Als im Anschluss an die Reformation die ErbauungsliteraturFootnote 1 mehr und mehr an Relevanz gewinnt,Footnote 2 nimmt insbesondere im 17. Jahrhundert auch der Einfluss von Übersetzungen englischer Erbauungsbücher auf die lutherischen deutschsprachigen Regionen zu.Footnote 3 Edgar McKenzies Aufstellung englischer devotional books in deutscher Übersetzung zählt nicht weniger als 1800 Drucke für den Zeitraum zwischen 1531 und 1750.Footnote 4 Die ersten dieser Bücher waren die teils auf Latein, teils auf Englisch verfassten Texte des Theologen Robert Barnes, die ab 1531 zunächst in Nürnberg, und später auch in anderen Städten in deutscher Übersetzung gedruckt wurden, nicht selten mit Vorreden Martin Luthers, der zuweilen auch als ihr Übersetzer gilt.Footnote 5 Zwischen 1630 und 1660 finden jedoch maßgebliche Veränderungen in der Rezeption der englischen Erbauungsliteratur statt, für die Udo Sträter zwei Faktoren nennt: Zum einen beginne in dieser Zeit die Rezeption der „in Deutschland wohl bedeutendsten englischen Erbauungsbücher“ von Lewis Bayly, Joseph Hall, Daniel Dyke und Robert Parsons.Footnote 6 Zum anderen werden die Texte nun entsprechend lutherischer Vorstellungen überarbeitet und offiziell in den Gebrauch der Kirche eingeführt.Footnote 7

Als wohl erster Theologe der lutherischen Orthodoxie, der dem englischen Erbauungsschrifttum Eingang in den offiziellen Gebrauch der Kirche verschafft hat,Footnote 8 gilt der Straßburger Johannes Schmidt (1594–1658). Neben einer Professur für Theologie hatte Schmidt zwischen 1629 und 1658 als Präses des lutherischen Kirchenkonvents die Aufsicht über Kirchen und Schulen in der Stadt Straßburg und ihren ländlichen Gebieten.Footnote 9 England hatte er 1617 bereist, der Besuch „dürfte […] nicht ohne stärkere Eindrücke verlaufen sein“.Footnote 10 Durch Schmidt wirkte sich die englische Erbauungsliteratur auf den lutherischen Pietismus aus: Philipp Jakob Spener rezipierte in seiner Straßburger Studienzeit einige dieser Bücher mit großem Eifer, seine Programmschrift Pia Desideria steht wohl unter ihrem Einfluss.Footnote 11

Jedoch war die Rezeption der englischen Bücher im lutherischen deutschsprachigen Raum nicht ohne weiteres möglich: Neben der geringen Verbreitung von Englischkenntnissen im 17. JahrhundertFootnote 12 war insbesondere die konfessionelle Spaltung, die sich nach anfänglichen Kontakten zwischen Wittenberg und den englischen Reformhumanisten vollzog,Footnote 13 ein Problem: „[F]ür die deutschen Lutheraner stand spätestens seit dem Elizabethan Settlement fest, England sei nunmehr calvinistisch“.Footnote 14 So geht der offiziellen Rezeption der englischen Erbauungsbücher im deutschen Luthertum in den meisten Fällen eine Intermediärübersetzung in das Niederländische oder Französische voran,Footnote 15 die hierdurch ermöglichten deutschen Übersetzungen bedurften jedoch noch einer dogmatischen Anpassung an die lutherischen Lehren.Footnote 16

Es soll daher im Folgenden die Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Straßburg in zwei Schritten untersucht werden. Zunächst soll nachvollzogen werden, wie drei der wichtigsten dieser Bücher – Baylys Practice of Piety, Halls Art of devine Meditation und Parsons Booke of Christian Excercise – von England nach Straßburg gelangten. Dabei ist vor allem ein Zusammenspiel der Straßburger Frömmigkeitsbewegung um Johann Schmidt mit personellen Konstellationen in der zeitgenössischen Buchhandelslandschaft von Bedeutung. In einem zweiten Schritt soll es um die literarisch produktive Rezeption dieser Erbauungsbücher gehen. Es wird untersucht, wie Johann Michael Moscherosch in seinem Erbauungsbuch Insomnis Cura Parentum (1643/1653), das in enger Anbindung an Johann Schmidt entsteht, die Auseinandersetzung mit englischer Erbauungsliteratur im Rahmen einer umfassenden Selbstinszenierungsstrategie verwendet.

Für eine Untersuchung, die sich mit der Einführung und Aneignung von Texten vor dem Hintergrund spezifischer Wertesysteme wie der Konfession befasst, stellt die polysystemische Übersetzungstheorie des Kulturwissenschaftlers Itamar Even-Zohar einen geeigneten Bezugspunkt dar. Even-Zohar befasst sich mit der Übersetzungsliteratur und versteht dabei Nationalliteraturen als (Poly-)System innerhalb eines soziokulturellen Systemkomplexes, das im ständigen Austausch mit Co-Poly-Systemen, etwa gesellschaftlichen Normvorstellungen, Politik oder Ideologie, steht.Footnote 17 Das Polysystem ‚Literatur‘ – das sich wiederum aus einer Reihe von Systemen zusammensetzt – könne maßgeblich von übersetzter Literatur beeinflusst werden, der dann ein innovatorisches Potential zugeschrieben wird: „Through the foreign works, features (both principles and elements) are introduced to the home literature that did not exist before“.Footnote 18 Insbesondere sei dies der Fall, wenn ein literarisches Polysystem jung sei, als peripher oder ‚schwach‘ wahrgenommen werde, oder wenn es sich in einer Krise befinde.Footnote 19 Die Innovation sei dabei jedoch maßgeblich durch die Co-Systeme der (übersetzenden) Zielliteratur geprägt, die sowohl auf die Auswahl der zu übersetzenden Texte als auch auf die Ausgestaltung der Übersetzungen einwirken.Footnote 20

Die englischen Erbauungsbücher liegen nun bei ihrer Einführung in Straßburg bereits in deutscher Übersetzung und lutherischer Bearbeitung vor. Jedoch sind Parallelen zwischen den Zusammenhängen, die Even-Zohar an den Dynamiken zwischen peripher und dominant wahrgenommenen Nationalliteraturen beschreibt, und der Position der Erbauungsliteratur in Straßburg zur Zeit Johann Schmidts zu erkennen. Um zu erhellen, inwiefern das System ‚Erbauungsliteratur‘ (innerhalb des Polysystems ‚Literatur‘) in Straßburg unter Schmidt peripher erscheint, ist es notwendig, zunächst Schmidts Frömmigkeitskonzeption – ein wichtiger Faktor für das Co-Poly-System ‚Luthertum‘ – vorzustellen.

1 Johann Schmidt und die Reformorthodoxie

Die theologischen Ansichten Schmidts, die als ‚Reformorthodoxie‘ beschrieben werden,Footnote 21 müssen grundsätzlich im Kontext des Generationenerlebnisses des Dreißigjährigen Krieges vorgestellt und verstanden werden.Footnote 22 Die Stadt Straßburg selbst war dabei nur für den vergleichsweise kurzen Zeitraum zwischen 1631 und 1634 direkt vom Krieg betroffen, in dem Jahrzehnt zuvor hatte sie gar als neutrale Stadt indirekt von dem sich andernorts abspielenden Kriegsgeschehen profitieren können.Footnote 23 Zwar wurde das Elsass mit dem Kriegseintritt Frankreichs 1635 mehr und mehr zu einem militärischen Aufmarschgebiet, die kriegstreibenden Zentren lagen jedoch nicht in Straßburg oder seinem Umland, sodass die Reichsstadt eher einen ‚Ruhepol‘ in den Kriegswirren darstellte.Footnote 24 Die Kriegsleiden, die man in Straßburg in den frühen 1630er Jahren unmittelbar und später vor allem durch einen Zuwachs an Geflüchteten aus benachbarten Gebieten erlebte,Footnote 25 wurde wohl von allen im Elsass vertretenen christlichen Konfessionen entsprechend der biblischen Tradition als Strafgericht Gottes gedeutet.Footnote 26

