Der erstmals 1699 in Hamburg erschienene Kurtze Wegweiser zur Erlernung der Englischen Sprache, dessen englischer Paralleltitel A little GRAMMAR or Short guide to learn the Englisch Tongue lautet, bildet ein prototypisches Beispiel für jene Lehrmaterialien, mit denen sich deutschsprachige LernerFootnote 1 am Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts Grundkenntnisse in einer lebenden Fremdsprache – im konkreten Fall: im Englischen – erarbeiten konnten. Er soll im Folgenden zunächst im Überblick vorgestellt werden (1). In einem nächsten Schritt wendet sich die vorliegende Untersuchung den in diesem Werk enthaltenen Musterdialogen zu. Nach einigen Vorüberlegungen zur Gattung des Modellgesprächs bzw. des Gesprächsbüchleins (2) werden die Lehrwerksdialoge in ihrer Makrostruktur (3) sowie in ihrer Mikrostruktur genauer analysiert (4). Anschließend setzt sich der vorliegende Aufsatz mit den Dialogen der Lehrwerksausgabe von 1713 auseinander und verbindet diese Untersuchung mit weiterführenden Überlegungen zum Leserkreis des Werks (5). In einem Ausblick (6) wird schließlich die Frage nach künftigen Forschungsperspektiven zu den betrachteten Musterdialogen und zu anderen Vertretern der Gattung gestellt.

1 Vorstellung des Werks und seiner Publikationsgeschichte

Vom Verfasser des Wegweisers werden im Werk selbst nur die Initialen genannt: Ausweislich des Titelblatts und der Vorrede handelt es sich bei ihm um einen gewissen „F. K.“Footnote 2 Dass dieser nicht nur einen Hamburger Verleger gewählt, sondern auch selbst in Hamburg gewirkt haben muss, wird bereits dadurch deutlich, dass der Autor seine Vorrede mit „Hamburg, den Januarii 1699“ datiert.Footnote 3

Aus der kombinierten Leser- und Widmungsvorrede geht weiterhin hervor, dass es sich bei ihm um einen erfahrenen Sprachlehrer handelt, der auf eine größere Zahl offenbar reputierlicher Schüler verweisen kann: K. eignet seinen Band seinen „jetzt habenden geehrten Discipeln“ zuFootnote 4 und führt in diesem Zusammenhang auch eine lange Namensliste an,Footnote 5 auf der sich unter anderem ein gewisser „Mr. Hans Georg Kirchenpauer“ findet.Footnote 6 In einer Biographie Werner von Melles über Gustav Heinrich Kirchenpauer finden wir eine kurze Familiengeschichte, in der nicht weniger als drei Personen mit dem Namen Hans bzw. Johann Kirchenpauer erwähnt werden. Zunächst heißt es dort zu den Vorfahren des porträtierten Hamburger Bürgermeisters aus dem 19. Jahrhundert, dass ein gewisser Johann Georg Kirchenpauer, Spross einer Familie exilierter böhmischer Protestanten, „1640 Bürger in Hamburg“ geworden und durch Verehelichung zum Nachfolger des Geschäftsinhabers „Hans von Jerusalem“ avanciert sei. „Sein Sohn und sein Enkel, welche beide Hans Georg hießen, setzten sein Geschäft fort“.Footnote 7 Bei „Hermannus Benning“, einer weiteren auf K.s Liste genannten Person,Footnote 8 dürfte es sich um einen gleichnamigen, in Hamburg ansässigen Glockengießer handeln.Footnote 9 Der im Namensregister der Vorrede gleich zwei Mal aufscheinende Name „Uffelmann“Footnote 10 dürfte auf zwei Sprösslinge des gleichnamigen Gelehrten- und RatsherrengeschlechtsFootnote 11 verweisen. Mit „Borchard Uffelmann“Footnote 12 könnte der im Zedler erwähnte „deutsche[] Rechtsgelehrte“ Burchard Uffelmann gemeint sein.Footnote 13 Bei „Johann Elers“Footnote 14 könnte es sich um den gleichnamigen Sohn des Lauenburger Superindentenden und Hamburger Bürgers Albert Elers handeln.Footnote 15 Den in der Liste erwähnten Namen „Nicolaus […] Schütte“Footnote 16 findet man einige Jahre später, nämlich 1708, unter den Domini Jurati der Hamburger Hauptkirche St. Petri.Footnote 17 Die Schüler, zu deren Namen sich der biographische oder familiäre Hintergrund rekonstruieren lässt, stammen also aus dem gehobenen Händler-, Handwerker-, aus dem Gelehrten- und Ratsherrenmilieu, d. h. aus Familien mit gutem Leumund sowie dem Patriziat.

Vergleicht man die sprachliche Gestaltung der links in deutscher, rechts in englischer Parallelversion gesetzten DialogeFootnote 18 aus der Perspektive der Sprachrichtigkeit, dann muss man feststellen, dass sich in beiden Fassungen etwa dieselbe Anzahl kleinerer Fehler findet. So heißt es im dritten Gespräch von der Butter in der deutschen Version „Sie ist sehr Saltz“, während sich in der englischen Fassung die besser verständliche und sprachlich korrekte Formulierung „It is much salted“ findet.Footnote 19 Umgekehrt kommen auch kleinere sprachliche Unzulänglichkeiten in der englischen Fassung vor, so etwa dort, wo anstelle von „sick“ die Buchstabenfolge „seck“ steht.Footnote 20 Dabei erscheint es meist unentscheidbar, ob der jeweilige Fehler auf die sprachliche Inkompetenz des Autors oder auf ein Versehen seitens der Setzer zurückgeht. Wer gehofft haben mag, über mögliche Fehler der deutschen oder der englischen Textversion der Erstsprache des Autors auf die Spur zu kommen, der wird durch diesen Befund enttäuscht: Ob K. im deutschen oder im englischen Sprachraum aufgewachsen ist, muss offenbleiben.

Wie seine wiederholte Neuauflage verrät, hatte K.s Sprachlehrwerk offenbar einen beachtlichen Erfolg: Der KVK weist Neuauflagen aus den Jahren 1704, 1705 und 1713 aus. Der Verleger aller vier Drucke war Georg König. Bemerkenswert ist, dass 1706 in London ein Namensvetter des Wegweisers erschien: Der volkommene englische Wegweiser, verfasst von einem gewissen Johann König,Footnote 21 der als „Englische[r] Sprach-Meister in Londen“ geführt wird. Eine nennenswerte inhaltliche Nähe zwischen beiden Publikationen besteht allerdings nicht, so dass sich das englische Werk kaum als Bearbeitung oder Fortsetzung des hanseatischen Lehrbuchs betrachten lässt. Auch lassen sich keine Belege dafür finden, dass es sich bei Johann König etwa um einen Verwandten von Georg König und/oder von F. K. handelte. Einen bloßen Zufall dürfte die Übereinstimmung der Titel bei zwei einander nahestehenden Englischlehrwerken trotzdem nicht darstellen: Es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass das Londoner Werk bei der Titelwahl bewusst an den zeitgenössischen Hamburger Wegweiser anknüpfte, um auf sich aufmerksam zu machen und für sich zu werben. Diese Strategie allerdings dürfte in der Publikationsgeschichte des Londoner Lehrbuchs bald an Bedeutung verloren haben, entpuppte sich doch das Londoner Werk als ein noch größerer Erfolg als die mehrfach wiederaufgelegte Hamburger Publikation: Bereits vor etlichen Jahren hat Frederike Klippel darauf hingewiesen, dass das im Ausland publizierte Werk Johann Königs insgesamt die „erfolgreichste englische Sprachlehre für Deutsche aus dem 18. Jahrhundert“ darstellt.Footnote 22

Im vorliegenden Beitrag soll vom Londoner Lehrbuch nicht weiter die Rede sein. Betrachtet werden sollen allein das Hamburger Sprachlehrwerk von 1699 und seine Weiterentwicklung im Rahmen der letzten Auflage von 1713. Diese „Abermahls Neu = verbesserte“Footnote 23 Auflage stellt streng genommen aufgrund weitreichender Überarbeitungen und Ergänzungen eher eine (mindestens partielle) Neuausgabe denn eine bloße Neuauflage dar: Unter anderem werden in der Lehrbuchversion von 1713, die ausweislich des Titelblatts ebenfalls von F. K. verfasst wurde, die einzelnen Werkbestandteile konsequent auch auf Italienisch dargeboten, so dass aus dem zweisprachigen ein dreisprachiges Lehrwerk wird. In einer tabellarischen Übersicht lassen sich die Unterschiede beider Lehrwerksausgaben wie auch die strukturellen Kontinuitäten wie folgt skizzieren:

Ausgabe von 1699

Ausgabe von 1713

Kombinierte Leser- und Widmungsvorrede

Leservorrede

Aussprachehinweise zum Englischen

Aussprachehinweise zum Englischen

Grammatik des Englischen

Grammatik des Englischen

 

Aussprachehinweise zum Italienischen

 

Grammatik des Italienischen

Adverbiensammlung (eng./dt.)

