1 Die Insellage und der Königsmord

Es gehört zu den Eigenschaften des britischen Königreichs, das dieses sich über ein Inselreich erstreckt. Andreas Gryphius hat den Inselcharakter Großbritanniens in seinem Trauerspiel Ermordete Majestæt oder Carolus Stuardus. König von Gross Britanien als eine der zentralen Erklärungen für den unerhörten Königsmord hervorgestrichen. Als „insula totius orbis longè celeberrima“Footnote 1 bezeichnete der von Gryphius vielzitierte William Camden sein Mutterland und erklärte dieses damit zur Insel schlechthin. So wird die planvolle Hinrichtung des gekrönten Herrschers bei Gryphius über das gesamte Trauerspiel hinweg als politisches Geschehen auf einer Insel vorgestellt. „Ach! Jnsel rauher denn dein Meer!“Footnote 2 (I.345), singt der Chor der ermordeten englischen Könige am Ende der ersten Abhandlung. Die Ermordung von Königen sei seit Jahrhunderten der „Jnsell Art“ (II.196), stellt der Geist Maria Stuarts düster fest. Vom „Leben/ das uns die Jnsel nimmt“ (II.403‒404), spricht Carolus Stuardus selbst dann vor seinem Hofstaat. Der schottische General Fairfax konstatiert resigniert, die Revolution würde das Königreich „den wilden Jnseln gleich“ (III.384) machen. Der Hoffemeister des Churfürsten kann jene Sichtweise bei der Hinrichtung des Königs nur bestätigen: „Wer wil nun rechte Treu in wilden Jnseln suchen?“ (V.149). Die kontinentale Perspektive des Hoffemeisters stellt das englische Inselreich damit in eine Reihe mit jenen ‚wilden Inseln‘, die in der Neuen Welt entdeckt wurden. Die auf dem Kontinent schockierenden Ereignisse der Englischen Revolution werden zum Anlass einer „Neuvermessung Europas“Footnote 3, die auch die geographischen Inselgegebenheiten in den Blick nimmt.

Dies wird ebenso in den dem Trauerspiel beigegebenen Anmerkungen deutlich (Kurtze Anmerckungen über Carolum). Gryphius hat seine Epitheta von der wilden, mörderischen, untreuen englischen Insel in seinen Anmerkungen ausführlich erläutert. Dabei erweist sich, dass die Insel – in der Neuzeit häufig literarischer Ort politischer und sozialer Experimente (Thomas Morus, Utopia; Francis Bacon, New Atlantis; Grimmelshausens Inselutopie in der Continuatio)Footnote 4 – angesichts der englischen Geschichte als geradezu dystopischer Ort beschrieben werden muss. Während etwa bei Morus die Insel als „ideal environment in which nature and society exist in perfect harmony“Footnote 5 fungiert, kann davon bei Gryphius nicht gesprochen werden. Mit anderen Worten: Die imaginierte Insel als bevorzugter Ort politischer Experimente wird bei Gryphius zum Schrecken verbreitenden Experimentierfeld, zum „Land/ Des rasenden Gebrüts“ (der Geist Maria Stuarts, II.163–164). Gryphius war dabei gut mit den Geschehnissen auf der Insel vertraut, lernte bereits in Danzig einen schottischen Katholiken kennen, hatte in Holland englische Flüchtlinge getroffen und informierte sich, wie die Forschung intensiv herausgearbeitet hat, auf vielfältige Weise über das Hinrichtungsgeschehen, sodass er dieses „gleichsam hautnah miterlebte.“Footnote 6

Schon der von Andreas Gryphius verfasste Kommentar zum Gesang der ermordeten englischen Könige hebt unter Verweis auf Porphyrius hervor: „Britannia fertilis Provincia Tyrannorum“Footnote 7. Das aus der Epistula ad Ctesiphontem adversus Pelagium des Heiligen Hieronymus übernommene Zitat lautet vollständig: „neque enim Britanni, fertilis prouincia tyrannorum, et Scythiae gentes omnesque usque ad oceanum per circuitum barbarae nationes Moysen prophetasque cognouerant.“Footnote 8 Die von Porphyrios im 3. Jahrhundert nach Christus auf die Engländer und Schotten (Scythiae gentes) entworfene Perspektive, die jene zu den barbarischen Völkern zählt, erneuert Gryphius für die königsmörderische Insel des 17. Jahrhunderts. Zugleich ist aufschlussreich, dass Gryphius nicht zufällig aus einem Brief des Heiligen Hieronymus zitiert, der gegen Pelagius gerichtet ist. Pelagius, ein britischer Mönch und Laienprediger, war 418 auf der Synode von Karthago als Häretiker verurteilt worden. Die Polemik gegen die Irrlehre des Pelagianismus hatte vor allem Augustinus angeführt.Footnote 9 Jenem Konflikt, dem „ersten großen theologischen Konflikt der Westkirche“Footnote 10, liegt folglich das Wirken eines häretischen Briten zugrunde.

Gryphius gibt daran unmittelbar anschließend vier der insgesamt sechs Epigramme des Ausonius De quodam Silvio bono, qui erat Brito wieder.Footnote 11 In diesen Epigrammen variiert Ausonius sechsfach den Gegensatz zwischen Gut-Sein und Brite-Sein. Der Dichter Silvius sei entweder Brite und „malus“ oder kein Brite, aber gut und ehrlich. „Nemo bonus Brito est“Footnote 12, so zitiert Gryphius kommentarlos. Der aus Bordeaux gebürtige Ausonius, der durch seine Liebesgedichte auf seine germanische Sklavin, die er heiratete (Bissula), und die hymnische Feier der Mosellandschaft (Mosella) der Leserschaft vertraut ist, wird von Gryphius als gallo-romanischer Kronzeuge einer Britannien-Feindschaft zitiert.Footnote 13 Der Ausonius-Herausgeber Dräger kommentiert diese Epigramme wie folgt: „Der (für uns kaum nachvollziehbare) ‚Witz‘ der Epigr. 116–121 beruht auf einem offensichtlichen Widerspruch zwischen ‚guter Mann‘ und ‚Britannier‘, zur Absurdität potenziert in ‚guter Britannier‘ […].“Footnote 14 Der britische Kommentator Green sieht die Angriffe des Ausonius noch schärfer: „the point may have been that a Briton is not even a (decent) human being.“Footnote 15 Ausonius ist darüber hinaus für die Forschung der antike Dichter einer ‚poetischen Topographie‘, der die deutschen Lande durch Mosel, Rhein und Donau charakterisiert.Footnote 16 Mit dem Verweis auf Ausonius macht Gryphius deutlich, dass er sich poetischer Verfahren einer topographischen Wahrnehmung von Herrschaftsräumen sehr wohl bewusst ist.

Gryphius hat hier offensichtlich zwei Britannien besonders feindliche Zitate aus der Spätantike ausgewählt, die seine Sichtweise auf die Insel im Trauerspiel stützen sollen. Das vorurteilsbeladende Ausonius-Zitat steht markant am Ende der Anmerkungen zur ersten Abhandlung des Trauerspiels.

Damit nicht genug. Der Geist Maria Stuarts erklärt den Königsmord zur Wesenseigenschaft der britischen Inselbewohner: „Was ists den Britten mehr umb eines Königs Haubt?/ Es ist der Jnsell Art!“ (II.195–196). Diese Formulierung hat Gryphius sinngemäß aus Vondels Trauerspiel Maria Stuart übernommen,Footnote 17 sodass der Blick über den Ärmelkanal als durch holländische Autoritäten vermittelt erscheint (Vondels Maria: „ʼt is Engelantsch manier“Footnote 18), wobei Gryphius die Insellage besonders hervorkehrt. Darüber hinaus macht Gryphius in seinen Anmerkungen deutlich, dass dies der „Mariæ eigene Worte bey Cambdeno“Footnote 19 seien. Das hierzu angeführte lateinische Zitat aus William Camdens Geschichtswerk belegt das vielfache, blutige Wüten der Engländer gegen ihre Herrscher, weshalb sie auch gegen Maria Stuart („ex eorum sangvine natàm ibidem sævierint“Footnote 20) vorgegangen seien. Die sanguinische Veranlagung, die hier den Inselbewohnern zugesprochen wird, deutet den Königsmord als Folge einer physischen Prägung durch das Inselklima. „Wenn ein Ueberfluß an wässerigten Theilgen vorhanden, die in eine hefftige Bewegung gebracht“Footnote 21, so entstehe das sanguinische Temperament, erläutert Zedler und stellt ebenso einen Zusammenhang zwischen Lebensort und Temperament her. So kann angenommen werden, dass Gryphius die Revolutionäre humoralpathologisch als Sanguiniker zeichnete. Auf der Insel hatte man in jenen Jahren ferner bereits begonnen, Häresie medizinisch als Erkrankung des Gehirns zu deuten,Footnote 22 sodass Gryphius auf eine Vielzahl an naturwissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten zurückgreifen konnte, die englische Revolution eben nicht nur aus politischen Ursachen heraus zu betrachten.

