutigt Pflegefachkräfte, neue Technologien für ihre Arbeitsbereiche aktiv mit zu gestalten. Das Forschungsprojekt DigiKomp-Ambulant (siehe ► Exkursbox) zeigt wie Partizipation gelingen kann.

Exkursbox: Projektbeschreibung DigiKomp-Ambulant

Im Forschungsprojekt DigiKomp-Ambulant wird im Verbund von Pflegediensten (St. Gereon Seniorendienste gGmbH und Franziskusheim gGmbH), Technikentwickler*innen (HTV Halbleiter-Test und Vertriebs-GmbH und NEXUS Deutschland GmbH) und Forschung (MA&T Sell Partner GmbH und Institut für Unternehmenskybernetik (IfU) e.V.) eine sensorbasierte assistive Pflegetechnologie für die ambulante Pflege entwickelt, beforscht und getestet. Die unter systematischer Nutzendenbeteiligung entwickelte Sensorik erfasst im ambulanten Setting in Form einer textilen Bettenauflage Daten der Pflegebedürftigen, die von ihnen selbst, ihren Angehörigen, den Pflegekräften und den betreuenden Ärzt*innen für wesentlich gehalten werden (Vitaldaten, Bewegungsdaten etc.). Eine neue Vernetzungssoftware bietet darüber hinaus die Grundlage, diese Informationen u. a. den Pflegekräften auch dann zugänglich zu machen, wenn sie nicht vor Ort sind.

Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird im Rahmen des Programms „Zukunft der Arbeit“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut (Förderkennzeichen 02L17C581). Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und Autoren.

2 Das Modell zur Beteiligungsqualifizierung in der Pflege: Digitalisierung verändert Arbeit und erzeugt Qualifizierungsbedarfe

In ◘ Abb. 5.1 ist das für diesen Beitrag grundlegende Modell zur Beteiligungsqualifizierung wiedergegeben.

Abb. 5.1
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Das Modell zur Beteiligungsqualifizierung (Sell & Fuchs-Frohnhofen, 1993, S. 3). (Quelle: eigene Darstellung, © MA&T Sell & Partner GmbH)

Dieses Modell beruht auf älteren Arbeiten von Sell/Fuchs-Frohnhofen zur überfachlichen Qualifizierung für die Bewältigung des Computereinsatzes in der Industrie (Sell & Fuchs-Frohnhofen, 1993, S. 3). Die aktuellen Forschungen im Rahmen des Projektes DigiKomp-Ambulant haben gezeigt, dass die Grundannahmen dieses Modells auf die Thematik des Technikeinsatzes in der Pflege übertragbar sind und dass die abgeleiteten Qualifizierungsmaßnahmen von Pflegefachkräften als sehr unterstützend bei ihren aktuellen Herausforderungen, den Einsatz digitalisierter Technik in der Pflege mitzugestalten, erlebt werden. Im Folgenden wird dieses Modell in seiner Übertragung auf die jetzige Situation in der Pflege beschrieben.

2.1 Merkmale des Einsatzes digitalisierter computerunterstützter Technik in der Altenpflege

Die heutige Arbeitswelt auch in der ambulanten und stationären Altenpflege wird durch zunehmenden Technik- und Computereinsatz sowie die fortschreitende Digitalisierung geprägt. Die Auswirkungen dieses zunehmenden Computereinsatzes können auch im Einsatzfeld der Sensormatte, die im Projekt DigiKomp-Ambulant entwickelt wird, durch die Begriffe Automatisierung, Dynamik, Formalisierung und Vernetzung beschrieben werden. So findet Automatisierung z. B. statt, wenn Vitaldaten nicht mehr von Pflegekräften manuell erhoben, sondern durch Sensoren in einer Bettauflage automatisch erfasst und gespeichert werden. Eine Dynamik erleben die Pflegekräfte immer dann als herausfordernd, wenn neue computerunterstützte Systeme wie die Anzeige-App der Vitaldaten „von heute auf morgen“ auf ihrem Diensthandy auftauchen, es aber keine umfassende Schulung gegeben hat. Pflegekräfte lernen Vernetzung kennen, wenn Informationen, die z. B. beim Pflegebedürftigen im ambulanten Setting vor Ort erhoben werden, an den verschiedensten Auswerte- und Verarbeitungsrechnern in ihrem Dienst und teilweise darüber hinaus auftauchen. Als Formalisierung beschreiben Pflegekräfte die Notwendigkeit, z. B. in der Dokumentation ihrer Arbeit Menüroutinen von Softwaresystemen zu nutzen und nicht mehr „frei“ Erlebtes z. B. handschriftlich auf einem Schreibblock beschreiben zu können.

