„Die rächt waar englisch Spraach wöllend wir erst auch im waaren Engelland, in Gottes ewigem Himmelrych erlernen.“ Diese kühne figura etymologica erlaubt sich 1593 der Züricher Lexikograph Josua MaalerFootnote 1 in seinen autobiographischen Schriften. Das sinnreiche Spiel mit zwei Homonymen dient ihm offenbar dazu, seine despektierliche Einschätzung der ihm vollkommen fremden Sprache auf der britischen Insel zum Ausdruck zu bringen, die ja auch „ußert ihrem Land und Marchen nienen gebrucht wird“.Footnote 2 Diese Haltung aber darf als durchaus symptomatisch für seine Zeit gelten. Die Kollokation von ‚Sprache‘ und ‚englisch‘ fand sogar ohne den Konnex mit einem konkreten Staat oder einer lokalisierbaren Sprechergemeinschaft eine viel häufigere Verwendung. Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein umschreibt ‚englische Sprache‘ als ‚Engelssprache‘ eher den idealen Zustand von besonderer Reinheit oder Dignität einer jeden möglichen Sprache, unter anderen auch der deutschen:

Wie schndlich/ wie heßlich die edle vnd fast EngelSprach mit außlndischen vnd frembden Wrtern besudelt […] werde / […] / ist offenbahr/ vnd wird jr leider/ leider mit tglichem Gips an die grosse Taffel fr jedermans Augen gemahlet.Footnote 3

So ereifert sich der Sprachreiniger Christoph Schorer 1648 in seiner Neu ausgeputze[n] Sprachposaun, im Visier hat er dabei die „Vnartigen[,] Teutscher Sprach=Verderber“. Ihnen gilt die „trewmeintliche“ Warnung vor der „Verunreinigung der lieben Mutter=Sprach“. Auch Schorer ignoriert in seinen Überlegungen das Englische als Nationalsprache, wogegen er im anderen Fall dringend empfiehlt: „Hastu mit Franckreich je zu schaffen/ so laß da jre Sprach nit schlaffen“.Footnote 4

‚Englisch‘ als nationales Epitheton tritt dagegen auch noch im 16. Jahrhundert viel häufiger in Verbindung mit nichtsprachlichen Phänomenen und erscheint etwa als der ‚englische Schweiß‘ (febris elodes), bekannt auch als Schweißfieber, Schweißsucht oder Schweißseuche, ein rätselhaftes Infektionsgeschehen, das offenbar viele Tote forderte. Im deutschsprachigen Raum registrierte man das Phänomen im Frühjahr 1529,Footnote 5 als „der englisch schweiss durch ganz Germanien schwaift“,Footnote 6 so die Zimmerische Chronik. Ärzte verfassten Ratgeber, wie man sich „vor der Newen Plage/ Der Englisch schweiß genant/ bewaren/ Vnd so man damit ergriffen wirt/ darinn halten sol“.Footnote 7 Zu diesem Werk des Marburger Medizinprofessors Euricius Cordus erlaubt sich ein nüchtern abwägender Martin Luther das kritische Urteil: „Das Artzneybüchlein, so wider diese Kranckheit ausgangen, ist Ursache, daß viele, wenn sie anfangen zu schwitzen, gleich erschrecken und dencken, sie hätten das Uebel am Halse.“Footnote 8

Die englische Sprache ist im deutschen Wortschatz wie in der deutschsprachigen Gedankenwelt der reformatorischen Zeiten eine eher sekundäre Größe, und als ein heterogenes Mixtum aus germanischen, lateinischen und normannischen Komponenten war sie keineswegs ein Standardidiom für die damalige europäische Kommunikation. Als ein solches fungierten immer noch die alten bzw. die romanischen Sprachen, denen allenfalls das Niederländische zur Seite trat. Gleichzeitig aber fixiert Josua Maaler mit seiner Denkfigur auch schon ganz wesentliche Komponenten einer künftigen Übersetzungsgeschichte: Das „Land der Engel“ und die für die ewige Seligkeit (Himmelreich) zu erlernende „Sprache der Engel“ sollten sich bereits kurze Zeit nach seinen Aufzeichnungen zu einer ganz realen und durchaus diesseitigen Kongruenz verschieben. Infolge einer seit etwa 1600 stark anwachsenden Rezeption von englischer Erbauungsliteratur, über die wir seit den Forschungen Udo Sträters und mit der Bibliographie Edgar C. MacKenziesFootnote 9 sehr gut informiert sind, nimmt auch die positive Einschätzung des entlegenen Idioms langsam zu. 1647 spricht Carl Gustav von Hille – der Biograph der Fruchtbringenden Gesellschaft – der englischen Sprache zumindest einen hohen Grad an „Lieblichkeit“ und einen „hohen Sinnbegriff“ zu,Footnote 10 was sie für geistliche Inhalte ganz besonders empfehle. Er bedauere allerdings auch, dass immer noch kaum jemand bereit sei, sie wirklich zu erlernen, um die hochrangigen Texte britischer Autoren auch im Deutschen verfügbar zu machen. Tatsächlich sollte dies bis weit in das 18. Jahrhundert so bleiben, ein Kurtzer Wegweiser/ Zur Erlernung der Englischen Sprache“ erscheint erst 1699 bei König in Hamburg.Footnote 11 Und dennoch befriedigt in den verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs etwa seit 1630 ein wachsendes Angebot die immense Nachfrage nach Übersetzungen. Allerdings verdanken sich diese Produkte vorwiegend einem indirekten Übertragungsverfahren, das auf verschiedenen, zumeist lateinischen oder niederländischen Zwischenstufen basiert.Footnote 12

Wir stehen damit auch hier vor einem generellen Problem der frühneuzeitlichen Übersetzungskultur, die sich von derjenigen der Moderne in vielen Zügen unterscheidet. Die moderne Übersetzung und ihre theoretische Reflexion seit den Schriften Friedrich Schleiermachers basiert im Wesentlichen auf der binären, d. h. bilateralen Vorstellung, dass zwischen einem ‚Original‘ in einer Ausgangssprache und einem ‚Abbild‘ in der Zielsprache eine lineare Prozessualität zu fassen ist, die einen irgendwo dazwischen agierenden Übersetzer als Vermittler zwischen beiden Seiten aufweist. Dass sich dies in der Frühen Neuzeit anders verhält, ist bekannt, und es zeigt sich schon an der Tatsache, dass das Wort ‚übersetzen‘ und damit auch die Vorstellung von lediglich zwei zu überbrückenden Seiten bis ins späte 16. Jahrhundert kaum belegt ist. Martin Luther etwa, dem großen ‚Übersetzer‘ des 16. Jahrhunderts, war das Lexem vollkommen unbekannt.Footnote 13 Er sprach ausschließlich vom ‚Dolmetschen‘ als Handlung und von der ‚Verdolmetschung‘ als Vorgang, richtete sich also nach der Semantik eines slawisch-ungarischen Lehnworts,Footnote 14 das sich auf eine eher flüchtige und damit weniger korrigierbare Mündlichkeit bezieht. Niklas von Wyle sprach ebenso noch vom „Umreden“ des Lateins.Footnote 15 Dass jede Sprache dabei ihre eigenen, unbedingt zu achtenden Beschaffenheiten und Gesetze hat und dass damit beide Seiten absolut gleichberechtigt sind und auf die Übersetzung einwirken, zeigt die Formulierung Augustin Tüngers, der sich als Justiziar natürlich an der Rechtswissenschaft als Referenzsystem orientiert: 1486 betonte er in seiner Facetienübertragung das „ze dütsch bringen uß baider zungen latinisch und tütsch sytten“Footnote 16 und legte damit nahe, Normen und Gesetze zweier Parteien zu prüfen und in einen ausgewogenen Vergleich zu bringen. Der Charakter des mündlichen Aushandelns und Verständigens bleibt auch hier noch deutlich erhalten.

