1 Eine Pilgerreise auf Umwegen

John Bunyans The pilgrim’s progress from this world to that which is to come ist das wohl erfolgreichste Werk der frühneuzeitlichen englischen Erbauungsliteratur, ein die Jahrhunderte bis heute überdauernder Longseller mit weltweiter Verbreitung und Übersetzungen in mehr als 200 Sprachen.Footnote 1

Das englische Original von Bunyans Pilgrim’s Progress datiert aus dem Jahr 1678, das Frontispiz erschien erstmals in der dritten Auflage von 1679.Footnote 2 Die deutsche Übersetzung kam mit einem zeitlichen Abstand von sieben Jahren 1685 unter dem Titel Eines Christen Reise nach der Seeligen Ewigkeit (Bunyan 1685) heraus. Ein vergleichender Blick auf Frontispiz und Titelseiten der beiden Ausgaben (Abb. 6.1 und 6.2) macht deutlich, dass es keine Übereinstimmungen gibt, weder hinsichtlich des Bildes noch bezüglich der Formulierung des Titels. Die Erklärung hierfür liefert die deutsche Titelseite mit dem Hinweis: „In Englischer Sprache beschrieben […] Hernach in Niederlandische/ und nun umb seiner Fürtrefflichkeit willen in die Hochteutsche Sprache übersetzet.“ Die Abfolge der genannten Sprachen – Englisch, Niederländisch, Deutsch – bezeichnet nicht nur die zeitliche Folge des Erscheinens, sondern auch die translatorische Abhängigkeit. Die deutsche Übersetzung basiert nicht auf der englischen Originalausgabe, ihre Vorlage ist die bereits 1682 in Amsterdam unter dem Titel Eens christens reyse na de eeuwigheyt erschienene niederländische Übersetzung (Bunyan 1682) (Abb. 6.3).

Abb. 6.1
figure 1

Frontispiz und Titelseite der dritten englischen Ausgabe von 1679

Abb. 6.2
figure 2

Frontispiz und Titelseite der deutschen Übersetzung von 1685

Abb. 6.3
figure 3

Frontispiz und Titelseite der zweiten niederländischen Auflage von 1683

Der Vergleich der niederländischen und deutschen Ausgaben (Abb. 6.2 und 6.3) zeigt die unmittelbare Abhängigkeit. Die deutsche Ausgabe übernimmt nicht nur das niederländische Frontispiz, sondern bietet auch eine getreue Übersetzung des vom englischen Original deutlich abweichenden niederländischen Titels, lediglich erweitert um das Adjektiv „selig“:

The pilgrim’s progress from this world to that which is to come.

Eens christens reyse na de eeuwigheyt.

Eines Christen Reise nach der Seeligen Ewigkeit.

Auch der Hinweis auf die beteiligten Sprachen und die „Fürtrefflichkeit“ des Buches erweist sich bei genauer Betrachtung nicht als Formulierung des deutschen Verlegers, sondern als Übersetzung der wortgleichen Formulierung auf dem niederländischen Titelblatt, die lediglich um die Nennung des Niederländischen als Mittlersprache erweitert wurde:

In ‘t Engels beschreven door Mr. Joannes Bunjan […]

En nu om des selfs voortreffelijkheydt in ‘t Nederlants vertaalt.

In Englischer Sprache beschrieben Durch Mr. Johannem Bunian […]

Hernach in Niederlandische,

und nun umb seiner Fürtrefflichkeit willen in die Hochteutsche Sprache übersetzet durch J.L.M.C.

Anders als der niederländische Titel nennt der deutsche einen Übersetzer in Form der Initialen J.L.M.C., aufzulösen als: Johann Lange, Medicinae Candidatus. Der Hamburger Wundarzt Johann Lange (†~1696) gehörte zu den produktivsten Übersetzern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Viele seiner Übersetzungen sind indirekte. Neben zahlreichen englischen finden sich auch italienische und französische Werke, die er auf dem Umweg über das Niederländische übersetzt hat.Footnote 3 Von Bunyan übersetzte Lange zwischen 1685 und 1694 die drei Hauptwerke Eines Christen Reise nach der Seeligen Ewigkeit (The Pilgrim’s Progress), Mr. Quaats Leben und Sterben (The Life and Death of Mr. Badman) und Der Heilige Krieg (The Holy War), allesamt aus dem Niederländischen.