2.2 Auswirkungen der Digitalisierung auf die Tätigkeit der Pflegefachkräfte

Diese Veränderungen durch Computereinsatz und Digitalisierung haben Auswirkungen auf viele Aspekte des pflegerischen Arbeitsalltags. So wandelt sich die Tätigkeit der Pflegekräfte z. T. von manueller Tätigkeit in steuernde und überwachende Tätigkeit unter Nutzung von Computersystemen. Zudem entsteht durch neue technische Applikationen im Arbeitsalltag eine Umgangsnotwendigkeit mit Innovationen. Computereinsatz und Digitalisierung wirken sich ebenfalls auf das Erleben der Pflegekräfte von Autonomie aus, die sie teilweise durch die technische Informationsvernetzung bedroht sehen. Außerdem entstehen neue Kommunikationserfordernisse, um einen Teil der technisch bedingten Formalisierung zu überwinden und z. B. im Austausch untereinander ein ganzheitliches Bild des Pflegebedürftigen zu erzeugen (vgl. Weihrich et al., 2019).

2.3 Neue Anforderungen an die Organisation der Arbeit

Die Pflegekräfte nehmen die beschriebenen Auswirkungen der Technik in ihrem Arbeitsalltag wahr und formulieren ihren Anspruch nach hierarchisch und sequenziell vollständigen Handlungen (vgl. u. a. Hacker, 2009, 2018), die durch sie beherrschbar sind. Daraus lässt sich ein Organisationsbedarf ableiten nach Ganzheitlichkeit, Qualifizierung, Dezentralisierung und Partizipation. Ganzheitlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Arbeiten möglichst umfänglich sind und kleingliedrige Arbeitsteilung möglichst beschränkt wird. Zudem sollte die Pflegeplanung und die Pflegeausführung bei den Pflegekräften liegen. Mit Qualifizierung ist hier die Befähigung zum Erkennen der eigenen Kompetenzdefizite und die Ermutigung zum Anstoßen und Umsetzen passender Qualifizierungsmaßnahmen für einen kompetenten Umgang mit Innovationen und neuen Technologien gemeint. Im Rahmen von Dezentralisierung sollte Verantwortung zu den ausführenden Pflegekräften in der Betreuung der Pflegebedürftigen vor Ort delegiert und ihre Autonomie gestärkt werden. Ein Mehr an Partizipation kann Spielräume z. B. für eine kommunikative Mitgestaltung des Grads der Formalisierung eröffnen, die die Arbeit der Pflegekräfte technikbedingt verändert.

2.4 Entstehender Kompetenzbedarf und die Vermittlung in der Beteiligungsqualifizierung

Es entsteht der Bedarf, dass Pflegekräfte neue Kompetenzen (als Fähigkeiten, Anforderungen gerecht zu werden und adäquate Problemlösungsstrategien zu entwickeln, Kauffeld, 2010, S. 65 ff.) erlangen. So können sie ihr Arbeitshandeln in der – wie beschrieben – durch Digitalisierung sich kontinuierlich verändernden Arbeitswelt für sich, für die Pflegeorganisationen und für die Pflegebedürftigen zufriedenstellend gestalten. Diese Kompetenzen setzen sich zusammen aus Methodenkompetenz, Innovationskompetenz, Entscheidungskompetenz, und kommunikativer und sozialer Kompetenz (Sell & Fuchs-Frohnhofen, 1993, S. 34 ff.).