Zahlen und Adverbiensammlung (dt./eng./it.)

16 Musterdialoge (dt./eng.)

3 Musterdialoge (dt./eng./it.)

Alphabetisch gegliederte Vokabelliste (eng./dt.)

Nach Sachgruppen gegliederte Vokabelliste (dt./eng./it.)

Morgen- und Abendgebete (nur eng.)

 

Einer der markantesten strukturell-inhaltlichen Unterschiede zwischen beiden Ausgaben liegt darin, dass in der späten Auflage anstelle von 16 Musterdialogen nur noch drei längere literarisch inszenierte Modellgespräche dargeboten werden. Da – mindestens aus literatur-, kultur- und kommunikationsgeschichtlicher Perspektive – fiktive Unterredungen ohnehin die aufschlussreichsten Elemente eines frühneuzeitlichen Sprachlehrwerks darstellen, sollen diese in den weiteren Ausführungen näher betrachtet werden. Dazu wird es zunächst erforderlich sein, im Ausgang von allgemeinen generischen Betrachtungen zum frühneuzeitlichen Sprachlehrdialog die Makrostruktur der Modellgespräche vorzustellen. Anschließend sollen ausgewählte Mikrostrukturen der Dialoge analysiert werden.

2 Zur Gattung des Modellgesprächs bzw. des Gesprächsbüchleins

Eine jener Forschungsarbeiten, die sich in der jüngsten Vergangenheit genauer mit älteren Sprachlehrwerken und ihren Bestandteilen befasst haben, ist Werner Hüllens Kleine Geschichte des Fremdsprachenlernens. Zur Gattung des Musterdialogs bzw. des Gesprächsbüchleins betont der Autor, dass sie einen Rückgriff auf Traditionen aus der antiken und mittelalterlichen Fremdsprachendidaktik darstelle und dass ausgewählte Vertreter dieses Texttyps in der Frühen Neuzeit an Grammatiken zum Erwerb einer Fremdsprache angefügt würden. Die Koexistenz einer Grammatik und einer Sammlung von Musterdialogen in einer gemeinsamen Publikation führe aber keineswegs immer zu Querverbindungen zwischen beiden Werkteilen: Häufig stünden beide Abschnitte des Lehrwerks mehr oder minder unverbunden nebeneinander.Footnote 24 Die Binnengliederung innerhalb einer Sammlung von Musterdialogen erfolge oft nach thematischen Gesichtspunkten, wodurch das in diesem Rahmen dargebotene Vokabular zugleich semantisch geordnet werde.Footnote 25 Des Weiteren geht Hüllen davon aus, dass die Dialoge von den Nutzern wohl oft systematisch auswendig gelernt wurden.Footnote 26

Dieser Gattungsdefinition lassen sich die Überlegungen Jörg Kilians gegenüberstellen, der mit seinem Ansatz der historischen Gesprächsforschung von vornherein eine andere Perspektive auf die Gattung einnimmt. Auch wenn Kilian anerkennt, dass es sich bei Musterdialogen um erdachte Gespräche bzw. „fiktive Modelldialoge“ für Sprachenlerner handelt,Footnote 27 bewertet er sie, im Kontext seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit, nicht etwa als Sekundärquellen, sondern als Primärquellen.Footnote 28 Während Hüllen ausdrücklich davor warnt, die von ihm durchaus konzedierte „‚alltagspraktisch[e]‘“ Ausrichtung der Musterdialoge mit „sprachlichem Naturalismus [zu] verwechsel[n]“,Footnote 29 betont Kilian mit der von ihm vorgenommenen Zuordnung ihre Nähe zur realen zeitgenössischen Kommunikation in einer konkreten Gesprächssituation. An anderer Stelle postuliert er sogar explizit, dass die Dialoge „sehr realitätsnahe Einblicke in Strukturen von Dialogsorten und typische Verläufe“ gewährtenFootnote 30 und „im Wege der mimetischen Nachbildung von zeitgenössisch möglichen Dialogen verschiedene gesellschaftliche Kommunikations- und Praxisbereiche“ zu „veranschaulichen“ strebten.Footnote 31

In Anbetracht solcher Darstellungen muss man sich allerdings über ein der Gattung inhärentes Paradoxon Rechenschaft ablegen, dass sich aus der medialen Form der Musterdialoge ergibt: Wie Brigitte Schlieben-Lange betont, gilt Mündlichkeit schon in der Alltagswahrnehmung vielfach als „als Ort der Gedankenproduktion“ und „als Bereich des Zwanglosen“.Footnote 32 Analog dazu unterstreicht Bernhard Asmuth, dass sich die mündliche Sprachproduktion, jedenfalls im Bereich der Wechselrede, „spontaner“ vollziehe als schriftliche Äußerungen.Footnote 33 Fiktionale Gesprächsliteratur im AllgemeinenFootnote 34 und sprachdidaktische Musterdialoge im BesonderenFootnote 35 knüpfen in ihrer Gestaltung an solche Vorstellungen von der Mündlichkeit an, allerdings erweist sich jegliche Form der Spontaneität, die man in ihnen auf den ersten Blick zu finden scheint, bei näherem Hinsehen als eine bloße Inszenierung: Auch wenn die Modellgespräche sich thematisch und stilistisch durchaus an der mündlichen Rede orientieren, kommt es in ihnen mitnichten zu einem freien „Wechselspiel von Rede und Gegenrede“,Footnote 36 d. h. zu echter Dialogizität. Auch wenn die Figuren in lebhafte Gespräche verwickelt scheinen, gibt hier nicht situationsspezifisch ein Wort das andere, sondern Gesprächsverlauf wie Gesprächsausgang sind und bleiben de facto vom monologisch agierenden Autor ein für alle Mal schriftlich festgelegt.

Variationen des im Musterdialog inszenierten Redewechsels können allenfalls im Kopf der Leser stattfinden. Im Blick auf ein frühneuzeitliches Lesepublikum wird man allerdings davon ausgehen müssen, dass hier, wie bereits oben angesprochen, nicht der Wunsch nach Variation, sondern eher das Bemühen im Vordergrund stand, fiktive Sprachlehrdialoge auswendig zu lernen. Damit aber entstand ein praktisches Problem: Wo Leser auf der Basis auswendig gelernter Wortwechsel in weiterer Folge selbst in der Fremdsprache zu kommunizieren versuchten, darf man vermuten, dass auch ihre Redebeiträge mitnichten zwanglos und spontan ausfielen. Eher wird man ihnen unterstellen dürfen, dass sie, zumindest bei der ersten Erprobung ihrer neuen Kenntnisse, ein sehr starres, holzschnittartiges Gesprächsverhalten an den Tag legten. Vielleicht werden einige Nutzer, die sich im konkreten Gespräch ihrer Sache noch nicht ganz sicher waren, gar das Sprachlehrwerk selbst zur Hand genommen und passende Sätze aus den Modellgesprächen vorgelesen haben.Footnote 37

Auch wenn die Inszeniertheit zweisprachiger Modellgespräche zu praktischen Problemen in der Nutzung derselben geführt haben dürfte, hatte sie indes gleichzeitig auch einen eindeutigen Vorteil: Gerade durch ihre planvolle Gestaltung vermochten die Musterdialoge ihrem zeitgenössischen Publikum zugleich „konventionelle Idealnormen“ für das Gesprächsverhalten in bestimmten Situationen zu verdeutlichen.Footnote 38 Ihrer Gestaltung eignete damit ein gezielt utopisches Moment.

3 Die Makrostruktur der im Wegweiser vertretenen Musterdialoge

Im Hinblick auf ihre Themen bzw. auf ihre konversationsbestimmenden fiktionsinternen Kontexte lassen sich die 16 Dialoge der ersten Wegweiser-Auflage wie folgt charakterisieren:

  1. 1.

    Begrüßung eines Besuchers und wechselseitige Erkundigung nach dem Befinden

  2. 2.

    Gespräch beim morgendlichen Aufstehen

  3. 3.