Dabei hatte der Chor der ermordeten englischen Könige jene medizinische Diagnose schon auf die seelische Beschaffenheit übertragen („Britten ist kein Ort vor stille Seelen!“ I.361) und Carolus Stuardus wiederholt Maria Stuarts Behauptung nur: „Diß Land darinn ihr sitzt/ Jst gantz mit Fürsten Blut durch alle Zeit besprützt“ (II.399–400). Maria Stuart führt eine ganze Reihe an ermordeten Königen auf, die die Geschichte des Königreichs prägten: Eduard der Bekenner, Wilhelm der Rote, Richard I., Johann ohne Land, Eduard II., Richard II., Heinrich IV., Richard III., Eduard V., Eduard VI., daneben Johanna Gray (vgl. II.196‒209). Der geschichtliche Rückgriff nun bis ins Hochmittelalter macht evident, wie sehr Marias kategorische Feststellung „Es ist der Jnsell Art!“ an zahlreichen exempla verbürgt werden kann – der Inselraum determiniert politische Ereignisse bis in die Gegenwart. Die Insel, auf der von Antike und Mittelalter bis in die Neuzeit „der Raum über die Zeit dominiert“Footnote 23, erscheint so über die Jahrhunderte hinweg als negatives politisches Experimentierfeld. Folglich kann die Insel, die sich seit der Entdeckung Amerikas als utopische Möglichkeit einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung darbot, mit Augustinus im Zeichen einer verwerflichen curiositas auch als besonders sündhafter Lebensraum gebrandmarkt werden.Footnote 24 Bezeichnenderweise macht Gryphius zwischen ‚Engelland‘ und ‚Neu-Engelland‘ (bzw. „neu Albion“ III.389, V.211) keine politischen Unterschiede – ja, der verruchte Aufrührer Hugo Peter ist gerade ein Re-Import aus ‚NeuEngelland‘, ein Amerika-Rückkehrer, „in NeuEngelland erwehlet zu einem Friedenstörer/ und in Engelland gesendet Krig zu erwecken“Footnote 25. Die auf der englischen Insel über Jahrhunderte praktizierten mörderischen politischen Experimente werden auf dem neu entdeckten Kontinent, der ebenfalls als Insel imaginiert wurde,Footnote 26 nur fortgesetzt, um eine verheerende globale Dynamik in Gang zu bringen. So lässt Gryphius Carolus Stuardus auch beispielhaft einen Ort in Virginia erwähnen, der für die unzivilisierte, neue Welt einstehen soll.Footnote 27 Von utopischen Entwürfen bei Gryphius also keine Spur. Hervorgehoben werden soll dabei auch, dass Hugo Peter sich zuvor von „Deutschland nach Rotterdam/ und in Neu Engelland begeben“Footnote 28, mithin der Anführer der Independenten auch in Deutschland tätig gewesen war. Doch erst außerhalb des Kontinents entfalten diese ihr zerstörerisches Werk. In der fünften Abhandlung wird denn die bedrohliche, globale Dimension der revolutionären Independenten deutlich angesprochen: „Laß diß den Fürsten nur ein Schau- nicht Vor-Spil seyn!“ (V.15).

Gryphius hat die grundsätzlich negative Sichtweise auf die Insulaner auch in den Anmerkungen zur fünften Abhandlung nochmals hervorgehoben. Hier führt er dezidiert an (zu „Wer wil nun rechte Treu in wilden Jnseln suchen?", V.149): „Es wird gezihlet auff das gemeine Sprichwort: Omnes Insulani mali, pessimi autem Siculi.Footnote 29 Die grundsätzliche Verkommenheit aller Insulaner sieht Gryphius sprichwörtlich schon im antiken Wissen verbürgt.

Dabei erweist sich als Besonderheit, dass Gryphius die insulare Lage immer wieder als beengend fasst, die scharfe Grenze zum umgebenden Meer erzeuge eine Enge, der die Inselbewohner nicht entweichen können und die damit den Affektdruck, der bis zum Kontrollverlust führt,Footnote 30 deutlich steigere. Straffords GeistFootnote 31 spricht mit Autorität aus dem Jenseits: „Das enge Reich ist ja dem scheußlichen Gedränge/ Dem Bürgerlichen Krig und Mordtumult zu enge“ (II.9–10). Revolution, Bürgerkrieg und verbrecherische Tumulte lassen sich aus der Unentrinnbarkeit der Insel erklären. Das britische Reich leidet ferner unter einer Überbevölkerung, einer Untertanenschaft, die eben der Insel nicht entkommen kann: „Das gantze Land ist voll/ Voll Volck/ das bald dein Blut mit Blut aussöhnen soll“ (II.251–252), so Maria Stuarts Geist. Schließlich gibt Carolus Stuardus eine etymologische Herleitung des Landesnamens ‚England‘, die die Insel als ‚enges Land‘ begreift: „Wir gehen aus dem Engen-Lande in der Engel weites Land“ (V.441). Die bedrängende Enge auf der kriegerischen Insel im Diesseits wird der himmlischen Weite des Jenseits gegenübergestellt. Gryphius mag hier bei einem Blick auf Kartenmaterial die längliche, schmale Gestalt der Insel vor Augen gehabt haben, die ihn zur etymologischen Herleitung ‚enges Land‘ poetisch verleitete. Es ist hier nicht zuletzt die höchste Autorität, Gott, „der Schöpfer selbst, der in seinem Werk eben auch die Grenzen vorgesehen hatte“Footnote 32, wie Achim Landwehr formuliert. So ist England qua göttlicher Autorität als beengtes Territorium zu begreifen. ‚Engelländisch‘ bei Gryphius meint so nicht das Englische, das Schiller noch als das Engelsgleiche fasst, sondern im Gegenteil das Beengende und Unentrinnbare der Insel im Bürgerkrieg.

Diese Insellage Großbritanniens wird ferner dadurch hervorgehoben, dass die Hauptstadt London (nur dreimal im Trauerspiel namentlich als ‚Londen‘ erwähnt: II.171, III.799, V.242) vor allem als Hafenstadt durch den Themse-Fluss charakterisiert ist, der in engem Wechselspiel mit dem Meer steht („Amphitrit ist gantz bestürtzet daß die Tems es wagen kann“, so der Chor der Sirenen; II.485).Footnote 33 Cromwell verweist mit Mordlust auf die Insellage und ruft den Königssohn aus seinem Exil zurück: „Kommʼ Plimuth läst dich ein! die weitte Tems ist offen“ (III.282). Die revoltierenden Independenten heben nicht die Abgeschlossenheit der Insel hervor, sondern ihre Möglichkeiten, durch Häfen, Flüsse und Meer an Austausch und globaler Zirkulation von Menschen und Waren teilzunehmen (vgl. Hugo Peter). London steigt im 17. Jahrhundert ja zur Welthandelsmetropole auf, die zusehends auch deutsche Kaufleute auf die Insel zieht.Footnote 34 Diese Offenheit trägt bei Gryphius expansiv-aggressive Züge. Demgegenüber appellieren die Königsanhänger traditionell an Reue und Buße für die Schuld, die durch „Tamesis und See“ (II.328) abgewaschen werden soll. In drastischer Farbsymbolik wechselt die Themse, zu Beginn der zweiten Abhandlung als blutiger „Purpur-schaum“ (II.11) beschrieben, zur Farbe des Schwefelbrandes in der fünften Abhandlung: „Die Tems brennt Schwefel-blau! […] Der Tag verschwartzt!“ (V.241–242) bei der Hinrichtung des Königs. „Der Fluss als identitätsstiftendes Symbol einer statischen gesellschaftlichen Ordnung“Footnote 35 verliert hier seine traditionelle Bedeutung. Im 17. Jahrhundert, das als ein Jahrhundert der topographischen Erschließung charakterisiert werden kann, führen Gryphius’ Trauerspiel-Figuren in ihren Disputen vor, wie sehr natürliche Gegebenheiten von Herrschaftsräumen vor dem Hintergrund „kommunikativer und sozialer Praxis“Footnote 36 zu begreifen ist. Insgesamt lässt sich folglich schließen, dass Gryphius in seiner literarischen Auffassung der Insel an mittelalterliche Traditionen anknüpft, die das Eiland zum Buß- und Strafort stilisieren, zu einem Ort der Prüfung des Gottvertrauens.Footnote 37