Bei einem näheren Vergleich der englischen, niederländischen und deutschen Ausgabe des Pilgrim’s Progress wird schnell deutlich, dass Lange bei seiner Übersetzung keinerlei Gebrauch vom englischen Original gemacht hat. Das zeigen neben dem Haupttext auch alle paratextuellen Elemente. Die „Vorrede an den Leser“ etwa gibt es im englischen Original nicht, es ist die Übersetzung der Vorrede des niederländischen Verlegers Johannes Boekholt. Auch die zahlreichen, über den gesamten Text verstreut eingefügten Lieder und Gedichte zeigen in der deutschen Ausgabe wenig Ähnlichkeit mit den englischen Vorlagen, sie sind – auf eine z. T. sehr unbeholfene Weise – nach der niederländischen Fassung ins Deutsche übertragen worden, wie das hier stellvertretend zitierte Beispiel deutlich werden lässt.

Come in, Come in;

Eternal glory thou shalt win. (47)

 

Kom dog, ey! kom dog in:

Ey kommet, kommet doch herein

En ‘s Hemels Heerlikheyt,

Hier in des Himmels Herrlichkeit,

Wert tot in Eeuwigheyt,

Die biß in alle Ewigkeit,

Voorseker u gewin. (53)

Nun eu’r Gewinn und Lohn wird seyn! (63)

Auch anhand des Haupttextes lässt sich der Abhängigkeitsnachweis leicht führen. Die größte Überzeugungskraft kommt auffälligen Fehlern und textlichen Abweichungen zu, die ihren Ursprung nicht im Englischen haben können. Hier sei nur ein Beispiel gegeben, das freilich so prägnant ist, dass es als Beweis für das Fortleben dieser indirekt auf dem Niederländischen basierenden Übersetzung bis ins 19. Jh. gelten kann. In der betreffenden Szene begegnet der Pilger auf seinem Weg einem heuchlerischen Mitpilger, der sich als Anhänger einer ‚commoden‘ Religion, als Schönwetter-Christ entpuppt: „[…] we are always most zealous when religion goes in his silver slippers; we love much to walk with him in the street, if the sun shines and the people applaud him“ (168–169). Das in diesem Zusammenhang mehrfach gebrauchte Bild der Religion „in his silver slippers“ liefert ein aufschlussreiches Merkmal für die Abhängigkeit der Übersetzungen untereinander. Dabei ergibt sich eine Art Stille Post-Effekt vom englischen Original über die niederländische und deutsche Übersetzung bis hin zu der auf dem Deutschen basierenden schwedischen Übersetzung aus dritter Hand (Bunyan 1717):

Englisch

… when in his Silver Slippers. (170)

Niederländisch

… wanneer se in silvere muylen wandelt. (189)

Deutsch

… wenn sie auff silbernen MaulEseln wandelt. (231)

Schwedisch

… när hon rider på Sölfwer Mulasnor. (149)

 

(… wenn sie reitet auf silbernen Mauleseln.)

Wie lässt es sich erklären, dass aus den silver slippers im Deutschen silberne Maulesel werden? Die Antwort liefert der niederländische Text, der slippers mit muilen übersetzt, ein polysemes Wort, das dem deutschen Übersetzer in der hier allein passenden Bedeutung offensichtlich unbekannt war. Sein Zeitgenosse Matthias Kramer, der bedeutendste deutsche ‚Sprachmeister‘ des Barock, unterscheidet in seinem niederländisch-deutschen Wörterbuch von 1719 drei Bedeutungen für muil: (1) Maul eines Thiers […], (2) Maul-esel, Maul-thier […] und (3) Muilen plur. Pantoffeln […], wobei er als Erklärung ergänzt: „Pantöffel seynd Schuhe ohne Fersen- oder Hinter-stücke“,Footnote 4 also eben die slippers, von denen bei Bunyan die Rede ist. Ungeachtet seiner offensichtlichen Unsinnigkeit wird der deutsche Text mit dem Bild der „auf silbernen Mauleseln wandelnden“ Religion bis in die 1830er Jahre immer wieder unverändert gedruckt und liefert damit den Beweis für die Langlebigkeit dieser ersten, über das Niederländische zustande gekommenen Umwegübersetzung von Bunyans Pilgrim’s Progress.Footnote 5

Vergleichbare Beispiele für die Abhängigkeit der deutschen Übersetzung von der niederländischen finden sich in großer Zahl. Hier sei nur noch kurz auf die sprechenden allegorischen Namen hingewiesen, die einen besonders anschaulichen Bereich für die Vorlagenabhängigkeit der deutschen Übersetzung bilden. Die obige Tabelle (Tab. 6.1) zeigt anhand weniger Beispiele, dass die Namen der deutschen Erstausgabe bis auf wenige Ausnahmen lexikalisch und morphologisch absolut getreue Lehnbildungen der niederländischen Namen sind. Zum Vergleich sind in der vierten Spalte die Namen der ersten direkt auf das englische Original zurückgehenden deutschen Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert genannt.