Andere aussagekräftige Umschreibungen für den lingualen Transfer lauten vor 1650 etwa: etw. ‚zu teutsch transferieren‘, ‚in teutsch vertieren‘, ‚des teutschen aus latein ziehen‘ oder ‚künstlich gedeutschen‘. Thomas Murner spricht in seiner Aeneis-Übersetzung 1515 davon, dass er das Werk vom lateinischen Tod ‚in deutsches Leben erquickt‘ habe.Footnote 17 Alle diese Paraphrasierungen verweisen auf jeweils eigene begriffliche Bezugsbereiche der Kulturgeschichte, deren Handlungspraxis als bildstiftendes Potential zur Verfügung steht und damit das implizit formulierte Übersetzungsverständnis ausleuchten kann. Von der Diplomatie und der Rechtswissenschaft war bereits die Rede, nun verweist etwa das konkrete ‚zu teutsch transferieren‘ semantisch auf das dinglich- bzw. inhaltsbezogene ‚Hinüberbringen‘ von Fracht, Gehalt und Substanz. Damit wären als handlungspraktische Bereiche natürlich Handel und Schifffahrt angesprochen, präzise aber wäre nachzufragen, ob es sich hierbei um die Konservierung der Ware nach einem geschlossenen ‚Behälterprinzip‘ handelt oder ob es hier im Verlauf bestimmte modifizierende Verfahren wie Umladen, Verlegen und Zurückhalten (mit den Aspekten des Anreicherns bzw. Reduzierens oder Wertsteigerns bzw. -minderns) festzustellen gilt. Vor allem am Beispiel der transatlantischen Überfahrt (vgl. traiectus, traductio) von Europa nach Amerika ließe sich etwa mit entsprechenden Titelkupfern und den dort vielfältig ausbuchstabierenden allegorischen Apparaten (etwa zu den Gefahren der Reise, die entsprechende Maßnahmen erfordern) arbeiten: Was passiert im Sinne des Wandels der verladenen Güter auf der Überfahrt, wer ist mit welchen Funktionen und Wirkungen beteiligt etc.?Footnote 18 Tatsächlich ist transferre als ‚übertragen‘ ja auch verwandt mit ‚umsetzen‘ und ‚umlegen‘, sodass in Verbindung mit dem aus dem Althochdeutschen bekannten ‚verlegen‘ über ‚Verlag‘ und ‚Handel‘ wieder Zusammenhänge mit dem Kaufmannswesen, mit commercium und ‚Aushandlung‘ aufscheinen würden. Zu denken wäre auch an den ‚Zwischenhandel‘, an eine Zwischenlagerung mit der ablaufenden Zeit als Kalkulationsfaktor, was auf eine den Wertewandel voraussetzende Spekulation hinausliefe. Das Produkt könnte in der Zwischenlagerung auch so weit verändert werden, dass eine verstärkte Nachfrage auf anderen, dem Transfer nachfolgenden Umschlageplätzen optimiert würde. Mit derart heuristischen Überlegungen ließe sich ‚Übersetzen‘ als Transfer möglicherweise anschaulicher ausdifferenzieren und auf die zu untersuchenden Vorgänge anwenden.

Viele englischsprachige Werke gelangten im 17. Jahrhundert über das Lateinische, das Französische oder das Niederländische ins Deutsche. Udo Sträter spricht hier mehrfach von ‚Übersetzungen aus 2. Hand‘, ein durchaus problematischer Terminus, der eher abwertende Konnotationen mit Gebrauchtwaren weckt und zwangsläufige Qualitätseinbußen suggeriert, ebenso dürfte das für einen Begriff wie ‚Sekundärübersetzung‘ gelten. Damit blieben die großen Spielräume und dispositorischen Möglichkeiten außer Acht, die auf den jeweiligen Übersetzungsstufen möglich waren. Auch gab es nie zwingende Linien, etwa von England in die Niederlande, in die Eidgenossenschaft und dann in die Pfalz, vielmehr ist mit aufschlussreichen Sprüngen, anderen Verläufen, Querverbindungen und vor allem mit übersetzerbedingten Eingriffen und Zusätzen zu rechnen, die nicht per se als Verfälschung oder Zurückstufung auf einer Skala zu werten sind. Das Modell von Transport und Zwischenlagerung mit allen Formen der spekulativen Verzögerung, Anreicherung oder Modifikation wäre hier tatsächlich am einzelnen Material zu prüfen, um die Dichotomie aus Original und Übersetzung zu überwinden. Statt Hierarchie und Qualitätsdifferenz gilt es verschiedene Wege und Wegemodelle zu vermessen, also räumlich gestuft zu denken. Die verändernde Bewegung über mehrere Stufen wäre vielleicht auch besser als ‚Kaskadenübersetzung‘ zu bezeichnen. Wir besitzen hierfür mit der Elogia Roma prisca (1552) des Janus Vitalis Panormitanus über die Ruinen Roms ja ein sehr anschauliches Beispiel und instruktiven Musterfall für eine prozessuale Textfiliation. Neben der Direktübersetzung dieses einzelnen Textes in verschiedene Nationalsprachen, etwa von Joachim du Bellay (1558), Mikolaj Sęp-Szarzyński (1610), Martin Opitz (1634), Thomas Heywood (1635), Girolamo Preti (1644) oder Francisco de Quevedo (1648) führen auch konsekutive Transformationsvorgänge in verschiedene Areale, etwa zu Edmund Spenser, der das lateinische Gedicht nach der französischen Fassung Du Bellays ins Englische transferiert. In einer solchen konsekutiven Kaskadenübersetzung gelangt das jeweils modifizierte Ruinengedicht des Panormitanus schließlich in alle territorialen Schlüsselräume der Frühen Neuzeit.Footnote 19

In kleinerem Ausmaß ließe sich Entsprechendes auch bei einem Transfer aus England feststellen. Udo SträterFootnote 20 beobachtet im Falle der englischen Erbauungsliteratur, dass nur etwa ein Drittel in dieser Zeit als ‚Direktübersetzung‘ zu klassifizieren sei, alle übrigen aber als „vorübersetzt“Footnote 21 gelten müssten, also einem komplexen System aus gestuften Modifikationen unterliegen, die es präzise zu bestimmen gälte. Um dies zu leisten, bietet sich in Kombination mit der Kaskadenübersetzung nun als weiterer Typus die Parallelübersetzung an.Footnote 22 Der häufige Fall, dass ein Autortext verschiedene Übersetzer findet, schafft Vergleichstypen, die zwar alle auf einen identischen Ausgangstext Bezug nehmen, dann aber völlig eigenständig, auch über verschiedene Kaskadenwege zu ihrem Produkt gelangen. Hier läge eine methodische Möglichkeit, ohne wertende Hierarchien exaktere Aussagen über Region, Autor, Adressat und Rahmenbedingungen zu formulieren, basierend auf der vergleichbaren Singularität von Einzelansätzen. Um ins obige Bild zurückzukehren: Der Übersetzer wird Unternehmer und Warenverleger, Einkäufer und Sammler, der seinem Kunden ein bestimmtes Sortiment bietet und es nach dessen Bedürfnissen und Erwartungen ausgestaltet. Im Vorwort seines Kompendiums aus englischen und französischen Lesefrüchten, u. a. bezogen aus der Produktion Michel de Montaignes und Joseph Halls, schreibt der reformierte Theologe und Englandreisende Johann Christoph Salbach (1637–1706),Footnote 23 er habe

herrliche/ schöne wohlriechende Blumen/ Tulipanen und Kräuter in Frantzösischen unnd Engelländischen Lustgärten auffgewachsen/ auß Niederland in unser geliebtes Vatterland selbst mitgebracht/ und [um] ander[e] frommen Christen dieser Blumen edelen Geruch theilhafftig zumachen/ [habe er sie] in teutscher Sprach lassen verkleiden und durch den Truck mittheilen.Footnote 24