    Konversation beim und über das Frühstück

  4. 4.

    Gespräch während eines Spaziergangs im Garten und beim Kegelspiel

  5. 5.

    Redewechsel beim gemeinsamen (Abend-)Essen

  6. 6.

    Unterredung zwischen einem Gastgeber und seinem Gast

  7. 7.

    Wortwechsel beim Kauf einer Perücke

  8. 8.

    Konversation eines wartenden Besuchers mit dem Diener des noch abwesenden Hausherrn

  9. 9.

    Gespräch über einen Sprachmeister, der französische Stunden anbietet

  10. 10.

    Unterredung mit dem zuvor genannten Sprachmeister

  11. 11.

    Unterhaltung über eine Verletzung, die den Sohn eines Gesprächspartners betroffen hat

  12. 12.

    Redewechsel mit dem Diener bei der morgendlichen Toilette

  13. 13.

    Gespräch über einen besuchten Gottesdienst

  14. 14.

    Essenseinladung und nachfolgendes Tischgespräch

  15. 15.

    Lehrer-Schüler-Gespräch über das Schönschreiben

  16. 16.

    Diskussion über einen Uhrenkauf

Analysiert man die Anordnung der Gespräche, so wird deutlich, dass sich der Autor in der makroskopischen Gliederung nicht darum bemüht hat, die verschiedenen Themenfelder in eine logische Abfolge zu bringen. Sieht man vom klar erkennbaren thematischen Zusammenhang der Gespräche 9 und 10 ab, erwecken lediglich die Gespräche 1–5 den Eindruck einer logischen Aneinanderreihung, insofern sie die Chronologie eines Tages vom Aufstehen bis zum Abendessen abbilden. Ansonsten scheinen die entworfenen Gesprächssituationen mehr oder weniger wahllos aneinandergereiht.

Auch scheint die Dialogabfolge keinem sprachdidaktischen Anordnungsmuster, wie etwa einer konsequenten Reihung im Blick auf steigende sprachliche Anforderungen, zu gehorchen: Weder bei den grammatischen Strukturen noch bei den semantischen Elementen der Gespräche kommt es zu einer kontinuierlichen Erhöhung des Komplexitätsgrades. Auffällig ist lediglich eine gewisse Längenzunahme der Einzelgespräche. Zum Einstieg, so könnte man sich vorstellen, empfiehlt sich durchaus die Auseinandersetzung mit dem ersten Gespräch oder möglicherweise auch mit den ersten fünf Gesprächen, für die unten noch eine gewisse Zusammengehörigkeit auf der Ebene der Handlung aufzuweisen sein wird. Die Entscheidung, mit welchem Dialog sich der Leser im Anschluss daran befasst, bleibt aber seinen Bedürfnissen und Interessen vorbehalten.

Wer schließlich – angeleitet oder im Selbststudium – alle 16 Gespräche durchgegangen ist und sie, teilweise oder zur Gänze, memoriert hat, der ist auf eine Vielzahl möglicher Kommunikationssituationen in der Fremdsprache Englisch vorbereitet. Alle imaginierten Unterredungen lassen sich dabei im Gesamtkontext eines sozioökonomisch privilegierten Lebens situieren. Den Figuren der Dialoge begegnet man in ihren Mußestunden, z. B. bei Besuchen, gemeinsamen Mahlzeiten, Spaziergängen, Spielen und (Luxus-)Einkäufen, beim Erlernen gehobener Kulturtechniken (Kalligraphie, Französisch) oder bei der Morgen- und Abendtoilette, nicht aber bei irgendeiner schweißtreibenden physischen Tätigkeit. Bei ihren Äußerungen handelt es sich entweder um Anweisungen an Dienstboten oder um Konversationen mit sozial Gleich- oder Höhergestellten, in denen Komplimente und Neuigkeiten ausgetauscht werden. Es lässt sich vermuten, dass der Autor mit der fiktionalen Darstellung solcher Gesprächskontexte und Unterredungsarten den Lebensumständen der von ihm und seinem Verleger anvisierten künftigen Käufer des Werks möglichst nahezukommen versucht, um ihnen einen möglichst brauchbaren – und damit möglichst attraktiven – Lernstoff bieten zu können.

Dass zwei der Gespräche den Verkauf von Waren thematisieren und auch im Falle des Sprachunterrichts über den Preis dieser Leistung diskutiert wird, mag, zusammen mit dem Entstehungsort des Werks und mit den oben angeführten Hinweisen zum sozialen Hintergrund der namentlich erwähnten Leser, als Indiz dafür genommen werden, dass K. mit seinem Werk vorrangig gut betuchte Eliten, darunter nicht zuletzt auch unternehmerisch tätige Kaufleute und Handwerker, als Leser im Blick hatte: Gerade für die Gruppe der Unternehmer könnte das Auswendiglernen der literarisch inszenierten VerkaufsgesprächeFootnote 39 und der dargebotenen fiktiven Diskussionen über die Bezahlung von Dienstleistungen einen unmittelbaren beruflichen Mehrwert gehabt haben. Die in den Mußestunden angesiedelten Konversationen könnten in diesem Zusammenhang als sprachliche Vorbereitung auf die repräsentativen Pflichten von Unternehmern bei Reisen ins Ausland wie auch bei der Kontaktaufnahme mit ausländischen Geschäftspartnern interpretiert werden, deren Vertrauen es zu gewinnen galt. Aber nicht nur angesehenen Kaufleuten und Handwerkern, auch anderen Angehörigen des Hamburger Patriziats wie Gelehrten oder Geistlichen dürfte die Vorbereitung darauf, im Ausland oder im Umgang mit Sprechern anderer Erstsprachen ihrem Stand gemäß zu konversieren und im Bedarfsfall auch Geschäfte abzuwickeln, entgegengekommen sein.

Dass in diesen privilegiert-bürgerlichen Alltag wie selbstverständlich auch der Unterricht bei einem Sprachmeister integriert wird, könnte dabei als Werbemaßnahme K.s interpretiert werden, wenngleich in den beiden Dialogen, die den Unterricht beim Sprachmeister zum Gegenstand haben, nicht Englisch, sondern die höfische Sprache Französisch gelernt wird.

4 Die Mikrostruktur der im Wegweiser vertretenen Musterdialoge

Nach der literarischen bzw. literarästhetischen Qualität der Musterdialoge fragt Kilian im Zusammenhang seiner Forschungen nicht. Dabei erscheint es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass eine poetisch wohldurchdachte, ansprechende Gestaltung solcher Texte für die Produzenten eines Sprachlehrwerks im Konkurrenzkampf um ein möglichst großes Lesepublikum mit Wettbewerbsvorteilen verbunden gewesen sein könnte. Bei Lehrwerken, die aus der Feder eines Sprachmeisters stammten, könnten sich mit einer literarisch attraktiven Gestaltung dieser wichtigen Textpartien noch zwei weitere potenzielle Vorteile verbunden haben: Zunächst durften Sprachlehrer, welche die von ihnen publizierten Werke im eigenen Sprachunterricht verwendeten,Footnote 40 möglicherweise darauf hoffen, durch die literarisch-ästhetischen Qualitäten der Modellgespräche den bereits von ihnen unterrichteten Schülern einen besonders attraktiven (und damit besonders konkurrenzfähigen) Unterricht zu bieten und sie so langfristig an sich zu binden. Andererseits könnte die Publikation literarisch wohlgestalteter Modellgespräche für sie auch mit der Perspektive verbunden gewesen sein, über dieses ansprechende Lehrmittel womöglich neue Interessenten für das eigene Unterrichtsangebot zu gewinnen.Footnote 41

Angesichts der skizzierten potenziellen Vorteile einer literarisch attraktiven Lehrwerksgestaltung stellt sich die Frage, ob und ggf. inwiefern sich K. in seinem Wegweiser um eine entsprechende Gestaltung seiner Musterdialoge bemühte. Auf den ersten Blick wird man bei der Suche nach literarischen Qualitäten seiner Modellgespräche enttäuscht. In Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Musterunterredungen in zeitgenössischen Lehrwerken weisen die von K. inszenierten Gespräche eine Eigenschaft auf, die in genuin literarischen Dialogen nicht nur sehr unüblich ist, sondern auch kaum anders denn als Störfaktor wahrgenommen werden könnte: Um die Leser auf möglichst viele Gesprächsvariationen im Rahmen eines bestimmten Konversationskontextes vorbereiten zu können, werden in den einzelnen Dialogen des Wegweisers punktuell mehrere Äußerungsalternativen zu einem vorgegebenen Handlungsrahmen (z. B. gemeinsame Mahlzeit, An- und Auskleiden) angeführt und außerdem wiederholt mehrere denkbare Antwortalternativen für eine vorangehende Äußerung präsentiert.Footnote 42 Als beispielhaft für die letztgenannte Vorgehensweise können etwa die nachfolgend zitierten Zeilen aus dem ersten Dialog gelten, die dabei der besseren Analysierbarkeit halber um eine Zeilennummerierung ergänzt werden. Wie auch die künftigen Zitate aus K.s Dialogen werden sie hier, aus platzökonomischen Gründen, nur in der deutschen Version angeführt.