Das gilt auch für Johann Schmidt, der den Krieg als Strafe für die „in allen Ständen herrschende[ ] Weltliebe und veräußerlichte[ ] Frömmigkeit“ deutet,Footnote 27 was etwa deutlich wird, wenn er in einer Reihe von Predigten die Gegenwart mit der biblischen Stadt Sodom vergleicht:

Damit wir aber den vorgesetzten Zweck [der Besserung der Sitten – S.D.] desto bequemer erreichen/ wollen wir von zweyen Hauptpuncten miteinander handeln: Erstlich zwar zwischen dem alten Sodom zu Loths Zeiten/ vnd dieser heutigen Welt eine kurtze collation vnd Vergleichung anstellen/ damit wir verstehen/ daß/ wie die Sodomiten/ als jhre Snde jmmer je grsser vnd schwerer worden/ der Vntergang vnd das Verderben sehr nahe gewesen: also auch der heutigen Welt/ jhres schndlichen Wandels halben/ das endliche Verderben vnd der garauß fr der Thr sey. Darnach/ wann dem ohnfehlbar also/ wie alle Christen/ denen jhre Seeligkeit angelegen/ sich verhalten sollen/ damit sie dem schrecklichen Zorn Gottes vnd allem Vnglck entfliehen/ der Gefahr entgehen/ vnd zur ewigen Seligkeit bewahret werden mgen.Footnote 28

Um dem „schrecklichen Zorn Gottes vnd allem Vnglck“ zu entfliehen, sieht Schmidt eine Reform der Frömmigkeit als notwendig an, die insbesondere auf eine aktive, handelnde Frömmigkeit zielt, die sich in der steten Erbauung des Nächsten zeigt: „[W]enn wir an vnserm Nechsten geistlicher weise bawen/ vnd jhn/ neben vns/ zur bung wahrer Gottseeligkeit anfhren/ thun wir das allerhchste Werck der Liebe gegen jhme […]“.Footnote 29 Diese Frömmigkeitskonzeption, die „das Gewicht [der Frömmigkeit – S.D.] […] von der Lehre aufs Leben verschiebt“ und damit im Vergleich zur Theologie Martin Luthers eine Schwerpunktverlagerung darstellt,Footnote 30 kann jedoch nur umgesetzt werden, wenn sich jeder Einzelne intensiv mit der Bibel, dem Katechismus und den gehörten Predigten befasst.Footnote 31 Ziel der Auseinandersetzung mit den Glaubensgegenständen ist unter anderem die Erweckung des christlichen Eifers, der einer konstanten Pflege und Neuerung bedarf.Footnote 32

Zu diesem Zweck befürwortet Schmidt die Meditation, die er als Mittel zur Erkenntnis des in einem jeden Menschen wirkenden göttlichen Willens und zur Realisation der Gottesebenbildlichkeit sieht.Footnote 33 Dies führe zu einem Verlangen, dem Gottesdienst nachzugehen,Footnote 34 der für Schmidt seinen Ausdruck vor allem in aktiver Nächstenliebe findet.Footnote 35 Anders als das orthodoxe Luthertum, das der Meditation ablehnend gegenübersteht,Footnote 36 versteht Schmidt sie nicht allein als nützlich, sondern gar als notwendig:

[D]iese jetztbeschriebene meditation vnd Betrachtung deß gehörten oder gelesenen Worts Gottes [ist] ein sehr notwendiges Stuck deß rechten Gottesdiensts: […] notwendig auch/ weil ohne dieses Stück kein Mensch […] zu wahrer Erkantnuß Gottes vnd seines Willens gelangen […] kan.Footnote 37

Zentral für Schmidts Frömmigkeitsauffassung ist dabei die Verantwortung der Einzelnen für das Wohl aller;Footnote 38 das göttliche Strafgericht könne nur durch eine die ganze Gemeinde umfassende Heilung abgewandt werden.Footnote 39 In diesem Rahmen sind mehrere wichtige Aspekte von Schmidts Reformvorstellungen zu verstehen, insbesondere die christliche Unterweisung der Jugend,Footnote 40 die Kontrolle der religiösen Praxis in den einzelnen Familien sowie die Belebung der häuslichen Frömmigkeit.Footnote 41 Es ergab sich so eine „Praxis des gelebten Glaubens, [die sich] zwar […] in die alltäglichen Situationen der häuslichen Gemeinschaft erstrecken sollte, weit über die kirchlichen Veranstaltungen hinaus, [die] aber […] der Anleitung und des Rückhalts durch die Geistlichen bedurfte“.Footnote 42

Wie wichtig Jugenderziehung und häusliche Frömmigkeit für Schmidt sind, lässt sich auch daran ablesen, dass er, der neben den berufsbedingten PredigtenFootnote 43 und Disputationsschriften keine theologischen Abhandlungen verfasste, 1638 dem Katechismusunterricht einen Traktat widmete mit dem Titel Sendbrieff an die Herren Pastores auff dem landt Straßburgischer jurisdiction, welcher gestalt hinfüro die kinderlehr anzustellen Und erkantniß christlicher lehr beides im Alten Und Jungen bequemlich Zupflantzen, anzufangen.Footnote 44 Der Sendbrieff blieb ungedruckt und wurde in den jüngeren kirchengeschichtlichen Darstellungen Schmidts nicht berücksichtigt, das Manuskript kann jedoch als Reinschrift erkannt werden. Warum es nicht zur Drucklegung kam, ist unklar.

Das Anliegen des Sendbrieffs, die christliche Kindererziehung zu verbessern, ist bereits im Titel evident. Innerhalb des Textes verbindet Schmidt dabei Vorschläge zur Verbesserung der Kinderlehre mit Anleitungen zur Vorbereitung einer Predigt. So schreibt er etwa, dass man die Kinder durch hervorgehobenes Lob Einzelner zum eifrigen Lernen des Katechismus anregen könneFootnote 45 und dass es die Aufgabe des Predigers sei, die Predigt nachvollziehbar zu gestalten, etwa indem er sie nicht zu lang halte und auf Fremdwörter verzichte.Footnote 46 Die Pflicht der Eltern zur christlichen Erziehung des gesamten Hausstands wird dabei mehrfach betont, etwa wenn Schmidt den Pfarrern empfiehlt, unangekündigte Hausbesuche durchzuführen, bei denen man „die Kinder vnd gesind examinire, wie sie in gebett vnd catechismo bestehen“.Footnote 47 Bereits vor der Eheschließung sollen junge Menschen auf diese Pflichten hingewiesen werden:

<Vnd fünfft> ist auch ein alleweg nutz vnd nothwendig, dz junge leuth, wan sie sich in den heyligen ehestand begeben vnd offentlich außruffen lassen wollen, zuvor von dem Pfarrer erforschet vnd nicht allein ihres christlichen glaubens in gemein, sondern auch † des ehestands halben, was er sey, […] wol vnd vmbständlich examiniret vnd gefragt, <vnd> ermahnet werden, dz hinfüro, wan sie in eigener haußhaltungen kinder vnd <ge>sind haben, sie auch dieselbe mit allem fleiß, zu solcher lehr vnd glauben, die sie ge= † vnd gelernet […] anhalten, vnd mit ihnen stes üben sollen, als in welcher gottseliger übung ihre wolfahrt, vnd haußsegen, dan sie von gott ge<warten>, bestehet.Footnote 48

Die Forderung, dass die Eltern, und insbesondere der Hausvater,Footnote 49 auch über den Predigtbesuch hinaus regelmäßig Andachtsübungen und religiösen Unterricht mit den Kindern durchführen, ist jedoch mit einem Problem verbunden: Um einen solchen Unterricht durchführen zu können, ist erforderlich, dass der Hausvater selbst die grundlegenden lutherischen Lehren verinnerlicht hat. Über ein solches Wissen verfügten aber wohl nur wenige.Footnote 50 Um diesen Missstand zu beheben und die private Frömmigkeit in Straßburg zu befördern, wurde nun die Erbauungsliteratur wichtig.