Tab. 6.1 Sprechende Namen in Bunyans Pilgrim’s Progress

Die Tatsache, dass wir es bei der ersten deutschen Ausgabe von Bunyans Pilgrim’s Progress mit einer indirekten Übersetzung aus dem Niederländischen zu tun haben, sollte in der Forschung spätestens seit dem Erscheinen der Gießener Dissertation von Auguste Sann (1951) allgemein bekannt sein. Dennoch gerät dieses für die Beurteilung und Interpretation einer Übersetzung wesentliche Faktum des Umwegs über eine andere Sprache immer wieder aus dem Blick, wenn Germanisten und Anglisten sich mit der Bunyan-Rezeption in Deutschland beschäftigen.Footnote 6

2 Zur Editionsgeschichte der frühen deutschen Bunyan-Ausgaben

Nicht nur der Pilgrim macht auf seiner Reise nach Deutschland den Umweg über die Niederlande, sondern auch alle anderen vor dem 18. Jahrhundert erschienenen deutschen Übersetzungen von Bunyan-Werken, auch wenn dies nicht immer – und mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer weniger – auf den Titelblättern Erwähnung findet.Footnote 7 Vergleicht man die frühen niederländischen und deutschen Ausgaben, dann sieht man mit einer gewissen Zeitverzögerung eine absolute Parallelität in der Auswahl der Werke, der Reihenfolge ihres Erscheinens, der Ausführung der Frontispize und der Formulierung der Titel (vgl. Tab. 6.2).

Tab. 6.2 Vergleich der vor 1700 erschienenen niederländischen und deutschen Bunyan-Ausgaben mit den englischen Originaltiteln

Die deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen von Bunyans Pilgrim’s Progress sind seit dem Erscheinen der ersten deutschen Ausgabe von 1685 bis heute auf den deutschsprachigen Buchmärkten ununterbrochen präsent gewesen. Im 18. und 19. Jh. erschienen zudem verschiedene deutschsprachige Ausgaben des Pilgrim’s Progress in England, speziell in London, und vor allem in den deutschen Pietistenkreisen in den USA. Die bibliografische Erfassung der sehr zahlreichen Ausgaben und Auflagen ist auch im digitalen Zeitalter nicht einfach, nicht zuletzt wegen der mehr als 15 verschiedenen Titelvarianten, in denen Bunyans Pilgerreise erschienen ist. Bemerkenswert ist in jedem Fall die erwähnte Langlebigkeit der ersten Übersetzung. Der Titel – Eines Christen Reise nach der seligen Ewigkeit – galt, wie auch die zugrundeliegende Übersetzung aus zweiter Hand, konkurrenzlos für anderthalb Jahrhunderte bis zum Beginn der 1830er Jahre. Die letzte mir bekannte Ausgabe auf Basis der aus dem Niederländischen erfolgten Übersetzung, in der die Religion noch „auf silbernen Maulseseln wandelt“, erschien 1831 in Harrisburgh in den USA.

Zwei Jahre später, 1833, erscheint im Hamburger Verlag F. H. Nestler und Melle unter dem neuen Titel Die Pilgerreise die erste direkt aus dem Englischen vorgenommene Übersetzung. Damit beginnt eine neue Rezeptionsphase von Bunyans Pilgrim’s Progress in Deutschland als massenhaft verbreitete Schrift im Rahmen der volksmissionarischen Tätigkeit der Neupietisten. Die neuen Ausgaben erscheinen in den so genannten Traktatgesellschaften und in einschlägigen Verlagen wie etwa dem 1828 in Hamburg gegründeten ersten deutschen Baptistenverlag Oncken und sie leben weiter in Ausgaben evangelikaler Verlage, wo sie auch nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen werden und bis heute in aktualisierten Textfassungen lieferbar sind. Die jüngste Auflage datiert aus dem laufenden Jahr 2021, erschienen im SCM R. Brockhaus Verlag in Holzgerlingen, der Teil der im Jahr 2000 gegründeten Stiftung Christliche Medien (SCM) ist.