  1. 1.

    Was macht der Herr Vater?

  2. 2.

    Er ist wohl.

  3. 3.

    Die Frau Mutter?

  4. 4.

    Sie ist wohl/ GOTT sey Danck.

  5. 5.

    Es ist mir lieb.

  6. 6.

    Er ist kranck.

  7. 7.

    Sie ist ein wenig unpäßlich.

  8. 8.

    Es ist mir Leyd.

  9. 9.

    Was schadet ihm?

  10. 10.

    Was schadet ihr?

  11. 11.

    Er hat Haupt = Weh/

  12. 12.

    Sie hat ein stetes Fieber.Footnote 43

Gesprächslogisch lassen sich die in dieser Textpassage aufeinanderfolgenden Äußerungen nicht miteinander vereinbaren. Wer sie Zeile für Zeile liest und aus dieser Lektüre einen nachvollziehbaren Gesprächsablauf zu rekonstruieren versucht, ist zum Scheitern verurteilt. Abgesehen davon, dass der Gesprächsfokus zwischen dem Befinden des Vaters und der Mutter oszilliert, lässt sich auch das, was über den Gesundheitszustand dieser Figuren ausgesagt wird, nicht widerspruchsfrei miteinander vereinbaren: Insofern die angeführten Redebeiträge gleichermaßen diskontinuierlich wie auch inkompatibel erscheinen, weisen sie einen sehr geringen Kohärenzgrad auf.Footnote 44

Anstelle einer chronologischen Lesestrategie empfiehlt sich hier eine Lektüre, in deren Rahmen die Äußerungen unter Auslassung einzelner Passagen neu zusammengesetzt werden:Footnote 45 So wäre etwa ein logisch sinnvolles Gespräch denkbar, das sich auf die Zeilen 1–5 beschränkt. Ein anderes, in sich schlüssiges Gespräch könnte beispielsweise die Zeilen 1–3 mit den Zeilen 7–8 sowie mit den Zeilen 9 und 11 kombinieren. In sich schlüssig wäre auch eine Kombination der Zeilen 1, 6 und 10 und eine anschließende Fortsetzung des Dialogs mit den Zeilen 3 und 4 usw.

Während hier durch die Anordnung der Antwortmöglichkeiten nur die Gesprächsinhalte inkompatibel und inkohärent erscheinen, bringt die Aneinanderreihung von Konversationsalternativen an anderer Stelle sogar das Gerüst der zeitlichen Abläufe ins Wanken, wenn es heißt:

Was ist die Glocke?

Es ist acht Uhr.

Jst es so spät.

Ja wahrlich.

Jch höre die Glocke.

Zehlet sie.

Jch hab sie gezehlet.

Es ist Neun.Footnote 46

Eine Immersion in eine literarisch erdachte WeltFootnote 47 ist unter solchen Umständen im Lesevorgang kaum möglich, an ihre Stelle tritt der Zweckrationalismus eines nüchternen Lehrwerksstudiums, das ausschließlich den effizienten Erwerb von Gesprächskompetenzen für ganz unterschiedliche kommunikative Situationen im Blick hat.

Nicht immer allerdings sind die Antwortalternativen so plump eingefügt und damit so störend für das Eintauchen in die innerfiktionale Wirklichkeit wie an den oben zitierten Stellen. Bisweilen werden die verschiedenen möglichen Repliken so elegant aneinandergereiht bzw. so organisch in den fiktiven Handlungsrahmen integriert, dass der Leser sie, wenn er möchte, ganz ohne logische Irritationen auch als fortlaufende Redewechsel interpretieren kann. Man betrachte dazu etwa die folgenden Zeilen des vierten Gesprächs, in dem ein Kegelspiel stattfindet:

Jch habe verlohren

Jch habe gewonnenFootnote 48

Da im Wegweiser die Redebeiträge nicht mit den Namen oder Initialen ihrer Urheber versehen sind und die Sprecherwechsel, sofern nur einzeilige Redebeiträge vorliegen, auch im Satz nicht klar markiert werden, bleibt es in der hier zitierten Textpassage offen, ob an dieser Stelle zwei Antwortalternativen für einen Sprecher angeführt sind oder erst ein Gesprächsteilnehmer seine Niederlage und dann ein anderer seinen Sieg konstatiert. Ein Leser, dem es in seiner Lektürehaltung um die Immersion in die mögliche Welt des fiktionalen Textes zu tun ist, hat hier die Möglichkeit, die beiden Zeilen zwei verschiedenen Sprechern in den Mund zu legen und damit die genussvolle Illusion, Zeuge eines authentischen Gesprächs zu sein, für sich zu retten.

Aber selbst dort, wo ein Dialog aufgrund logischer Brüche in mehrere logisch schwer miteinander zu vereinbarende Textteile zerfällt, muss diesem Text nicht zwingend jegliche literarische Qualität abgesprochen werden. Zwischen disparaten Dialogteilen treffen wir in den einzelnen Gesprächen des Wegweisers immer wieder auf Nuklei einer mimetischen Gesprächsdarstellung. Gemeint sind hier solche Passagen innerhalb eines Musterdialogs, die sich, ohne einen kommunikationslogisch fragwürdigen Einschub von Antwortalternativen, in fortgesetzter diskursiver Logik entfalten. Geben sich die Figuren in diesen Textabschnitten zusätzlich als unverwechselbare Charaktere in einer genauer spezifizierten Lage zu erkennen, statt in austauschbaren Situationen als austauschbare Sprachrohre intersubjektiver kommunikativer Phasen und Normen zu agieren, so kann im Blick auf diese Textteile von Ansätzen zu einer Literarisierung gesprochen werden. In Anlehnung an Überlegungen von Ottmar Ette könnte man in solchen Fällen, die es nachfolgend genauer zu erörtern gilt, das Vorliegen literarischer Mikrotexte konstatieren, müssen doch, nach seiner ‚nanophilologischen‘ Definition, solche Kleinsttexte nicht mehr als einige wenige Wörter umfassen.Footnote 49

Die unspezifische Rede vom Mikrotext lädt im nächsten Schritt zu einer generischen Verfeinerung ein. Schon Ette selbst denkt in diese Richtung, wenn er im Fortgang seiner Überlegungen zwischen „mikrotextueller Lyrik, Epik und Dramatik“ unterscheidet.Footnote 50 Der Potsdamer Romanist bleibt mit einer solchen Einteilung allerdings konsequent der klassischen Gattungstrias verpflichtet. Dies erscheint schon dort nicht unproblematisch, wo er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen etwa Bertolt Brechts dialogisch strukturierte Mikrotexte als „dramatische[ ] Kürzestformen“ klassifiziert,Footnote 51 statt alternativ auch über ihre mögliche Zugehörigkeit zur Gattung des Mikrodialogs nachzudenken.Footnote 52 Im Blick auf die literarischen Mikrotexte des Wegweisers erscheint die zuletzt genannte Gattungsbezeichnung jedenfalls unvermeidlich: Da diese in sich logischen literarischen Nuklei im größeren Zusammenhang eines (kommunikationslogisch brüchigen) Modellgesprächs stehen, wird man sie in jedem Fall primär der Gattung des Dialogs zuordnen müssen. Die primäre Zugehörigkeit der Mikrotexte des Wegweisers zur Gattung des Dialogs bedeutet allerdings nicht, dass K. attraktive Anleihen aus anderen literarischen Gattungen grundsätzlich verschmähte: Wie unten noch systematisch aufgewiesen werden wird, finden auch Komödienelemente in sie Eingang.