In der Terminologie Even-Zohars könnte man es folgendermaßen beschreiben: Durch eine Werteverschiebung innerhalb des Co-Poly-Systems ‚Luthertum‘ wird die private Frömmigkeitsübung wichtiger, als sie es zuvor war. Das System ‚Erbauungsliteratur‘ gewinnt damit an Relevanz, erscheint jedoch gerade deswegen als peripher, denn es kann die spezifischen Anforderungen des Co-Poly-Systems ‚Luthertum‘ nicht erfüllen. Bedeutsam wird nun der Import von Erbauungsbüchern aus anderen Regionen, die diese Anforderungen erfüllen können, was wohl besonders auf deutsche Übersetzungen englischer Erbauungsbücher zutrifft.

2 Die Reformorthodoxie und die englische Erbauungsliteratur

In der ersten Hälfte der 1630er Jahre werden drei ursprünglich englische Erbauungsbücher in Straßburg nachgedruckt, die zuvor bereits eine Übersetzung in das Deutsche sowie erste lutherische Überarbeitungen erfahren hatten. Des Überblicks halber seien sie kurz vorgestellt:

  1. 1.

    Die Praxis Pietatis (dt. ab 1628), eine Übersetzung von Lewis Baylys Practice of Piety (1613).Footnote 51

  2. 2.

    Von der Wahren Christlichen Andacht, eine Übersetzung von Joseph Halls The Art of Devine Meditation (1606), die ab 1631 als zweiter Teil der Praxis Pietatis gedruckt wurde.Footnote 52

  3. 3.

    Das Gulden Kleinodt der Kinder Gottes (dt. ab 1612), eine Übersetzung des Booke of Christian exercise, Appertaining to Resolution, That is Shewing How that We should Resolve our Selves to Become Christians on Deed (1584) von dem Jesuiten Robert Parsons.Footnote 53 Der Übersetzer Emanuel Thomson tritt hier unter dem Pseudonym ‚Emanuel Sonthomb‘ auf.

Diese Texte gehören zu den im deutschsprachigen Raum bedeutendstenFootnote 54 und am breitesten rezipierten englischen Erbauungsbüchern.Footnote 55 Das vierte der Bücher, die laut Sträter für die Zeit zwischen 1630 und 1660 prägend für die Rezeption der englischen Erbauungsliteratur sind,Footnote 56 ist Daniel Dykes The Mystery of Self-Deceiving (1614), das wohl etwas später als die anderen drei Bücher, ab 1636, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Nosce te ipsum, das grosse Geheimnuß deß Selb-Betrug erschien.Footnote 57 Dieses wurde zwar nicht in Straßburg nachgedruckt, Johann Michael Moscherosch verweist jedoch in seiner Insomnis Cura Parentum auf es,Footnote 58 was auf eine Rezeption in Straßburg hindeutet.

Fragt man nach der ‚Reiseroute‘ der englischen Bücher nach Straßburg, wird deutlich, dass nicht allein die inhaltliche Nähe zu den Reformvorstellungen Schmidts von Bedeutung war, sondern auch ein komplexes Netzwerk von Bearbeitern und Buchdruckern im deutschsprachigen Raum: Praxis Pietatis, Wahre Christliche Andacht und Güldenes Kleinodt gelangten alle auf unterschiedliche Weise nach Straßburg; diese ‚Routen‘ nachzuvollziehen, ermöglicht es, die Bedeutung sowohl der konfessionellen Begebenheiten als auch der personellen Netzwerke um lokale Buchdrucker für die Verbreitung von (Erbauungs-)Büchern aufzuzeigen.Footnote 59

Die ‚Reiseroute‘ der Praxis Pietatis entspricht dem gängigen Verbreitungsprozess englischsprachiger Erbauungsliteratur im deutschsprachigen Raum:Footnote 60 Zunächst wurde eine französischsprachige Übersetzung in der reformierten Schweiz angefertigt, wo der konfessionelle ‚Widerstand‘ gegen englische Erbauungsbücher geringer war.Footnote 61 Die französische Übersetzung wurde von Jean Verniulh angefertigt; gedruckt wurde sie wohl ab 1625 bei Chouët in Genf.Footnote 62 Aus dem Französischen konnte dann die Übersetzung ins Deutsche erfolgen, wobei Basel bereits im späten 16. Jahrhundert einer der wichtigsten Druckorte war,Footnote 63 so auch für die Praxis Pietatis, die dort 1628 in der Offizin Samuel Königs gedruckt wurde.Footnote 64 Der Weg der Praxis Pietatis führte dann wohl zunächst in die reformierten Gebiete Deutschlands: 1630 wurde sie in BremenFootnote 65 bei Berthold de Villiers gedruckt.Footnote 66 Von dort aus scheint der Sprung ins lutherische Umland nicht mehr weit zu sein, im Folgejahr erscheint eine lutherisch überarbeitete FassungFootnote 67 in der Offizin der Brüder Johann und Heinrich Stern in Lüneburg.Footnote 68

Der Weg des Güldenen Kleinodts scheint dagegen den seltenen Fall einer Direktübersetzung darzustellen.Footnote 69 Es lässt sich keine französische Übersetzung finden, die niederländische Übersetzung wurde erst 1655 gedruckt und nutzte die deutsche Fassung als Vorlage.Footnote 70 Die erste deutschsprachige Ausgabe, die 1612 in Frankfurt am Main bei Zacharias Paltherius gedruckt wurde,Footnote 71 gibt Hinweise auf den Entstehungskontext der deutschen Übersetzung. Der Widmungsträger „Herr[ ] Hans Lierenberg/ Schffenherr[ ] der weltberhmten Kauffstatt Dantzig“,Footnote 72 kann als „Angehörige[r] der Danziger Patrizierfamilie Zierenberg“ identifiziert werden,Footnote 73 denkbar erscheint sogar, dass es sich um Johann Zierenberg handelt, der ab 1603 Schöffe in Danzig und ein aktiver Vertreter des Calvinismus war. Dem entspricht auch die inhaltliche Gestaltung der Übersetzung: Sträter schätzt sie als einen für ein calvinistisches Publikum konzipierten Text ein, für dieses hätte es bei der Rezeption „keine dogmatischen Klippen“ gegeben.Footnote 74

Thomson schreibt nun, er habe während eines Aufenthalts in Danzig nach einer Möglichkeit gesucht, seinen Müßiggang produktiv zu nutzen.

Die kleine Gelegenheit aber/ die mir frkoen/ ist diese/ daß mir diß Bchlein in englischer Sprach zu handen kommen: Welchs/ nach dem es etliche mahl von mir ist durchlesen worden/ so hat es mich gedeuͦcht/ der Mhe gar wol werth zu sein/ daß es mchte verdeutschet werden.Footnote 75

Die Übersetzung scheint hier direkt aus dem Englischen stattgefunden zu haben. Thomson verweist auch auf den Ursprung des Kleinodts:

Wer der erste Author dieses Buchs ist gewesen/ ist vngewiß/ allein es ist mit dem Namen Frsatz intitulirt gewesen/ deß Authors Nam war gezeichnet R.P. vnnd ist anfnglich heimblicher weise in Engeland außgesprengt worden: Wie es aber etlichen Theologis alda frkommen/ die es durchlesen/ so haben sie fr gewiß gehalten/ daß der erste Author ein Papist gewesen sey […].Footnote 76

Die ‚papistische‘ Textfassung habe man nun an einigen Stellen verändert, „auff daß der einfeltige Leser/ solche gefehrliche Jrrthumb/ zugleich mit den gefundenen Vermahnungen nicht eintrncke/ vnd also derselben theilhafftig werde“.Footnote 77 Hier bezieht sich Thomson wohl auf die Bearbeitung des Booke of Christian Excercise durch den anglikanischen Theologen Edmund Bunny, dessen Textfassung er wohl übersetzt hat.Footnote 78

Wie sich das Kleinodt in den folgenden Jahren weiter im deutschen Sprachraum verbreitete, ist nicht klar. 1630 wird es dann – wie auch die Praxis Pietatis – bei den Brüdern Stern in Lüneburg gedruckt,Footnote 79 hier wurde auch die lutherische Bearbeitung vorgenommen, wie bereits auf dem Titelblatt hervorgehoben wird:

Jetzo aber auffs newe in etlichen vndeutschen/ vnd der Lehre halber verdchtigen Reden/ […] an vielen Orten gendert/ vnd mit einem ntzlichen vnd ntigen Zusatz gemehret vnd gebessert/ Durch einen Liebhaber deß wahren vnnd reinen Evangelischen Christentumbs.Footnote 80