Hinzu kommt der Umstand, dass Übersetzung von Erbauungsliteratur nicht nur kommerziellen, sondern natürlich auch theologischen Kategorien unterliegt und mit dogmatischen Fragen verbunden ist, die eine entsprechende Metamorphose des Ausgangstextes bedingen können. Tatsächlich verlaufen die Kaskaden hier von ursprünglich katholischen und jesuitischen Erbauungstexten über verschiedene reformierte bis hin zu lutherisch-orthodoxen Fassungen. Somit stehen potentiell zahllose Tilgungs-, Ergänzungs- und Modifikationsprozesse zur Betrachtung an, die ein Text transformatorisch durchlaufen kann. Es handelt sich auch in dieser Hinsicht nicht um eine simple bilaterale Transferaktion.

Derartig mehrstufige Transferprozesse bewerten einige zeitgenössische Theoretiker aber auch als Gefährdung einer ursprünglichen und unbedingt zu bewahrenden Substanz, auch im Hinblick auf die direkte, weil unmittelbare erbauliche Wirkung. Entsprechend wird hier wiederum ein schlichtes Wertungsverhältnis im Sinne der Dichotomie aus ‚Original‘ und ‚Kopie‘ veranschlagt: „Ist nun eine Copie nach dem Original selbst genommen richtiger/ als die nur einer andern und mangelhaften Copie nachgehet.“Footnote 25 Es gibt entsprechende Bearbeiter, die sich ausdrücklich dem Ideal der ‚Treue‘ verpflichtet sehen: der anonyme Übersetzer der Vbung deß Christentums Oder Gantze Pflicht eines menschen (1664) bspw. beteuert, er habe sich „nicht so grosse Freyheit gegeben/ als jhnen andre in Ubersetzung andrer Englischen Büchern selbst genommen/ […] da die Dolmetscher mit änderung/ außlassung/ hinzusetzung/ den Vrhebern der Bücher nicht geringen unbill zugefügt“. Im Bildfeld geht es um die Qualität eines ungehinderten Durchblicks, um präzise Klarsicht und unverfälschte Reinheit. Man öffne, so der anonyme Übersetzer Robert Boltons, den „Landsleuten“ mit der Übersetzung „die Fenster“, dadurch „sie das Gnaden=Liecht sehen können/ welches der gütige GOTT andern Völkern scheinen lassen“, etwa in der jetzigen Zeit, wo doch das Vaterland unter dem „trübe[n] Tag der schweren Gerichten und Heimsuchungen GOTTES“ zu leiden habe.Footnote 26

Eine weitere aspektreiche Paraphrase für die linguale Übertragung in der Frühen Neuzeit bezieht sich dagegen auf einen proklamierten Bruch, auf eine heftige Umkehr in die ‚entgegengesetzte‘ Sprache: Viele Autoren sprechen davon, dass sie etwas ‚in teutsch vertieren‘. In Entsprechung zum lateinischen convertere (umwenden, umdrehen, umkehren; auch: verwandeln, verändern, vertauschen) gelangt man hier auf ein großes epistemisches Feld: Die conversio (auch als Metamorphose, als Transmutation) bzw. die (com)mutatio naturarumFootnote 27 steht in der spirituellen Alchemie für einen seelischen Läuterungsprozess. Der Alchemiker operiert hier als Mystagoge, die entsprechenden Fachbegriffe wie ‚Scheiden‘, ‚Schmelzen‘ und ‚Veredeln‘ (botanisch: ‚Pfropfen‘) weisen tatsächlich eine stimmige Korrelation mit textgenetischen, also rhetorisch-poetischen Verfahren auf. Heinrich Steinhöwel u. a. sehen Übersetzung als ‚lütrung‘,Footnote 28 um die Wirkung auf den Adressaten zu verbessern, Aventin setzt das wieder zu gewinnende, alte ‚lautere‘ Deutsch gegen die jüngeren sprachvermengenden Hybridformen.Footnote 29 Damit wäre man über den Reinheitsgedanken wieder auf die Überlegungen der puristischen Sprachposaune verwiesen: Was bleibt von einer Originalsprache, inwiefern wird eine Zielsprache durch ihre Dominanz ‚verunreinigt‘? Oder wird sie im Gegenteil eher ‚veredelt‘ durch entsprechende Übernahmen? Tatsächlich begegnet genau dieses Phänomen auch bei der mehrstufigen Rezeptionsphase englischer Erbauungstexte in Deutschland, die sich in ihrer reformierten Vorformulierung, die von den Verfassern selbst oder einem ihrer Erstübersetzer aus calvinistischen Regionen stammen kann, erst einem ‚Reinigungsprozess‘ in Form der lutheranischen Nachbearbeitung unterziehen müssen. Es ist Johann Michael Moscherosch, der 1643 in seinem Insomnis Cura Parentum auf Daniel Dykes Schrift Nosce te ipsum verweist und liberal empfiehlt, „daß jr eüch an etlichen reden so wider die Reinigkeit deß Evangelij gehen, nicht ärgert: biß es, wie mit der ‚Praxi Pietatis‘ geschehen, gesäubert werde“.Footnote 30

Im Vorbericht zum Güldenen Kleinod, seiner Thomson-Übertragung,Footnote 31 zerstreut Johann Michael Dilherr die Bedenken eines christlichen Lesers, ein ‚fremdreligiöses‘ Buch in der vorliegenden Fassung überhaupt lesen zu dürfen:

Solches Büchlein ist zwar anfänglich von dem Autore, so der reformirten Religion beygethan gewesen/ und in englischer Sprache geschrieben/ und darinnen etliche/ der Lehre halben zweiffelhafftige Reden/ gefunden; jedoch gar bald durch einen fürnehmen Theologum, von denselbigen gäntzlich gesäubert/ erbaulich vermehret/ und mercklich verbessert worden.

Zu Wittenberg schürte man nämlich nicht selten den Verdacht, dass es sich bei entsprechenden Importen um ein ‚heimliches Gift‘ handeln könnte.Footnote 32 Der sächsische Theologe Johann Georg Pritius (1662–1732)Footnote 33 aber verkörpert in solchen Fragen eine erstaunliche pietistische Toleranz: Seine Gartenmetapher beruhigt die Leser, dass eben Äpfel neben Dornengestrüpp wüchsen und der Mensch selbstverantwortlich sehr wohl das eine vom anderen unterscheiden könne. Das Gute bliebe immer per se eine Gabe Gottes, auch wenn es bei einem irrenden Menschen gefunden würde.Footnote 34 Man darf sich also auch aus weniger seriösen Quellen informieren und sich als mündiger Christ ein eigenes Urteil bilden. Pritius hatte enge Beziehungen zur englischen Kultur, er studierte die Werke des staatskirchenkritischen Geistlichen Richard Baxter (1615–1691)Footnote 35 und übersetzte John Milton (1608–1674) ins Lateinische. 1705 brach er zu einer Reise über Holland nach England auf, in deren Verlauf er mit verschiedenen Theologen, Philologen und Poeten zusammentraf, u. a. mit Campegius Vitringa (1659–1722), Pierre Bayle (1647–1706), Pierre Poiret (1646–1719) oder Jean Leclerc (1657–1736). Nach seiner Rückkehr korrespondierte er noch lange mit einigen dieser namhaften Persönlichkeiten.