Diese Kompetenzen sind in unterschiedlichen Ausprägungen bei den Pflegekräften in der Praxis vorhanden. Die im Folgenden detailliert erläuterten Seminare zur Beteiligungsqualifizierung setzen auf die Fähigkeiten zum analytischen, synthetischen und dialektischen Problemlösen der teilnehmenden Pflegekräfte auf und entwickeln diese handlungsorientiert weiter (Sell & Schimweg, 2002, S. 133 ff). So werden die Pflegekräfte befähigt, sich an künftigen Prozessen der Gestaltung von Technik und Organisation in den Pflegeorganisationen zu beteiligen, um – bezogen auf die Einführung digitalisierter Technik – den Grad der Automatisierung, der Vernetzung, der Dynamik und der Formalisierung mit zu gestalten.

3 Beteiligungsqualifizierung als vollständiger Lernprozess

Zur Beschreibung insbesondere berufsbezogener Lernprozesse von Erwachsenen soll hier auf ein Modell von Kolb (1974) zurückgegriffen werden. Dieses Modell geht davon aus, dass für einen vollständigen Lernprozess

  • erstens praktische Erfahrungen gemacht,

  • zweitens diese Erfahrungen reflektiert und verallgemeinert werden sollten,

  • dass drittens daraus abstrakte Konzepte abgeleitet werden können und

  • diese wiederum viertens in neuen Erfahrungen überprüft werden müssen.

Wird ein solcher Kreislauf wiederholt durchlaufen, dann entsteht aus einem einmaligen Lernprozess ein kontinuierlicher Lernprozess, der einen großen Lernerfolg wahrscheinlich macht. In den Phasen der Reflexion und Konzeptionierung werden die eigenen Erfahrungen um Literatur, Erfahrungen anderer, Expert*innenmeinungen und theoretische Überlegungen ergänzt und so für künftiges verändertes Handeln aufbereitet.

Dieses Modell korrespondiert mit neueren Veröffentlichungen zum „informellen Lernen“, in denen u. a. postuliert wird, dass „Kompetenz … als Resultat integrierter Lernprozesse im Handeln“ entsteht (Trier, 2000, S. 25; Dohmen, 2001, S. 204). „Kompetenzen“ werden hier verstanden als „verhaltensregulierende persönliche Potentiale und Dispositionen, die sich vorwiegend aus der reflektierten Verarbeitung praktischer Erfahrungen entwickeln und jeweils zur Bewältigung verschiedener Anforderungssituationen mobilisiert und aktualisiert werden können“ (Bootz & Hartmann, 1997, S. 22 ff.).

Eine solche Kompetenzentwicklung soll auch durch die Seminare zur Beteiligungsqualifizierung angeregt werden, indem „praktische Erfahrungen“ in Übungsform in allen Seminarteilen simuliert werden. Durch die im Modell zur Beteiligungsqualifizierung hergeleiteten Qualifizierungsmaßnahmen soll den Beschäftigten insbesondere die aktive Teilnahme an betrieblichen Vereinbarungsprozessen über die Gestaltung von Technik, Arbeitsorganisation und Qualifizierung ermöglicht werden. Sie sollen in die Lage versetzt werden, den künftigen Einsatz von Computertechnik und Arbeitsorganisation in ihrem Interesse so zu beeinflussen, dass die Risiken minimiert und die Chancen genutzt werden. Die Beteiligten sollen lernen, allgemeine Verfahren (Heuristik) zur Lösung verschiedener Probleme herauszubilden. Dazu sollten beim Lösen konkreter Aufgaben und Probleme, wie beispielsweise der Frage, wie die Einführung von Elektroautos im ambulanten Dienst zur Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen erfolgen kann, allgemeine Methoden des Denkens und Handelns entwickelt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Beziehungen zwischen Lernen und Handeln sowie Lernen und Motivation besonders zu berücksichtigen. Im Lernprozess werden äußere, materielle Handlungen in ideelle, geistige Handlungen umgewandelt. Hier orientiert sich das Modell zur Beteiligungsqualifizierung an entsprechenden Überlegungen von Sell und Schimweg (2002), dass auch seminaristische Übungen wie z. B. Teamspiele als materielle Handlungen bezeichnet werden können, die in der Reflektion von den Teilnehmenden in geistige Handlungen und langfristig wirksame geistige Problemlösungskompetenzen umgewandelt werden können. Damit wird u. a. die Handlungsregulationstheorie von Volpert aufgegriffen (Volpert, 1974) aber auch an Theorien zur Selbststeuerung des Lernprozesses (Niggemann, 1977) angeknüpft.