Auf der Suche nach Passagen der Modellgespräche, die als literarischer Mikrodialog bezeichnet werden können, wird man schon im ersten Gespräch fündig. Bereits dieses besteht keineswegs durchgängig aus einer gesprächslogisch irritierenden Aneinanderreihung von Antwortalternativen für die Gesprächs- und Besuchseröffnung, sondern es enthält darüber hinaus Passagen, in denen sich ein spezifischer Charakter der Sprecher bzw. ein unverwechselbarer Gesprächskontext abzeichnet. Dies geschieht etwa im folgenden Redewechsel zwischen einem morgendlichen Besucher und seinem munteren Gastgeber:

Wo sind sie [d. h. die Brüder des Gastgebers, M.D.]?

Sie sind zu Bett/

Sind sie nicht auf?

Nein/ noch nicht.

Bringet mir [sic!] zu ihrer Kammer.

Jch darff nicht.

Sie werden zornig.Footnote 53

Unmittelbar vor und nach dieser Textstelle befinden sich zwar Antwortalternativen, die an verschiedene Konstellationen im Haus des Gastgebers denken lassen (die Brüder könnten krank sein, der Gastgeber könnte keine Lust haben, sie zu wecken usw.). Doch zeichnet sich in den wenigen oben zitierten Zeilen gleichsam ein konkretes Genrebild ab. Für den Gast wie auch für den Gastgeber scheint offenbar ein frühes Aufstehen selbstverständlich und überdies im Rahmen der geltenden sozialen Konventionen geboten: Letzteres geht aus der erstaunten Nachfrage des Gastes hervor, ob sich die Brüder des Besuchten wirklich noch im Bett befinden. Die Figuren, die hier als Gesprächsgegenstand fungieren, geben sich hingegen einem anderen Lebensrhythmus hin. Sie haben ihrem Bruder offenbar ausdrücklich verboten, morgens geweckt zu werden. Dieser scheint seinen beiden Verwandten gegenüber in einer unterlegenen Position zu sein, fürchtet er sich doch vor ihrer zornigen Reaktion. Der Gast wirkt aufgrund seiner Bitte, in die Schlafkammer geführt zu werden, forscher als sein Gastgeber: Selbstbewusst sieht er in seinem eigenen Erscheinen offensichtlich Grund genug, die Langschläfer trotz ihrer anderslautenden Wünsche zu wecken.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Kommunikationslogik in den folgenden Zeilen durch die neuerliche Einfügung von Antwortalternativen unterbrochen wird, zeichnet sich im Folgenden ab, dass der Gast sich mit seinem Ansinnen durchsetzen und seinen Gastgeber überreden kann, mit ihm ans Bett seiner Brüder (oder zumindest eines derselben) zu treten. Dies wird am Ende des ersten, aber auch am Beginn des folgenden zweiten Gesprächs deutlich, wo es heißt:

Wer ist da?

Jch bins Bruder.

Wer ist bey euch?

Es ist Mr. Peter.

Guten Morgen Mr. Peter.

Jhr seyd sehr früh auff/

Kompt zu mir herein.Footnote 54

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die literarischen Mikrodialoge, die sich innerhalb der Modellgespräche des Wegweisers finden, eine Eigenschaft aufweisen, die in den von Ette betrachteten literarischen Mikrotexten nicht vorkommt: Sie stehen im Zusammenhang eines größeren Textganzen. Im Fall des hier gewählten Beispiels erstreckt sich dieser größere Konnex sogar über die Grenzen des einzelnen Modellgesprächs hinweg. Er umfasst mindestens das erste und das zweite Gespräch, ja er mag sich, angesichts der Tatsache, dass der im Zitat genannte Mr. Peter auch im dritten und fünften Dialog nochmals angeredet wird,Footnote 55 sogar über die ganze Folge der ersten fünf Dialoge erstrecken. Zumindest innerhalb des jeweiligen Einzelgesprächs sind solche Konnexe zwischen Mikrodialogen, aber auch in anderen Passagen des Wegweisers Standard. Auch wenn die Einfügung von Antwortalternativen die Kontinuität der Musterdialoge auseinanderreißt und die Gesprächslogik punktuell zerstört, durchtrennen die verschiedenen Möglichkeiten zur Replik also den inneren Zusammenhang der einzelnen Gesprächsabschnitte doch nicht zur Gänze. Daher könnte man hier, statt von literarischen Mikrodialogen zu reden, auch genauer von literarischen Mikrodialogelementen sprechen.

Bereits in der bisher untersuchten Diskussion um das Aufwecken eines Langschläfers hat sich ein gewisser Unterhaltungswert der literarischen Mikrodialoge abgezeichnet. Im zweiten Gespräch schlägt K. weiteren Profit aus der skizzierten Konstellation, indem er den müden Faulenzer voll Situationskomik selbst zu Wort kommen lässt. Den Vorwurf „Jhr seyd sehr träge“ und die Ermahnung, endlich aufzustehen, kontert er mit den Worten:

Lasst mich schlaffen.

Jch wil wieder einschlaffen.

Jch habe die gantze Nacht nicht geschlaffen.

Der Kopff thut mir weh.Footnote 56

Insofern er auf dieses selbstmitleidige Lamento hin nicht Mitgefühl, sondern derbe Vorwürfe erntet („Pfuy/ schämet Jhr Euch nicht so lange im Bette zu liegen?“)Footnote 57, drängt sich der Gedanke auf, dass die erwähnten Kopfschmerzen ihn nicht das erste Mal befallen haben und er an ihnen keineswegs unschuldig ist: Möglicherweise sind sie die Folge eines langen Gelages in der vorangehenden Nacht.

Dass der ans Bett des Langschläfers tretende Besucher auch in der deutschsprachigen Spalte des Textes als „Mr.“ Peter bezeichnet wird, wirft die Frage auf, ob sich bei der Begegnung am Bett des Langschläfers möglicherweise Vertreter zweier Nationen gegenüberüberstehen: Sollte es sich bei Peter um einen Engländer, bei seinem potenziell verkaterten Gesprächspartner aber um einen Deutschen handeln, dann wäre mit der zuletzt genannten Figur möglicherweise ein typisches Nationalstereotyp aufgerufen: Bereits in der italienischen Renaissancekomödie – und in der Folge in weiteren europäischen Dichtungen der Frühen NeuzeitFootnote 58 – wurden gerade die Deutschen als notorische „Trunkenbold[e]“ dargestellt.Footnote 59

Unterhaltsame Gesprächsverläufe finden sich keineswegs nur im ersten und zweiten Gespräch: An anderer Stelle ergibt sich in den fortlaufend entfalteten Redewechseln eine gewisse Situationskomik zum Beispiel dadurch, dass im Dienst spätbarocker Höflichkeit stehende Gesprächskonventionen gezielt ad absurdum geführt werden. So stellt das sechste Gespräch den Lesern eingangs einen Rekonvaleszenten vor Augen, der seinen Freund dafür tadelt, dass er ihn erst jetzt besuche, statt ihn bereits während seiner Krankheit mit einem Besuch beehrt zu haben. Aus diesem Vorwurf entspinnt sich der folgende bemerkenswerte Redewechsel:

Warum hat er nicht einen seiner Leute zu mir gesandt/ ich würde als bald gekommen seyn.

Jch dacht nicht daran/

Jch würde genug zu thun gehabt haben/ nach allen meinen Freunden zu senden.

Er sagt recht/ aber ich vermeine einer von den Nächsten zu seyn.

Denn solte er gekommen seyn/ ohne daß man ihm hatte Boten gesand.

Jch bin über 20. mahl gewesen ihn zu besuchen/ und er war niemahls zu hause.Footnote 60

Der hier zitierte Unterredungsabschnitt lässt keinen Stein der sich zuvor abzeichnenden Ausgangssituation auf dem anderen: Zunächst muss bezweifelt werden, dass die beiden Konversationspartner einander wirklich freundschaftlich zugeneigt sind – wie sonst kann der Gastgeber seinen Gast mit der wenig schmeichelhaften Äußerung brüskieren, dass er schlicht zu viele Freunde habe, um sich die Mühe zu machen, sie alle an sein Krankenbett zu bestellen. Der Einwand des – offensichtlich pikierten – Besuchers, doch „einer von den [n]ächsten“ Freunden seines Gastgebers zu sein, wird von letzterem zwar nicht falsifiziert, doch beinhaltet die Erwiderung des Besuchten einen neuerlichen Tadel des Besuchers („Denn solte er gekommen seyn/ ohne daß man ihm hatte Boten gesand“), was ein weiteres Mal auf eine eher angespannte Stimmung zwischen beiden Gesprächspartnern hinweist. Im letzten Redebeitrag des Gastes schließlich wird der Gastgeber der Lüge hinsichtlich seines Gesundheitszustands überführt: Es kann ihm gar nicht so schlecht gegangen sein, wie er behauptet, da ihn der Freund des Öfteren gar nicht zuhause angetroffen hat. Der Gastgeber, so muss man an dieser Stelle schlussfolgern, hat seine Krankheit offenbar bloß simuliert, um seine Umwelt zu manipulieren und mehr Aufmerksamkeit zu erhalten – ein weiteres typisches Komödienmotiv.

