1853 erscheint in Neuburg an der Donau im Verlag von Johann Prechter unter dem Titel Sammlung aller gleich- und ähnlich lautenden Wörter der deutschen Sprache ein kurios anmutendes Nachschlagewerk. Das Bändchen, das dem Titelblatt zufolge „Zum Schul- und Hausgebrauch“ gut sein will, stellt zusammen, um auseinanderzuhalten: all jene orthographisch oder klanglich zu „unzähligen Mißverständnissen, Zweideutigkeiten und Verwechslungen“ einladenden deutschen Wörter nämlich.Footnote 1 Jedes Lemma stellt dem Benutzer eigene Fallen, denn die „gleich- und ähnlich lautenden Wörter“ werden innerhalb eines Lemmas, ohne übergreifendes Regulativ, schlicht gereiht, gleichförmig getrennt wie auch verbunden durch Kommata. „[W]eniger bekannte[ ]“ Wörter,Footnote 2 auf deren (eindeutiges) Verständnis nicht sicher gerechnet werden kann, sind in nachgestellter Klammer paraphrasiert. Diesen Eindruck kann man jedenfalls beim Blättern gewinnen, denn laut Vorwort ist „[d]urch die in Klammern stehenden Wörter […] die weniger richtige Schreibart bezeichnet“.Footnote 3

Auf Seite 116 finden sich unter andern folgende drei Einträge:

Tadel der, tadeln, tateln (schnattern, schwatzen), tatteln (kindisch benehmen, ungeschickt handeln), Dattel die (Frucht).

Tädel (Tadel der), täteln (tateln), tedeln (tändeln).

Tadler der, Tatler der (Schwätzer).Footnote 4

Dabei ist interessant, daß es keine spiegelbildlichen Gegeneinträge gibt: die Lemmata ‚tateln‘, ‚tatteln‘, ‚täteln‘, ‚tedeln‘, ‚Tatler der‘ sind als solche nicht angesetzt, auch zur ‚Dattel‘ ist in diesem Wörterbuch nicht anders zu gelangen als über den ‚Tadel‘. Man mag das als eine Art Erziehungsmaßnahme verstehen: auf die Nachfrage nach all den unvernünftigen und leckerhaften Wörtern fürs Schnattern, Schwatzen, kindische Benehmen und Tändeln bis hin zur exotischen Dattel reagiert das Nachschlagewerk spröde reziprok – nur über den Tadel führt der Weg, allein der ‚Tadel‘ ist es wert, im Wortschatz für den ‚Schul- und Hausgebrauch‘ lemmatisiert zu werden.

Eine gedruckt sich manifestierende Begegnung der (je nach Aussprache) gleich- oder ähnlichlautenden Wörter ‚Tadler‘ und ‚Tatler‘ ist, mit überregionaler Resonanz, in der frühen Moralischen Wochenschrift Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725/26 zu greifen, über deren Titel Helga Brandes im Nachwort zu ihrem Reprint so beiläufig wie vage schreibt: „Im Titel der Wochenschrift mag eine Anspielung an [sic] den englischen ‚Tatler‘ (dt. Plauderer) zu sehen sein.“Footnote 5 Dieser Andeutung will ich nachgehen und sehen, wohin das (vielleicht) führt. Zu erwarten ist demnach ein wort-, sprach- und bedeutungsgeschichtlicher Spaziergang, geleitet von der Beobachtung einer Reihe von Merkwürdigkeiten und der Vermutung, daß die Vernünftigen Tadlerinnen in dieser Geschichte, in diesen Geschichten womöglich an einer Bedeutungsverschiebung teilhaben – oder auch: ihr unterworfen werden.