Diese Umwandlung ist eine wichtige Bedingung für die Herausbildung geistiger Handlungen und damit für die Entwicklung von Problemlösungsverhalten. Geistige Operationen müssen wiederholt an gleichartigen und verschiedenartigen Inhalten ausgelöst und eingeübt werden. So entstehen geistige Handlungen, die auch auf neuartige Situationen übertragen werden können. Dazu sind in einem Schulungsprogramm zunächst die Handlungen zu entfalten, also in Teilhandlungen zu zerlegen, danach zu verallgemeinern, also auf ähnliche oder andersartige Inhalte zu abstrahieren, und zum Schluss so zu verkürzen, dass die Teilhandlungen wieder zu Handlungen zusammengefasst werden. Daneben müssen die Eigenschaften der Handlung im Problemlösungsprozess gleichwertig berücksichtigt werden. Deshalb sind in diesem Qualifizierungsmodell die Handlungen so zu organisieren, dass sie bewusst, zielgerichtet, rückgemeldet und in logischer Abfolge ablaufen. Insbesondere ist eine Selbststeuerung des Lernprozesses anzustreben, da aktives Interesse und eine aktive Auseinandersetzung mit den Problemen initiatives Handeln mit hohem Lernerfolg gewährleisten. Dieses aktive Verhalten in Lernprozessen kann durch die Entwicklung und Förderung der Aufmerksamkeit und Neugier, die als Freude zum Entdecken und Hinterfragen zu verstehen ist, unterstützt werden. Aufmerksamkeit und Neugier orientieren sich an Wünschen, Erwartungen und Bedürfnissen. Diese sind durch Phasen der Selbsteinschätzung und Identifikation im Qualifizierungsmodell zu erkennen und offenzulegen. Da Erfolgserlebnisse im Lernprozess eine große Rolle spielen, sind Beispiele, Probleme und Übungen jeweils adressatenspezifisch aus dem Bereich der Pflege auszuwählen, damit tatsächlich Erfolgserlebnisse geschaffen werden können.

4 Die praktische Herangehensweise bei der Umsetzung des Qualifizierungsmodells

Das Schulungsprogramm einer Grundlagenschulung zur Beteiligungsqualifizierung kann z. B. so aussehen:

Schulungsprogramm Beteiligungsqualifizierung

1. Teil:

  • Einstieg: Neue Technologien in der Pflege – was haben wir schon erlebt, was kommt auf uns zu?

  • Was ist Beteiligung und Teamarbeit?

  • Übungen und Reflektion: Systematisches Problemlösen, 5-Schritt-Methode, individuelles Problemlösen

  • Übungen und Reflektion: Klippen beim Problemlösen durch kreative Methoden überwinden, Reflektion von Barrieren, Begrenzungen und Denkblockaden, individuelles Problemlösen

  • Erste Übungen zum Problemlösen im Team

2. Teil

  • Beispielhafte Durchführung und Reflektion von Teamgesprächen zu betrieblichen Themen aus dem Arbeitsalltag der Beteiligten, dabei Anwendung „5-Schritt-Methode“, Integration der Lernerfahrungen des Vortags in komplexere Problemlösungen, integriert u. a. je einen Block:

    • Kreativitätstechniken

    • Visualisierungstechniken

    • Entscheidungsfindung im Team

  • Übung und Reflektion zum Thema „Information und Kommunikation“ bei betrieblichen Entscheidungsprozessen, Reflektion der kommunikativen, sozialen und emotionalen Kompetenzen aller Beteiligten

  • Optional: Präsentation von Schulungsergebnissen und ausgewählten betrieblichen Problemstellungen vor Führungskräften der Teilnehmenden

Ausgehend von den aufgeführten Überlegungen zu berufsbezogenen Lernprozessen beinhaltet das Schulungsprogramm zur Beteiligungsqualifizierung vier wesentliche Inhaltselemente, die in Übungen und Planspielen die Themen analytisches und systematisches Problemlösen, synthetisches Problemlösen und dialektisches Problemlösen aufgreifen.

Beim analytischen Problemlösen werden Übungen durchgeführt und reflektiert, bei denen es darum geht, das systematische Vorgehen nach der 5-Schritt-Methode (Fuchs-Frohnhofen, 2012; Sell & Schimweg, 2002, S. 231 ff.) kennenzulernen und einzuüben. Die folgenden 5 Problemlösungsschritte werden dabei eingeführt:

  1. 1.