Aussagekräftig ist die Übersetzung einer Laudatio von William Bates auf Richard Baxter, in der Pritius detailliert auf theologische Fragen, auf eine wünschenswert liberale Wahrnehmung von Gegenpositionen und auf die notwendige Synthese aller Divergenzen im Sinne des christlichen Glaubens eingeht.Footnote 36 Über Baxter heißt es dort:

Denn ob er gleich der Reformirten Kirchen zugethan, so wird es sich doch bald zeigen, daß Er in vielen Stücken, und zwar darinnen wir von den Reformirten am weitesten entfernet sind, unserer Evangelischen Kirchen ziemlich nahe getreten. So bin ich niemals in den gedanken gewesen, daß ich einen einzigen Menschen darum hassen sollte, weil in gewissen Stücken, und wenn es auch die religion und Glaubens=Lehren anbeträffe, eine irrige Meynung führe. […] Jedennoch habe ich mir die Parteylichkeit niemals die Augen meines Gemüths also blenden lassen, daß ich das Gute nicht auch bey denen hätte erblicken können, welche der Wahrheit mit ihren Meynungen zuwider sind.Footnote 37

Offenbar hängt es in hohem Maße von Methode und Qualität der Übersetzung ab, ob die Glaubenswahrheit ihren Adressaten erreicht, denn „bedauerlich“ sei es nur, „daß nicht alle Bücher von ihm so deutlich und verstendlich, und in einer reinen und annehmlichen Redens=Art sind übersetzet worden, als sie es wohl verdieneten.“Footnote 3838 Außer den Übersetzungen eines ‚gelehrten und gottesfürchtigen Lehrers zu Nürnberg‘ (i.e. Harsdörffer) sind die Texte Baxters „insgemein so verdrießlich und unverständlich übersetzt worden, daß man gar keinen rechten verstand daraus fassen kann.“ Seine Bücher sind in der Regel jedoch „gut“ und „heilsam“:

Sollte aber etwas wahrhafftig irriges, und der Glaubens=Aehnlichkeit entgegen laufendes gefunden werden, […] so stehet es mir und allenn Gläubigen frey, es ungescheuet bei Seite zu setzen. Wenn einer in einen fremden Garten gehet, so bedienet er sich seyner Freyheit, und nimmet etwas von dem besten und wohlgeschmackten Obste zu sich: Er will sich aber nicht binden lassen, auch die etwa sich hin und wieder findenden sauren Schleen, oder andere dergleichen unangenehme und schädliche Speisen zu kosten. Und wo Baxter geirret hat, da stehet es einem mit geübten Sinnen begabten Christen frey, nach dem Unterscheid des Guten und Bösen jenes zu behalten, und dieses zu verwerffen: Jnzwischen bleibt das Gute immer eine Gnaden=Gabe Gottes, wenn es gleich bey einem sonst mit Jrrthum behaffteten Menschen gefunden wird: Gleich wie die Borsdorffer Aepfel immerzu das bleiben, was sie sind, wenn sie gleich in einer grossen Wildniß und bey vielen Dorn=hecken sollten angetroffen werden.Footnote 39

In diesen breit ausgreifenden und bei weitem noch nicht bis in alle einzelnen Biographien, Texte und Positionen hinein ausgeleuchteten Konstellationen erscheint es empfehlenswert, sich exemplarisch zunächst nur einem einzelnen Phänomen zuzuwenden.

Natürlich ist der Hintergrund für die angesprochenen Übersetzungsfragen die weitverzweigte europäische Reformationsgeschichte insgesamt, die ja auch nach dem Auftreten Luthers noch unterschiedliche Fortsetzungen und Neuansätze nach sich zieht. Auch die englische Reformation verläuft nicht geradlinig, sondern mit alternierenden, amalgamierenden und pluralisierenden Modellen aus katholischen, reformierten und anglikanischen Anteilen. Man orientiert sich nur zu Anfang an Wittenberg, später dann eher an Oberdeutschland (Martin Bucer) oder an reformierten Theologen in der Schweiz (Jean Calvin), dazu kommt die Rekatholisierung unter Maria TudorFootnote 40 mit den folgenreichen Fluchtbewegungen der englischen Protestanten auf den Kontinent. Diese Exilanten waren aber in lutherischen Gebieten wegen den markanten Abweichungen in der Abendmahlslehre gar nicht willkommen, deshalb orientierten sie sich eher an der Schweiz. Damit jedoch verliert das Luthertum auch umgekehrt die Möglichkeit, auf das englische Geschehen Einfluss zu nehmen. Die zumeist wohlhabenden und gebildeten Rückkehrer verschafften sich über wichtige Ämter in Staat, Kirche und Universität als nunmehrige Calvinisten aber eine deutliche Mitsprache auf der britischen Insel.

Das war wiederum attraktiv für die kontinentalen Protestanten. In Deutschland befand man sich nach den konfessionellen Konflikten tief in einer Krise,Footnote 41 da sich nach den polemischen Streitereien über dogmatische Einzelheiten wieder die dringende Notwendigkeit der praktischen Seelsorge zeigte, die nun unmittelbar auf die Erbauung und damit auf die entsprechenden Leistungsmöglichkeiten der Texte zielt. In Deutschland verbindet Johann Arndt seine recht deutliche Kritik am Zustand der Kirche mit dem Konzept einer individuellen Frömmigkeit: Übungen zur Aneignung, Vertiefung und Differenzierung von Glaubensgewissheit stehen vor Augen, konkret die Auseinandersetzung mit den Vorgaben der Heiligen Schrift. Das Wort Gottes muss im einzelnen Menschen lebendig sein. Neben den Methoden der Kirche (Gottesdienst, Verkündigung, Predigt) zählen nun Methoden der Selbsterfahrung wie private Lektüre, Versenkung, Kontemplation und Meditation. Mit der Imagination bzw. Suggestion wären in der Konsequenz auch poetische und bildkünstlerische Verfahren und Kompetenzen benannt, die nicht nur Hilfestellung leisten, sondern sich auch zum Selbstzweck ohne geistliche Notwendigkeit entwickeln können, mit allen Konsequenzen für die kirchliche Autorität.Footnote 42 Gibt es eine Tendenz zur Stärkung der Individualkräfte, die anstelle einer Belehrung durch Glaubensnormen und strikte Kontrolle, anstelle von hierarchischer und autoritärer Bevormundung nun zur Selbstverantwortung anleiten können, um zur eigenen Mündigkeit und Weltkenntnis zu gelangen und ohne fremde Anleitung zu Gott zu finden? Dann wären Termini zu prüfen, wie Autonomie und freie Selbstbestimmung, auch und gerade in Form von physischer wie psychischer Selbststabilisierung, eine Stärkung der Selbstheilungskräfte des einzelnen Körpers, die sich gegen dogmatische Unterwerfung und Fremdbestimmung richtet. In welchem Grad wirkt sich das auf die Übersetzung als Auswahl und Verstärkungsverfahren aus? Wie wird Erbauung (bzw. Dogmatik und Präskription) sprachlich generiert? Spezifische Fragen nach normativer Logik und persönlichem Affekterlebnis, nach präskriptiver Exegetik und stiller Andacht lassen sich hier möglicherweise feinsinniger beantworten: Was wird den Vorlagen auf welche Weise entnommen, wie wird im Übersetzungsprozess selektiert und modifiziert, um für das deutsche Publikum zu besonderen Zwecken eine spezifische Wirkung zu ermöglichen?