Als sicher gelten kann zunächst, daß in den ersten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum die seit dem 12. April 1709 dienstags, donnerstags und samstags (dreimal die Woche) erscheinenden papers unter dem Titel The Tatler der journalinteressierten Leserschaft ein Begriff waren, ebenso wie die Anschlußjournale The Spectator und The Guardian (wenn eines genannt wird, dann oft auch ein weiteres oder gleich alle drei, und zwar in der Regel ohne konkreten Bezug, vielmehr wie ein Topos für einen bestimmten Gestus öffentlicher Kommunikation). Dabei kommt dem Tatler nicht nur insofern ein besonderer Status zu, als er das Pionierblatt ist, sondern auch hinsichtlich einer bemerkenswerten Varianz bei der Übersetzung seines Titels. Die frühe journalistische oder journalnahe Rezeption im publizistischen Zentrum Leipzig 1716/17 – dort also, wo neun Jahre später Die Vernünftigen Tadlerinnen sich ihr Publikum suchen – gibt zwei divergente Verdeutschungen: In der von der Rengerischen Buchhandlung verlegten Neuen Bibliothec Oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen ist im vierundsechzigsten Stück vom Frühjahr 1717, im Kontext eines durchaus anglophilen Vergleichs zwischen französischem und englischem Stil, nach dem „Spectator“ (dem „die nachdrücklichsten Reflexionen/ de[r] netteste[ ] Stylu[s], und die feurigste Imagination“ attestiert werden) auch vom „nicht geringer zu achten[den]“ „Tatler“ die Rede, und übersetzt wird der Titel als „Der […] Plauderer“.Footnote 6 Herrn Joh. Burckhardt Menckens Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten, gedruckt bei Gleditsch 1716, und zwar die „Andre Rede“, führt hingegen „ein Werckchen The Tatler […] genannt“ an und übersetzt den Titel in nachgestellter Klammer durch „der Tadler“.Footnote 7 Nun mag man versucht sein, Zensuren zu vergeben und die Übersetzung von 1717 (‚der Plauderer‘) als korrekt zu bewerten, die von 1716 (‚der Tadler‘) als falsch oder jedenfalls als Produkt der Täuschung durch einen ‚falschen Freund‘. Doch macht man es sich damit vermutlich zu leicht. Nicht nur, weil Johann Burkhard Mencke, Professor für Geschichte an der Universität Leipzig und seit 1707 Herausgeber der Acta Eruditorum, auf seiner peregrinatio academica, von der er 1699 nach Leipzig zurückkehrt, auch nach England gelangt war und als Mitglied der Royal Society in London weiter nach England Kontakt hält,Footnote 8 sondern auch, weil bereits 1706 in Leipzig beim Verleger Thomas Fritsch (Mencke stammt aus der Leipziger Verlegerfamilie Gleditsch) ein Werk herausgekommen war mit dem Titel A Dictionary English, German and French, Containing not only the English words in their Alphabetical Order, together with their several significations; but also their proper Accent, Phrases, Figurative Speeches, Idioms, & Proverbs; Taken from the best new English Dictionaries. Darin wird unter dem Lemma „To táttle“ unzweideutig angegeben: „schwatzen, plaudern, waschen, babiller, causer“, von „Táttler“ wird man auf „Tattle-basket“ verwiesen, wofür wiederum die Übersetzung „ein schwätzer, plauderer, in, un babillard, e“ gegeben wird.Footnote 9 (Le Babillard ist dann auch 1724 der Titel der französischen Übersetzung des Tatler.Footnote 10) Entsprechend führen im zehn Jahre später, 1716, ebenfalls bei Fritsch erschienenen Gegenstück unter dem Titel Teutsch-Englisches Lexicon die einschlägigen Lemmata (‚Tadel‘, ‚Tadeler‘, ‚Tadeln‘) auch nicht zum ‚Tattler‘ oder zum Verb ‚to tattle‘. Allerdings kann in der Wortfamilie des Tadelns hier ein gewisser Hang zum Exzeß auffallen, der in zweifacher Hinsicht als verbaler Exzeß zu bestimmen ist: Der „Tadeler“ wird alternativ nicht nur als „tadler“, sondern auch als „tadelgern“ bezeichnet, und weiter heißt es dann: „a fault-finder, caviler, critick or carper; a censorious fellow. Ein ertz-tadeler, an arch-critick.“Footnote 11 Noch exzessiver entwickelt sich das Lemma „Tadeln“: nach nicht weniger als siebzehn englischen Synonymen zielen die idiomatischen Wendungen semantisch in der Mehrzahl erneut auf Exzeß – „An allen dingen hat er was zu tadeln, he has a quarrel to every thing; he will find fault with any thing; he is an arch-fault-finder; he will fault any thing“, und noch einmal „Er tadelt alle leute, er läst niemand ungetadelt, he carps at every body; he passes his censure upon any man“.Footnote 12 In der Performanz der Übersetzung, Kerngeschäft eines Wörterbuchs, ist das Tadeln, der Tadler durch eine bemerkenswerte Geschwätzigkeit charakterisiert, die das eigentlich vernunftgeleitete Tun konterkariert: das Tadeln zum maßlosen, unverhältnismäßigen Selbstzweck, zur Marotte werden läßt und somit seinerseits zu einem ‚Laster‘, das Tadel verdient. ‚Der Ertz-Tadeler‘, so ließe sich unschwer ein frühaufklärerischer Komödientitel denken.

Den zeitgenössischen Maßstab für die Grenze zwischen rechtem Maß und Zuviel gibt Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon, erschienen 1726 in Leipzig bei Gleditsch, in den unmittelbar aufeinander folgenden Lemmata ‚Tadel‘ und ‚Tadelsucht‘. Nach der Definition von ‚Tadel‘ als „Rede, dadurch ein Mensch sowohl sein Urtheil von der Nichtswürdigkeit einer Sache und deren Grade, als auch sein Mißfallen, so er darüber heget, an Tag giebet“, schließt sich als bedingende Fundierung an:

Mit Grund etwas zu tadeln, ist demnach eine Sache, dazu ein guter Verstand und ein feiner Geschmack erfordert wird: iener, um die Güte einer Sache zu begreiffen; dieser, um darüber sein Mißfallen, welches man durch das Tadeln zu erkennen giebet, nicht ohne Grund zu haben. Ein ungereimter Tadel ist entweder daher ungereimt, weil daraus ein Mangel des Verstands dessen, der etwas tadelt, sonder den wahren Werth desselben gnugsam zu erkennen, hervor leuchtet; oder weil er seinen durch unordentliche Affecten verderbten Geschmack darinnen kund giebt, welches man insonderheit einen paßionirten Tadel nennet; oder welches das schlimmste, weil man in demselben die Kennzeichen beydes eines schlechten Verstands und schlechten Geschmacks wahrnimmt […].Footnote 13

Daran knüpft das folgende Lemma direkt an, wenn es „Tadelsucht“ als „ein solches Laster“ bestimmt, „da man geneigt ist, alles an andern, auch was gut und vollkommen ist, zu tadeln“. Als Ursache dafür werden „entweder […] wiedrige[ ] und unordentliche[ ] Affecte[ ]“ genannt „oder […] ein[ ] mit Unverstand und Ungeschicklichkeit verbundene[r] Hochmuth“.Footnote 14 Unterscheidungslos generalisierendes ‚Ertz-Tadeln‘, für das das Teutsch-Englische Lexicon 1716 wortreich idiomatische Wendungen bereitstellt, gehört in die zweite, als „Laster“ klassifizierte Kategorie. Als eine seiner Motivationen benennt Walchs Lexicon das Tadeln um seiner selbst willen (des Tadelns wie des Tadlers): wenn „ein Mensch […] alles tadelt, in der Meynung, dadurch den Ruhm eines Menschen von delicaten Geschmack zu erlangen“.Footnote 15