Wenden wir uns aber wieder den frühen deutschen Ausgaben zu. Die Übersicht in Tab. 6.3 enthält nach Jahrzehnten gegliedert die Jahreszahlen aller bibliografisch nachweisbaren Drucke für die darin erfassten Hauptwerke Bunyans. Die Tabelle zeigt, dass es von diesen Werken bis in die 1830er Jahre keine anderen als indirekte Übersetzungen aus dem Niederländischen gibt.Footnote 8 Mit Blick auf dieses Faktum wäre es nicht nur interessant, sondern eigentlich geboten, die deutschen Fassungen mit den niederländischen und englischen nun in Form eines makro- und mikrostrukturellen Textvergleichs sprachlich und inhaltlich zu analysieren. Stellt sich doch die Frage, inwieweit der übersetzerische Umweg über eine andere Sprache etwa zu semantischen und begrifflichen Verschiebungen führt. Diese komplexe Fragestellung, deren Behandlung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, muss einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben.

Tab. 6.3 Chronologie des Erscheinens der erstmals vor 1700 ins Deutsche übersetzten Werke Bunyans

Im Folgenden wollen wir der übergreifenden Frage nachgehen, welche Bedeutung den Umwegübersetzungen in der frühen Neuzeit allgemein zukommt. Es handelt sich dabei insbesondere für das 17. Jh. um ein weitgehend unbestelltes Feld.

3 Die Bedeutung von Übersetzungen aus zweiter Hand in der Frühen Neuzeit

Indirekte Übersetzungen sind für die frühe Neuzeit ein bisher von der Forschung vernachlässigtes, in seiner Bedeutung und Häufigkeit stark unterschätztes Phänomen. Nicht zuletzt in der historischen Übersetzungswissenschaft ist das Bewusstsein dafür, dass wir es mit einer massenhaft auftretenden Erscheinung zu tun haben, kaum vorhanden. Terminologisch finden sich als synonyme Bezeichnungen neben der indirekten Übersetzung Begriffe wie Weiterübersetzung, Umwegübersetzung, Relaisübersetzung, Intermediärübersetzung, vermittelnde/vermittelte Übersetzung oder Übersetzung aus zweiter Hand. Letztere Form der Bezeichnung bietet die Möglichkeit, weiter zu differenzieren, da man damit auch von Übersetzungen aus dritter Hand etc. sprechen kann, die es ebenfalls in nennenswerter Anzahl gibt.

Die Frage nach der Bedeutung von indirekten Übersetzungen in der Frühen Neuzeit ist aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive bisher hauptsächlich mit Blick auf das Französische als Intermediärsprache untersucht worden. Die am Beginn der Forschung stehende Leipziger Dissertation von Marce Blassneck über Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. JahrhundertFootnote 9 fand zunächst keine Nachfolger. Erst in den 1980er Jahren ging ein neuer Impuls von Jürgen von Stackelberg aus, insbesondere von seiner Monografie Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert.Footnote 10 Umfangreichere Aufmerksamkeit wurde dem Thema dann ab 1985 im Rahmen des Göttinger Sonderforschungsbereichs „Die literarische Übersetzung“ zuteil. In diesem Kontext entstanden die Arbeiten von Wilhelm Graeber und Geneviève Roche, die vor allem mit ihrer Bibliografie Englische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts in französischer Übersetzung und deutscher WeiterübersetzungFootnote 11 den Blick auf die Bedeutung des Phänomens gelenkt haben. Jüngste grundlegende Studie zum Französischen als Intermediärsprache ist die Habilitationsschrift von Iris Plack, Indirekte Übersetzungen. Frankreich als Vermittler deutscher Literatur nach Italien, die ein Modell für eine allgemeine Typologie indirekter Übersetzungen entwickelt.Footnote 12 Der zeitliche Schwerpunkt der zuletzt genannten Arbeiten liegt nach dem 17. Jahrhundert. Bei Graeber und Roche (1988) ist es das 18. Jh., Plack (2015) richtet sich auf neuzeitliche deutsche Texte aus dem 18. und 19. Jh. (Schiller, E.T.A. Hoffmann, Kant, Nietzsche) und deren französische und italienische Übersetzungen bzw. Weiterübersetzungen aus dem 19. und 20. Jh.

Zur quantitativen und qualitativen Bedeutung der indirekten Übersetzungen für das 17. Jahrhundert fehlen bis heute ausführlichere Detailstudien oder Überblicksdarstellungen. Dies gilt insbesondere für die Frage, welche anderen Sprachen außer dem Französischen als Intermediärsprachen fungierten. Die bisher zu konstatierende einseitige Ausrichtung auf die Rolle des Französischen verdeckt die Tatsache, dass das Französische als Intermediärsprache lediglich ca. 30 % der indirekt ins Deutsche übersetzen Werke abdeckt, während mehr als zwei Drittel der indirekten Übersetzungen den Weg über andere Sprachen nehmen, wie im Folgenden gezeigt werden wird.