Dieses durchgehend düstere Bild der britischen Inselbewohner und ihrer Geschichte wird allein bei einer Episode aus dem Leben Carls aufgehellt – als die beiden Königssöhne durch Parlamentsbeschluss vor der Stadt Hull „in heßlichem Regen-Wetter verzappeln“Footnote 38 müssen bis sie doch noch eingelassen werden. Gryphius spricht hier von einem „Narren-Spill“ oder einer Komödie im Stil des „zweyfachen AmphitruoFootnote 39 von Plautus. Ein wenig Humor mag Gryphius den sonst so abschreckenden Briten denn doch auch zugestehen, der den widrigen klimatischen Bedingungen geschuldet zu sein scheint.

2 König von Gross Britanien

Es sollte deutlich werden, dass Gryphius die Hinrichtung des Stuart-Königs nicht als Einzelfall sieht, sondern eine Kontinuität in der Geschichte der rauen Insulaner aufzeigt, die bis in die Antike und zu den frühesten historischen Erwähnungen Britanniens zurückreicht. Dabei werden zwischen den unterschiedlichen Insel-Völkern bei Gryphius vor dem Hintergrund der Belege aus den Anmerkungen keine Unterschiede gemacht: Die Iren sind wüst („den wüsten Jrr“ II.422), die Schotten treulos (vgl. V.465), die Briten verstockt und trotzig (vgl. III.458–459), wenn nicht gar verblendet („Verblendet Brittenland!“ I.342), die Insel selbst ein gefährliches Gebiet – das Königreich liegt vom Kontinent aus besehen an der Peripherie, damit auch am Rande von Kultur und Zivilisation. „Jch schauʼ in Engelland nur wilde Thire wohnen“ (II.117), so stellt der gespenstische Laud denn auch fest. Der Vergleich von Insulanern mit ‚Wilden‘, die nicht im vollen Sinne als rechtsfähig bezeichnet werden können, wird im Trauerspiel von Gryphius gezielt eingesetzt. Denn im Rechtsdiskurs der Frühen Neuzeit war nicht immer eindeutig, ob die Bewohner entdeckter Inseln herrschaftsfähig sind (in diese Richtung zielen bereits die Ausonius-Epigramme).Footnote 40 Maria Stuarts Geist vergleicht die Revolutionäre mit jungen Hunden („die rasend tolle Zucht der jungen Hunde“ II.178). Auch botanisch sind Charakterisierungen Englands als raue Insel denkbar, wenn die königliche Gattin mit einer zarten Blume verglichen wird: „Jn Albion versetzt“ (II.366) ist sie „[v]erblüht“ (II.367). Dieser Vergleich, der raue klimatische und politische Bedingungen in eins bringt, ist charakteristisch für eine nahezu klimatheoretische Sichtweise auf die Insulaner, die wesentlich mehr von der Natur geprägt zu sein scheinen als dies auf dem (als Kultur überlegen aufgefassten) Kontinent der Fall ist. Es geht am Beispiel der englischen Independenten mithin auch um die „Spannung zwischen den Wahrheiten der Religion und denen der Empirie“Footnote 41, mithin um die Wahrheitsfähigkeit der Inselbewohner. So wird das sich wiederholende Aufbegehren der Briten gegen ihre Monarchen von Fairfax auch mit Ebbe und Flut verglichen („das Volck als Ebb und Flut“ III.191).

Die von den Anhängern der Königspartei unternommenen Charakterisierungen der Insulaner sind dabei paradox ja Fremd- und Selbstzuschreibungen zugleich, sodass die Royalisten selbst auch jene Diskreditierung der Inselbewohner trifft. Der aus der Chur-Pfalz Entsandte nennt Britannien „ein wilder Land als seine See“ (III.452). Erst eine genaue Analyse ermöglicht es, die von Klima und Insellage geprägten Briten bei Gryphius zu differenzieren und die politische Herrschaft, die Engländer, Schotten und Iren aneinanderbindet, präziser zu fassen.

Dies geschieht bei Gryphius zunächst durch die Vorstellung des Wappens von Großbritannien, die von einem Geist am Beginn der zweiten Abhandlung unternommen wird. In der ersten Fassung hatte Gryphius diese gespenstische Wappenpräsentation an den Beginn des Trauerspiels gestellt und damit den hoffnungslosen politischen Zustand des Landes noch deutlicher hervorgehoben (nach der Wiederherstellung der Stuart-Monarchie war dieser düstere Beginn nicht mehr angebracht).Footnote 42 Hier lassen sich die Gespenster zweifellos als „göttliche Boten zur Bekehrung sündig gewordener Seelen“Footnote 43 deuten:

Die gantz entstimm’te Harff‘ und das erhitzte Brüllen/

Der Leuen Mordgeschrey die Ohr und Hertzen füllen/

Die Lilje sonder Glantz/ die unter grimmen Fuß

Des Pövels sich zu Kott/ zutretten lassen muß;

Rufft Wentworts Geist hervor! Ertzrichter aller Sachen!

Sinckt Albion nun gantz dem Abgrund in den Rachen?

Muß mein Jerne dann in lichten Flammen stehn?

Heist du Britannien in eignem Blutt vergehn? (II.1–8)

Gryphius selbst erläutert in den Anmerkungen den Hinweis auf das Wappen Großbritanniens: Die Harfe stehe für das Wappen Irlands, der von einem Lilienbord umgebene Löwe repräsentiere Schottland, England führe drei Löwen und drei Lilien im Schild. Das visuelle Wappen wird bei Gryphius in ein akustisches Phänomen überführt, das an Lautstärke zunimmt: Die Harfe ist verstimmt, ein Brüllen ist vernehmbar, das sich schon im nächsten Vers zum Mordgeschrei der Löwen steigert. Während Gryphius in den Anmerkungen nüchtern vom „gevirdten Schilde“Footnote 44 spricht, inszeniert das Trauerspiel ein furchteinflößendes animalisches Geschrei, das vom Wappen ausgehend bis zu den Geistern im Jenseits dringt. Der blutige englische Bürgerkrieg, so zeigt es der gespenstische Earl of Strafford, umfasst drei Reiche, die dem Abgrund entgegengehen. Thomas Wentworth hatte von 1632 bis 1640 als Lord Deputy of Ireland die englische Herrschaft auf der irischen Insel durchgesetzt, scheiterte allerdings 1640 bei einem Feldzug gegen die aufbegehrenden Schotten und wurde vom Unterhaus daraufhin zum Tode verurteilt. Der König widersprach dem Todesurteil des Unterhauses nicht, die Hinrichtung erfolgte 1641 in London. Die gespenstische Person des Earl of Strafford steht so für die gescheiterte Einheit des britischen Herrscherhauses ein, an der sich auch der König schuldig gemacht hat.Footnote 45

In der zweiten Fassung setzt die Handlung dagegen beim schottischen Feldherrn Fairfax und seiner Gattin ein,Footnote 46 der nun wiederum für die brüchige Einheit von England und Schottland einzustehen vermag. Es ist hier vor allem die Gattin des Feldherrn, die sich für den gefangenen Herrscher engagiert, während der Schotte Fairfax als lavierender Revolutionär erscheint. Fairfax, „[s]intemal Er ein geborner Schotte“Footnote 47, wie es in den Anmerkungen heißt, offenbart den „Zweyspalt zwischen dem Könige und den Schotten“Footnote 48, denn er schwankt zwischen Treulosigkeit und Unentschiedenheit. Jedenfalls macht Gryphius deutlich, dass es die Schotten waren, die Carolus Stuardus an das Parlament verkauften (vgl. II.263) und so überhaupt erst das Todesurteil ermöglichten.