Die lutherische Bearbeitung von Kleinodt und Praxis Pietatis wird von den Brüdern Stern ausführlicher in ihrer Widmungsvorrede zur Praxis Pietatis behandelt.Footnote 81 Dort gehen sie auf die Publikationsgeschichte und die mit der konfessionellen Anpassung verbundenen Personalprobleme ein:

[Die Praxis Pietatis – S.D.] ist [ihrer] Wrden halb in Frantzsischer vnd Englischer Sprach nicht allein/ sondern droben im Reich vielmal gedrucket worden/ wie es denn dadurch hieunten bey vns bekannt word/ vnd offt von vielen gewnschet/ daß durch einen modernum pium Theologum, nach Form der Augspurgischen Confession, wo noch etwas rauches dran hienge/ es mchte beschnitten/ vnd bey vns gedruckt werden. Weil man aber vor der Hand hie keine Gelegenheit dazu gefund/ biß zu Leipzig [d. h. dortige Buchmesse – S.D.] durch einen vornehmen von Adel diß Buch nicht allein hoch coendiret/ sondern auch berichtet/ daß in einer vornemen Evangelischen Stadt/ ein Gelehrter der Ehrschtig Welt abgestandener Prediger/ dieses/ v Emanuelis Sonthombs Gldenes Kleinod/ fleissig vbersehen htte/ da es nur nach einem Verlger wartete.Footnote 82

Als Gründe für die Anonymität des Bearbeiters wird in der Widmungsvorrede der Wunsch angegeben, nicht ehrsüchtig erscheinen oder sich finanziell bereichern zu wollen.Footnote 83 Aus kirchenhistorischer Perspektive ist anzunehmen, dass es sich bei dem Bearbeiter um den Braunschweiger Pfarrer Justus Gesenius (1601–1673) handelt, dessen Kleine Katechismusschule 1631, also nahezu zeitgleich mit den beiden englischen Erbauungsbüchern, bei den Brüdern Stern gedruckt worden war. Die Kleine Katechismusschule sei in einigen inhaltlichen Aspekten von der Praxis Pietatis angeregt,Footnote 84 Katechismusschule und Praxis Pietatis wurden zudem mehrfach zusammen gedruckt.Footnote 85 Auch habe Gesenius mehrere seiner Bücher zunächst anonym publiziert.Footnote 86

Über Gesenius’ Katechismusschule und die Offizin Stern kann nun eine direkte Verbindung nach Straßburg zu Johann Schmidt nachgewiesen werden: 1632 wurde die Katechismusschule in Straßburg bei Caspar Dietzel nachgedruckt.Footnote 87 In der Vorrede, die Schmidt zur Straßburger Ausgabe verfasst, beschreibt er, wie er zunächst einige Exemplare aus Lüneburg habe beschaffen wollen; als diese jedoch ausverkauft waren, habe er sich bemüht, „ohnverzglich zuverschaffen/ daß es allhier nachgedruckt/ vnd dem christlichen Verlangen froer Hertzen zu ihrer vnd der jhrigen Besserung mit ehestem genug gethan wrde“.Footnote 88 Das Buch diene nämlich dem Zweck,

auff welchen auch [Schmidt] an [s]einem Ort nebem [s]einen geliebten Herren vnd Brdern in Christo/ die bey hiesiger Straßburgischen Kirchen am Wort arbeiten/ bißher gezielet/ bequemlich zu erreichen/ vnd die herwachsende Jugend sampt dem einfltigen Volck/ Knechten vnd Mgden/ zum grndlichen Verstand Christlicher Lehr etwas besser anzufhren/ herrlich vnd frtrefflich.Footnote 89

Schmidt erkannte also die Eignung der Katechismusschule zur Umsetzung einer seiner wichtigsten Reformideen – der christlichen Jugenderziehung – an. Am Ende seiner Vorrede verweist Schmidt zudem auf die Praxis Pietatis, die eine lutherische Überarbeitung erfahren habe:

Dieweil der Author gegenwrtiger Catechismus=Schul gleich anfangs in seiner præfation oder Vorrede deß Bchleins/ so praxis pietatis oder Vbung der Gottseligkeit heisset/ meldung thut/Footnote 90 ist zu wissen/ daß er auff die Edition, so im verschienen Jahr zu Lneburg außgangen/ sihet/ auß welcher an gewissen Orten die jenigen phrases vnd arten zu reden/ so etlicher massen vnserer Augspurgischen Confession zu wider/ vnd in andern editionibus sich befinden/ entweder gar außgelassen/ oder corrigirt vnd verbessert worden.Footnote 91

Schmidt wusste folglich von der Existenz einer lutherisch bearbeiteten Ausgabe der Praxis Pietatis; ihre spätere Drucklegung in Straßburg macht wahrscheinlich, dass er als Kirchenpräses, ohne dessen Zustimmung diese Bücher wohl nicht hätten reproduziert werden dürfen,Footnote 92 mit dem Text vertraut war. Denkbar erscheint somit, dass Schmidt zunächst auf Gesenius’ Katechismusschule aufmerksam wurdeFootnote 93 und über das Interesse an diesem Text auch mit den beiden englischen Erbauungsbüchern in Berührung kam – sei es, weil sie von Gesenius selbst bearbeitet wurden, sei es, weil sie in derselben Offizin gedruckt wurden.

Bei einer Lektüre der Lüneburger Ausgabe der Praxis Pietatis dürfte Schmidt nun bereits in der Widmungsvorrede auf eine ihm vertraute Problemlage gestoßen sein:

Es seufftzet auch maich gottseliger Haußvater/ daß er nit weis/ wie ers mit seinen lieben Kindern wolle treffen/ daß sie wol erzogen/ vnd zur warer Gottesfurcht instruirt/ v den edlen zart Pflntzlein des Hielreichs die Jahre nit gleichsam abgestohlen werden. […] Vnd zumal/ weiln leider vnter diesen bluttrieffenden grimmigen Kriegen/ wegen Betrbnis/ Sorge vnd pltzlichen Vberfall mancher guter Freund/ durch die lange Nacht des Todes tglich fast vnvermuthlich hingenommen wird/ ist die Vbung der Gottseligkeit hochnthig.Footnote 94

Auch der Haupttext entsprach wohl Schmidts Frömmigkeitskonzeption:Footnote 95 In der Praxis Pietatis findet sich eine der ersten Beschreibungen des christlichen Alltags, die Schmidts Vorstellung vom christlichen Eifer und stetem Gottesdienst entsprochen haben dürfte; er selbst war wohl stark von der englischen Erbauungsliteratur beeinflusst.Footnote 96 Die Straßburger Ausgabe erscheint mit einer Vorrede, die Johannes Wallmann Schmidt zuschreibt.Footnote 97 Auch die als zweiter Teil der Praxis Pietatis gedruckte Wahre Christliche Andacht greift mit der Meditation ein frömmigkeitspraktisches Interesse Schmidts auf; Kühlmann und Schäfer weisen darauf hin, dass die Vorrede zur Straßburger Ausgabe von 1634 den Mangel an deutschen Anleitungen zur Meditation thematisiere.Footnote 98

Das Güldene Kleinodt enthält in der Lüneburger Ausgabe zwar keine ausführliche Widmungsvorrede, die vorhandene, etwa dreiseitige, anonyme Leservorrede ist jedoch ebenfalls aufschlussreich. Da hier vor allem die Verwendung von Fremdwörtern und die Textgestalt thematisiert werden, scheint sie vom Drucker oder Übersetzer zu stammen. Der Verfasser betont zudem, dass das Buch – seinem enormen Umfang zum Trotz – überaus nützlich sei:

Mir zweiffelt aber nit/ wo du es einmal mit Andacht durchliesest/ du werdest es offte wider zur Hand nehmen/ vnd dich in praxi vnd Vollziehung dessen/ was drinne vorgestellt wird/ fleissig vnd embsig ben.Footnote 99

Hier wird indirekt auch die richtige Gebrauchsweise des Buches beschrieben: Man soll es konzentriert lesen, es zu Rate ziehen und sich in seinen Handlungen mit Eifer an ihm orientieren. Auch dies scheint bei Schmidt Anklang gefunden zu haben; in der Straßburger Ausgabe des Kleinodts wird sie reproduziert.Footnote 100

Guldenes KleinodtFootnote 101 und Praxis Pietatis (samt Wahrer Christlichen Andacht) erscheinen in den Jahren 1633 und 1634 in Straßburg – wie zuvor die Katechismusschule – bei Caspar Dietzel. Die Praxis Pietatis hat dabei vor ihrer Drucklegung wohl eine weitere Überarbeitung nach den reformorthodoxen Vorstellungen erfahren,Footnote 102 was eine mögliche Erklärung dafür darstellt, dass sie ein Jahr nach dem Kleinodt gedruckt wurde.