Im Phänomen der indirekten Übersetzungen spiegelt sich auch das kulturell und politisch höchst relevante Thema sprachen- und länderübergreifender Kommunikation im Rahmen der frühneuzeitlichen europäischen Mehrsprachigkeit. Mit Blick auf diese Fragestellung hat die historische Übersetzungsforschung gegenüber anderen Disziplinen Nachholbedarf, etwa gegenüber den Historikern, die in den zurückliegenden Jahren gründliche Studien zur Mehrsprachigkeit in der Diplomatie, etwa bei den großen Friedenskongressen des 17. und 18. Jahrhunderts vorgelegt haben.Footnote 13

Wie aus den zuvor genannten Titeln von Blassneck (1934) und Graeber und Roche (1988) hervorgeht, spielen indirekte Übersetzungen eine besonders wichtige Rolle beim Transfer englischer Literatur nach Deutschland.Footnote 14 Eine wesentliche Ursache für die Vielzahl indirekter Übersetzungen aus dem Englischen ist die geringe Verbreitung englischer Sprachkenntnisse auf dem Kontinent bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Als Beispiel kann hier Andreas Gryphius genannt werden, der nach Hans Kuhn zwar „vieler Sprachen mächtig“ war, aber „wohl nicht des Englischen“,Footnote 15 und der seine Übertragungen der Erbauungsschriften Richard Bakers nach dem von ihm gut beherrschten Niederländischen anfertigte.Footnote 16

Der Blick auf die englische Literatur des 17. Jahrhunderts rückt insbesondere das Genre der Erbauungsliteratur in den Mittelpunkt. Der Rezeption und Übersetzung englischer Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jh. sind bisher drei Monographien gewidmet.Footnote 17 Erschlossen werden die Übersetzungen durch Edgar C. McKenzies Bibliografie A catalog of British devotional and religious books in German translation.Footnote 18 Vor allem die protestantischen Theologen Sträter und van de Kamp haben in ihren Arbeiten nachdrücklich auf die besondere Bedeutung des Niederländischen als Intermediärsprache für die Übersetzung der englischen Erbauungsliteratur hingewiesen. Sträter kommt bei seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, „daß mehr als die Hälfe der ins Deutsche übersetzten englischen Erbauungsschriften auf niederländischen Vorlagen beruht.“Footnote 19

Ungeachtet dieser Erkenntnis ist die Bedeutung der niederländischen Sprache als Mittlersprache bisher kaum Gegenstand tiefergehender Forschung gewesen. Demgegenüber hat die Bedeutung der Niederlande als einer der wichtigsten kulturellen Transferräume des 17. Jh. sehr viel mehr Aufmerksamkeit gefunden. Speziell zu den deutsch-niederländischen Literaturbeziehungen bleibt Bornemann (1976) von Bedeutung, zur allgemeinen kulturellen und machtpolitischen Bedeutung der niederländischen Republik im europäischen Staatengefüge des 17. Jahrhunderts kann summarisch auf Horst Lademachers große Synthese Phönix aus der Asche? Politik und Kultur der niederländischen Republik im Europa des 17. JahrhundertsFootnote 20 hingewiesen werden. Im vorliegenden Kontext geht es vor allem auch um die Niederlande und insbesondere Amsterdam als magasin de l’univers, wie Voltaire die Stadt genannt hat, bzw. als Bookshop of the World, so der Titel der jüngsten Monographie zum Thema.Footnote 21 Speziell für die Bedeutung der Niederlande als Transferraum für Bücher von England nach Deutschland finden sich wichtige Beobachtungen auch in den Studien von Fabian (1992) und Willenberg (2008).

4 Welche Sprachen fungierten im 17. Jahrhundert als Intermediärsprachen?

In ihrer Habilitationsschrift hat Iris Plack eine differenzierte Typologie verschiedener Formen indirekter Übersetzungen vorgeschlagen, die zwischen Aneignung und Kontamination unterscheidet, d. h. Übersetzungen aus zweiter Hand, die ohne bzw. mit Konsultation des Originals zustande gekommen sind.Footnote 22 In beiden Fällen lassen sich sodann eingestandene von uneingestandenen Fällen unterscheiden, die als transparente bzw. opake Formen der Aneignung und Kontamination bezeichnet werden. Bei den Bunyan-Übertragungen und beim größten Teil der indirekten Übersetzungen von englischen Erbauungsschriften überhaupt handelt es sich um Übersetzungen ohne Konsultation des Originals, d. h. um eine – sei es transparente, sei es opake – Aneignung. Placks Feststellung: „In ‚Reinform‘, i.e. als Übersetzung auf der Grundlage einer bereits vorhandenen Übertragung ohne Konsultation des Originals, begegnet das Phänomen vergleichsweise selten“, mag für ihr Corpus mit literarischen Werken des 18.–20. Jh. zutreffen, für die Erbauungsliteratur und für die genreübergreifende Gesamtheit der indirekten Übersetzungen bis zur Mitte des 18. Jh. gilt sie wohl eher nicht.