Den entsprechend wachsenden Bedarf an wirkungsvollen Erbauungstexten können Johann Arndt und andere zeitgenössische Autoren im deutschsprachigen Raum mit eigenen Produkten offensichtlich nicht mehr decken. Die große Nachfrage muss also mit Importen zufriedengestellt werden. Exemplarisch zeigt sich das an den Texten des englischen Bischofs Joseph Hall (1574–1656), die in seiner Heimat großen Erfolg hatten. „Not unhappy at Controversies, more happy at Comments, very good in his Characters, better in his Sermons, best of all in his Meditations“, so feierte ihn ein Zeitgenosse, der Historiker Thomas Fuller (1608–1661), in seiner enzyklopädischen Betrachtung The Worthies of England (1662).Footnote 43 Wegen der Reinheit, Schlichtheit und Aussagekraft seines Stils galt er ‒ nicht nur diesem ‒ als ‚englischer Seneca‘. Markant ist in der Tat seine Teilnahme an säkularen gesellschaftlichen Diskursen, er tritt hervor als Beiträger des öffentlichen Lebens insgesamt, aber weniger mit akademischen Theorien und lehrhaften Lebensgrundsätzen als mit Themen aus dem praktischen Erwerbsleben, die sich ganz gezielt an die entsprechenden Personenkreise wenden. Seine kritische Betrachtung über den Mammon etwa, den irdischen Reichtum, richtete er 1618 in einer Predigt über 1Tim 6,17 an die Kaufleute Londons: The righteous mammon an hospitall-sermon preachʼt in the solemne assembly of the city on Munday in Easter-weeke.Footnote 44 Führende Wirtschaftsvertreter zählten zu seiner begeisterten Zuhörerschaft, die geduldig und einsichtsvoll mit ihm etwa darüber reflektierten, ob der Missbrauch von eigentlich nützlichen Dingen diese in ihrer Wirkung dann schadhaft mache. So auch der materielle Besitz, der per se nicht verwerflich sei – Frömmigkeit und Reichtum schließen sich ja nicht aus – wichtig aber ist: selbst eigene Wohltaten leisten für die Ärmeren. Wer auf unrechte Weise zu Reichtum gelangt (mit Wucher, Preistreiberei oder Billigprodukten ohne Gegenwert), ist zu verurteilen, ebenso wer damit Laster wie Stolz, Prunksucht, Geltungssucht und Verschwendung verbindet. Damit steht Erbauung nicht als weltfernes oder gar weltflüchtiges Produkt, sondern orientiert sich gerade an präsenten, akuten und damit greifbaren Phänomenen der gesellschaftlichen Gegenwart. Nicht höhere metaphysische Bezugsgrößen und entmaterialisierte Seelenvorstellungen, die etwa die deutschen Texte der Zeit dominieren, sondern ganz konkrete Lebensfragen bilden den Hintergrund für eine diskursiv angelegte Meditation, die sich in ihrer umfassenden Weitläufigkeit, in einer detaillierten Ausdifferenzierung und sorgfältigen Umstandsbezogenheit an der rhetorischen Kategorie der inventio orientiert. Über deren Technik aber hatte Hall bereits 1607 in The Arte of Divine Meditation eingehend reflektiert.Footnote 45 Der Mammon-Text selbst gelangte erst ein halbes Jahrhundert später nach Deutschland: Unter dem Titel Der gerechte Mammon oder Nachdencken, von der Freigebigkeit übersetzte ihn Balthasar Koch nach einer französischen Vorgabe ins Deutsche. Daneben verbreitete sich seit den 1620er Jahren eine Fülle von anderen Texten aus der Feder Halls in Deutschland, viele tatsächlich mehrfach übersetzt, sodass sich die oben angedeutete Methodik einer vergleichenden Parallelübersetzung hier anwenden ließe.

Vor diesem Hintergrund bieten sich verschiedene Konstellationen zur spezifischeren Untersuchung an:Footnote 46 Als frühester Fall begegnet etwa die Übersetzung von Joseph Halls 1606 in London erstmals erschienenem Werk Heauen vpon earth, or Of true peace, and tranquillitie of minde, das 1632 von Christoph Koler in BreslauFootnote 47 aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen wurde, 20 Jahre später gefolgt von der Fassung Margareta Maria Bouwinghausens,Footnote 48 die vermutlich aus einer französischen Vorlage entstand. Maria Bouwinghausen ist offenbar die einzige Frau im angesprochenen Übersetzungsgeschehen der Erbauungsschriften, weswegen die ihrem Werk vorangestellte Ruhm-Schrifft/ An die Tugend-Liebende Fräulein Ubersetzerin/ über die Glücklich volendete Verteutschung dieses Büchleins von besonderem Interesse sein dürfte.Footnote 49 Die Autorin hat den Traktat zunächst zur reinen Selbstschulung übersetzt, „darmit jch dessen Innhalt/ besser zu Sinnen fassen möchte“, die Drucklegung aber, mit der das Werk dann für viele zum praktischen Erbauungsmittel wird und der Übersetzerin damit auch eine Verantwortung für das Seelenheil ihrer Leser zuweist, wollte sie dann „nicht ohne befragung/ und einrahten etlicher Gelehrten“ ausführen (so in der Widmungsvorrede an Anna Katharina von Württemberg, o.P.). Wie Martin Bircher vermutet, handelt es sich um die Widmungsträger Johann Valentin Andreae, Georg Philipp Harsdörffer und Johann Wilhelm von Stubenberg. Die wohl wenig verbreitete Übersetzung bemüht sich um „Wort-Reinigkeit“, um Angemessenheit und Vermeidung von Fremdwörtern, so die Vorrede An den Leser (o.P.). Eine weitere Übersetzung liegt aus dem Jahr 1677 vor, sie stammt ihrerseits aus der Feder des Helmstedter Diakons Henning Koch (1633–1691), des Vaters des oben genannten Balthasar Koch. Philologisch erscheint sie genauer und im Ton pastoraler,Footnote 50 ganz offenbar entstand sie ohne Kenntnis der Vorgängerin in Württemberg.

Ein anderer Fall wäre die Konstellation von Heinrich Schmettau und Hans Jakob Schädler, die 1663 zeitgleich Halls The balm of Gilead, or, Comforts for the distressed, both morall and divine most fit for these woful times übersetzen. Das Original erschien 1650 in London.Footnote 51 Deutlich zeigt sich auch hier Halls besonderer Öffentlichkeitsbegriff, der sich gegen eine allzu beschränkte Privatheit wendet: Er bietet „Comforts against publique Calamities“, also Trost gegen ‚öffentliche‘, allgemeine oder gemeinschaftliche Katastrophen, zum Beispiel im Falle einer Pestilenz:

§ 7. The woful miseries of Pestilence, allaid by consideration of the hand that smites us.

Thou art confounded with grief, to see the pestilence raging in our streets; in so frequent a mortality as breeds a question concerning the number of the living, and the dead: That which is wont to abate other miseries, heightens this, The company of participants.

Der Hofprediger Herzog Ludwigs von Liegnitz, späterer Domprediger und schließlich reformierter Hofprediger am Hohenzollernhof in Berlin, Heinrich Schmettau (1629–1704), legt in seiner deutschen Fassung den Passus unter der Rubrik „Trost wider allgemeines Elend“ in der folgenden Formulierung vor:

Das jämmerliche Elende der Pestilentz/ erleichtert durch die Hand die uns schläget.