Folglich deutet der Geist Lauds die Insel bereits als schwimmendes Schiff (ein Rückgriff auf antike Topik),Footnote 49 das untergehen wird, und zeigt an, wie durchlässig die Landmasse einer Insel gegenüber dem Meer ist: „Weh Albion! Weh! Weh! schau wie die Felsen zittern/ Die wilde See bricht ein“ (II.123). Der Fels, als Emblem der unerschütterlichen Standhaftigkeit und unnachgiebigen Tugend weit verbreitet,Footnote 50 vermag den rauen politischen und klimatischen Bedingungen Englands nicht zu trotzen. Diese zerbrechende Einheit des Inselreichs charakterisiert der König selbst, in dem Carolus Stuardus seinen Machtbereich im Folgenden nun mit einem in Brüche gehenden Schiff vergleicht – die Insel droht, wieder dem Meer anheimzufallen:

                                     Wir schwimmen auff dem Meer

Auff dem zustückten Schiffʼ nur einsam und verlassen.

Das Ruder ist entzwey! Die frechen Winde fassen

Die halben Segel an. Die Seite weicht der Last

Vnd gibt den Wellen nach/ die Splitter von dem Mast

Zuschmettern Bord und Gang. Die Ancker sind gesuncken/

Die Kabell gantz zuschleifft. Die hell-entbrandte Funcken

Des Saltzes stiben schir/ wo vor die Flacke stund

Compas und Glas ist weg/ wir stürtzen auff den Grund

Vnd schissen in die ʼHöh‘ und scheittern an die Steine […]. (II.332–341)

In der ersten Fassung des Trauerspiels findet sich diese Charakterisierung des Königreichs noch in der ersten Abhandlung, sodass die Exposition zunächst das verfallende Wappen, dann die Geschichte der englischen Königsmorde (von Gespenstern aus dem Jenseits vorgestellt) und schließlich das untergehende Staatsschiff präsentieren sollte. Die schiffbrüchige Insel läuft ohne Kompass auf Grund.Footnote 51 So beschließt denn auch die Rache am Ende der fünften Abhandlung mit „Albion erseufft“ (V.543) das Trauerspiel und fordert zu Reue und Buße auf. Dass hier eine Insel wie ein untergehendes Schiff auseinanderbricht, lenkt den Blick insbesondere auf das zerberstende Ganze, die auseinanderdriftenden Landesteile. Florian Krobb hat zurecht darauf hingewiesen, dass der Vergleich des insularen Königreichs Großbritannien mit einem untergehenden Schiff „the general state of the world“Footnote 52 meine – doch wird die Fragilität einer monarchischen Herrschaft am exemplum des Inselreichs, das sich dem Meerestosen ausgesetzt sieht, geographisch besonders deutlich. Gryphius hat für das Königreich Großbritannien und seine Landesteile unterschiedliche Namen eingesetzt, deren Verwendung nun im Folgenden genauer in Betracht gezogen werden soll.

Als dominanter Begriff für den Herrschaftsbereich von Carolus Stuardus erweist sich ‚Albion‘, wobei Gryphius darunter eben nicht England versteht, sondern die Einheit des englischen und schottischen Königreiches:

Albion. Jst der Name welcher vor Zeiten Engelland und Schottland gegeben/ von den weissen Felsen so an derselbigen See ligen. Andere wollen mehr darüber halten es sey dises ein alter Engelländischer Namen/ massen die Schotten noch heute ihr Land Albin nenneten.Footnote 53

Aus dem Lateinischen ‚albus‘ leitet Gryphius den Namen für die Insel ab, der den weißen Felsen der Küste geschuldet sei.Footnote 54 Die geographischen Gegebenheiten, so die Schlussfolgerung, hätten die Römer zu dieser Namensgebung veranlasst. Im Folgenden wird auch deutlich, dass der Autor von einer kulturellen Einheit der Länder England und Schottland ausgeht, denn es sind hier die Schotten, die den englischen Namen noch heute für „ihr“ Land verwenden würden. In der Tat war ursprünglich die Bezeichnung ‚Albion‘ dem mittelalterlichen schottischen Königreich Alba vorbehalten.Footnote 55 Entscheidend ist für Gryphius, dass mit dem Namen ‚Albion‘ auf einen historisch möglichst weit zurückreichenden Begriff verwiesen werden kann, der zugleich die politische Einheit von England und Schottland verbürgt. Gryphius geht folglich davon aus, dass Engländer und Schotten historisch betrachtet mit Recht in einem Herrschaftsgebiet zusammengefasst sind. Bei Alsted etwa ist dagegen zu lesen „Britannia insula dividitur in duo regna, Angliæ, & Scotiæ.“Footnote 56

Gleichwohl verwendet Gryphius für Schottland im Trauerspiel konsequent ‚Calidon‘ (z. B. I.99, II.105; III.213; V.106), das aus dem Lateinischen entlehnt ist (‚caledones‘ bzw. ‚caledonii‘ als Bezeichnung für die Schotten). Allein in den Anmerkungen begegnet auch der Name ‚Schottland‘,Footnote 57 hier allerdings vor allem im Sinne der Kirche von Schottland – und weniger im Sinne einer politischen Einheit. Jedoch bezeichnet Gryphius in den Anmerkungen die Schotten auch als „Nation“.Footnote 58 Diese den Quellen geschuldete Unklarheit der Verhältnisse benennt Gryphius explizit, wenn etwa das Gebetsbuch für Schottland nicht dem für England gültigen Gebetsbuch angeglichen werden kann.Footnote 59 Geographisch sind es ausgedehnte Wälder, die für Gryphius Schottland charakterisieren. So spricht er in Bezug auf Schottland auch von „Grampens Höhen“ („Es müssen Grampens Höhen/ Erschallen von Geheul“; III.490–491) und merkt an: „Mons Grampius ist das Gebirge so in Schottland die Caledonischen Wälder theilet. Besihe Cambd. und andere Geographos.“Footnote 60 Aus Camden hat Gryphius die Ortsbezeichnung übernommen, die auf das antike Schlachtfeld zwischen Römern und Kaledoniern zurückgeht („ad montem Graupium“; Tacitus, Agricola 29).Footnote 61 Die Schotten hatten hier eine Niederlage gegen das römische Imperium erlitten. Gryphius verweist hier allerdings nicht auf die antike Quelle – er ist sich des schottischen Konflikts mit den Römern nicht bewusst.