Am Beispiel von Bunyans Pilgrim’s Progress kann man die Komplexität des Phänomens der indirekten Übersetzungen gut verdeutlichen. Die folgende Übersicht umfasst alle im ersten Jahrhundert nach Erscheinen des englischen Originals auf dem KontinentFootnote 23 erschienenen Übersetzungen in chronologischer Folge.

Englisch:

The pilgrim’s progress from this world to that which is to come (London, 1678)

Niederländisch:

Eens christens reyse na de eeuwigheyt (Amsterdam, 1682)

Französisch/1:

Voyage d’un Chrestien vers l’eternité (Amsterdam, 1685)

Deutsch:

Eines Christen Reise Nach der Seeligen Ewigkeit (Hamburg, 1685)

Französisch/2:

Le voyage d’un chrétien vers l’éternité bienheureuse (Basel, 1711)

Schwedisch:

En christens resa til den saliga ewigheten (Stockholm, 1727)

Polnisch:

Droga pielgrzymującego chrześcija-nina do wieczności błogosławionej

(Königsberg, 1764)

Ungarisch:

Keresztyén utazás a’ bóldog örökké-valoságra (Budapest, 1777)

Von den insgesamt sieben Übersetzungen basiert einzig die niederländische auf dem englischen Original, die übrigen sechs sind Übersetzungen zweiter, dritter oder sogar vierter Hand, wie Tab. 6.4 verdeutlicht. Als Intermediärsprachen (in der Tabelle rot) fungieren dabei Niederländisch, Deutsch und Französisch, als Zielsprachen (blau) Niederländisch, Französisch, Deutsch, Schwedisch, Ungarisch und Polnisch.

Tab. 6.4 Original und Übersetzungen von Pilgrim’s Progress 1678–1777

Dieser komplexe Befund bezüglich der Übersetzungsrelationen führt zu der grundsätzlichen Frage, welche Sprachentableaus aus Quell-, Intermediär- und Zielsprachen sich in der Übersetzungskultur der Frühen Neuzeit ergeben.

Wie bereits erwähnt, zeigt die bisherige Forschung zu den indirekten Übersetzungen einen eindeutigen Schwerpunkt und eine gewisse Einseitigkeit der Orientierung auf das Französische, Eine Gefahr bei der Wahrnehmung historischer Transferprozesse besteht zudem darin, dass von der aktuellen Bedeutung und Verbreitung einer Sprache auf deren frühneuzeitliche Bedeutung bzw. Bedeutungslosigkeit geschlossen wird. Wenn man etwa bei Plack liest: „Insbesondere seit dem 17. Jahrhundert übernimmt das Französische die Führungsrolle als kulturelle Mittlersprache und überflügelt darin das Englische“,Footnote 24 so erweckt der zweite Teil dieser Aussage den falschen Eindruck, das Englische habe vor dem Französischen eine Führungsrolle als Intermediärsprache in Europa innegehabt. Es ist ja im Gegenteil gerade die weitgehende Bedeutungslosigkeit des Englischen als kultureller Mittlersprache in der frühen Neuzeit, die sich in der Tatsache spiegelt, dass ein Großteil der ins Deutsche übersetzten englischen Literatur vor der Mitte des 18. Jahrhunderts über die Mittlersprachen Französisch und Niederländisch zu uns kommt bzw. auch in Deutschland in französischsprachigen Ausgaben gelesen wird.Footnote 25

Das größte Hindernis für eine möglichst vollständige Erfassung der indirekten Übersetzungen ist die schwierige bibliografische Ermittlung. Nichtsdestoweniger soll im Folgenden anhand von drei bibliografischen Datenbanken versucht werden, verschiedene Aspekte zu quantifizieren. Dies geschieht zunächst auf der Basis des Verzeichnisses der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17), das ein eigenes Label „Intermediärsprache“ kennt. Dieses findet sich bei insgesamt 660 Drucken (Stand: 21.09.2020). Eine Zahl, die durchaus geeignet ist, quantitative Tendenzen deutlich zu machen. Allerdings gilt es bei den im Folgenden genannten Zahlen immer zu bedenken, dass die Dunkelziffer der opaken, d. h. nicht als Umwegübersetzung kenntlich gemachten Drucke vermutlich sehr hoch ist.Footnote 26 Sträter kommt bei seiner Untersuchung zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur zu dem Ergebnis, dass nur ein Drittel der Übersetzungen aus zweiter Hand als solche gekennzeichnet sind.