    Ist-Analyse,

  2. 2.

    Soll-Analyse,

  3. 3.

    Maßnahmenentwicklung,

  4. 4.

    Bewertung und Maßnahmenauswahl,

  5. 5.

    Handlungsplan.

Mit diesem strukturierten Vorgehen beim analytischen Problemlösen wird vor allem die Methodenkompetenz vermittelt. Schwerpunkt der Übungen zum synthetischen Problemlösen ist die Hinführung zu Lerneffekten, die den Teilnehmenden verdeutlichen, dass es in bestimmten Problemsituationen angemessen ist, ein Thema von ganz anderer Seite zu betrachten und Offenheit für neue und kreative Lösungen zu entwickeln. Diese Übungen müssen nicht immer einen direkten Bezug zum Arbeitsalltag der Pflegenden aufweisen. Beispielsweise eignet sich das bekannte „Neun-Punkte-Problem“ (Sell & Schimweg, 2002, S. 31) als Übung zur Förderung der synthetischen Problemlösefähigkeit. In der Übung sollen 9 im Quadrat angelegte Punkte mithilfe von 4 geraden Linien in einem Zug verbunden werden. Barrieren und scheinbare Begrenzungen, die im unreflektierten Herangehen an bestimmte Probleme produktive Lösungen verhindern, werden thematisiert und überwunden, Raum für Neues wird entwickelt und Innovationskompetenz ausgebaut. Denn gerade zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem „Neun-Punkte-Problem“ handelt man mit der gewohnten Problemlösestrategie – man bleibt also in dem durch die neun Punkte aufgezeigten Quadrat. Durch einen Perspektivwechsel und kreatives Denken gelangt man schließlich an die Lösung des Problems, die darin besteht, die Grenzen dieses Quadrats zu überwinden und eine lange Verbindungslinie von zwei Punkten durch den „freien Raum“ zu ziehen.

Während das Schulungskonzept zunächst am individuellen Problemlösungsverhalten anknüpft, wird im zweiten Teil der Schulung zur Beteiligungsqualifizierung das Problemlösen in der Gruppe erprobt, in dem zum Beispiel bestimmte Übungsaufgaben nur dann gelöst werden können, wenn die Informationen aller Beteiligten in den Problemlösungsprozess eingebracht werden. In diesen Übungen geht es also um die Entwicklung der Entscheidungskompetenz, aber auch um kommunikative, soziale und emotionale Kompetenz. Sinnvoll ist es Teilnehmende aus verschiedenen Einrichtungen zusammen zu schulen, da es für die Pflegekräfte interessant ist, wie man in anderen Einrichtungen bestimmte Themen behandelt.

5 Die Umsetzung des Qualifizierungskonzepts mit Pflegekräften im Projekt DigiKomp-Ambulant

Im Rahmen des DigiKomp-Ambulant-Projektes (siehe ► Exkursbox) wurden mehrere vom Ablauf und Inhalt her weitgehend identische Schulungen zur Beteiligungsqualifizierung mit Pflegekräften angeboten, die in den Produktentwicklungsprozess der beschriebenen Sensormatte in verschiedenen Schritten eingebunden waren. Wegen der aktuellen Corona-Pandemie konnten die Schulungen nur online durchgeführt werden. Dies hatte zum Vorteil, dass die Teilnehmenden aus den Pflegeeinrichtungen weniger Zeit zur Teilnahme aufbringen mussten. Es gab keine Fahrtzeiten und die Schulung wurde online kürzer gehalten als sie in Präsenz geplant war. Durch die Onlineschulung ging jedoch auch ein Stück der zwischenmenschlichen Interaktion, welche in Präsenzschulungen durch Gesten, Augenkontakt und Körperhaltung erlebbar sind, verloren.