Während Gryphius den Ländernamen ‚Calidon‘ nicht erläutert, stellt er Irland als Teil des Königreichs Großbritannien kurz mit Quellenverweis vor. Zum Wappen Irlands kommentiert Gryphius: „Jerne/ oder Juerna ist der alte Namen Jrrlandes. So auch bey Euchstathio, Bernia genennet.“Footnote 62 Wiederum steht für Gryphius der alte Name, die historische Tiefendimension, im Vordergrund, wobei Gryphius offensichtlich den antiken Namen Irlands, Hibernia, den etwa auch Tacitus erwähnt (Tacitus, Agricola 24.3), nicht zu kennen scheint. Die erste Erwähnung der Insel im Trauerspiel wird allerdings dem Independenten Daniel Axtel in den Mund gelegt, der das Land für einen künftigen Ämterschacher der siegreichen Cromwell-Anhänger ins Spiel bringt („Auch will man in Jern vor dich bemühet seyn;/ So bald ein Ehrenstand dort offen; ist er dein“ I.263–264). Machtgier und Käuflichkeit charakterisieren den Umgang der revolutionären Bewegung mit dem historischen Land. Es sind in der dritten Abhandlung dann gerade zwei ‚Engelländische Grafen‘, die auf die grausame Unterdrückung Irlands nach der Hinrichtung des Earl of Straffords hinweisen: „Was lid Jerne nicht?“ (III.630), wobei das Schicksal Wentworts wiederum eng mit dem irischen Schicksal verknüpft erscheint. Doch wird in den wenigen Erwähnungen Irlands auch deutlich, dass für Gryphius grundsätzlich die (englische) Herrschaft über die irische Insel – wie sie in der Person Wentworts vom König eingesetzt worden ist – legitim ist. Dies wird im Dialog zwischen Cromwell und dem schottischen Gesandten deutlich:

CROM. Wer hat Jerne wol zum Auffruhr ausgetagt?

GESA. Wer hat Jernes Zaum durch Straffords Beil zuschnitten? (III.724–725)

Der Zaum, der dem „wüsten Jrr“ (II.422) durch den rechtmäßigen Herrscher angelegt worden ist, wurde aufgrund der erzwungenen Hinrichtung Wentworts wieder beseitigt, sodass sich das ganze Land in Aufruhr befindet. Über Irland wird allerdings im gesamten Trauerspiel nur gesprochen, eine irische Figur hat Gryphius nicht eingeführt, der englische Earl of Strafford wird zur Stimme Irlands („mein Jerne“ II.7). Der irische Aufruhr kann im Sinne einer gottgegebenen monarchischen Herrschaft nicht für rechtmäßig anerkannt werden. So überrascht es auch nicht, dass im Chor der fünften Abhandlung die Rache ihr Wüten auch in Irland den aufrührerischen Untertanen ankündigt:

„Jch gebe Jerne Preiß und Britten Vogelfrey!

Jhr Seuchen! spannt die schnellen Bogen!

Komm! komm geschwinder Tod! nim aller Gräntzen ein!

Der Hunger ist voran gezogen /

Vnd wird an Seelen statt in dürren Glidern seyn!“ (V.528–532)

Hier wird nun zwischen ‚Jerne‘ und ‚Britten‘ unterschieden, die Einheit des Wappens von Großbritannien besteht am Ende der fünften Abhandlung nicht.Footnote 63 Im Trauerspiel erscheinen die revoltierenden Insulaner allerdings ohne Unterschied der göttlichen Rache preisgegeben, auf die das Trauerspiel teleologisch zuläuft.Footnote 64

Im Trauerspiel begegnet der Name ‚Engelland‘ weit seltener als Albion, geläufiger ist hingegen das Adjektiv ‚Engelländisch‘ (Engelländische Grafen, Engelländische Frauen und Jungfrauen, Engelländische Reichsstände, Engelländische Kirchen-Verfassung, Engelländisches Gefängnis etc.). Die „Engelländer“ als Personenbenennung verwendet Gryphius allein beim Sieg der Flotte über die spanische Armada.Footnote 65 Hier zeigt sich, dass ‚Engelland‘ für Gryphius ein unscharfer Begriff ist, der von ‚Albion‘ kaum abgegrenzt werden kann, dagegen aber weniger historische Legitimität besitzt. „Weh Albion! O Engelland Weh! Weh!“ (II.140), klagt der gespenstische Laud, sodass jenes Engelland auch Schottland umfasst (ebenso das ‚Engelland‘, das Maria Stuarts Geist bezeichnet II.191). In der fünften Abhandlung stellt ein Graf jedoch „Engelland und Calidon“ (V.106) abgrenzend nebeneinander, während die Rache am Ende Schottland nicht mehr explizit nennt und so ‚Engelland‘ wiederum die Einheit von Schottland und England meint: „Aus Engelland wird helle werden“ (V.523). Besonders spannend ist natürlich die Frage nach der Wahrnehmung der englischen Sprache bei Gryphius. Allein in der Anmerkung zu ‚Albion‘ spricht Gryphius von „ein alter Engelländischer Namen“Footnote 66 in dem Sinne, dass hier ‚Engelländisch‘ die englische Sprache meint. Die Quellen, die Gryphius als Belegstellen für sein Trauerspiel benennt, sind fast ausnahmslos in lateinischer Sprache verfasst, wenige auf Italienisch oder Deutsch.Footnote 67 Berghaus konnte aufzeigen, dass Gryphius „viele seiner Quellenschriften aus Holland erhalten hat. Ob Gryphius diese Werke direkt aus den Niederlanden oder aber aus Leipzig bezog, läßt sich nicht feststellen.“Footnote 68 Es wird offensichtlich, dass Gryphius – wenn überhaupt – kaum auf englischsprachige Quellen zurückgriff und eine Verwendung englischsprachiger Literatur im Bereich der Vermutung bleiben muss.Footnote 69 So spielt die englische Sprache für die Wahrnehmung Großbritanniens bei Gryphius allenfalls eine marginale Rolle.Footnote 70

Neben Albion und Engelland verwendet Gryphius häufig ‚Britten‘ als Bezeichnung für die Insel, wobei damit insbesondere die Bevölkerung gemeint ist. ‚Britten‘ dient als übergreifende Benennung der Engländer, Schotten und auch Iren, wie sie seit der Antike geläufig ist („Der Oberbegriff für die Insel ist eine Schöpfung klassischer Autoren“Footnote 71). Doch wird jene vermeintliche Einheit häufig schon durch die Erwähnung als brüchig vorgestellt: der „Britten Ketzerey“ (III.616), der „Britten Zanck“ (III.670), der „Britten Mord“ (IV.325), der „Britten Opffer-Platz“ (V.468). ‚Britten‘ erscheint als kollektive Bezeichnung, die auf das gemeinsame schuldhafte Wirken aller Inselbewohner an der Hinrichtung ihres Königs abzielt („Gantz Britten hat den Stab auff Stuards Hals gebrochen“ Cromwell III.694). Als kollektive Benennung des Inselreichs evozieren die Independenten die potenzielle Macht und Größe des Landes („wird gantz Britten rein“ Hugo Peter III.343), eine Größe, die dem kurpfälzischen Gesandten unheimlich ist („Der herbe Grimm der ungeheuren Britten/ Hat disen Schluß gefast auffs Königs Hals zu wütten.“ III.446). Es ist vor allem die dritte Abhandlung, die in der zweiten Fassung den Independenten breiten Raum gibt, in der die britische Identität von den Aufrührern beschworen wird. So ist es im Trauerspiel denn auch allein Cromwell, der von „uns Britten“ (III.218) spricht, während der Mitverschwörer Fairfax hierzu die Größe des Landes hervorhebt („Der Briten grosses Land“ III.177). In der revolutionären Bewegung, so zeigt Gryphius, formiere sich eine die einzelnen Länder übergreifende britische Identität, die jedoch allein zerstörerische Züge trägt, indem die Vereinigung der Länder unter dem Vorzeichen des Königsmordes verwirklicht wird. Carolus Stuardus spricht dagegen nur von „mein müdes Britten-Land“ (IV.165), das durch das Todesurteil schiffbrüchig untergeht und im Chaos versinkt. So kann es auch nicht verwundern, dass der Name ‚Gross Britanien‘ nur im Titel erscheint (Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus. König von Gross Britanien. Trauer-Spil).Footnote 72 Großbritannien ist für Gryphius allein das dem von Gott eingesetzten König gehorsame Reich. Der dem Trauerspiel vorangestellte Epitaph Cromwells formuliert ja eingangs: „Magnæ Britanniæ ATLAS corruit.“Footnote 73 Das lateinische Gedicht wird Hoffmann von Hoffmanswaldau zugeschriebenFootnote 74 und weist auf den sich entfaltenden Zerfalls- und Untergangsprozess Großbritanniens hin, dem die Zuschauer des Trauerspiels folgen werden. Doch hat Gryphius in der dritten Abhandlung auch das britische Selbstverständnis der Independenten deutlich hervorgestrichen. ‚Groß‘ sind diese Revolutionäre für Gryphius freilich nicht.