Die englischen Erbauungsbücher entsprechen den Wertevorstellungen, die im Straßburger Co-System ‚Luthertum‘ unter Schmidt zentral geworden waren: Ihre Lektüre sollte – wie die Lüneburger Paratexte betonen – die Fähigkeit der Eltern zur christlichen Unterweisung des Haushalts verbessern und zu einer praktischen Umsetzung des Gelesenen führen. Ein christlich disziplinierter Tagesablauf, wie ihn die Praxis Pietatis beschreibt, und die Unterweisung zur Meditation waren in der Erbauungsliteratur bis dahin weniger verbreitet, Schmidts Reformbestrebungen machten sie jedoch relevant. Nichtsdestoweniger sind konfessionelle Anpassungen an das lutherische Zielpublikum erforderlich, die jedoch zu großen Teilen bereits zuvor, vor der Drucklegung in Lüneburg, stattgefunden hatten. Die Verbindung zu der Lüneburger Offizin Stern – und damit zum Herzogtum Braunschweig-Lüneburg – kann als Austausch mit einer Nachbarregion verstanden werden, in der das System ‚Erbauungsliteratur‘ weiter entwickelt ist als in Straßburg. Schmidts Anregung und Genehmigung der jeweiligen Nachdrucke der in Lüneburg gedruckten Bücher stellen einen aktiven Selektionsprozess dar, der über die Werte der Zielkultur bestimmt ist.

Anzumerken ist auch, dass die Drucklegung der englischen Erbauungsbücher in Straßburg in die frühen 1630er Jahre fällt, also in die Zeit, in der die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges in der Reichsstadt ihren Höhepunkt erreichen. Dies stärkte vielleicht auch den Wunsch, durch Besserung der Frömmigkeit das ‚Strafgericht‘ abzuwenden.Footnote 103

3 Die englische Erbauungsliteratur und ihre Funktionalisierung bei Moscherosch

Schmidts Bemühungen um die Verbreitung von Erbauungstexten beschränken sich nicht auf die Veranlassung von Nachdrucken bereits vorliegender Texte. In der Zeit um 1640 erscheinen in Straßburg zwei weitere Erbauungsbücher, die in einem Zusammenhang mit dem Theologen stehen: 1640 beauftragte er den Pfarrer Friedrich Heuppel damit, einen vereinfachten Katechismus für den Gebrauch in Straßburg zu verfassen. Das Ergebnis ist die 1641 bei Johann Philip Mülbe gedruckte Christliche Hauß-Schul. Schmidt verfasst zu diesem Text eine Vorrede, in der nochmals deutlich wird, wie wichtig Katechismusunterricht und Jugenderziehung in der Reformorthodoxie sind:

Solches [der Unterricht der Pfarrkinder – S.D.] kan nun auff keine bessere weise geschehen/ alß wa wir den lieben Catechismum/ vnd die Hauptstck Christlicher Lehr/ mit allem ernst in sie pflantzen/ stets mit jhnen treiben/ nothwendige Frag vnnd Antwort jhnen vortragen/ nachmal wider von jhnen begeren vnd anhren; fleissig forschen/ ob sie auch/ was sie sagen/ verstehen/ waß dunckel ist/ jhnen erklren […] auch/ wenn sie nun die erkdtnuß vnd wissenschafft deß Glaubens haben/ […] bei jhnen auf die praxin vnnd bung eyferig gringen/ mit beweglicher erinnerung/ daß nicht die gutes nur wissen/ sondern die es auch thun/ vnder die Kinder Gottes vnd die Zahl der seeligen gehren Matth. 7. Joh. 13.Footnote 104

Dass Schmidt die Hauß-Schul in Auftrag gibt, kann sowohl als Hinweis darauf verstanden werden, dass die importierten Erbauungsbücher in den frühen 1640er Jahren nicht mehr als ausreichend für die Anforderungen der Reformbestrebungen angesehen wurden, als auch darauf, dass der ‚Rückstand‘ der Erbauungsliteratur aufgeholt war, sodass nun die ‚Eigenproduktion‘ beginnen konnte.

Ebenso in der Reformorthodoxie verwurzelt, jedoch im Hinblick auf die englische Erbauungsliteratur interessanter ist Johann Michael Moscheroschs Erbauungsbuch Insomnis Cura Parentum. Dieses wurde 1643 von Mülbe und 1653 in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung von dessen Nachfolger Josias Städel gedruckt.Footnote 105 Der Umgang Moscheroschs mit der englischen Erbauungsliteratur changiert in der Cura zwischen Autoritätsbezug und Konkurrenzgefüge und steht dabei im Zusammenhang mit der Selbstinszenierung des Autors.Footnote 106

Die Insomnis Cura Parentum stellt an mehreren Stellen Bezüge zu Johannes Schmidt und dessen Reformbestrebungen her. So ist das Buch Schmidt gewidmet,Footnote 107 was deswegen bemerkenswert erscheint, weil Moscherosch in seiner Studienzeit wohl kaum mit Schmidt im Kontakt stand.Footnote 108 In der von Bescheidenheitstopoi durchzogenen VorredeFootnote 109 begründet Moscherosch die Widmung an Schmidt auf zweifache Weise: Zum einen wolle er seiner Erleichterung Ausdruck verleihen, dass Schmidt – entgegen jüngsten Meldungen – nicht verstorben sei.Footnote 110 Zum anderen habe Schmidt einen großen Einfluss auf Moscheroschs Lebenswandel gehabt:

Dieweil E.H. ich/ von meinen mindern Jahren an/ in der Schule vnd der Kirche gehret/ vnd deßwegen nchst Gott mir eine grosse Glckseeligkeit zuschreibe. Hernach/ als mich Gott zu einer Amtsmannstelle erfordert/ die auch/ auff E.H. gnstiges geheiß vnd Vtterliches beyrathen ich angenommen/ vnd diß biß zu meines frommen Herren Todt […] versehen: Solche zeit vber/ in der Fremde daselbst dero gewesener Discipulen, Herrn Friderich Wolfframs/ vnd Herrn M. Sebastian Knigs/ Predigten successive bestndig besucht; damit gleichwol E.H. meines Christentumbs Rechnung anhren/ vnd sehen mgen/ was deren Lehre vnd Arbeyt bey mir gewürcket vnd gefruchtet habe.Footnote 111

Moscheroschs Beziehung zu Schmidt hat bis zur Veröffentlichung der Cura wohl vor allem indirekt über die Pfarrer Friedrich Wolffram und Sebastian König bestanden, mit denen Moscherosch private Freundschaften pflegte.Footnote 112 Deutlich wird an dieser Stelle das Anliegen, das Moscherosch mit der Publikation der Cura verfolgt: Es geht ihm darum zu zeigen, dass Schmidts Lehren – wenn auch indirekt vermittelt – bei ihm „gewürcket vnd gefruchtet“ haben, dass Moscherosch also ein Lutheraner nach der Vorstellung Schmidts ist. Und in der Tat setzt die Insomnis Cura Parentum die Reformvorstellungen Schmidts in mehrfacher Hinsicht um. So verbindet Moscherosch bereits zum Beginn der Widmungsvorrede eine Rechtfertigung seines Schreibunterfangens mit der Betonung von Nächstenliebe:

Dieses arme geringe Büchlein/ so ich vor drey viertel Jahren auß ngstlicher Vatters=sorge/ vnd mit betrbtem Hertzen/ meinen armen Kindern zur Nachricht/ vnd fast in Eyle geschrieben; wird begehrt/ daß es in Truck komme: welches doch meine gedancken zur selben Zeit/ als ich in der Noth sasse/ nicht gewesen. Doch/ so es meinem Mit=Christen auch nutzen kan/ vnd er es begehrt/ will ichs nicht hinderhalten.Footnote 113

Die Möglichkeit, mit der Drucklegung der Cura anderen Christen bei der Kindererziehung zu helfen, wird hier als ausschlaggebendes Argument für die Entscheidung angeführt, die vorgeblich nur für den privaten Gebrauch festgehaltenen Gedanken öffentlich zu machen. Der Legitimationsversuch ist wohl auch im Kontext der theologischen Laienhaftigkeit Moscheroschs zu verstehen.Footnote 114 Innerhalb der aktiven Frömmigkeitskonzeption Schmidts gewinnt das Argument, es handle sich bei der Publikation des Erbauungsbuchs um einen Akt der Nächstenliebe, jedoch zusätzliche Geltung.