Bereits am Beginn des sechsten Dialogs findet sich außerdem eine neuerliche Anleihe bei der Gattung der Komödie: die unterhaltsame Evozierung eines Missverständnisses durch eine zweideutige Ausdrucksweise. Ausgehend von der floskelhaften gesprächseröffnenden Frage nach dem Befinden entspinnt sich zwischen Gast und Gastgeber folgender Dialog:

Wie Herr/ seyd ihr kranck gewesen.

Herr/ ich wär schier gestorben/

Das ist mir lieb/

Jst es ihm lieb/ Herr?

Des weiß ich Jhm keinen Danck/

Jch meine es ist mir lieb/ daß er schier gestorben wäre.

Wenn er wäre gar gestorben/ würde es mir leyd gewesen seyn. [*]

Jch verstund Jhm nicht/ wenn er sich nicht erkläret hätte.Footnote 61

Im Englischen enthält der von der Verfasserin des vorliegenden Aufsatzes mit einem Asteriskus versehene Satz eine eindeutigere Pointe als in der oben zitierten deutschen Version: „J mean i am glad of it that you did but almost die. Jf you had been quite dead i would have been sorry for it“.Footnote 62 So sehr der Besucher hier um die Richtigstellung seiner Äußerung bemüht scheint, so pikant ist und bleibt doch seine vorangehende zweideutige Formulierung. Betrachtet man die zuletzt zitierten Zeilen im Lichte der zuvor untersuchten Gesprächspassage, in der es zwischen den beiden Gesprächspartnern zu eindeutig gewollten Sticheleien kommt, so stellt sich die Frage, ob dem Besucher mit seiner zweideutigen Aussage tatsächlich ein unbeabsichtigter Fehler unterläuft oder ob er sich nur arglos stellt und wohlbedacht eine missverständliche Äußerung tätigt.

Unabhängig davon, wie man die Äußerung im konkreten Fall zu bewerten hat, passt gerade diese Textpassage besonders gut in den Kontext eines Sprachlehrwerks: Schließlich kommen sprachliche Missverständnisse, auch solche, die bei den kompetenteren Sprechern Heiterkeit zu erwecken vermögen, gerade bei Sprachanfängern, die sich um die Kommunikation in einem fremdsprachigen Umfeld bemühen, besonders oft vor. Für einen Fremdsprachenlerner ist es daher durchaus empfehlenswert, des Risikos, bei seinen Hörern Komik zu erzeugen, gewärtig zu sein, und ggf. selbstbewusst eine Selbstkorrektur des zuvor Gesagten vorzunehmen. Für ein solches Verhalten kann er sich die Reaktion des Besuchers in der zuletzt zitierten Textpassage, ungeachtet der Brisanz des dort Gesagten, durchaus zum Vorbild nehmen. Neben seinem Unterhaltungswert hat der zitierte Redewechsel damit auch noch einen konkreten sprachdidaktischen Nutzen.

Dass die mikroliterarischen Nuklei in die pragmatischen Erwägungen des Lehrwerksverfassers eingebunden sind, dass K. also auch im Zuge der poetischen Durchgestaltung des Textes stets mögliche Lerneffekte bei seinen Lesern im Blick hat, zeigt sich auch an dem Umstand, dass die Dialoge wiederholt in satirischer Weise solche Verhaltensmuster darstellen, die für das soziale Fortkommen unvorteilhaft sind. Durch die derbe Darstellung des sittlich Verbotenen erhöht sich nicht bloß der Unterhaltungswert des Werks, sondern es bietet sich zugleich auch die Möglichkeit, „durch Diffamierung von Unarten Lebensart zu vermitteln“.Footnote 63 Besonders deutliche Ansätze zu einer humorvoll-unterhaltsamen Diskreditierung sozial unerwünschten Verhaltens zeigen sich im 12. Gespräch, einem Musterdialog, der in zweifacher Hinsicht einen hohen Grad an Literarisierung aufweist. Einerseits verzichtet er auf die Anführung von logisch unvereinbaren Gesprächsalternativen, welche die Immersion des Lesers in die Gesprächssituation stören könnten, andererseits aber werden einem der beiden Gesprächspartner so eigenwillig-unterhaltsame Charakterzüge verliehen, dass dem konkreten Gesprächsverlauf eine gewisse Unverwechselbarkeit eignet: Bereits zu Beginn des Kapitels wird deutlich, dass der Herr, der im Rahmen des Gesprächs seinem Diener verschiedene Anweisungen zu seiner Morgentoilette gibt, einen auffallend derben Wortschatz verwendet: Eine säumige Wäscherin beschimpft er kurzerhand als „Vettel“.Footnote 64 Doch liegt seine wesentliche Unart nicht auf dem Gebiet der Sprache, sondern in seiner Achtlosigkeit in praktischen Dingen. So lesen wir zum Ankleideprozess etwa die folgenden Zeilen:

Will der Herr nicht sein rein Hemd anthun?

Ja gewiß/ gib es mir.

Jch hatte es vergessen.Footnote 65

Nicht genug damit, dass für die Figur die Reinlichkeit seines äußeren Erscheinungsbildes nicht wie geboten im Fokus seines Ankleideprozesses steht – bald darauf zeichnet sich zudem ab, dass der Herr es auch mit den für seine tägliche Toilette benötigten Gegenständen und mit seinen sonstigen Habseligkeiten nicht besonders genau nimmt:

Wo ist sein Kamm Herr?

Weißt du nicht/ daß er in meiner Rocks=Tasche stecket.

Er ist nicht da Herr.

So habe ich ihn verlohren.Footnote 66

Den eilfertigen Vorschlag des Dieners, ihm einen neuen „gute[n] Horn-Kamb“ zu besorgen, der dann allerdings „wenigstens einen Schilling kosten“ werde, quittiert er mit der gleichgültigen Antwort „Er koste was er wolle“,Footnote 67 – einer Replik, die ihn als Verschwender ausweist. Noch deutlicher wird sein sorgloser Umgang mit dem Geld, als sich in weiterer Folge auch noch der Schlüssel zu seiner Geldtruhe als unauffindbar erweist:

Jch hatte ihn gestern Abend.

Jch erinnere mich nicht/ wo ich ihn habe hingethan.

Er kan nicht verlohren sein.Footnote 68

Dass sich diese Vermutung glücklicherweise als richtig erweist – der Schlüssel wird schließlich an seinem Nagel gefunden – ändert nichts daran, dass die gleichgültige Orientierungslosigkeit des Herrn bei seiner Alltagsbewältigung verantwortungslos erscheint. In der Frage der Körperhygiene wagt der Diener seinen Vorgesetzten schließlich sogar offen zu tadeln – ohne damit allerdings sonderlich erfolgreich zu sein:

Der Herr hat seine Hände nicht gewaschen,

Jch vergaß es.

Es schadet nichts/ sie sind nicht unsauber.

Jch wusch sie gestern Abend als ich zu Bette ging.Footnote 69

Die Tatsache, dass an der zuletzt zitierten Stelle, aber auch in anderen Passagen des Gesprächs der Diener gleichsam als Erzieher seines Herrn auftritt, lässt vermuten, dass es sich bei dem Letzteren um einen noch recht jungen Mann handeln könnte. Dies wiederum könnte als Hinweis darauf gewertet werden, dass auch die Musterdialoge selbst sich vor allem an wohlhabende junge Leser richten, die sich vor einer größeren Reise, sei es einer peregrinatio academica, einer Kavalierstour oder einer Reise im Dienste des väterlichen Betriebs und der eigenen Handels- oder Handwerkslehre, bereits erste Kenntnisse in den Sprachen der bereisten Länder aneignen wollen.Footnote 70 Die Neugestaltung der Dialoge in der Wegweiser-Ausgabe von 1713, auf die im vorletzten Abschnitt vergleichend eingegangen werden soll, ist dazu angetan, die Hypothese von der primären Adressierung betuchter männlicher Jugendlicher und junger Männer zusätzlich zu stützen, verweisen die fiktiven Unterredungen der vierten Auflage doch, wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, sehr deutlich auf eine privilegierte juvenile Lebenssituation.