Vom Ablauf her ging es – wie beschrieben – darum, die Teilnehmenden zunächst bei ihren praktischen Erfahrungen im Arbeitsalltag abzuholen und sie auf der Basis der Reflektion ihrer Alltagserfahrungen in folgenden Modulen zu schulen:

  • Auseinandersetzung mit verschiedenen technischen Unterstützungsmöglichkeiten für die ambulante und stationäre Pflege,

  • Entwicklung von Methodenkompetenz zur Problemlösung in Zusammenhang mit Technikentwicklungs- und Einführungsprozessen,

  • Entwicklung von Innovationskompetenz,

  • Reflektion und Verbesserung der kommunikativen und sozialen Kompetenz der Teilnehmenden.

Dazu wurde wie folgt vorgegangen:

  • zunächst wurden an Leitfragen orientiert das Technikverständnis und die Technik- und Beteiligungserfahrungen der Pflegenden abgefragt,

  • dann wurden diese persönlichen Erfahrungen in den Zusammenhang eines kurzen Referenteninputs zu aktuellen pflegeunterstützenden Technologien gestellt,

  • im zweiten Teil der Schulung stand die Methodenkompetenz im Mittelpunkt, indem das Problemlösen nach der im vorangehenden Kapitel dargestellten „5-Schritt-Methode“ an einem praktischen Beispiel vertieft wurde und

  • Übungen zur Innovationskompetenz durchgeführt.

Die Vermittlung und Reflektion von sozialer und kommunikativer Kompetenz war als Querschnittsthema in allen Schulungsteilen vertreten.

5.1 Ein Blick in die Schulungspraxis

Die folgenden Abbildungen zeigen Auszüge aus dem praktischen Schulungsablauf und geben Einblicke in die Antworten der Teilnehmenden. Die gewählten Beispiele lassen einen guten Überblick über Inhalte zu den unterschiedlichen Kompetenzbereichen zu. In ◘ Abb. 5.2 wird der Schulungseinstieg mit der Frage nach Beispielen für pflegeunterstützende Technologien wiedergegeben, mit denen die Teilnehmenden bereits zu tun hatten.

Abb. 5.2
figure 2

Reflektion bisheriger Technikerfahrungen im Rahmen einer Beteiligungsqualifizierung, Projekt DigiKomp-Ambulant. (Quelle: eigene Darstellung, © MA&T Sell & Partner GmbH)

◘ Abb. 5.3 gibt eine Übungsfragestellung wieder, mit der das analytische und systematische Problemlösen von der Ist-Analyse bis zur Erarbeitung eines Handlungsplans eingeübt wird. Zunächst wird also die aktuelle Situation erfragt. Dabei sollten möglichst viele Details aufgelistet werden, um die gesamte Situation ausreichend zu erfassen. Als Zweites wird die Soll-Situation möglichst detailliert dargelegt. Darauf folgt die Fragestellung mit welchen Maßnahmen man die Soll-Situation erreichen kann. Nachdem im dritten Schritt Maßnahmen gesammelt wurden, werden diese im vierten Schritt geclustert und bewertet. Schließlich fixiert ein abschließender Handlungsplan die erarbeiteten Maßnahmen indem festgelegt wird wer welche Maßnahme bis wann erarbeitet.

Abb. 5.3
figure 3

Beispielaufgabenstellung zum Einüben eines Vorgehensmodells zum systematischen Problemlösen im Rahmen einer Beteiligungsqualifizierung, Projekt DigiKomp-Ambulant. (Quelle: eigene Darstellung, © MA&T Sell & Partner GmbH)

◘ Abb. 5.4 zeigt aus diesem systematischen Problemlösen den Schritt 2 „Soll-Analyse“ im konkreten Beispiel. Alle Antworten der Teilnehmenden werden gesammelt, notiert und diskutiert.

Abb. 5.4
figure 4

Beispiel zu einer Soll-Analyse im Rahmen einer Übungsaufgabenstellung zum Einüben eines Vorgehensmodells zum systematischen Problemlösen im Rahmen einer Beteiligungsqualifizierung, Projekt DigiKomp-Ambulant. (Quelle: eigene Darstellung, © MA&T Sell & Partner GmbH)

Im Anschluss folgen konkrete Maßnahmen, die sich aus der Ist- und Soll-Analyse ergeben. Wenn die Teilnehmenden alle notwendigen Maßnahmen genannt haben, folgt die Bewertung der Maßnahmen. Die Teilnehmenden stimmen über die Maßnahmen ab. Daraus ergibt sich die Gewichtung der erarbeiteten Maßnahmen. Im 5. und letzten Schritt wird ein Handlungsplan aufgestellt. Darin wird festgelegt, wer welche Maßnahmen und Aufgaben bis zu einem gemeinsam bestimmten Zeitpunkt bearbeitet.