Der unverhoffte Kurzschluß der beiden frühen deutschen Übersetzungen von The Tatler – ‚der Plauderer‘ und ‚der Tadler‘ – in der Engführung von Aussagegehalt (‚Tadler‘) und Performanz des übersetzerischen Aussagens (‚auf plaudernde, geschwätzige Weise‘) ist nicht nur im Teutsch-Englischen Lexicon von 1716 zu beobachten. Auch in Menckes zweiter Rede von der Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten aus demselben Jahr ist er strukturgebend, und zwar, sowohl semantisch als auch performativ, gleich doppelt. Zunächst in jener Fußnote selbst, die The Tatler durch „der Tadler“ übersetzt: Erläutert wird dort der im Haupttext genannte „Js. Bickerstaff“, und zwar als

ein angenommener Nahme, dessen Besitzer sonderlich durch ein Werckchen The Tatler (der Tadler) genannt, berühmt worden, worinnen er die Sitten der Engelländer aufs schärffste durchgezogen, daher er auch in der an ihn gerichteten Zuschrifft der Episteln der obscuror. Viror. so zu Londen 1710. in 12 herauskommen, mit dem Lob-Spruche eines allgemeinen Zuchtmeisters von Groß-Britannien beehret worden […].Footnote 16

Schon die adverbiale Spezifizierung, daß er „die Sitten der Engelländer aufs schärffste durchgezogen“ habe, verleiht dem pseudonym operierenden Jsaac Bickerstaff jenen Zug des Exzessiven, der einen ‚ertz-tadeler‘ auszeichnet, erst recht aber der superlativische „Lob-Spruch[ ] eines allgemeinen Zuchtmeisters von Groß-Britannien“.Footnote 17 Differenzierungsvermögen, wie es nach Walch einen mit Grund urteilenden Tadler kennzeichnen muß, ist von einem „allgemeinen Zuchtmeister[ ]“ gerade nicht zu erwarten. Sollte der „Lob-Spruch[ ]“ am Ende ironisch gemeint und in Wahrheit ein Tadel sein? Der Ort dieses Kompliments, die Epistola dedicatoria zu den im Frühjahr 1710 in einer neuen Ausgabe herausgebrachten, für ihre sprachlichen Exzesse in barbarischem Küchenlatein berüchtigten Epistolae obscurorum virorum, ist jedenfalls geeignet, die Ambiguität der Zuschrift zu unterstreichen. Das weiß die Widmungsepistel (die anders als die anschließenden Dunkelmännerbriefe Latein kann) auch und versucht dem Problem zu entgehen, indem sie es ausbreitet (was natürlich nicht gutgehen kann), unter Berufung auf das Beispiel einer andern berühmten unpassenden Widmungszuschrift vor einem andern zutiefst ambigen, jeder Vereindeutigung sich entziehenden berühmten Text (Erasmus’ Lob der Torheit, griechisch Moría, an Thomas Morus):

figure a

MORIÆ Encomium Thomæ Moro, cui nil erat magìs alienum quàm Mori nomen, Erasmus inscripsit: Nec ergo quis miretur has Obscurorum Virorum Epistolas Viro Clarissimo, hos Morologos Moriâ ipsâ stultiores Tibi mitti, Isaace Gravissime; qui unus, inter tot nugivendos potiùs quàm scriptores ubique nunc temporis ad nauseam obvios, nosti non ineptire: qui scis ex fumo (ut ait Flaccus) dare lucem; in gracili materiâ sterilíque argumento copiosè juxtà atque sapienter disserere, inter ludicra serius, inter jocos philosophus; qui ridiculum acri, dulci utile miscendo, junctis ingenii simul & argumentorum viribus, Britannos potes tam fœliciter à vitiis deterrere, ad virtutem hortari.Footnote 18

Solch ein performativer Widerspruch zwischen sittenstrengem Tadeln und wortreicher Plauderei entfaltet sich aber nicht nur in der Fußnote von Menckes Rede, sondern auch zwischen Fußnote und Haupttext, dessen Thema – „Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten“ – ja genau dies ist: quantitativ und qualitativ unverhältnismäßiger Einsatz von Rede. Während Jsaac Bickerstaff in der Fußnote nämlich als „Tadler“ in Szene gesetzt (und zum „allgemeinen Zuchtmeister[ ]“ überzeichnet) wird, firmiert er überm Strich der Rede paradigmatisch unter den zu tadelnden marktschreierischen gelehrten Charlatanen. Aufgespießt wird zu Beginn der zweiten Rede, daß man „dasjenige, so leicht zu verstehen ist, zu verachten [pflege], und […] nur von Wunderwercken hören [wolle]“:

Der kan sich am sichersten eines allgemeinen Beyfalls versehen, welcher wie Amphion, Perlen und Edel-Gesteine, hervor zu bringen, und wie Gyges sich unsichtbar zu machen gelernet hat; der, wie der zweyköpfichte Janus, das zukünfftige so leicht als das vergangne einsehen, und wie Dädalus durch die Lüffte fliegen kan; oder der von nichts als goldenen Bergen, schwimmenden Jnsuln, Mißgeburthen, Meer-Wundern, Kobolten, und dergleichen Melusinen-Geschichten aufzuschneiden weis.Footnote 19

Es folgt über vier Seiten eine umfangreiche praeteritio einschlägiger exempla aus der Historie, dann heißt es weiter:

Sondern stelle vielmehr einen gantz neuen Scribenten auf den Schauplatz; Nehmlich den bekandten Engelländer Jsaac Bickerstaff; der entweder im Ernste, oder den unbesonnenen Vorwitz einiger Leute zubestraffen, so viel wunderbahre Todes-Fälle der höchsten Fürsten in Europa in einem eintzigen Jahre prophezeyete, daß nebst seinem Vaterlande Britannien, bey nahe die übrige gantze Welt auf derselben Erfüllung mit Schmertzen gewartet hat. Welches alles, wenn wir es recht genau betrachten, mir nicht anders vorkommt, als die Betrügereyen der Marcktschreyer und Land-Streicher, die ebenfalls, damit sie den Pöbel an sich locken und hintergehen mögen, allerhand Gauckler und Possenreisser, ja Affen und Meer-Katzen mit sich herumb zu führen, und bey Vorstellung derselben, zugleich durch Herausstreichung ihrer Artztneyen, Panaceen und Pflaster die Beutel der Zuschauer wichtig zu schneutzen wissen.Footnote 20