In Abb. 6.4 sind alle Drucke des VD17 erfasst, bei denen explizit eine Intermediärsprache angegeben ist, wobei die dort genannten fremdsprachigen Drucke mit Deutsch als Mittlersprache bei unseren Überlegungen zu den Übersetzungen ins Deutsche logischerweise unberücksichtigt bleiben können. Andere als die in der Abbildung genannten sechs Fremdsprachen Französisch, Latein, Niederländisch, Italienisch, Englisch und Spanisch kommen bei der Suche nach Intermediärsprachen im VD17 nicht vor. Von diesen Sprachen sind Englisch und Spanisch eher selten anzutreffen, während die übrigen vier die ‚Hauptlast‘ der sprachlichen Mittlertätigkeit tragen. An der Spitze Französisch (30 %) und Latein (27 %), gefolgt von Niederländisch (17 %) und Italienisch (15 %).

Abb. 6.4
figure 4

Intermediärsprachen im 17. Jahrhundert. (Nach VD 17)

5 Originalsprachen der indirekten Übersetzungen über das Französische und Niederländische

An die Ermittlung der Intermediärsprachen schließt sich nun die Frage an, welches die jeweils zugrundeliegenden Originalsprachen der indirekt übersetzten Texte sind. Dies wurde in einem weiteren Schritt für das Französische und das Niederländische ausgezählt (Abb. 6.5 und 6.6). Wichtigste Gemeinsamkeit beider Abbildungen ist die überragende Bedeutung, die beide Sprachen als Mittlersprache für die Übersetzung englischer Werke ins Deutsche haben. Die fast identische Menge von 75 bzw. 73 Drucken bedeutet für das Französische einen Anteil von knapp 40 %, für das Niederländische mit 65 % einen Anteil von fast zwei Drittel. Darüber hinaus fungiert das Französische als Mittlersprache vor allem auch für seine romanischen Schwestersprachen Spanisch und Italienisch, während das Niederländische auch eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung als Mittlersprache für indirekte Übersetzungen aus dem Französischen hat.

Abb. 6.5
figure 5

Französisch als explizit genannte Intermediärsprache. (Nach VD 17)

Abb. 6.6
figure 6

Niederländisch als explizit genannte Intermediärsprache. (Nach VD 17)

Die Befunde des VD17 für das Niederländische werden durch die Auswertung einer anderen bibliografischen Datenbank gestützt, die die direkten und indirekten Übersetzungen im 17. Jh. möglichst vollständig zu erfassen sucht, die Bibliographie der niederländischen Literatur des 17. Jahrhunderts in deutscher Übersetzung (Bundschuh-Van Duikeren 2011). Haben wir es im VD17 mit unterschiedlichen Drucken zu tun, so geht es hier um unterschiedliche Texte.Footnote 27 Im Vergleich zeigen die beiden Abb. 6.6 und 6.7 weitgehende strukturelle Übereinstimmungen, die für die Repräsentativität der Ergebnisse sprechen. Eine differenzierte Analyse der zweiten Datenbank nach Genres zeigt im Übrigen, dass die Bedeutung des Niederländischen als Mittlersprache über die Erbauungsliteratur hinausgeht und dass vor allem auch die politische Pamphletliteratur Englands im 17. Jh. ihren Weg über das Niederländische nach Deutschland findet.