5 Die Musterdialoge in der Wegweiser-Ausgabe von 1713 und ihre Implikationen für den Entstehungs- und Verwendungskontext des Werks

Wie aus der tabellarischen Übersicht in Abschn. 2.1 ersichtlich wird, verringert sich in der Ausgabe von 1713 die Zahl der Gespräche von 16 auf drei. Möglicherweise lässt sich die Reduktion der Dialoganzahl, die zugleich auch eine Reduktion der dialogisch erschlossenen Konversationssituationen darstellt, mit einer anderen strukturellen Veränderung der Neuauflage in Zusammenhang bringen: Wie aus der in Abschn. 2.1 zusammengestellten Tabelle hervorgeht, werden in der Auflage von 1713 die Vokabeln nicht mehr alphabetisch, sondern onomastisch gegliedert, so dass sich die thematische Präsentation des Vokabulars nun nicht mehr ausschließlich auf die Dialogfolge beschränkt. Damit aber sind, so ließe sich argumentieren, die Modellgespräche funktional entlastet: Sie müssen, anders als in der Ausgabe von 1699, nicht mehr die ganze Vielfalt des Alltagsgeschehens abdecken. Denselben Grund könnte man auch hinter einer anderen Veränderung der Dialoggestaltung in der vierten Auflage, nämlich hinter der Reduktion dialogintern präsentierter Antwortalternativen vermuten.Footnote 71

Möglicherweise resultiert die Verminderung der Dialoganzahl und der Zahl an alternativen Antwortmöglichkeiten aber auch weniger aus didaktischen, denn aus praktischen Erwägungen: Die Erweiterung der werkintern vermittelten Sprachkenntnisse auf das Italienische (vgl. Abschn. 2.1) führt zu einer Ergänzung des vormals zweispaltigen Dialogteils um eine dritte Spalte, so dass weniger Redewechsel auf einer Seite unterzubringen sind. Angesichts der Tatsache, dass die Ausgabe von 1713 im Vergleich zu jener von 1699 bereits in der bestehenden Version um ca. 60 % mehr Seiten aufweist, mag die Verkürzung der Dialoganzahl von 16 auf 3 schlicht ein Gebot der verlegerischen Vernunft gewesen sein.

Im Rahmen der Neubearbeitung hat sich der Autor entschieden, nicht einfach drei Dialoge aus der Ausgabe von 1699 zu übernehmen, sondern den Lesern neue Texte anzubieten, die freilich durchaus inhaltliche und personelle Überschneidungen zu den Dialogen der Erstauflage aufweisen. Eine Betrachtung der Überschriften und Inhalte ergibt folgendes Bild:

Gespräch 1:

„Das Erste. Welches handelt von Grüssen/ Aufstehen und Abscheid nehmen/ samt etlichen Fragen.“

(Morgenszene: Eintreffen eines Gastes bei einem chaotischen Langschläfer und seinem Diener; Handschuhkauf)

Gespräch 2:

„Das Zweite.“

(Besprechung potenzieller Aktivitäten; Tischgespräch in einem Wirtshaus)

Gespräch 3:

„Das dritte Gespräch.“

(Konversation zweier Gesprächspartner bei einem Spaziergang u. a. über Zeitvertreibe; anschließende Einkehr in der Wohnung des einen Gesprächspartners; Zu-Bett-Gehen)

Wie in den Dialogen 1–5 der ersten Auflage entfaltet sich auch hier die Chronologie eines Tagesablaufs. Zudem gibt es markante Übereinstimmungen in der Figurendarstellung: Wie im zweiten Dialog der Erstauflage begegnet uns in der ersten Unterredung der vierten Auflage ein sorgloser Langschläfer, den sein Besucher im Bett überrascht. Dieser Faulenzer scheint mit dem liederlichen Protagonisten des zwölften Gesprächs von 1699 zu einer Figur verschmolzen, da er, wie der in der Erstauflage entworfene Chaot, augenscheinlich keinen rechten Überblick über seine persönlichen Besitztümer hat: Aus dem Wortwechsel geht zunächst hervor, dass er nicht einmal weiß, wie viele Hemden er besitzt, so dass er sich bei seinem als „Jung“ bzw. „Boy“ apostrophierten Diener danach erkundigen muss („Wieviel habe ich denn in allem“)Footnote 72. Doch nicht genug damit, dass er die Zahl seiner Besitztümer nicht anzugeben weiß, darüber hinaus scheint er auch recht nachlässig mit ihnen umzugehen: So wird er vom Diener fast vorwurfsvoll darauf hingewiesen, dass ihm aktuell nur ein einziges sauberes Hemd zum Anziehen zur Verfügung steht.Footnote 73 Während sich einige Hemden bei der Wäscherin befinden, verkommen „die andern unsauber“ in einer „Kisten“,Footnote 74 ohne dass ihr Besitzer den geringsten Überblick darüber hätte. Um seine sonstigen Gewänder ist es offenbar nicht besser bestellt, „mangeln“ doch an einem feinen grauen Anzug „mit güldenen Schnüren“, wie der Diener anmerkt, „ich weiß nicht, wie viel Knöpffe“.Footnote 75 Auch über die Uhrzeit ist der Herr nicht orientiert: Obwohl es bei seinem Erwachen fast 8 Uhr ist, denkt er doch, dass es noch „nicht […] mehr denn sieben sey[n]“ könne.Footnote 76

Aus der Dialoggestaltung der Erstauflage übernommen ist im ersten Dialog von 1713 weiterhin die Figur eines Besuchers, der gleich zu Beginn des Textes ans Bett des Langschläfers tritt und ihn zurechtweist. Bei ihr handelt es sich auch in diesem Fall wieder um einen gewissen Peter, der nun aber im deutschen Text nicht mehr als „Mr.“, sondern als „Herr“ angeredet wird.Footnote 77 In der Begrüßungsszene von 1713 erhält nun zusätzlich auch der Langschläfer selbst einen Namen: Er wird von Peter als „Herr Anthonius“ angeredet.Footnote 78 Präzisiert wird auch, welchem Stand der Gastgeber angehört. Peter bezeichnet Anthonius ausdrücklich als „brafen“ und später als „Christlichen Cavalier“.Footnote 79 Dabei geht es ihm mit dieser Anrede beide Male vor allem darum, seinen Gastgeber bei seiner Standesehre zu packen: Gerade für einen braven Kavalier sei es „eine Schande“, so lange zu schlafen,Footnote 80 heißt es zu Beginn, und später lässt der Gast Anthonius wissen, dass ein christlicher Kavalier sein Morgengebet nicht vergessen dürfe.Footnote 81

Aus Peters Mund ist nun, anders als in der Ausgabe von 1699, auch explizit zu vernehmen, dass der Langschläfer der „Jugend“ zuzurechnen ist.Footnote 82 Anders als im zweiten und zwölften Dialog der ersten Auflage können wir also in diesem Fall ganz sicher sein, es mit einem noch jungen Mann zu tun zu haben. Dass der noch nicht zu vollendetem Benehmen gereifte Jugendliche sich noch in Ausbildung befindet, geht auch aus Anthonius’ Hinweis hervor, dass er nun zur „Academie“ aufbrechen wolle.Footnote 83

Möglicherweise handelt es sich bei der Institution, zu deren Besuch sich Anthonius mit „Mantel und Degen“ versieht,Footnote 84 um eine Ritterakademie, wie es sie um 1713 vielerorts gab. Der eine oder andere der von K. unterrichteten Knaben und jungen Männer mag zur weiteren Ausbildung auf eine solche Schule im In- oder Ausland geschickt worden sein. Tatsächlich existierte sogar in Hamburg selbst für kurze Zeit eine solche Einrichtung, auf welche K. hier anspielen könnte: Die Hamburger Ritterakademie bestand allerdings nur von 1679 bis 1681.Footnote 85 Als privates Institut wurde sie von einem „französisch-calvinistische[n] Tanzmeister namens Charles Des Hayes“ geleitet, der in seiner Bildungsstätte „neben den eigentlichen ritterlichen Künsten Reiten, Fechten und Tanzen auch andere Fächer, darunter Mathematik, Geographie, Geschichte, alte und moderne Sprachen sowie Musik“ anbot.Footnote 86 Dass Des Hayes’ Bildungsangebot so kurzlebig war, lag nicht etwa an einer fehlenden Nachfrage, sondern am erbitterten Widerstand des Hamburger Akademischen Gymnasiums und am daraus resultierenden Urteil des Senats, welches Des Hayes den Schulbetrieb weitgehend untersagte: Der Hugenotte wurde in seiner Lehrtätigkeit stark eingeschränkt und musste noch 1681 hochverschuldet die Stadt verlassen.Footnote 87

Es erscheint grundsätzlich denkbar, dass die Tätigkeit K.s als Sprachmeister und Lehrwerksautor direkt oder indirekt mit dieser gescheiterten Schulgründung im Zusammenhang steht. So bestünde etwa die Möglichkeit, dass K. 1679 im Gefolge von Des Hayes als Sprachmeister in die Stadt kam – und auch nach dessen Flucht 1681 dort tätig blieb. Auf der „Holztafel“, die Des Hayes an seiner Akademie anbrachte, und in den Ausführungen des Akademiegründers zu seinem Stundenplan sucht man konkrete Hinweise auf englischen Sprachunterricht allerdings vergebens.Footnote 88 Nachweislich genannt wird hier nur die Unterweisung im Französischen,Footnote 89 so dass es für die Hypothese, dass K. mit Des Hayes verbunden gewesen sein könnte, keine wirklich stichhaltigen Beweise gibt.