Mit dem Bild der Fußnote vom sittenstrengen Generalzensor läßt sich dies Portrait nicht in Einklang bringen; der die Fußnote beschließende Verweis auf die „Masque eines Calender-machers“, deren er sich „nur“ bedient habe, „umb die Eitelkeit dieser Leute zu verspotten, denen sonst die Engelländer begierig nach zu lauffen pflegen“,Footnote 21 treibt das Problem erst vollends hervor: das Problem des maskierten Tadlers, der als Plauderer, Schwätzer, Marktschreier selbst betreibt, was er kritisiert. Berührt ist damit ein intertextueller Sachverhalt, denn der Isaac Bickerstaff der Fußnote und der des Haupttexts sind zwar dem Namen nach ein und dieselbe Figur oder (was noch mehr heißt) derselbe fiktive Autor. Doch ist der Kalendermacher, der in seinen Predictions for the Year 1708 freigebig aus den Sternen bevorstehende Tode realer Zeitgenossen prophezeit, die Figur des (realen) Autors Jonathan Swift,Footnote 22 die Richard Steele in The TATLER. By Isaac Bickerstaff Esq; (so steht es vom 12. April 1709 an jeweils im Kopf der Nummer) aufgreift und ihre publizistische Karriere fortsetzen läßt.Footnote 23 Ich komme darauf zurück, zunächst aber gilt es dem Wort ‚tadeln‘ auf den Grund zu gehen.

Daß das Problem an der wortgeschichtlichen Wurzel zu suchen ist, deutet sich an, wenn man etymologisch interessierte Wörterbücher zu Rate zieht. Und zwar um so mehr, je weiter man zurückgeht. Der elfte Band des Grimmschen Wörterbuchs, dessen erste drei Lieferungen 1890/91 noch von Matthias Lexer, Verfasser des nach wie vor einschlägigen Mittelhochdeutschen Handwörterbuchs, stammen, stellt zur Wortgeschichte in geradezu schroffer Kürze fest, das Wort ‚Tadel‘, mittelhochdeutsch tadel, finde sich „zuerst in Wolframs Parzival 228,7 mit der variante zadel (mangel, gebrechen, besonders an lebensmitteln)“, Schmeller und vor ihm schon Haltaus hätten „vermutet, dasz das dunkle wort tadel eine aus der ältesten sprache erhaltene nebenform von zadel sei“.Footnote 24 ‚Das dunkle Wort‘: mehr explizite Problemanzeige ist bei Grimm nicht zu haben. Implizit macht es (das Problem) sich freilich in der Ansetzung zweier Bedeutungen bemerkbar, deren Zusammenhang sich nicht von selbst versteht: erstens nämlich bedeute ‚TADEL‘ „körperliche oder geistige fehlerhaftigkeit, makel, gebrechen, mangel“, zweitens „erst nhd. (aber nicht in den mundarten) als gegensatz von lob, das aufdecken eines fehlers, ein misbilligendes, fehlerhaftigkeit oder ungenügendes aussprechendes urtheil“.Footnote 25 ‚Tadel‘ meint also den Fehler und das im Dienst der Fehlerbekämpfung stehende Benennen des Fehlers, von einer Sprechposition aus, die von diesem Fehler frei ist. Das via ‚tadeln‘ von der zweiten Bedeutung abgeleitete nomen agentis ‚Tadler‘ impliziert also (zugespitzt) Tadellosigkeit des Tadelnden.

Für ‚Tadel‘ in dieser zweiten, nicht die fehlerhafte Sache, sondern das Benennen des Fehlers bezeichnenden Bedeutungsdimension gibt das Grimmsche Wörterbuch als frühste Referenz Kaspar Stielers Teutschen Sprachschatz von 1691 an. Stielers nach Wortstämmen geordnetes Wörterbuch bringt diese Bedeutung nun aber nicht nur, sondern setzt sie mit dem (laut Grimm sekundären) Verb ‚Tadeln/ getadelt‘ als Ausgangspunkt für dazu gebildete Ableitungen an, darunter an letzter Stelle (vor dem davon wiederum abgeleiteten ‚Tadelich/ & Tadelhaft‘) auch der ‚Tadel‘, als dessen Bedeutungen (in gegenüber Grimm umgekehrter Reihenfolge) notiert werden „correptio, vituperium, & ipsum peccatum, erratum, defectus, vitium“.Footnote 26 Anders als das Grimmsche Wörterbuch (und nach ihm die etymologischen Wörterbücher von Kluge und Pfeiffer) erklärt der Teutsche Sprachschatz die Herkunft des Verbums ‚Tadeln‘ (das durchaus nicht erst für neuhochdeutsch gehalten wird) aber nicht für dunkel, sondern für offensichtlich – und eröffnet dem Wort damit den denkbar weitesten semantischen Spielraum. Der Eintrag lautet (bevor Beispiele und Komposita folgen) so:

Tadeln/ getadelt/ carpere, taxare, reprehendere, culpare, aliud nihil est, nisi verbum à Talen/ inqvirere in mores alicujus. Tadeln enim propr. est verbis in aliqvid invehi, qvomodo Dradeln à Drat/ & Drehen dicitur, & Stadel à Staht/ de qvo supr. in voc. Stehen. Sic Adel venit ab Alt/ senex, sive Ad/ pater. Wadeln à Wehen etc.Footnote 27