Das Ideal der aktiven Frömmigkeit wird auch im Haupttext immer wieder betont und zu einem Leitprinzip der dort vorgestellten Erziehung gemacht. Das auf die Praxis bezogene Frömmigkeitsideal Moscheroschs wird im gesamten Text immer wieder erkennbar.Footnote 115 Seine deutlichste Ausprägung findet es dabei wohl im 8. Kapitel der Cura, das nahezu vollständig auf Latein verfasst ist.Footnote 116 Dort schreibt Moscherosch:

Quicquid discitis, quicquid agitis, hoc agite, Virtutem. Non illam Tertiæ Declinationis Nominum. Virtus non est Nomen quod declinari debet; sed Verbum quod Conjugari debet, & quidem regulariter, ut Activum & Passivum, non ut Deponens vel Neutrum. Hanc observationem novam habete ex Grammatica Parentis vestri.Footnote 117

Die Zuweisung der virtus zur Wortart der Verben stellt Moscheroschs Lehren metaphorisch in einen Zusammenhang mit den Leitvorstellungen Schmidts: Christliche Tugend ist für ihn nicht etwas, das man besitzt; sie besteht einzig und allein im Handeln. Man kann sie entweder aktiv ausführen oder passiv erfahren, eine Mischform wie bei den lateinischen Deponentia ist ausgeschlossen. Die Darstellung der Verhaltenslehre als Grammatik weist zudem auf den grundlegenden Stellenwert für die Lebensführung hin. Dadurch, dass diese Erläuterung in lateinischer Sprache gehalten ist, richtet sie sich nachdrücklich nur an die Söhne Moscheroschs (bzw. an die männlichen Leser), die einen bestimmten Bildungsstand erreicht haben. Dies ist wohl durch die hervorgehobene Bedeutung des Hausvaters innerhalb der lutherischen Orthodoxie, die in der Reformorthodoxie nochmals verstärkt wird, zu erklären.Footnote 118

Noch ein anderer Reformgedanke Schmidts, der sich in der Insomnis Cura Parentum wiederfindet, verdient Aufmerksamkeit. Nachdem Moscherosch sich in den ersten 19 Kapiteln des Erbauungsbuchs mit Themen wie der Berufswahl und den Pflichten eines Ehemanns oder einer Ehefrau auseinandersetzt, vollzieht sich nach etwa der Hälfte ein subtiler, aber bedeutender Adressatenwechsel. Das 20. Kapitel beginnt mit den Worten:

Wann jhr nun zum Haußwesen von Gott beruffen/ vnd mit Leibes=frchten vnnd Kindern gesegnet werdet; so stellet es also an/ dz jhr ewere Kinder nach aller dieser Lehre zur Ehre Gottes fleissig aufferziehen mget.Footnote 119

Die darauffolgenden Kapitel, die etwa die Hälfte des Erbauungsbuchs ausmachen, befassen sich dann mit der Kindererziehung. Auf diese Weise adressiert Moscherosch seine Kinder von nun an nicht mehr nur als Kinder, sondern zugleich auch als zukünftige Eltern. Schmidt hatte betont, dass eine gute christliche Kindererziehung vor allem innerhalb der Familie durch die Eltern geschehen müsse, dies aber zuerst die christliche Erziehung der Eltern selbst erfordere. Durch den verdoppelten Adressatenbezug wird diese Anforderung in der Insomnis Cura Parentum umgesetzt.

Diese erkennbare Annäherung an die Reformideen Johann Schmidts kann im Rahmen einer Inszenierungsstrategie verstanden werden. Simon Zeisberg weist darauf hin, dass Moscherosch eine solche mit den in der Cura wiederholt vorkommenden Behauptungen von Dringlichkeit verfolgt: Moscherosch inszeniere die Spontaneität und Authentizität seiner Schreibsituation durch die Verwendung verschiedener Topoi, die von Moscherosch betonte Kunstlosigkeit des Textes trage so zu ihrem hohen Wirkungsgrad bei.Footnote 120 Insbesondere in den Paratexten mache Moscherosch sein rhetorisches Können bemerkbar, sodass die beiden Rollenprofile ‚besorgter Hausvater‘ und ‚weltgewandter Gelehrter‘ beide intakt bleiben können.Footnote 121 Die Inszenierung der Schreibsituation tritt dabei noch deutlicher hervor, führt man sich vor Augen, dass die Ausgabe B der Cura aus dem Jahr 1653 mehr als 400 Bearbeitungen aufweist,Footnote 122 die Dringlichkeit des Gesagten aber weiterhin behauptet wird.Footnote 123

Anschließend an die Beobachtung Zeisbergs stellt sich die Frage, ob Moscherosch sein Schreiben nicht auch in anderer Hinsicht inszeniert hat; die erkennbare Annäherung an Johann Schmidt und seine Reformbestrebungen scheint beabsichtigt zu sein, zumal Moscherosch betont, er wolle Schmidt zeigen, dass dessen Lehren von ihm aufgenommen werden. Anzunehmen ist, dass eine ihm selbst gewidmete Schrift von Schmidt nicht unbemerkt blieb, insbesondere wenn sie seine Frömmigkeitsideale aufgreift und ausführt. Ein ähnlich kalkuliertes Vorgehen nimmt Walter Ernst Schäfer für die Entstehung von Moscheroschs deutsch-französischem Wörterbuch Technologie Allemande & Françoise (1656) an, das er als Bewerbungsschrift für eine Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft wertet.Footnote 124 Im Fall der Insomnis Cura Parentum ist das Verständnis als ‚Bewerbung‘ – diesmal um die Gunst des einflussreichen Theologen Schmidt – noch um zwei weitere Faktoren zu ergänzen. Zum einen schreibt Moscherosch als theologischer Laie ein Erbauungsbuch; die Bezugnahme auf einen wichtigen Theologen kann damit auch Teil einer Legitimationsstrategie sein. Zum anderen kann angenommen werden, dass Moscherosch die Cura auf Anregung seiner Verlegers Mülbe hin verfasste.Footnote 125 Dieser hatte 1641 bereits Heuppels Hauß-Schule gedruckt und wusste demnach um Schmidts Interesse an Erbauungsliteratur, die der reformorthodoxen Frömmigkeitskonzeption entsprach. Die Inszenierung als reformorthodoxer Lutheraner war im Übrigen wohl erfolgreich: 1645, zwei Jahre nach der Erstpublikation der Cura, wurde Moscherosch zum Fiskal am Straßburger Policey-Gericht ernannt, was ohne die Unterstützung einer einflussreichen Person wie Schmidt nicht möglich gewesen wäre.Footnote 126

Moscheroschs Selbstdarstellung als Lutheraner nach Schmidts Vorstellungen geht dabei über die Betonung gemeinsamer Frömmigkeitsideale hinaus. Immer wieder – und besonders deutlich in der Ausgabe B von 1653 – nimmt Moscherosch Bezug auf die englische Erbauungsliteratur in Gestalt von Guldenem Kleinodt, Praxis Pietatis und Nosce te ipsum – also auf Texte, deren Rezeption in Straßburg Schmidt befürwortet hatte. In der Erstausgabe der Cura finden sich immerhin vier Verweise auf diese Texte,Footnote 127 in der überarbeiteten Ausgabe B sind es 25. Es handelt sich bei diesen Verweisen vor allem um Empfehlungen zur (weiterführenden) Lektüre.