Du bist fast vergangen für Kummer/ zu sehen die allgemeine Pestilentz auff unseren Gassen/ in einem so allgemeinen Sterben/ daß fast die Frage entstehet, ob die Zahl der Todten nicht die Zahl der Lebendigen übertreffe. Das/ was sonsten pfleget anderes Elend zu verkleinern/ vergrössert dieses/ nehmlich die grosse Gesellschaft derer/ die es theilhafftig sind.Footnote 52

Der Glaubensgenosse in Zürich, der reformierte Prediger Hans Jakob Schädler (1634–1693), Verfasser von Soldatenpredigten und Katechismen für Kinder,Footnote 53 publizierte 1663 in Basel einen Balsam auß Gilead: oder Kräfftige Hertzstärckungen wider allerley geistliche und leibliche Trübsalen […] nach Joseph Hall. Das Kap. 6 heißt bei ihm „Trost wider allgemeine Trübsalen und Landplagen“, unter Abschn. 7 aber verzichtet Schädler auf den Aspekt der harten Züchtigung in der Überschrift, im Inhaltsverzeichnis ist es nur „die Hand Gottes“, später dann eher am Original, aber ohne das ‚geschlagen‘ von Schmettau:

Die Pestilentz wird verringert durch Betrachtung der Hand welche uns getroffen.

Bist du überhäuffet mit traurigkeit/ dass du siehest wie die Pestilentz in vnseren strassen wütet mit so vilfaltiger ertödung/ daß bereits die frag entstehet/ ob mehr übrig seyen in dem leben/ oder ob die zahl deren die gestorben sind grösser seye: das jenige welches sonst gewohnlich andere trübsalen verringert/ vergrössert diese/ namlich die menge deren/ welche derselben theilhafftig werden.Footnote 54

Schädler preist in seiner Vorrede (o.P.) die Hallʼsche Verbindung aus einer „annemlichen vnd durchtringlichen redens-arte“ mit „tieffsinnigen und hertzbeweglichen gedancken, mit denen jene erfüllet sind“. Worte sind durch Gedanken erfüllt, nicht Gedanken mit Worten, dies habe er versucht zu bewahren, „so viel auch immer die englische liebligkeit in unser Teutschen Sprache hat außgedruckt werden können“.

Nach Schädler ist hervorzuheben, dass Halls „Materien auff die jetzigen jammerhafften und mit allerhand trübsalen überschwemmten zeiten sehr bequem/ wider innerliche und äußerliche […] widrigkeiten […] sonderlich nützlich“ seien. Also hat er wiederum neben der Psyche des Einzelnen auch die Gesellschaft im Ganzen im Blick, insbesondere unter dem Aspekt der Harmonisierung. In der Tat argumentiert Schädler in anderen Werken auch ganz explizit mit dem Postulat der religiösen Toleranz im Sinne eines eidgenössischen Freiheitsbegriffs, den er auch mit seinen Übersetzungen fest verankern möchte, um die Einigkeit und Freiheit der Schweizer für alle Folgegenerationen zu bewahren.

Als ein besonderes Fallbeispiel aber zeigt sich Halls Characters of virtues and vices (London 1608). Dieser Text wurde gleich dreimal ins Deutsche transferiert – rechnet man eine freie Bearbeitung aus dem Jahre 1700 noch hinzu, sogar viermal: Die entsprechenden Fassungen erscheinen in Emden 1628, in Frankfurt 1652, in Helmstedt 1685 und schließlich in Amsterdam (d.i. Hamburg) 1700. Und offenbar plante auch Christian Hofman von Hofmannswaldau eine eigene Version.Footnote 55 Natürlich ist im vorgegebenen Rahmen keine umfassende Vergleichsanalyse möglich, vielleicht aber ließe sich ein Verfahren für künftige Unternehmungen vorschlagen.

Virtue is not loved enough, because she is not seen; and vice loseth much detestation, because her ugliness is secret. Certainly, my lords, there are so many beauties and so many graces in the face of goodness, that no eye can possibly see it without affection, without ravishment: and the visage of evil is so monstrous through loathsome deformities, that if her lovers were not ignorant they would be mad with disdain and astonishment. What need we more than to discover these two to the world?Footnote 56

Dieser Formulierung Halls (1608) wären als Parallelübersetzungen die folgenden gegenüberzustellen:

Paris 1610/1619 bzw. Genf 1634 [anonym]

La vertue n’ai assez aimée d’autant ne pas assez veuë, & le vice non assez detesté parceque sa deformité est cachée. Aussi y a-il en la face de la vertu tant de diuerses de la beautéz, et de graces que l’œil ne la peut regarder sans l’affection, sans ressentiment; et le visage du vice est si monstrueux et deguisé de tant de hideuses laideurs, que si ses (S. 2) plus passionnez amans n’étoyent extremement ignorans, ils s’iroyent cacher de honte, de dédain et d’horreur. Qu’ y a-il donc de plus necessaire que de decouurir ces choeses au mondes?Footnote 57

Emden 1628 [anonym]

Weil die Tugend nicht eigentlich genug gesehen wird/ so ist sie auch nicht gnugsam geliebet; und die Vntugend nicht rechtschaffend gehasset/ weil niemand fast recht davon unterrichtet/ vnd ihre häßligkeit nicht/ wie es wol nötig/ kan erkennet werden. Dan es ist die Tugend an sich selbst (S. 4) mit so viel schönheiten gezieret / daß ein jeder/ der sie fleissig betrachtet/ sich muß/ dieselbe zu ehren vnd zu lieben bewegen lassen. Hergegen ist die Vntugend so abschewlich vnd häßlich daß ihre eyferigste nachfolger sich dafür billig sollten entsetzen/ […]“Footnote 58

Frankfurt 1652 [Georg Philipp Harsdörffer]

Die Tugend wird wenig geliebet/ weil jhre Schönheit wenig gesehen wird: das Laster ist wenig verhasst/ weil seine Abscheulichkeit sich zu verbergen pfleget. In dem Angesicht der Tugend ist eine solche Holdseligkeit/ daß man sie ohne hertzliche Liebs- (S. 4) neigung nicht anschauen und betrachten kann: die Gestalt deß Lasters ist hingegen so grausam scheußlich und ungebildet/ daß derselben Liebhaber/ wann sie nicht mit Blindheit geschlägen weren/ solche verachten/ hassen und anfeinden müsten. […]Footnote 59

Helmstedt 1685 [Balthasar Gerhard Koch]

Die Tugend wird und ist nicht genugsam gelobet weil ihre Schönheit nicht gnugsam gesehen wird/ und die Laster nicht genugsam beeckelt/ weil ihre abscheuliche Garstigkeit allzu sehr verdecket ist: Es sind auch in dem Angesicht der Tugenden so viel Schönheiten und Liebligkeiten/ daß das Auge ohne Empfindligkeit und Zuneigung darauf nicht sehen kann/ und das Angesichte der Laster ist so abscheulich und häßlich verstellet das wenn ihre eifrige Liebhaber nicht so über sehr blind weren/ sie würden der Schande Unwillens und Greuels wegen suchen sich zu verkriechen.Footnote 60