Wenn ‚Tadeln‘ von ‚Talen‘ abstammt, ein intensiviertes ‚Talen‘ ist, dann steht das Wortemachen am Anfang des Tadelns: „Tadeln enim propr[ie] est verbis in aliqvid invehi“ (Tadeln meint nämlich eigentlich ‚mit Worten auf etwas losgehen‘). Das Stammwort ‚Tal/ & Tale/ die‘ wiederum wird als „antiqvissima vox Germanica“ notiert mit der Bedeutung „Lingva, loqvela, sermo, idioma“, und was sich anschließt, läßt die 1716/17 beobachtete Übersetzungsalternative für den Tatler – ‚Plauderer‘ oder ‚Tadler‘ – unerwartet nah unter dem Dach einer Wortfamilie zusammenrücken, unter Einschluß sogar noch der Übersetzungsfrage selbst. Weiter heißt es nämlich im Anschluß an das niederländische „Ons Moeders Tale/ lingva vernacula“:

atqve ab hinc est Talk/ sive Tolk/ der/ interpres, qvem nos appellamus Dolmetschqvi meliùs diceretur Talmensch/ i. e. Homo lingvæ peritus […]. A Tal porrò est Talen/ inqvirere, sciscitari, & aliâ dialectô Dallen/ garrire, à quô ein alter Daller/ senex loqvax, & secundum aliqvos Dale/ sive Dole/ die/ monedula, garrit enim. Talerey/ die/ loqvacitas, nugæ, spermologia.Footnote 28

‚Tadeln‘, ‚Dolmetschen‘, ‚Schwatzen‘ erscheinen so als Varianten intensiven und/oder wortreichen Gebrauchs von Sprache, der durchaus als semantische Gratwanderung begriffen ist: vom Menschen zur Dohle ist es nicht weit. Und nicht nur das womöglich lautmalende ‚Plappern‘ (garrire) sitzt mit am Familientisch, sondern – über das bei Stieler von ‚Tale‘ abgeleitete ‚Zehlen/ gezehlet‘ – auch das fabulierende ‚Erzählen‘ (narrare).Footnote 29

Fast will es scheinen, als ließe sich aus der Familie des Stammworts ‚Tal/ & Tale‘ eine Poetik der Moralischen Wochenschrift extrapolieren,Footnote 30 deren archetypische Titel und federführende Verfasser dann The Tatler und Die Vernünftigen Tadlerinnen hießen. Gesetzt den Fall, die Ambiguität des Worts ‚Tadeln‘ zwischen „carpere, taxare, reprehendere“ auf der einen Seite und „garrire“ sowie „narrare“ auf der andern wäre 1725 bei der Titelwahl für die Vernünftigen Tadlerinnen im Blick gewesen, dann wäre es gerade die resonierende Wechselwirkung mit dem Tatler, die im Titel Die Vernünftigen Tadlerinnen mitzudenken ist. Ich will unter der Voraussetzung einer solchen Resonanz – die Tadlerinnen rechnen bei ihrer Titelwahl auf die assoziative Nähe zum englischen Tatler, kommentieren ihn dadurch implizit und ziehen sich zugleich selbst dessen Konnotationen zu – abschließend einige Bemerkungen zum publizistischen Auftritt der Tadlerinnen und zu dessen Rezeption machen. Bevor ich das aber tue, rufe ich Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart noch in den Zeugenstand, um die Annahme, die apodiktische Rede des Grimmschen Wörterbuchs vom „dunkle[n] wort tadel“Footnote 31 bringe disziplinierend ein früheres, schwer kontrollierbares Sprachwissen zum Schweigen, nicht allein Stielers Teutschem Sprachschatz aufzulasten. Adelungs strikt alphabetisch verfahrendes Wörterbuch verteilt die etymologischen Überlegungen zu diesem Wortstamm auf zwei Anmerkungen. Die erste (zum Lemma ‚Der Tadel‘) verfolgt eine Linie, die semantisch ganz der auch hier als erste angesetzten Bedeutung „Eine körperliche und in weiterm Verstande, eine jede Unvollkommenheit, ein Fehler“ verpflichtet ist:

Jm Dänischen Dadel, in einigen Oberdeutschen Gegenden Zadel. Die Niedersachsen kennen dieses Wort nicht, und auch bey den ältesten Oberdeutschen Schriftstellern hat es sich bisher noch nicht finden lassen. Jndessen scheinet es doch ein altes Wort zu seyn. Die Endsylbe bezeichnet ein Ding, ein Subject, daher es nur auf die Sylbe Tad ankommt. Es scheinet, daß dieses körperliche Verunstaltung, Verstümmelung, oder auch Befleckung bedeutet habe, da es denn entweder zu dem Holländ. Todde, Fetzen, Lumpen, Engl. Tatter, Nieders. Talter, oder auch zu dem Jßländ. Tad, Koth, und vielleicht auch zu unserm Sudel gehören würde. Mit einem andern Endlaute ist im Schwed. tälja, sowohl schneiden, theilen, als auch tadeln.

Am Ende steht, adversativ, der Hinweis „S. indessen auch Tadeln“.Footnote 32 Die Anmerkung zu ‚Tadeln‘ teilt mit:

Jm Niedersächsischen und bey den ältern Oberdeutschen Schriftstellern kommt es so wenig vor, als das Hauptwort Tadel. Jndessen zeiget sich ein doppelter Weg, die Abstammung dieses Wortes anzugeben. 1. Von einem veralteten Tad, Verstümmelung, oder auch Schmutzflecken, so daß das Zeitwort tadeln, eigentlich von dem Hauptworte Tadel abstammen würde, S. das letztere. 2. Von dem noch in den gemeinen Sprecharten mancher Gegenden üblichen taddeln, Nieders. tateln, plaudern, schnattern, als eine Onomatopöie, und welches in engerer Bedeutung auch schelten, Mängel und Fehler ungestüm durch Worte entdecken, bedeutet hat. Bey den Krainerischen Wenden ist tadlam noch jetzt, ich schelte.Footnote 33