Das wichtigste der englischen Erbauungsbücher scheint für Moscherosch die Praxis Pietatis zu sein. Der einmaligen Erwähnung dieses Textes in der Ausgabe von 1643Footnote 128 stehen neun in der Ausgabe B entgegen.Footnote 129 Die hervorgehobene Bedeutung der Praxis Pietatis scheint in ihrer lutherischen Bearbeitung begründet zu sein. So empfiehlt Moscherosch auch die Lektüre von Dykes Nosce te ipsum, allerdings „dergestalt/ das jhr euͦch an etlichen reden/ so wider die Reinigkeit des Evangelij gehen/ nicht rgert: biß es/ wie mit der Praxi Pietatis lblich geschehen/ gelutert werde“.Footnote 130 In der Ausgabe B empfiehlt Moscherosch das Buch dann mehrfach als weiterführende Lektüre, etwa zum Thema des Umgangs mit dem Nächsten: „Zu diesem Capitel wollet jhr in sonderheit lesen/ die vortreffliche vnderweisung/ so in der Praxi Pietatis zu finden ist Cap. 17. Blat. 203. 204. 210. 213. 221“.Footnote 131 Auch die Ermahnung zu christlichen Pflichten wie dem Gebet (vgl. Cura, S. 296) und der Gabe von AlmosenFootnote 132 werden in den Marginalien über Verweise auf die Praxis Pietatis ergänzt. Der Stellenwert der Praxis Pietatis innerhalb der Cura geht dabei über den eines empfehlenswerten Textes hinaus: Indem Moscherosch auf sie verweist, wird auch deutlich, dass seine eigenen Lehren in vielen Punkten denen der Praxis Pietatis entsprechen. Insbesondere in der Ausgabe B wird der Text damit zu einer Autorität, mit der Moscherosch seine Unterweisung zusätzlich absichert.

Diese Verweispraktik stellt die Praxis Pietatis in die Nähe anderer theologisch-erbaulicher Texte, auf die Moscherosch Bezug nimmt, etwa die Werke Martin Luthers, Johann Michael Dillherrs, Bartholomäus Ringwaldts und Johannes Schmidts selbst. Über den Einzug von Autoritäten hinaus tragen diese Verweise – verstärkt in der Ausgabe B – auch zur Inszenierung Moscheroschs als Leser bestimmter Bücher bei. Die oft sogar mit Angaben des Kapitels oder der Seitenzahl verbundenen Bezugnahmen machen deutlich, dass Moscherosch selbst diese Texte gründlich gelesen haben muss. Die Zitate und Verweise können im Kontext der Legitimation des eigenen Schreibens gesehen werden: Durch die Bezugnahmen auf theologische Autoritäten sichert Moscherosch sein Erbauungsbuch vor Angriffen ab. Eng damit verbunden ist aber auch, dass das Anführen bestimmter Referenzgrößen die Selbstdarstellung Moscheroschs als gelehrter Laie und guter (reformorthodoxer) Lutheraner unterstützt. Bemerkenswert ist nun, dass zu dieser Art der Selbstinszenierung Verweise auf die Praxis Pietatis ebenso dazugehören wie solche auf Martin Luther oder Bartholomäus Ringwaldt. Indem Moscherosch die Praxis Pietatis zur Lektüre empfiehlt, verdeutlicht er dabei nicht nur, dass seine Lehren denen der (Straßburger) Bearbeitung des englischen Erbauungsbuchs entsprechen. Er macht zugleich deutlich, dass er sie – genau wie Schmidt – als einen lesenswerten Text versteht.

Während die Verwendung der englischen Erbauungsliteratur im Rahmen einer Selbstinszenierung bereits darauf hindeutet, dass diese Texte auch in den Jahrzehnten nach ihrer Einführung in den Gebrauch der Straßburger Kirche einen hohen Stellenwert innehaben, gewinnt Moscheroschs Vorgehen weitere Komplexität, vergleicht man es mit seinem Umgang mit demjenigen englischen Erbauungsbuch, das für die Produktion der Cura am wichtigsten gewesen sein dürfte. Moscherosch beruft sich in der Vorrede an seine Ehefrau Anna Maria explizit auf ein englisches Erbauungsbuch, das für seine Entscheidung, ein eignes Erbauungsbuch zu schreiben, ausschlaggebend gewesen sei:

Hierzu [zum Schreiben – S.D.] aber hat mich auch desto mehr auffs newe angemahnet, ein kleines Engelndisches Bchlein, genant: Testament, so ein Mutter jhrem vngebornen Kindt gemacht hat, welches mir vor etlich wochen durch meiner geehrten Herren vnnd Freunde Joh. Philips Mülben in Straßburg, zugeschickt worden.Footnote 133

Bei dem „engelndischen Bchlein“ handelt es sich um Elizabeth Jocelyns 1624 veröffentlichtes Erbauungsbuch The Mothers Legacy to her Vnborne Childe. Zwar wird eine deutsche Übersetzung von The Mothers Legacy 1647 als Anhang einer Ausgabe der Cura abgedruckt,Footnote 134 diese Ausgabe ist jedoch nicht autorisiert und gibt Hinweise darauf, dass Moscherosch Jocelyns Traktat bereits in deutscher Übersetzung – unter dem Titel Testament/ so eine Mutter jhrem noch vngebornen Kind gemacht hat – gelesen hat.Footnote 135 Interessanter jedoch als die Sprache, in der Moscherosch den Traktat rezipiert haben mag, erscheint hier die Frage, welchen Einfluss The Mothers Legacy auf die Cura hat und inwiefern dieser explizit gemacht wird.

Moscherosch übernimmt mehrere strukturelle Eigenschaften aus Jocelyns Text, insbesondere die anfängliche Adressierung der Ehefrau, den Briefaufbau der Einzelkapitel und das abschließende Gebet.Footnote 136 Auch auf inhaltlicher Ebene finden sich Parallelen, was etwa die Ermahnungen zum Einhalten des Sonntags und die Kritik an extravaganter Kleidung betrifft.Footnote 137 Neben diesen Gemeinsamkeiten finden sich in der Cura mehrere Textpassagen, die nahezu wörtlich aus Joceylns Traktat übernommen sind, wie die folgende Gegenüberstellung der deutschen Übersetzung von The Mothers Legacy mit der Erstfassung der Cura zeigt, die Parallelen im Fettdruck hervorhebt:

Alles was du wilt, das dir die Leute thun sollen/ daß thue jhnen auch/ vnnd hergegen alles was du wilt, das dir die Leute nicht thun sollen/ das thue jhnen auch nicht/ das ist der Befehl/ den vns vnser Seligmacher gegeben/ […]. Ein jeder liebt sich selbst und ist gleichwol auff seinen Nechsten neidisch/ oder aber veracht jhn. Vber das/ ist der Teuffel so arg/ weil er weiß/ daß jhm nicht jn seinem Kram dienet/ wann die Menschen sich untereinander herzlich lieben/ daß er sich allerley R ncken/ die ihm m glich seynd gebraucht/ vneinigkeit zwischen ihnen anzuz nden/ oder jn jhrer Liebe Heucheley einzumengen.Footnote 138

Alles was jhr wolt, das euch die Leutte thun sollen, daß thut jhnen auch. Vnd: was jhr wollet, das euch die Leutte nicht thun sollen, das thut jhnen auch nicht. Hierin bestehet das gantze Geschriebene Geistliche und Weltliche Recht: Ja, daß Recht der Natur selbsten. Es ist aber der Teuffel so arg, weil er weiß daß es jhm in seinem Kram nicht dienet, wann die Menschen einander lieben, daß er allerley r ncke vnd liste brauchet, Vneinigkeit, auch zwischen nahen und Bluts-freunden, offt vmb geringer ursachen, vnd vmb zeitlichen Guts willen, auch offt vmb nichts, oder wegen blosser Einbildung anzuz nden.Footnote 139

Während die Parallele am Anfang beider Textstellen auch über die verbreitete Verhaltensmaxime erklärt werden kann, ähneln sich diejenigen Sätze, in denen beide Autoren die ‚Ränke des Teufels‘ beschreiben, einander wohl zu sehr, als dass ihre Verwendung in beiden Texten zufällig zustande gekommen sein könnte. Insgesamt finden sich in der Cura mindestens 16 Textpassagen, die den Wortlaut des Testaments übernehmen oder ihm stark ähneln.Footnote 140

Dieses Vorgehen erscheint insofern bemerkenswert, als es im Kontrast zum oben skizzierten Umgang mit der Praxis Pietatis steht. Mit 16 Zitaten wäre The Mothers Legacy für die Erstausgabe der Cura der am zweithäufigsten zitierte Text nach der Bibel, und auch in der überarbeiteten Ausgabe von 1653, in der sich die Zahl der zitierten Texte und der markierten Zitate und Verweise stark erhöht, wäre The Mothers Legacy das am häufigsten zitierte Erbauungsbuch. Die Insomnis Cura Parentum ist damit durch die Übernahme von strukturellen Eigenschaften und mehreren Textpassagen stärker von Jocelyns Traktat abhängig, als die einmalige Erwähnung im Text es ahnen ließe.