Ganz knapp zugespitzt, läßt sich in den deutschen Übersetzungen eine Tendenz zu einer durchaus schwerfälligen Komplexität beobachten, die sich deutlich von der eher eleganten Kürze in der Vorlage entfernt, ohne dabei aber an zusätzlicher Aussagekraft zu gewinnen. Das knappe und schlagkräftige „she is not seen“ gerät etwa zu einem sperrigen „weil die Tugend nicht eigentlich genug gesehen wird“. Generell neigt das Englische als eine analytische und flexionsarme Sprache zur Einsilbigkeit, es benötigt kaum synthetische Konstrukte innerhalb der Satzgrenzen.Footnote 61 Diesbezüglich wäre zu erinnern, dass Martin Opitz 1624 ja große Vorbehalte gegenüber dem Deutschen hegte, denn „es siehet nicht wol auß / wenn ein Verß in lauter eynsylbigen wörtern bestehet“. Der schlesische Reformtheoretiker beklagt damit eine besondere Belastung für die deutsche Dichtkunst: „Wiewol wir deutschen/ wegen der menge der einsylbigen wörter die wir haben/ es zuezeiten kaum vermeiden können.“Footnote 62 Tatsächlich erweitern viele Übersetzer ein kurzes englisches Wort zu einem rhythmisch schwerlich annehmbaren Mehrsilber, wenn auch zuweilen flexionsmorphologisch durchaus zwingend – etwa im Falle des partizipialen Adjektivs (gelobet, geliebet) – oft aber mit beliebig aufgestockten Kollokationen oder gar mit eingeschobenen, nicht dringend erforderlichen syntaktischen Sperrungen: „Virtue is not loved enough“ wird 1685 zu „Die Tugend wird und ist nicht genugsam gelobet“.

Gerade im syntaktischen Bereich erlaubt sich die französische Fassung eine behutsame Strukturbildung durch Parallelismen (etwa: assez aimée / assez veuë / assez detesté), die das Englische nur im ersten Teil aufweist. Im Deutschen fällt 1628 die eigenmächtige Inversion ins Auge: Die Tugend wird erst nicht gesehen, dann nicht genug geliebt. In Kopfstellung steht ein kausaler Nebensatz, an den sich dann mit der eigenwilligen Konjunktion „so“ ein Hauptsatz anschließt. Die adverbiale Konstruktion „nicht eigentlich genug gesehen“ betont die Tugend als wesenhaft eigentümliche Größe, als Phänomen eigenen Rechts, sie ist aber als Teil einer Präpositionalkonstruktion abgesenkt, sie ist damit nicht selbst substantiell schön, sondern nur akzidentell „mit schönheiten gezieret“.Footnote 63

Harsdörffer (1652)Footnote 64 konserviert das ‚wenig geliebt‘ in der ersten Position vor dem ‚gesehen werden‘, führt aber im folgenden Teilsatz als neues Subjekt ein von der Tugend abhängiges Abstraktum ein, das bei Hall erst viel später erscheint und nur indirekt mit der Tugend gekoppelt wird. ‚Sichtbarkeit‘ allein ist für Harsdörffer offenbar zu schwach, er spezifiziert und ersetzt die Tugend durch „ihre Schönheit“, die „zu wenig“ gesehen wird.Footnote 65 Damit sind wir im semantischen Bereich, auch Koch (1685) zentriert das Abstraktum und intensiviert zentrale Nomina mit zusätzlichen Epitheta („abscheuliche Garstigkeit“) oder substituiert „Laster“ mit der Negation „Untugend“ und macht schließlich das Lieben zum Loben. Die französische Fassung hatte sich hier mit behutsamen Ersetzungen begnügt und wählt etwa das präzisere „deformité“ als Formlosigkeit, Ungestalt, Scheußlichkeit für die Häßlichkeit (ugliness). Somit könnte man eine deutsche Tendenz zum Schönen und Guten konstatieren: Bedeutungsverwandte Termini wie Lieblichkeit, Liebenswürdigkeit, Holdseligkeit, Anmut und Zierde fallen tatsächlich explizit. Es ergibt sich eine knappe programmatische Ästhetik im Wortfeld der Reinheit, Makellosigkeit und Unbeflecktheit, die damit eine ideale und verklärte Tugend zu erbaulichen Zwecken durchaus in die Nähe einer anbetungswürdigen himmlischen oder göttlichen Erscheinung rückt und in dieser Weise von konkreten moralischen Handlungsmaximen absieht. TendenziellFootnote 66 ließe sich bei Hall vielleicht die Hinwendung zu griffigen, diesseitigen oder gar alltäglichen Charaktertypen beobachten, die den eher verklärten Exempeln von Heiligen und Sündern ein pralles diesseitiges Leben einflößen. In den Aktionen geben sich ausdifferenzierte Psychogramme und Handlungsmuster deutlich zu erkennen.

Dies bliebe genauer zu untersuchen, stattdessen aber wäre ein vorläufiges Resümee zu ziehen: Die englische Sprache fungiert im 17. Jahrhundert offenbar eher als Distanzmittel: Sie ist nicht besonders geläufig und wirkt als starke Barriere, ja sie verdunkelt die wichtigen Inhalte. Noch 1673 heißt es in der Zuschrifft zur deutschen John Hayward-Ausgabe:Footnote 67

Weil aber dieses Heiligthum der teutschen Andacht bißhero verschlossen gewesen/ gottselige Hertzen aber selbiges zur Vermehrung deroselben und zum Trost der geängsteten Seelen tüchtig erachtet/ als haben wir keine Unkosten gesparet/ selbiges in teutscher Sprache eröffnen zulassen/ damit das unter dem Deckel einer fremden Sprache gesetzte Licht auff einem freyen Tisch auch unseren Teutschen seinen Glantz mittheilen möchte.

Die seelsorgerliche Substanz kann also nur in angemessener Übersetzung wirken. Offenbar sind aber trotz der fremden Sprache gerade die erbaulichen Vorgaben dieser Texte von großer Attraktivität, sodass sie importiert werden müssen. Anscheinend gab es nichts entsprechend Eigenes.Footnote 68

Joseph Hall wurde oft mit Seneca verglichen: Sein klarer, sachlicher Prosastil, die kurzen Sätze im Sinne des antiken brevitas-Ideals und die überzeugende Darlegung von Sachverhalten berechtigen dazu. Kennzeichnend ist auch, dass in der erbaulichen Tugendbelehrung deutlich satirische Züge hervortreten. Sie verbinden die seelische Meditation mit gesellschaftlichen Auffälligkeiten und sprechen in ihrer Logik und sinnscharfen Disposition auch den Intellekt an, der bei vielen deutschen Erbauungstexten gänzlich unterfordert wird.Footnote 69 Dort dominiert eher ein sinnliches Wahrnehmen wie Hören, Sehen und Schmecken. Sensorische und emotionale Wertigkeiten als Qualitäten der seelischen Individualität sind aber entkoppelt von rationalen Strukturen und umfassender Empirie. Die deutsche Reformation war „in ihrem Ringen um Gott so tiefinnerlich […], daß daneben keine machtpolitischen Erwägungen Platz hatten“. Die Sprache war deshalb „von mehr Gefühlswärme getragen, rückhaltlos in ihrer treuherzigen Offenheit, zuweilen Derbheit, bescheidener in ihren Machtansprüchen, bei ihrer Tiefgründigkeit manchmal weltabgewandt“,Footnote 70 so konstatierte Hildegard Gauger bereits 1952. Irdischer Besitz spielte keine Rolle, das „Seelenheil“ war einziger Belang:

In England war Rede deutende Begleiterin der werktätigen Arbeit. Sie warb und kämpfte um deren Anerkennung. Sie verkündigte der Welt, daß diese Arbeit in einem höheren, an England ergangenen Auftrag geschehe, daß sie Sendung sei. Sie gab ihr den nationalen Sinn und machte sie zu einer geschichtlich strahlenden Kraft.Footnote 71