Das im kriegerischen Gegeneinander von Albion, Calidon und Jerne (Wales erscheint nur in den zitierten QuellenFootnote 75) unregierbar gewordene ‚Gross Britanien‘, das von Konflikten um Glaubensrichtungen und Kirchenordnung erschüttert wird, steht so ein für ein „Jahrhundert der maximalen Pluralisierung“Footnote 76, eine Pluralisierung, die als Bedrohung der überkommenen Ordnung gesehen werden muss. Am Beispiel des nicht mehr unter einem König zu vereinigenden Inselreichs wird diese Pluralisierung auch topographisch als insulares Untergangsgeschehen sichtbar. Den machtpolitischen Aufstieg Großbritanniens, etwa durch den Sieg über die Armada, verfolgt Gryphius nur am Rande.Footnote 77

3 Das Parlament – Tyrannen im Plural

Als Besonderheit des Inselreichs kann des Weiteren die starke politische Stellung des Parlaments bezeichnet werden, das im Fall des Stuart-Königs das Todesurteil über den Monarchen ausspricht. Dies hat Gryphius auch deutlich so wahrgenommen. Schon in der ersten Abhandlung spricht Fairfax vom Druck, den das Unterhaus auf seine Entscheidung ausüben kann: „Wird nicht das Vnterhauß sich grimmigst widersetzen?“ (I.122), und macht so offensichtlich, dass der entschiedene Wille des Unterhauses sich für die Hinrichtung des Königs ausgesprochen hat.

In der dritten Abhandlung zeigt der Hoffe-Meister des Pfaltz-Graff-Chur-Fürsten auf, wie sehr die Autorität des Herrenhauses bereits untergraben ist – ein tyrannisches Zwangssystem sei an seine Stelle getreten:

Was ist der Herren Hauß itzt als ein leerer Nam.

Wer in des Pövels Mund durch Schrifft und Reden kam;

Sitzt nun mit Eisen fest. Man muß den Cromwell ehren/

Vnd Fairfax wolt uns vor eh‘ als die Landständ hören. (III.495–498)

Der holländische Gesandte, der ja Vertreter eines republikanischen Systems ist, kann dem nur zustimmen und bemerkt bedauernd, er habe nur der „Häuser Schatten sehen“ (III.502) dürfen. Es ist dies der ‚Blick von außen‘, vom Kontinent aus, und der Blick eines Republikaners auf die revolutionären Geschehnisse, der eine Entmachtung insbesondere des Herrenhauses deutlich hervorkehrt. Im Disput der zwei ‚Engelländischen Graffen‘ wird jene Frage nach der Entscheidungsfreiheit des Parlaments wiederum erneuert. Das Todesurteil über den König sei vom Parlament tyrannisch erzwungen worden, so der erste Graff:

I. Wem ist das Parlament in Albion verholen?

II. Diß/ wenn der König hin/ setzt andre König‘ ein.

I. Wer greifft den König an? wer kräncket die Gemein?

II. Hat ein und ander Hauß nicht Stuards Tod beschlossen?

I. Hat ein und ander Hauß der Freyheit itzt genossen?

II. Zeucht man der Häuser Recht bey jemand in Verdacht?

I. Jst ein und ander Hauß nicht längst zu nicht gemacht?

II. Durch wen? Der sich bemüht die Freyheit uns zu geben!

I. Als ein und ander Haus liß Sitz und Recht auffheben?

II. Wer zwang das Parlament daß es sich selbst verliff?

I. Wer war es/ der itzt ein itzt ander Glid angriff?

II. Aus Noth/ umb viler Wahn/ und harten Sinn zu schrecken! (III.594–605)

Die Stichomythie gibt Schlag auf Schlag Position und Gegenposition von Königsanhänger und Cromwell-Sympathisant wieder, eine Zwietracht, die selbst im englischen Adel auszumachen ist. Während die Autorität des Parlaments außer Frage steht, bleibt doch für den Royalisten offensichtlich, dass unter der Herrschaft der Independenten keine freien Entscheidungen mehr möglich sind. Die so wesentliche „souveräne Instituierung des Selbst in der Rede“Footnote 78 wird undenkbar. Dieser schlagfertige Disput wiederholt sich nochmals in der dritten Abhandlung zwischen Cromwell und dem schottischen Gesandten:

CROM. Hat nicht das Parlament die Richter selbst gesetzt?

GESA. Das Parlament? wo ists? in welches Kerckers Hölen?

CROM. Man kärckert niemand ein/ als dinstbegir’ge Seelen

GESA. Wer richtet? der nicht vor gewaffnet bey euch stundt.

CROM. Vnd der/ dem Landes Bräuch‘ und Grundgesetze kundt. (III.696–700)

Während der schottische Gesandte nochmals den Vorwurf wiederholt, unliebsame Parlamentarier würden bedroht und eingekerkert, macht Cromwell deutlich, dass die Bräuche und Grundgesetze des Königreichs zu befolgen seien. Cromwell wird hier die Möglichkeit gegeben, die Position der Independenten ausführlich vorzutragen – und damit auch hervorzukehren, dass sich auch ihr Anliegen juristisch begründen lässt. In den Anmerkungen stützt Gryphius die Argumentation von Cromwell durch die ausführliche Zitierung von Parlamentsbeschlüssen, so wenn Cromwell darauf insistiert, dass sich keine anderen Mächte in die Angelegenheiten Britanniens einzumischen hätten („Was geht es ander an was Britten kann befreyen?“ III.750).Footnote 79 Folglich kann die für sich bestehende, mit Revolutionen politisch experimentierende Insel als quasi empirisches Erkenntnismodell dienen, denn „es schlägt der evolutionäre Prozeß in dieser abgeschlossenen Inselwelt einen Sonderweg ein, der seine Gesetzmäßigkeiten um so deutlicher sichtbar macht.“Footnote 80

In der vierten Abhandlung zeigt sich nun am zum Tode verurteilten König mehrfach deutlich, dass seine Entscheidungen nicht gegen das Parlament gerichtet waren (vgl. etwa IV.101; IV.185). Doch bleibt das Spannungsverhältnis zwischen König und Parlament im Trauerspiel offensichtlich blass: Solange das Parlament noch frei entscheiden kann, so vermittelt es das Trauerspiel, kam es zwischen König und Parlament zu keinem Konflikt, der eine Hinrichtung rechtfertigen würde („the two Parliamentarians’ assertion in Gryphius to speak on behalf of the populace is discredited, as the bond between the monarch and the community is asserted and sanctified.“Footnote 81). In den Anmerkungen äußert sich Gryphius weit polemischer und zitiert aus einem „Außschreiben des Parlaments“Footnote 82, das auf das Recht pocht, auch Könige absetzen zu können. Die Ratlosigkeit, die nach Stephan Kraft die erste Fassung des Trauerspiels charakterisiert, ist auch in der zweiten Fassung noch festzustellen: es „gewinnt doch eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber diesem in der historischen Situation von 1650 so wenig klaren Geschehen Raum. Es gibt die Position der Parlamentarier, und es gibt die Position der Royalisten. Aber wohin wird dies am Ende führen? Und vor allem: Was will Gott?“Footnote 83. Allein in den Anmerkungen wird das Parlament vehement diskreditiert und so auch deutlich, dass das Parlament durch Zahlung einer hohen Summe die Auslieferung des Königs vom schottischen Heer erreichte.Footnote 84 Das so agierende Parlament ist des Machiavellismus verdächtig.Footnote 85 Dieser Vorwurf trifft ja insbesondere die Independenten,Footnote 86 als deren Vollstrecker sich die Parlamentarier im Trauerspiel zeigen.

Aus der Sicht der Königsanhänger gleichen die von Cromwell ins Parlament gebrachten Unterhaus-Vertreter zusehends der revoltierenden Rotte, denn sie machen sich mit dem Pöbel gemein:

Ehʼ als das Parlament die Catten hat erlassen;

Liff schon das Vnterhauß durch die zertheilten Gassen.