Vielleicht sollte man eher davon ausgehen, dass Des Hayes’ kurzlebiges Projekt die Nachfrage betuchter Bürger nach neusprachlichem Unterricht für ihre Söhne nachhaltig belebt hat – und der Sprachmeister K. in seinem Wirken als Englischlehrer gewissermaßen von den Nachwehen des zwar gescheiterten, dem Zeitgeist aber nach wie vor gemäßen Hamburger Projekts profitierte.

Zurück zur Erwähnung einer „Academie“ im ersten Musterdialog der Ausgabe von 1713: Insofern sich das Sprachlehrwerk, wie oben dargestellt, vornehmlich an junge Hamburger richtete, erscheint es sinnvoll, abschließend eine alternative Deutungshypothese für die im Text genannte Bildungseinrichtung zu prüfen. Wäre es nicht denkbar, dass mit der im Text erwähnten „Academie“ das bereits oben erwähnte Hamburger Akademische Gymnasium gemeint ist?

Eine solche Lesart erweist sich, bei näherem Hinsehen, allerdings als wenig plausibel. Gegen sie lässt sich zunächst einwenden, dass bereits die oben erwähnte Apostrophierung des jungen Mannes als „brafe[r] Cavalier“ ihn als idealtypischen Sprössling einer (adligen) Ritterakademie und nicht einer Gelehrtenschule ausweist. In dieselbe Richtung wie diese Anrede weist sein aufwändiger, um Repräsentation bemühter Lebensstil, der ihn nicht als künftigen Vertreter der vorwiegend bürgerlichen Geisteselite, sondern als – wiewohl noch reichlich unreifen – angehenden Edelmann ausweist: „Der galante Weltmann“, so Nagel,Footnote 90 „war nicht das eigentliche Ausbildungsziel des [Hamburger] Akademischen Gymnasiums“, einer „im Großen und Ganzen […] dem humanistischen Bildungsideal verpflichtete[n] Einrichtung“, die übrigens selbst keine modernen Fremdsprachen wie Englisch oder Französisch in ihrem Curriculum anbot.

Muss man mithin dabeibleiben, dass es sich bei der im Text genannten „Academie“ um eine Ritterakademie handelt, so wirft dies die folgende Frage auf: Welches strategische Ziel verfolgt die Wegweiser-Ausgabe von 1713, wenn sie ihren Lesern schon im ersten Dialog die Lebensrealität eines Kavaliers vor Augen stellt, der eine solche Bildungsstätte besucht? Oder anders: Warum entwirft K. für seine gutbürgerlichen Hamburger Leser die Lebenssituation eines jungen, an einer solchen Akademie studierenden Edelmanns, obwohl es doch in der Hansestadt nach dem Scheitern von Des Hayes’ Projekt überhaupt keine Ritterakademie mehr gab?

Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage findet sich in der bereits oben wiederholt erwähnten Untersuchung Nagels. Wie dieser im Blick auf Des Hayes’ Unternehmung rekapituliert, waren um die Wende des 17. zum 18. Jahrhunderts die Ideale einer adeligen, kavaliersmäßigen Lebensweise gerade für eine vornehmlich bürgerliche Zielgruppe attraktiv: Die „ehrgeizigen Vertreter[] der Mittelschicht“, die vom „Aufstieg in höhere Sphären“ träumten oder diesen ganz konkret vorbereiten wollten, orientierten sich in der Übergangszeit zwischen Barock und Aufklärung nur zu gern am „‚galanten‘ Habitus […] der adligen Oberschicht“, zu welcher, neben anderen Verhaltensweisen, eben auch der Besuch einer Ritterakademie gehörte.Footnote 91

K.s gezielte Referenz auf den galant-adligen Habitus in seinen Musterdialogen von 1713 lässt sich vor diesem Hintergrund als ein strategisch besonders geschicktes Werbemittel interpretieren. Indem er seine dialoginternen Milieudarstellungen hier noch stärker als in der Erstausgabe an den Lebensumständen eines jungen Kavaliers ausrichtete, reagierte er gezielt auf „das Interesse der bürgerlichen Ober- und Mittelschichten an der galanten Bildung“, welches, Nagel zufolge, „als sehr hoch einzuschätzen ist“Footnote 92 – und wohl auch auf die ehrgeizigen Zukunftsphantasien der männlichen Hamburger Jugend. Unabhängig davon, welche Aussichten die jungen Hanseaten im Einzelfall tatsächlich hatten, ihre Aufstiegshoffnungen zu realisieren, konnten sie sich bei der Lektüre dieser Texte in lustvoller Immersion an die Stelle eines privilegierten jungen Adligen setzen, dem es vergönnt ist, an einer Ritterakademie den letzten Schliff einer weltmännischen Erziehung zu erhalten. Insofern sie bei der Lektüre gleichzeitig galante Konversationsformen und Verhaltensweisen kennenlernten, konnten sie hoffen, ihrem Ziel auch ganz praktisch ein Stückchen näher zu kommen. Wo sie schließlich, passagenweise, das Scheitern des jungen Herrn Anthonius an den Vorgaben eines standesgemäßen, distinguierten Benehmens beobachteten, durften sich die jungen Bürger, trotz ihrer niedrigeren Herkunft, sogar in einem Gefühl der Überlegenheit über die literarische Figur ergehen.

6 Ausblick

Auch nach den vorangehenden Betrachtungen bleiben noch viele Fragen zum untersuchten Lehrwerk und seinem zeitgenössischen Entstehungskontext offen. Abgesehen davon, dass die Frage, wer sich hinter den Initialen F. K. verbirgt, in der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden konnte, erschiene es wünschenswert, den Wegweiser mit anderen Englischlehrwerken seiner Zeit – sowie mit anderen im norddeutschen Raum an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert publizierten Sprachlehrbüchern – zu vergleichen. Auch sollte in künftigen Forschungsarbeiten untersucht werden, wo die im Fokus dieses Aufsatzes stehenden Sprachlehrdialoge in ihrer literarischen Gestaltung Ähnlichkeiten mit anderen zeitgenössischen Modellgesprächen aus Fremdsprachenlehrwerken aufweisen und wo sie einen eigenen Weg beschreiten.

Eines immerhin hofft die Verfasserin des vorliegenden Beitrags mit ihrer Untersuchung bereits hinreichend deutlich gemacht zu haben: Auch wenn es sich bei den zweisprachigen Musterdialogen in Sprachlehrwerken und Gesprächsbüchlein primär um Gebrauchstexte handelt, die den Lesern einen fremdsprachigen Wortschatz sowie kommunikative Grundkompetenzen in der mündlichen Interaktion vermitteln sollten, schließt dies mitnichten aus, dass diese erdachten Unterredungen zumindest im Einzelfall auch eine sorgfältige literarische Gestaltung erfuhren, mit welcher der Autor, nicht zuletzt durch die damit verbundene Steigerung des Unterhaltungswerts, die Attraktivität seines Werks zu erhöhen versuchte. Dass die Erforschung der hier betrachteten Gebrauchsform bisher vorwiegend der linguistischen und allenfalls noch der kulturhistorischen Forschung überlassen wurde, erscheint vor diesem Hintergrund wenig zufriedenstellend. Der Texttypus des mehrsprachigen Musterdialogs hätte es ohne Zweifel verdient, künftig auch in der Literaturwissenschaft eine stärkere Beachtung als Gattung sui generis zu finden.