Hier sind wir offenkundig bei Stielers „verbis […] invehi“, das im Teutschen Sprachschatz auf das Stammwort ‚Tal/ & Tale‘ zurückgeführt wird. Bei Adelung geht es aber so weiter:

Allein, da das Deutsche tadeln weder den Begriff des Ungestümes, noch der Schwatzhaftigkeit bey sich hat, so scheinet die erste Ableitung die wahrscheinlichste zu seyn, und da würden unser tadeln, und das gemeine taddeln, schwatzen, eben so zufällige Onomatopöien seyn, als das Angels. taellan, Engl. tell, erzählen, und unser theilen; und das Schwed. tälja, tadeln, und tälja, schneiden, theilen.Footnote 34

Allein, wie überzeugend ist die Feststellung, das deutsche ‚tadeln‘ habe „weder den Begriff des Ungestümes, noch der Schwatzhaftigkeit bey sich“, so möchte man replizieren, wenn das im Alphabet unmittelbar folgende Lemma, ‚Die Tadelsucht‘, so paraphrasiert wird: „die Sucht, d. i. ungeordnete anhaltende heftige Neigung oder Fertigkeit zu tadeln“?Footnote 35

***

Nehmen wir also an, die Tadlerinnen operieren Ende 1724, Anfang 1725 bei der Titelfindung für ihre Wochenschrift vor dem bedeutungs- und sprachgeschichtlich weiten Horizont, den Stielers Teutscher Sprachschatz eröffnet, sowie vor dem gattungsgeschichtlich aufgerufenen intertextuellen Anspielungshorizont von Isaac Bickerstaffs The Tatler. Und nehmen wir an, daß sich das intertextuelle Anspielungspotential nicht auf die Titelgebung beschränkt, sondern auch die spezifische Konstruktion dieser fiktiven Verfasserschaft mitumfaßt. Dann liest sich das Erste Stück vom 3. Jenner 1725, das die fiktiven Verfasserinnen und das neue Blatt exponiert, regelrecht wie eine Antwort auf diesen Erwartungshorizont.

In der Geschichte der noch jungen, im expliziten Rückbezug auf die englischen Vorbilder im deutschen Sprachraum sich erst konstituierenden Gattung neu ist die Entscheidung, Federführung und Publikationsverantwortung in weibliche Hände zu legen. Gerade diese Entscheidung aber bleibt für die Titelwahl im Resonanzraum des englischen Tatler nicht folgenlos, ist doch das Schwatzen vorzugsweise dem weiblichen Geschlecht zugeordnet: Tadlerinnen sind nachgerade prädestiniert, ‚Tatlerinnen‘ zu werden. Wo die Lucubrations of Isaac Bickerstaff (so der spätere Titel auf dem Titelblatt des gebundenen Bands)Footnote 36 durch den identischen Namen (einen sprechenden Namen übrigens: ‚Zankapfel‘) den gegen die Astrologie zu Felde ziehenden Astrologen Swifts und den geschwätzigen Verfasser des Tatler zu einer ambigen Figur überblenden, werden Tadlerinnen und ‚Tatlerinnen‘ im Echoraum etymologischen Gleichklangs nicht minder ambig eins. Der erste Absatz setzt das in Szene (und zwar buchstäblich, im Modus quasidramatischer Rede):

WAs ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt? Es wird ietzo Mode, daß man gern einen Sitten-Lehrer abgeben will. Haben wir aber nicht von Manns-Personen moralische Schriften genung; und muß sich das weibliche Geschlechte auch ins Spiel mischen? Es wird gewiß ein erbares Caffee-Cräntzchen seyn, welches bey dem Uberflusse müßiger Stunden gewohnet ist, alles zu beurtheilen und durchzuhecheln. Die guten Kinder müssen wohl dem Sirach zeitig aus der Schule gelauffen seyn; sonst würden sie seine Lehre besser gefasset haben: Laß dich nicht zu klug düncken iedermann zu tadeln. Wenn doch die lieben Momus-Schwestern sich wieder in die Aufsicht dieses klugen Hauß-Lehrers begeben wollten: so würde ihnen ihr unzeitiger Kützel, vielleicht zu ihrem eigenen Vortheile, vergehen.Footnote 37

Wer hier, in vorgestellt wörtlicher Rede, spricht, sind die „Manns-Personen“, die angesichts des „in den öffentlichen Zeitungen“ annoncierten Projekts unter dem Titel Die Vernünftigen Tadlerinnen ‚Tadeln‘ sofort in der Negativvariante exzessiver Tadelsucht verstehen („alles […] durch[ ]hecheln“, „iedermann […] tadeln“) und dies, situiert am topischen Ort weiblicher Schwatzhaftigkeit, dem „Caffee-Cräntzchen“, mit dem Exzeß des Wortemachens überhaupt engführen.Footnote 38 Dabei verfahren sie bibelfest, denn das Zitat aus Jesus Sirach („Laß dich nicht zu klug düncken iedermann zu tadeln“) eröffnet die erste der „3. Abtheilungen“ des sechsten Kapitels, und die steht (in der Lutherbibel von 1717) unter der Überschrift „Zähmung der Zungen“.Footnote 39