Vnd that durch dises Stück ihn augenscheinlich dar/

Wie angenehm die Bitt und die Gesandtschafft war. (V.25–29)

Das Unterhaus ist an einer Einmischung der republikanischen Holländer (Catten) oder des schottischen Gesandten für den König nicht interessiert. Dies wird der Öffentlichkeit durch das demonstrative Nicht-Anhören königstreuer Positionen kundgetan. Gryphius macht auch wiederum in den Anmerkungen deutlich, wie sehr ihm das Zusammenlaufen der Massen und die politischen Forderungen der Menge in London missfallen, so wenn er ausführt: „daß sich die Lehrbuben der Handwercks Leute und derogleichen junge Rotten mit vil tausenden zusammen gegeben/ und mit grossem abscheulichen Geschrey bald vor dem Parlaments Hause/ bald vor dem Königlichen Pallast dises und jenes mutwilligst begehren dörffen […].“Footnote 87 Auf die „anti-egalitäre Anthropologie“Footnote 88 von Gryphius hat die Forschung bereits hingewiesen. Hier drückt sich aber auch das Selbstverständnis eines Gelehrten aus, der in einer „ritualisierten Gelehrtenkommunikation“Footnote 89 von seinem Gelehrtenhaushalt aus tätig war und eben „nicht an öffentlichen Orten.“ Die zunehmende Bedeutung einer sich konstituierenden Präsenzöffentlichkeit, wie es sich nicht nur auf der Insel abzeichnete, hinterfragt jenes Gelehrtenselbstverständnis auf radikale Weise.

In den Anmerkungen zur Hinrichtung benennt Gryphius dann explizit, wie wortbrüchig und tyrannisch er das Vorgehen des Parlaments empfindet: Zum einen sei Juxton dazu gezwungen worden, vor dem Unterhaus die letzten Worte des Königs öffentlich zu machen, zum anderen hätten die „Glider der beeden Parlamente“Footnote 90 Carl zugesagt, ihm zum großen, glorreichen König machen zu wollen. Dies deutet Gryphius nun als Umkehrung der gebrochenen Gelübde des Parlaments im Sinne des königlichen Martyriums.

Die enge Verbindung von Parlament und Volk vollzieht sich bei Gryphius weniger staatsrechtlich, denn anthropologisch auf der Ebene mangelnder Affektkontrolle. Das Rasen und Toben, die unkontrollierte Freisetzung der Affekte, die im Trauerspiel den Tyrannen charakterisieren (Chach Abbas etwa: „Wir verlodern/ wir verschmeltzen angesteckt durch Schwefel-Kertzen!“Footnote 91), zeigt Gryphius in Carolus Stuardus am Volk auf: ein „hoch-verführtes Volck“ (IV.8), das bereits der Gespensterauftritt als das „allzeit-blinde Volck“ (II.77) vorstellte, und dessen zügellose Affekte durch „das tolle Toben“ (II.50) hervorgestrichen werden. Insbesondere sind es Racheaffekte, die Parlament und Volk antreiben: das „Wütten das Gekreusch/ und unversetzte Tödten“ (II.14) machen bei den Anhängern des Königs eine gegen sich selbst rasende Inselbevölkerung offenbar.

Auch im Bereich der Kirchenordnung skizziert Gryphius auf der Insel eine Tendenz zur Ermächtigung der einzelnen Geistlichen, die sich einem allgemeinen Gebetsbuch widersetzen und dadurch „in kurtzem allerhand Verwirrungen“Footnote 92 stiften. Gab es in Glogau in jener Zeit ein Druckverbot für theologische Schriften, das auch Gryphius selbst betraf,Footnote 93 so herrschte hier auf der Insel eine von kontinentaler Perspektive aus betrachtet nur als unvorstellbar zu bezeichnende Freiheit der religiösen Meinungsäußerung. Diese wird noch gesteigert durch ein allgemeines Prophetentum, das zum Kernbestand der Lehre der Independenten gehörte und nach der Machtergreifung Cromwells weit verbreitet war.Footnote 94 Dass diese vermeintlich selbstbestimmten, nahezu prophetischen englischen Entscheidungsträger allerdings für Gryphius letztlich Getriebene ihrer Affekte sind, lässt sich auch bis in die Druckgraphik nachweisen („Die Figur wird sozusagen zum Gefangenen des Nebentextes, dem sie nicht entkommen kann.“Footnote 95). Das sich theologisch äußernde Volk ist zudem schriftunkundig.Footnote 96

Die „offensichtlich übersteigerte Rache“Footnote 97 am revoltierenden Volk korreliert folglich mit den Verhaltensbeschreibungen der ‚wilden‘ Insulaner, wie sie Gryphius schon aus den antiken Quellen exzerpiert hatte. Zwar werden in der dritten Abhandlung ihre Positionen ausführlich vorgestellt,Footnote 98 doch: „Sechsmal wird während der 800 Verse der dritten Abhandlung das gesamte Personal ausgewechselt, nur viermal verbindet eine Person zwei Szenen“Footnote 99, wodurch eine starke Pluralisierung der Perspektiven auch innerhalb der revoltierenden Gruppe erzielt wird. Folglich „allerhand Verwirrung“ auch hier – wie bei den Auseinandersetzungen um das Kirchenbuch. „Überhaupt gibt es in Gryphius’ Trauerspiel Carolus Stuardus mehr als zwei Parteien, deren Perspektiven auf Prozess und Urteil über den König zudem durch die Kommentare ausländischer Diplomaten vermehrt werden“Footnote 100, so Barbara Mahlmann-Bauer. Das Handeln der Independenten steht zusätzlich im Zeichen eines „hektischen Aktivismus“Footnote 101, der immer mehr Unruhe und Chaos verbreitet. „Die Zeit verlaufft!“ (III.779), ruft Cromwell im Zeichen einer frühneuzeitlichen rasenden Beschleunigung, die auf ein unkontrollierbares Rasen der Revolutionäre selbst hinausläuft. Das sanguinische Temperament der Inselbewohner mag hierbei eine Rolle spielen.

Die Ermächtigung breiter Bevölkerungsschichten zu politischen Entscheidungsträgern lässt die nun unkontrollierte Masse zum Tyrannen aufsteigen. „Britannia fertilis Provincia Tyrannorum“ – der Tyrann kann unter solchen Vorzeichen auf dem zerfallenden Inselreich nur mehr im Plural gedacht werden. Dies betrifft vor allem auch die Einheit des Glaubens, die unter parlamentarischer Herrschaft zerbricht: „Nachdem das Parlament in England die Bischofsherrschaft beseitigt hatte, war es wegen des Bürgerkrieges und der Uneinigkeit der Parlamentarier nicht möglich, eine neue, uniformierte Kirche zu errichten.“Footnote 102 Der Herrschaftswille des Parlaments in Glaubensangelegenheiten erweist sich für Gryphius als höchst problematisch.

Eine solche tyrannische Neigung unter Inselbedingungen kann aber auch dem König nicht abgesprochen werden – wie die ungerechtfertigten Hinrichtungen und die Leichenschändungen seiner Anhängerschaft aufzeigen. Cromwell zeichnet Carl in diesem Sinn als rasenden Tyrannen: „Wir wütten wider den/ der über uns getobt.“ III.167). So wird im Trauerspiel der englische Bürgerkrieg, eine „fatale Spiegelbildlichkeit der Antagonisten“Footnote 103, als eine Eskalation der Affekte auf beiden Seiten der Insulaner inszeniert. Steht die Insel im Utopie-Diskurs für das in die Moderne verweisende Paradigma von „systematisch organisierten Räumen“Footnote 104 ein, so zeigt das Trauerspiel von Gryphius implizit die menschliche Hybris dieser politischen Ideen auf, die die Geschichte seit dem Sündenfall nur weiter fortschreibt.