Ein Hinweis darauf, warum Moscherosch dieses Abhängigkeitsverhältnis verschleiert, liefert wiederum die Vorrede an seine Ehefrau. Er schreibt dort über das Testament:

Auß welchem Bchlein/ nach berlesung desselben/ ich […] bey mir also gesagt: Thut dis ein Weib? vnd zwar gegen jhrem vngebornen Kind? vnd in einer sichern wolverwahreten Statt? in gutem Frieden? Was soll dan ich? ein Mann? gegen meinen lieben Kindern? in diesem vnsicheren vnd gefhrlichen Orth nicht thun wollen vnd sollen? Der ich allem usserlichen ansehen nach/ wo Gott mir nicht gendigste Rettung thut […] in dieser vnvermeidlichen Gefahr des lebens/ meine Kinder endlichen als arme Waysen nach mir werde verlassen mssen.Footnote 141

Moscherosch sieht seine eigene Situation als dringlicher an als die Jocelyns, er beschreibt sich nahezu in einem Konkurrenzverhältnis zu der englischen Autorin, deren Situation – laut Moscherosch – einen ‚christlichen Nachlass‘ bei weitem weniger dringlich erfordert als seine eigene. Dass die Abhängigkeit der Cura von Jocelyns Traktat von Moscherosch auf ein Anregungsverhältnis reduziert wird, erscheint im Kontext dieser Konkurrenz verständlich, hätte eine erkennbare Abhängigkeit von diesem Text doch die Bedeutung seines eigenen Erbauungsbuchs als Ausdruck väterlicher Fürsorge geringer erscheinen lassen. Ohne die Kenntnis des englischen Traktats sind die Ähnlichkeiten der Textstruktur jedoch nicht zu erkennen; die Übernahme von Textpassagen wird erst durch einen genauen Vergleich beider Texte erkennbar. Durch die aktive Verschleierung der Übernahmen aus The Mothers Legacy gelingt es Moscherosch, die Insomnis Cura Parentum als vollkommen eigenständig verfassten Text darzustellen, er kann aber gleichzeitig seine Selbstinszenierung als Leser englischer Erbauungstexte beibehalten.

Dass Moscherosch Verweise auf die englische Erbauungsliteratur im Rahmen seiner Selbstinszenierung nutzen kann, weist auf ihren hohen Stellenwert innerhalb der Straßburger Kirche hin. In diesem Zusammenhang ist auch der widersprüchliche Umgang Moscheroschs mit seiner englischen Vorlage zu erklären: Indem er deutlich macht, dass er selbstständig Erbauungsliteratur englischen Ursprungs liest, verstärkt er auch die Nähe zu Schmidts Frömmigkeitsideal bereits in der Erstausgabe der Cura, in der die anderen englischen Bücher weniger präsent sind als in der überarbeiteten Textfassung. Dass Moscherosch gleichzeitig das volle Maß der Abhängigkeit seiner Cura von der Vorlage verbirgt, ist wohl im Zusammenhang mit der in der frühen Neuzeit problembehafteten weiblichen Autorschaft zu verstehen,Footnote 142 wobei sich Moscheroschs Konkurrenzverhältnis zu Jocelyn durch Selbstverständnis und Inszenierung als reformorthodoxer Hausvater womöglich nochmals zuspitzt. Wenn Moscherosch in der überarbeiteten Ausgabe B der Cura die Bezugnahme auf die englischen Erbauungsbücher verstärkt, deutet das darauf hin, dass die englischen Erbauungsbücher auch 20 Jahre nach ihrer Einführung in den Straßburger Kirchenkonvent ihren Stellenwert nicht eingebüßt haben.

4 Fazit

Die oben beschriebenen Übersetzungs- und Rezeptionsprozesse lassen sich mit Hilfe der polysystemischen Übersetzungstheorie Itamar Even-Zohars beschreiben: Der Akzent, den Schmidt auf die private Hausandacht legt, trägt dazu bei, dass das System ‚Erbauungsliteratur‘ in Straßburg unterentwickelt wirkt; es entsteht damit ein Bedarf, der über die bereits kursierende englische Erbauungsliteratur gestillt wird (ökonomisch gesehen könnte man von einer Marktlücke sprechen).

Für die Verbreitung der Bücher selbst sind jedoch auch Entwicklungen des Buchhandels von Bedeutung: So scheint die Beziehung, die sich wohl über Gesenius’ Katechismusschule zwischen Schmidt und der Offizin Stern entwickelt, auch für den Nachdruck der Praxis Pietatis und des Güldenen Kleinodts in Straßburg von großer Bedeutung zu sein. Ebenso sind die finanziellen Interessen der Offizin Mülbe ausschlaggebend für Moscheroschs Erbauungsbuch Insomnis Cura Parentum. Denkbar ist hier, dass Mülbe nach der Drucklegung von Heuppels Hauß-Schule die Marktlücke der reformorthodox geprägten Erbauungsliteratur bewusst wurde und er Moscherosch zum Schreiben eines solchen Buchs anregte, indem er ihm Jocelyns Traktat zukommen ließ.

Moscherosch scheint nun die englische Erbauungsliteratur im Rahmen einer komplexen Selbstinszenierung nutzen zu können: Nicht nur macht er in der Insomnis Cura Parentum deutlich, dass er mit Johann Schmidt eine aktive Frömmigkeitskonzeption und die Bemühung um die Verbesserung der privaten Frömmigkeit teilt. Er verdeutlicht, dass er englische Erbauungsliteratur – und insbesondere die von Schmidt eingeführten Bücher – rezipiert hat und dass seine Ratschläge mit diesen konform sind. Auch der exponierte Verweis auf eine englische Vorlage ist in diesem Zusammenhang zu verstehen; zugleich werden die Berührungspunkte zwischen der Cura und Jocelyns Traktat von Moscherosch verborgen. Dieses Vorgehen steht der Verwendung der Praxis Pietatis gegenüber und kann zum einen dadurch erklärt werden, dass der Praxis Pietatis, deren Drucklegung in Straßburg wohl von Schmidt selbst initiiert wurde, eine Autorität zukommt, die Jocelyns Text fehlt. Zum anderen muss es aber im Kontext weiblicher Autorschaft und dem von Moscherosch selbst hergestellten Konkurrenzverhältnis gesehen werden.

Es scheint sinnvoll, die Rezeption von fremdsprachigen und konfessionell andersartigen Texten im Hinblick auf regionsspezifische Besonderheiten im Kontext der Konfessions- und Geistesgeschichte zu untersuchen, da sich so systemische Schwächen und Rückstände besser identifizieren lassen. Ein wichtiger Faktor ist dabei im Buchhandel und in personellen Netzwerken zu sehen, die die Verbreitung von Texten ermöglichen oder beschleunigen können. Auf den ersten Blick ‚einfache‘ Texte wie Moscheroschs Insomnis Cura Parentum können in diesem Rahmen an komplexen Dynamiken teilhaben und diese sogar aufgreifen, um sie sich zu Nutze zu machen, etwa durch die Inszenierungen von gemeinsamen Werten und Konkurrenzgefügen.