Abb. 6.7
figure 7

Niederländisch als Intermediärsprache. (Nach Bundschuh-van Duikeren 2011)

Die Zahlen beider Datenbanken machen deutlich, dass das Niederländische im 17. Jh. insbesondere mit Bezug auf Übersetzungen aus dem Englischen eine Bedeutung als Mittlersprache hat, die quantitativ dem Französischen kaum nachsteht. Mit Blick auf die Erbauungsschriften hat es nach Sträter sogar eine deutlich führende Position inne.Footnote 28 Eine umfassende Untersuchung zur Bedeutung des Niederländischen und der Niederlande für die Vermittlung der englischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, wie sie Lawrence Marsden Price bereits 1941 gefordert hat, gibt es bis heute nicht. Angeregt durch die Leipziger Dissertation von Marce Blassneck über Frankreich als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert kam Price zu dem Ergebnis: „What we need is a monograph on ‚Holland als Vermittler englisch-deutscher Einflüsse im 17. und 18. Jahrhundert‘.“Footnote 29 Dabei ging es ihm neben der Sprache auch um die Bedeutung der niederländischen Republik, die aufgrund der nirgendwo anders in Europa anzutreffenden politischen Freiheiten, die auch die Freiheit der Druckpresse beinhaltete, zum magasin de l’univers bzw. zum bookshop of the world wurde.

6 Die Niederlande als Druckort französischer Übersetzungen aus dem Englischen

Eine historisch ausgerichtete transferorientierte Übersetzungswissenschaft wird nicht nur den Aspekt der beteiligten Sprachen, sondern auch die anderen Mitspieler im Prozess des Buch- und Übersetzungsmarktes berücksichtigen müssen. Hier kommt den Verlegern und Buchhändlern essentielle Bedeutung zu. Es geht um Transferräume und Vermittlungsnetzwerke. Wo wurden die Bücher von wem aus welchen in welche Sprachen übersetzt und wo wurden sie gedruckt?

In vielen niederländischen Städten, allen voran natürlich in Amsterdam, wurden im 17. und 18. Jh. Bücher in nahezu allen größeren und weniger großen Sprachen Europas gedruckt. Neben der eigenen niederländischen Sprache und dem Lateinischen ist hier wiederum an erster Stelle das Französische zu nennen, wobei wir uns im vorliegenden Zusammenhang auf den Druck französischer Übersetzungen aus dem Englischen konzentrieren wollen. Eine quantitative Analyse hierzu ist auf Basis der kommentierten Bibliographie von Graeber und Roche (1988) zu den indirekt aus dem Französischen ins Deutsche übersetzten Werken der englischen Literatur des 17. und 18. Jh. möglich. Abb. 6.8 zeigt die Druckorte der 133 dort erfassten Titel.

Abb. 6.8
figure 8

Druckorte der französischen Übersetzungen englischer Literatur mit Weiterübersetzung ins Deutsche. (Nach Graeber und Roch, 1988)

Wichtigster Druckort der notabene französischsprachigen Bücher ist Amsterdam vor Paris und Den Haag, weitere niederländische Druckorte sind u. a. Utrecht, Rotterdam und Middelburg. Fassen wir die Ergebnisse für die niederländischen Druckorte in einem Tortendiagramm zusammen (Abb. 6.9), wird deutlich, dass mit 71 von 133 mehr als die Hälfte der französischen Übersetzungen, die als Grundlage für die Weiterübersetzung ins Deutsche dienten, in den Niederlanden gedruckt wurden. Dieses Faktum, das in der Einleitung zu der genannten Bibliografie keinerlei Erwähnung findet, unterstreicht noch einmal, welch eminent wichtige Rolle die niederländische Republik als kultureller und literarischer Vermittlungs- und Transferraum im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jh. spielt.

Abb. 6.9
figure 9

Druckorte der französischen Übersetzungen englischer Literatur mit Weiterübersetzung ins Deutsche nach Ländern gruppiert. (Nach Graeber und Roch 1988)

7 Resümee

Ausgehend von den frühen deutschen Übersetzungen der Werke John Bunyans, die ausnahmslos als indirekte Übersetzungen aus dem Niederländischen zustande kamen, versucht der vorliegende Beitrag, das Phänomen der Übersetzungen aus zweiter Hand im 17. Jh. breiter in den Blick zu nehmen als die bisherige Forschung. Diese wurde hauptsächlich von romanistischer Seite geleistet und hat zu einer zu einseitigen Wahrnehmung der zweifellos führenden Position des Französischen als Mittlersprache geführt. Hierdurch droht die Bedeutung anderer Sprachen in der frühneuzeitlichen europäischen Übersetzungskultur verkannt zu werden bzw. unerkannt zu bleiben. Es bedarf daher ergänzender Studien zu den indirekten Übersetzungen aus den übrigen Sprachen, die in nennenswertem Maß als Intermediärsprachen fungiert haben: das Lateinische, das Italienische und das Niederländische. Die im Rahmen dieses Beitrags ermittelten Daten belegen die hervorgehobene Position des Niederländischen als Mittlersprache für indirekte Übersetzungen aus dem Englischen, in welcher Hinsicht es dem Französischen kaum nachsteht.