Allerdings gibt es zu diesem Vers aus dem Buch Sirach auch Kleingedrucktes, in Gestalt einer Anmerkung zum Lemma ‚Tadeln‘: „(Tadeln) Das sind die Splitterrichter/ die ihres Balkens vergessen.“Footnote 40 Damit bekommt die von den Tadlerinnen in ihrer ersten Nummer vorangestellte szenische Rede einen doppelten Boden. Denn die „Manns-Personen“, die sich hier, mit deutlichen Merkmalen mündlicher Rede, die Mäuler zerreißen, sind selbst am Vorverurteilen, Durchhecheln und Tadeln, dem „Caffee-Cräntzchen“ tritt sein topisches Komplement zur Seite: männliches Stammtischgeschwätz (die biblische Dialektik von Splitter und Balken). Entsprechend kehren die Tadlerinnen den Spieß (der freilich selbst zum Balken werden kann) sogleich um, belassen es aber, zwischen Überlegenheit und Dünkel balancierend, bei der bloßen Geste: „Und diese“, schreiben sie, bevor sie ihr Schreibprojekt exponieren, „würden gewiß verdienen, ihres unbedachtsamen Ausspruches halber, am ersten von uns getadelt zu werden. Wir vergeben ihnen aber dismahl ihre Ubereilung.“Footnote 41 Warum? Weil die Tadlerinnen tatsächlich Unerhörtes vorhaben:

Denn obwohl die lebhaften Engelländerinnen, und so gar die Schweitzerinnen den Ruhm erlanget, daß sie zu einigen bekannten Sitten-Schriften nicht wenig beygetragen haben: so sind doch ihre Arbeiten nicht anders, als durch die Vermittelung gelehrter Manns-Personen, der neugierigen Welt mitgetheilet worden.Footnote 42

An diesem Punkt sind die Tadlerinnen, jenseits der omnipräsenten Resonanz des gleichlautenden Titels, dem Tatler am nächsten. Denn was in der Pluralrede von „Engelländerinnen“ und „Schweitzerinnen“ unspektakulär auf die gattungstypische Praxis des Einrückens von Leserbriefen auch von Leserinnen beziehbar ist, hebt im Gattungsvergleich singulär den Tatler heraus. Ist dort doch bereits im zehnten Stück „Mrs. Jenny Distaff, Half Sister to Mr. Bickerstaff“ bevollmächtigt, „with Liberty to speak it my own Way, not doubting the Allowances which would be given to a Writer of my Sex“.Footnote 43

Solche „Allowances“ gegenüber schreibenden Frauen setzen die Tadlerinnen – die (wie The Tatler in bezug auf die bereits veröffentlichten astrologischen Prophezeiungen des Isaac Bickerstaff) kein unbeschriebenes Blatt sein wollen, sondern Palimpsest – voraus, um von diesem Erwartungshorizont weiblicher Plauderei, kein Maß findender Tadelsucht markant (sie nennen das: „vernünftig“) abzuweichen.Footnote 44 Daß das Tadeln – wie zeitgleich im Philosophischen Lexicon von Walch festgestellt – leichter „ungereimt[ ]“ als begründet ausfällt,Footnote 45 bildet den Ausgangspunkt ihrer Titelentscheidung, ihr Ziel ist eine Positivierung des erwartbar Negativen, die performativ in jedem Stück neu geleistet werden muß (eine Spannung, die den Reiz des jederzeit möglichen Fehltritts vom Tadeln zum ‚Tatteln‘ produziert):

Jn unserer ersten Zusammenkunft wurde fest gesetzet, daß unsere wöchentliche Schriften den Namen der vernünftigen Tadlerinnen führen solten. Das klingt großsprecherisch und verwegen genung! [erneut vorweggenommene Rezeption in quasi-wörtlicher Rede] so wird mancher dencken. Allein gemach, meine Freunde! höret zuvor unsere Erklärung darüber an. [es folgt eine Art Lexikondefinition:] Tadeln heisset unserer Einsicht nach, die Fehler und Schwachheiten der Menschen beurtheilen, und diese Urtheile durch Worte oder Schriften zuverstehen geben. Wir halten dieses für eine Sache, die nach Beschaffenheit der Umstände gut oder böse, löblich oder sträflich werden kan; obgleich das letzte weit gemeiner ist, als das erste.Footnote 46

Dem Duktus nach müßte jetzt die Begründung dafür kommen, warum die Tadlerinnen ihr Tadeln als ‚vernünftig‘ bezeichnen und also Ausnahme von der ‚gemeinen‘ Regel zu sein beanspruchen. Genau dies kommt jedoch – vorerst – nicht, statt dessen wird erzählt: Beispielgeschichten, von Simplex und Simplicia (die „[n]ichts als solche Fehler“ tadeln, „die kein Mensch ändern kann“), von Momus (der als „ungereimter Grillenfänger“ ganz nach der Walchschen Definition des Tadelsüchtigen „seine scharffe Beurtheilungs-Kraft […] sehen lassen“ will) und von dem „Lieblosen Schadenfroh“ (der verletzend tadelt statt „wohlgemeynt[ ] und liebreich[ ]“).Footnote 47

Auch im Fortgang treten die Tadlerinnen gerade nicht als „Sitten-Lehrer“ auf,Footnote 48 sondern ein ums andre Mal als ‚Tatlerinnen‘: plaudernd „dulci utile miscendo“,Footnote 49 nicht ohne sich von Zeit zu Zeit in performative Widersprüche zu verstricken – beispielsweise wenn im Dritten Stück vom 17. Jenner 1725 die Tadlerin Jris in ihrer Empörung über den Flirt in der „Nachmittags-Predigt“ zwischen Liebknecht und Bellinde sich so ablenken läßt, daß sie im ganzen Stück nur über die Liebelei, nichts über die Predigt zu schreiben weiß.Footnote 50 Einen ersten Höhepunkt (und mit ihm will ich meinen Spaziergang schließen) findet dies spannungsvoll-widersprüchliche Ineins von Tad- und Tatlerinnen genau zur Halbzeit des ersten Jahres, im Fünfundzwanzigsten und Sechsundzwanzigsten Stück vom 20. und 27. Juni. Im Fünfundzwanzigsten Stück, wiewohl es am Ende durch „Die Tadlerinnen“ unterschrieben ist (von allen dreien also),Footnote 51 werden die Tadlerinnen nämlich von einer anonymen Instanz performativ entmachtet, die tut, was die Tadlerinnen zu Beginn des Ersten Stücks selbst getan haben: dem Gegner quasidramatisch Stimme leihen, um ihn gerade nicht zu Wort kommen zu lassen. Der namenlose Kritiker (eine Manns-Person vermutlich) fordert nun also in einer Generalabrechnung die Tadlerinnen ultimativ zum Aufhören auf, um daraufhin ihre zunehmend ungehaltene Reaktion zu imaginieren und dialogisch in Szene zu setzen. Ich zitiere den Anfang:

JHr unzeitigen Tadlerinnen, wenn werdet ihr endlich eurer Schmähsucht müde werden? Wenn werdet ihr eure Hecheln stumpf und eure Federn unbrauchbar gemacht haben? Man will euch ja nicht hören! Eure ungebetene Moral darf also nur zu Hause bleiben. Höret auf närrische Mägdgen, höret auf so naseweise zu seyn. […]

Jch höre, daß ihr euch auf die Vernunft beruffet: Wir sind ja vernünftige Tadlerinnen! sprecht ihr. Ja, wenn das wahr wäre! Fraget nur die Leute in eurer Stadt, fraget an allen den Orten, wo Spörl [der Verleger] eure Mißgeburten der Welt aufgedrungen hat: so werdet ihr andre Titel hören. Unsinnige Tadlerinnen sind es, wird man sagen. Da habt ihrs; das ist euer Name. Jhr wollt böse darüber werden, wie ich mercke. Wie? fragt ihr, folgen wir nicht den Regeln der Vernunft? tadeln wir nicht das tadelnswürdige?Footnote 52

Und so weiter, das Stück wird unaufhaltsam zur self-fulfilling prophecy, denn der Vorwurf des namenlosen Kritikers zielt gerade auf den Anspruch vernünftigen Tadelns, der kein „Vorzug“ sei, sondern „eine gemeine Sache“, die „häuffig im Schwange geh[e]“: „Wo ist ein Hauß ohne eine solche Richterin ihrer Nachbarn, Bekanten und Verwannten? Sulpitia spottet und schwatzet ohn Unterlaß, Jhre Tochter Clelia sitzet bey der Hechel, und ihre Magd Verbosa treibt eben das Handwerck“Footnote 53 – das Handwerk von ‚Tatlerinnen‘ offenkundig. Verbositas allerdings ist ihnen im Stück vom 20. Juni nicht vorzuwerfen: sie sind buchstäblich nicht zu Wort gekommen. Vor der Folie dieses Tiefpunkts (den „Vernünftigen Tadlerinnen“ wird das Wort entzogen und der Titel des Blatts streitig gemacht) ist das nächste, von Calliste verantwortete Stück zu lesen: als Zugeständnis an den „Geschmack[ ] unsrer Zeiten“ wolle man ein Totengespräch schreiben.Footnote 54 Damit nicht genug, wird der männliche Archeget der Gattung (kein Modeautor, sondern der antike Satiriker Lukian) herausgefordert: kommentarlos gegeneinandergeschnitten sind erst „Lucians 7te Unterredung“, „Das 10te Gespräch“ und „Das 17. Gespräche Lucians“ zu lesen, die nach einem Vorgeplänkel mit dem Götterboten Mercurius Gerichtssituationen unter den Totenrichtern Pluto und Minos vollkommen aus dem Ruder laufen lassen,Footnote 55 dann Callistes Gegenentwurf eines bestens funktionierenden weiblichen Totengerichts unter der ad hoc dem überforderten Pluto unter die Arme greifenden Proserpina in zwei Szenen.Footnote 56 „[V]ernünftig“? „[G]roßsprecherisch und verwegen“? Das eine und das andere.

Erst indem die Spannung zwischen ‚Tadlerinnen‘ und ‚Tatlerinnen‘ sich auflöst, mit der Offenlegung der wahren Verfasserschaft eines Manns anstelle dreier Frauen im letzten Stück vom 27. Dezember 1726 der Titel zum bloßen „Nahmen der vernünfftigen Tadlerinnen“ wird, der im Dienst einer guten Sache gestanden habe,Footnote 57 erst indem das ‚Tadeln‘ semantisch vom ‚Taddeln‘ der „gemeinen Sprecharten“, dem ambigen Schwatzen, getrennt und die Herkunft des Worts kurzerhand für ‚dunkel‘ erklärt wird, werden Die Vernünftigen Tadlerinnen zur „wöchentliche[n] moralische[n] Schrifft“ des „berühmten Herrn Prof. Johann Christoph Gottsched“. „Es stellet diese Schrifft“, so heißt es 1744 im einundvierzigsten Band des Zedlerschen Universal-Lexicons unter dem Lemma ‚Tadlerin, (die vernünfftige)‘ weiter, „Frauenzimmer, so die Fehler beyderley Geschlechts beurtheilen, und dererselben Verbesserungs-Mittel an die Hand geben, vor.“Footnote 58

Bevor ihnen die Maske abgezogen wurde, waren die Tadlerinnen, ausgerechnet im pietistischen Halle, zu einem Gutteil auch Komödiantinnen.

FormalPara Nachschrift im Februar 2022:

Der Zufall will es, daß ich die Korrekturen dieses Beitrags bekomme, während ich als Zweitgutachterin eine Basler Dissertation unter dem Titel Wildes Übersetzen lese. Mir scheint, eine Relektüre der hier spaziergängerisch vorgestellten Texte unter der dort eröffneten systematischen Perspektive könnte der Mühe wert sein. Da es aber nicht meines Amtes ist, eine noch unveröffentlichte Dissertation auszuplaudern, möge ein Wink in die Zukunft genügen: Wildes Übersetzen. Zu Theorie und Geschichte eines literarischen Verfahrens bei Johann Fischart und Arno Schmidt. Dissertation zur Erlangung der Würde eines Doktors der Philosophie vorgelegt der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel von Jodok Trösch.