4 Erwünschte insulare Isolation – Europas instabile Lage

Die geographische Lage des ‚wilden‘ Inselreichs wird im Trauerspiel vom Kontinent aus betrachtet als Peripherie wahrgenommen.Footnote 105 Doch besteht auch kein Zweifel darüber, dass Großbritannien ein Teil Europas ist – wie dies bereits der Geist Maria Stuarts mit Autorität aus dem Jenseits formuliert:

Europe selbst zureist ihr Tränen-nasses Kleid

Jn dem was sterblich ist/ dein letztes Grabe-Leid

Mit heissen Zehren ehrt/ nur du bleib unbeweget […] (II.247–249)

Hier wird ganz offen von der Anteilnahme Europas an der Hinrichtung Carls gesprochen, wobei die Heftigkeit der Affekte durch das Zerreißen des Kleides verdeutlicht wird. Bei den Revolutionären herrscht ein hohes Bewusstsein von der Parteinahme Europas für Carl. „Den gantz Europʼ und selbst gantz Albion gelobt“ (III.168), so Fairfax im Disput mit Cromwell. Es ist vor allem der Hoffe-Meister des Pfaltz-Graff-Chur-Fürsten, der dann die Einbindung Großbritanniens in die europäische Staatengemeinschaft beschwört. Hierbei spielen die verwandtschaftlichen Beziehungen der Adelsgeschlechter eine zentrale Rolle:

                                     Europens Götter höret

Printz Stuards Seufftzer an! lernt und lehret

Wie leicht der Thron versinck. Europens Götter kennt/

Kennt euch und eure Pflicht. Der grosse Nachbar brennt!

Gekrönte denckt was nach. Das Blut das hir wird flissen/

Das Blut mit welchem Carl sein Leichtuch wird begissen;

Jst eur/ und euch verwandt! (III.529–535)

Nicht die geographische Nachbarschaft der Insel zum Kontinent wird hier zum entscheidenden Argument, sondern die grundsätzliche Gefährdung der monarchischen Verfassung und die Solidarität der Herrscherhäuser untereinander. Gryphius war Carl Stuarts Frau, Maria Henrietta, im französischen Exil begegnet und hat im Sonett Auff den Einzug der Durchleuchtigsten Königin MARIÆ HENRIETTÆ in Angiers den monarchischen Standpunkt vehement vertreten:

Die Könige gezeugt/ die Königlich gebohren/

Die Könige geliebt/ die bey noch zartem Jahr

Ein König ihr vermählt/ die Könige gebahr/

Nach dem drey Kronen sie/ zur Königin erkohren […].Footnote 106

Die Exilsituation der englischen Königin in Frankreich, gezeichnet von Kummer und Sorgen, zeigt auf, wie sehr das Schicksal der englischen Monarchie mit Europa verwoben ist. Gryphius hatte in den Anmerkungen zum Wappen Großbritanniens auf die Verbindung von Frankreich und Inselreich im Coat of Arms zusätzlich hingewiesen.Footnote 107

Dieser erneuten Einbindung Großbritanniens in die europäische Ordnung (die dynastische Einbindung droht zu scheitern) stehen im Trauerspiel zwei Aspekte entgegen: das jede politische Einmischung verweigernde, für sich bestehende Inselreich und die sich dynamisierenden Möglichkeiten des globalen Austausches, wie sie der aus NeuEngelland zurückgekehrte Hugo Peters repräsentiert („den neu Albion zu lehren außgesendet“ III.389), die auch vielfältige Chancen für eine Glaubensfreiheit eröffnen. So wird im Sonett An einen höchstberühmten Feldherrn/ bey Ueberreichung des Carl Stuards denn auch eine gewissermaßen kontinental gedachte ‚splendid isolation‘ imaginiert, die Welt möge sich von Britannien abtrennen – die Insel möge für sich bestehen: „schreckt die grosse Welt/ Die sich von Britten sucht weit mehr denn vor zu schneiden“Footnote 108. Gleichsam chirurgisch soll hier die Abtrennung Britanniens von globalen Geschehen vorgenommen werden. Doch eine solche insulare Isolierung des Revolutionsgeschehens ist gar nicht mehr denkbar.

Es ist vor allem der Chor der Syrenen, der am Ende der zweiten Abhandlung das Geschehen auf der Insel dem Geschehen auf dem Kontinent gegenüberstellt. Der Niedergang der Monarchien in Dänemark, Polen und der Türkei wird hier vermerkt, um schließlich die kriegerischen Konflikte zwischen Spanien und Portugal, Heiligem Römischen Reich und Frankreich aufzuführen. Der verführerische Gesang der Sirenen von der Revolution, der von der Insel nach Europa herüberklingt (in einem „wohl als Ritornell-Arie konzipierten Wechselgesang“Footnote 109), ist bei Gryphius nur abschreckend und angsteinflößend. Doch auch das Inselgeschehen kann als wüstes Toben gar nicht mehr vom Geschehen auf dem ebenfalls in Kriegen zerfallenden Kontinent unterschieden werden. Das vermeintlich ferne britische Inselreich zeigt sich ebenso „als Ort intimster Vertrautheit“Footnote 110 eines in Kriegen auseinanderberstenden Kontinents. Die Insel im stürmischen Meer – dies meint in der Emblematik ja vor allem die Unbeständigkeit der Welt.Footnote 111

Im Gesang der Syrenen erscheint Großbritannien als erste Vorburg, die vom tosenden Meer, dem politischen Chaos, genommen wird („Wil die Vorburg Amphitritens auch nicht länger felsern seyn“ II.542). Hier wird eine geschichtliche Dynamik offensichtlich, die vom politischen Experimentierfeld der Insel auf den Kontinent übergreift, ein politisches Experimentieren, das die Möglichkeit einer abgeschlossenen Insel schon längst verabschiedet hat und die expansiv-aggressiven Tendenzen im politischen Geschehen Europas offenlegt, das längst Teil einer globalen Geschichte geworden ist: „die weitte Tems ist offen“ (III.282) – „Rent in neu Albion“ (V.210), so lassen sich die Independenten bereits nur mehr als globale politische Agenten begreifen. Bemerkenswert ist hier, wie sehr das von einer gesellschaftlichen Dynamik erfasste Inselreich mit der Nähe zu Meer und Fluss in Verbindung gebracht wird. Martin Knoll, der die Hydrographie des 17. Jahrhunderts erforschte, bilanziert: „Rhetorische Statik versus fluviale Dynamik“Footnote 112 charakterisiere die Wahrnehmung von Flusslandschaften im Barockzeitalter. Die postulierte Statik der Gesellschaftsordnung steht im Widerspruch zum permanenten Wechsel der Fluss- und Wasserverläufe. Auf dem Inselreich hat bei Gryphius die Dynamik des Wassers über die Statik der Landmasse (und der Gesellschaft) obsiegt. Dies entspricht Vorstellungen bei Grotius, die davon ausgehen, dass der die Landmassen umschließende Ozean eher das Land beherrsche als umgekehrt.Footnote 113 Der Zerfall des Machtzentrums von Großbritannien kann folglich als Modell verstanden werden für „eine Dezentrierung, zu der die ‚Entdeckung‘ der Neuen Welt maßgeblich beigetragen hat.“Footnote 114 Nicht nur steht im Zentrum der Macht auf dem Inselreich kein König mehr, sondern eine Vielzahl an aus dem breiten Volk hervorgegangenen Entscheidungsträgern, auch die Landesteile Irland, Schottland und England scheinen im Bürgerkrieg nicht von einem Zentrum her regiert werden zu können (gerade die topographische Wahrnehmung eines Herrschaftsraums schärft den Blick für die erwünschte „Zentralisierung von Regierungs- und Verwaltungshandeln“Footnote 115). Und so deutet sich mit dem Auftritt ‚neu Albions‘ auf der politischen Weltbühne auch eine Ordnung an, die den europäischen Kontinent nicht mehr wie selbstverständlich als organisierendes Zentrum begreift. Besonders bemerkenswert bei Gryphius ist, dass jene seit Homer vertrauten Erzählungen von der Kulturisation einer Insel hier im Trauerspiel auch dystopisch zurückgenommen werden können. Die voranschreitende Kulturisation der wilden Insel verkehrt sich in ihr Gegenteil, in Krieg und Chaos. Auch für die Dystopie erweist sich die Insel als ideales Experimentierfeld.