Das ist Rhetorik nach antikem Verständnis. Wo die deutschen Reformatoren also, auch in Gestalt ihrer kritischen Nachfolger, auf Innerlichkeit, auf einen cultus privatus dringen und Abstraktion, Weltferne und Selbstfixierung zu den zentralen Größen erheben, da bieten die Texte des englischen Bischofs Anlässe, Objekte und auch authentische Personen aus der gesellschaftlichen Präsenz. Es sind nicht etwa nur die ‚göttlichen Sachen‘, sondern gerade die säkularen Problemstellungen und die menschlichen Affären, auf die angelsächsische Meditation zielt: Das zeitgenössische Wirtschaftsleben, markante Charakterfiguren aus dem sozialen Umfeld oder bewegende Tagesereignisse wie die Pest haben nicht nur Findungsfunktion für Argumente und Anschauungen, sondern sind in erster Linie tatsächliche Ereignisse aus der Realität des Lesers, also reine Erfahrungsgehalte. Irdische Machtfragen sind nicht abgewertet und damit verdrängt und allenfalls als tiefsinnige Allegorie funktionalisiert, sondern kommen als solche zur Sprache, sodass der Leser hierzu auch eine Position entwickeln kann.Footnote 72 Die Psychologie des Alltags dominiert die Metaphysik. Dagegen hatte 1622 noch Johann Gerhard in seiner Schola pietatis zu einer Form der Meditation geraten, in der sich

ein wahrer Liebhaber der Gottseligkeit täglich eine gewisse Zeit“ aussetzt, „zu welcher er seines Hertzens Gedanken von allen äusserlichen/ irdischen/ weltlichen Geschäfften abziehe/ in sein Herz gehe/ und dasselbe zur Betrachtung himmlischer/ geistlicher sachen erhebe.Footnote 73

Hall aber öffnet für seinen Leser die umfassende Fülle der Erscheinungen des kreatürlichen Lebens schlechthin, alles ist Anlass für Meditation. In seiner Anleitung zur Arte of Divine MeditationFootnote 74 argumentiert er gegen die katholische Tradition des Rückzugs aus der Welt, gegen die Kontemplation in Abgeschiedenheit, und regt stattdessen an, ‚Gelegenheiten‘ im Alltag zu nutzen, Anknüpfungspunkte in der sozialen Umwelt zu erkennen, also tägliche Ereignisse, Personen, Begegnungen und Konfrontationen. Diese Findungstechnik lehnt sich nun ganz offensichtlich an die rhetorische inventio an. Auslöser ist jeweils die Begegnung mit einem Objekt, fortgeführt mit dessen Betrachtung zwecks Ermittlung der in ihm liegenden Wahrheit, dann erst die Übertragung in das eigene praktische Leben zum Nutzen der Heilsordnung. Deshalb sollen umgekehrt auch epistemische Traktate wie Erbauungstexte behandelt werden: Auch sie dienen nicht nur der sachlichen Lektüre, sondern als Mittel zur Meditation. Hierzu fügen sich sehr anschaulich auch Halls Decisions of divers practicall cases of conscience in Continual Use Amongst Men: Very Necessary for Their Information and Directionin These Evil Times (1659), 1677 von dem Königsberger Poeten Martin Kempe auf Deutsch publiziert: Joseph Halls Gewissens Rath: das ist nützliche Auflösung etlicher sonderbaren Fragen, wornach ein gottseliger Christ seinen täglichen Wandel […] einrichten soll. Praktische Lebenshilfe und Andacht in einem, etwa zu Fragen des Kreditwesens, zur ökonomischen Spekulation oder zum Vertragsrecht. Nie aber gibt es eine „schlüßliche Antwort“, also ein Ja oder Nein, sondern immer gilt es, „viele Vmstände dabey zu erwegen“, was der Autor dann auch tut, stets verbunden mit der korrespondierenden Betrachtung zahlreicher Bibelstellen.Footnote 75 Wo die deutschen Texte also zu reinem Schauen, bis hin zur mystischen Versenkung und damit zum Verschwinden oder gar zur Selbstausblendung der praktischen Person anleiten und auf der Rezeptionsseite allenfalls die ruminatio, also das dumpf nachschmeckende ‚Wiederkäuen‘ gestatten, da überrascht der englische Text mit spitzigen Formulierungen, unerwarteten Wendungen und neuen Informationen und lädt dabei zur witzigen, aktiven Gegenrede ein.

Lebhafte Kontroverse also statt stiller Selbstbestätigung. Das zieht eine weitere Überlegung nach sich: Sprache war in England immer mit Politik und öffentlicher Rede verbunden. So ergibt sich ein zusätzlicher, nunmehr textsortenspezifischer Zugang zur Problematik. Im englischen Parlament hielten Geistliche verschiedenster konfessioneller Orientierung oftmals lange Predigten. Offenbar ist es aber nicht nur die Predigt, die als orale Praxis mit der Erbauungsfunktion kombiniert wird, vielmehr wäre die Frage zu diskutieren, ob es hier nicht auch die englische Parlamentsrede ist, die den eigentlichen Mangel auf deutscher Seite bloßlegt und damit ein besonderes Übersetzungsgut bildet? Die Entscheidungen über den Verlauf der englischen Geschichte zwischen 1620 und 1649 hängen oft sehr eng mit den entsprechenden Redebeiträgen von Puritanern wie von Royalisten im Parlament zusammen, die eine große Bandbreite zwischen volkstümlich-derbem und akademisch-gebildetem Duktus abdeckten. Ist es also vielleicht das lebendige, körperliche und authentische Streitgespräch, das Joachim Lütkemann im Vorschmack göttlicher Güte (1553), Heinrich Müller im Himmlische[n] Liebeskuß (1659) oder ein anonymes Gespräch des Herzens mit Gott (1657, wohl von Johann Michael Dilherr)Footnote 76 vermissen lassen? „Schmecket und sehet wie freundlich der Herr ist“, wirkt als Einladung genau wie das Versprechen einer „süssen Erquickung des Geistes“ eher unattraktiv, beschränken sie die rezeptive Aussicht doch lediglich auf das Kauen und Goutieren, um den „Kopf in das Herz zu bringen“, so Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1699) 1677 im Brief an Spener.Footnote 77 Der Intellekt galt als Hindernis. Joseph Hall hingegen versuchte zumindest, affektive und diskursive Anteile der Meditation in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. Er unterrichtete seinerseits Rhetorik, disputierte in Brüssel mit Jesuiten und war in Schottland mit König James in diplomatischer Mission tätig. Auch sonst wirkte er eher als Mediator zwischen den katholischen, calvinistischen, presbyterianischen und independistischen Positionen. Hall war gegen alle protestantischen Separatisten, gegen ein Episkopat und vertrat einen entschiedenen Anglikanismus. 1641 zitierte man ihn vor das Oberhaus, damit er sich mit 12 anderen Bischöfen zusammen gegen puritanische Vorwürfe wegen Hochverrats verteidige.

Wäre damit ein Manko benannt? Ein Parlament als öffentlicher Diskurs-, als Beratungs- und Entscheidungsort in Deutschland, der von einer spezifischen Textsorte, nämlich der Parlamentsrede, getragen wird, die aber ihrerseits keineswegs auf erbauliche Anteile verzichtet?Footnote 78 Das könnte umgekehrt auch heißen: Eine Erbauungsliteratur zu wünschen, die über ihre enge Funktion hinausreicht und etwa praktische Diskursübungen anregt und pragmatische Hilfe anbietet, um nach einer fruchtlosen Konfessionspolemik und den vernichtenden Kriegen zwischen 1546 und 1648 auch und gerade in kirchenpolitischer Hinsicht Fortschritte zu erzielen.