5.2 Feedback

Im Rahmen einer kurzen Online-Befragung hatten die Teilnehmenden im Anschluss an die Schulung die Möglichkeit, Feedback zu geben. Die Teilnehmenden

  • fühlten sich durch den praxisgerechten Schulungsaufbau in ihrem praxisbezogenen Expertenwissen und in ihrer Rolle als aktiv Mitwirkende in Technikgestaltungsprozessen ernst genommen,

  • sie begrüßten die Reflektion und Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen, insbesondere in den Bereichen Methoden- und Innovationskompetenz,

  • besonders gelobt wurde auch der einrichtungsübergreifende Teilnehmendenkreis der Schulungen, der als „horizonterweiternd“ und „interessant“ rückgemeldet wurde

  • machten keine Angaben zu möglichen Verbesserungen des Seminars.

Dem entspricht auch der Auszug aus dem kurzen quantitativen Feedback zu der Schulung (siehe ◘ Abb. 5.5), das wegen der bis jetzt niedrigen n = 10 keine vertiefende Aussagekraft hat, aber eine Richtung aufzeigt. Die Teilnehmenden hatten nach der Schulung das Gefühl (20 % sehr gut, 80 % gut), dass sich ihre Kompetenz verbessert hat bei zukünftigen Projekten zur Einführung von Technik in ihrem Arbeitsgebiet aktiv mitzuwirken.

Abb. 5.5
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Quantitatives Schulungsfeedback. (Quelle: eigene Darstellung, © MA&T Sell & Partner GmbH)

Bei der Frage, wie gut sich die Inhalte der Schulung in ihrer künftigen Tätigkeit umsetzen lassen, antworten 20 % mit sehr gut, 50 % mit gut und 30 % mit befriedigend.

Weitere Auswertungen der Schulungen zur Beteiligungsqualifizierung folgen nach dieser Veröffentlichung. Die hier dargestellten Ergebnisse sind lediglich als Teilergebnisse anzusehen. Sie zeigen jedoch schon auf, dass Pflegekräfte durchaus an ihrer Kompetenzentwicklung zum Themenfeld „Technikgestaltung in der Pflege“ interessiert sind und eine solche Kompetenzentwicklung auch als sinnvoll für ihre künftige Tätigkeit erachten.

6 Fazit und Ausblick

Das hier vorgestellte „Modell zur Beteiligungsqualifizierung“ geht davon aus, das handlungsorientierte Übungen zum analytischen, synthetischen und dialektischen Problemlösen Pflegekräfte in die Lage versetzen, sich aktiv an Gestaltungsarbeiten für neue Technologien in ihrem Arbeitsbereich zu beteiligen.

Dies kann als Chance genutzt werden, den Technikeinsatz in der eigenen Profession aktiv mit zu gestalten und an eigenen Wünschen und Bedürfnissen auszurichten. So kann die Einsatzhäufigkeit und die Akzeptanz neuer Technologien mit großem Entlastungpotential nachhaltig gesteigert werden. Erste positive Erfahrungen mit Onlineschulungen zur Beteiligungsqualifizierung bestätigen die Praxistauglichkeit des Modells. Sie lassen es auch wahrscheinlich erscheinen, dass dieses Modell der Nutzendenqualifizierung auf weitere aktuelle Technikentwicklungsprojekte in der Pflege aber auch in anderen Branchen übertragbar ist.

Dies sollte auch in Zukunft durch eine wissenschaftlich begleitete Anpassung an den entsprechenden Einsatzbereich sowie eine modellhafte Umsetzung weiter erprobt werden. Voraussetzung für eine gute Nachhaltigkeit der gemachten Lernerfahrungen ist dabei, dass den Beschäftigten die Möglichkeit gegeben wird, die in diesen Qualifizierungsmaßnahmen erworbenen Kompetenzen auch tatsächlich als Beteiligte in Technikentwicklungs- und Technikeinführungsprojekten einbringen zu können.