1 Einleitung

Meine Überlegungen setzen an den Debatten für und wider das Todesurteil gegen den englischen König Karl I. in Andreas Gryphius’ Carolus Stuardus an; einer Debatte, die ursprünglich in England geführt wurde, aber nicht zuletzt durch verschiedene Übersetzungen Auswirkungen auf und in ganz Europa hatte (3). Im Mittelpunkt steht die Austauschbarkeit der Argumente in Bezug auf die göttliche Legitimation von Herrschaft, die sowohl die royale wie auch die independente Position für sich beanspruchen. Geführt wird diese Debatte im Carolus Stuardus, zumindest auf der royalen Seite, durch die Geister (der Vergangenheit). Diese Geister, ein zentrales Thema in Gryphius’ Theaterschaffen (1), fordern göttliche Rache für den Tod Karls (2). Da diese Forderung jedoch – anders als von Karl selbst, der für sich eine Imitatio Christi beansprucht – nur auf Basis des mosaischen Talionsgesetzes vorgetragen wird, welches die Gegenseite ebenfalls für sich mit den gleichen Argumenten, nur andersherum gerichtet, beansprucht, führt das ganze Unterfangen, besonders deutlich in der B-Fassung, in die Aporie: Es stehen sich zwei Geister-Gruppen gegenüber, die mit gleichem Recht Rache anstreben, die damit aber im Sinne der im Aufsatz rekonstruierten Rechtsbegrifflichkeit der Frühen Neuzeit nur privates Strafbegehren, nicht aber göttliche Strafe sein kann (4/5). Die Suche nach dem Geist, d. h. der Legitimation von peinlicher Strafe endet also, zumindest in diesem besonderen Falle, im Nichts.

2 Geister bei Gryphius

In der Vorrede zur B-Auflage des Carolus Stuardus zitiert Gryphius ein „Diktum Petrons“ (Satyricon 118,6) – mit einem bemerkenswerten Einschub:

‚Historische Tatsachen sollen nicht in Verse gefasst werden, das tun die Historiker weit besser; vielmehr muss durch Zweideutigkeit, durch Eingriff der Götter‘ – ergänze: aber auch der Gespenster und Geister – ‚und durch die sagenhafte Gewalt der Sprache der Inspiration freie Bahn gelassen werden, damit eher die Prophezeiung eines Rasenden zur Erscheinung komme als die unter Zeugen beglaubigte, sorgfältig abgewogene Rede‘.Footnote 1

Mit dieser Textmontage wird einer Unterscheidung verschiedener Sprech- und Schreibweisen das Wort geredet: Der literarische oder theatrale Text bedient sich einer anderen Sprache als juristische, politische oder historisch argumentierende Abhandlungen. Trotzdem wendet er sich mit seiner anderen Sprache dem gleichen Sujet zu wie diese und erhebt den Anspruch, Aussagen über es zu machen. Was die Charakteristika der literarischen Rede anbetrifft, ist die Zuordnung der „Zweideutigkeit“ („ambages“) zum literarischen Text von besonderer Bedeutung, weil sie die Unterscheidung zur juristischen, „unter Zeugen beglaubigte[n], sorgfältig abgewogene[n] Rede“, die – wie man hinzufügen muss – wie die politische oder historische Rede auf Eindeutigkeit abzielt, ausmacht.

Für diese Darstellungsweise der Zweideutigkeit gibt Gryphius einige Beispiele. Es ist insbesondere die „Prophezeiung eines Wahnsinnigen“, die gegen die eindeutige Rede gestellt wird; das weist auf die – in der B-Auflage neu eingefügte – Vision Polehs im fünften Akt voraus. Zu der genannten Zweideutigkeit der Rede gehört aber auch, das ist alles noch mit Petron gesprochen, der Eingriff der Götter, also, theatertechnisch gesprochen, der Auftritt des Deus ex machina. Benjamins Satz, dass die barocke „Bühne“ in „der Machination“ ihren „Gott“ habe,Footnote 2 gilt also augenscheinlich auch hier. Gryphius geht aber noch einmal einen Schritt weiter, wenn er in das Zitat von Petron einen eigenen Zusatz einflicht: „ergänze: aber auch der Gespenster und Geister“.

Damit ist dreierlei gesagt: Erstens gehören für Gryphius Geistererscheinungen grundsätzlich zur als ambig gekennzeichneten theatralischen Darstellungsweise. Das Auftreten der Geister ist, zweitens, in seiner Zweideutigkeit analog zur prophetischen Rede von Wahnsinnigen oder Entrückten einzuordnen. Vor allem aber wird, drittens, durch den Zusatz, auch grammatikalisch („Eingriff“ der „Götter“ und „Geister“ bzw. „Gespenster“), eine Analogie zwischen Göttern und Geistern hergestellt.

Dieses Zitat lässt sich nicht nur als eine poetologische Rechtfertigung für das folgende Drama lesen, sondern auch als eine Art Kurzkommentar zu den bisherigen Geisterauftritten in Gryphius’ Trauerspielen:Footnote 3 Geister handeln dort in der Tat im göttlichen Auftrag und sprechen Gottes Wort aus, allerdings mit einer gewissen Zweideutigkeit versehen. Dieser Verlust der „claritas“,Footnote 4 die Luther in seiner Schrift De servo arbitrio dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift zumaß, ist der Preis, der gezahlt werden muss, wenn das Wort Gottes theatral wird. ‚Theatral‘ bedeutet in diesem Kontext nicht nur, dass das genannte Gotteswort auf der Bühne ausgesprochen, sondern dass es mit allen Regeln der zu Gryphius Zeiten zur Verfügung stehenden Theater-Kunst inszeniert wird. Tarasii Geist – aus dem Leo Armenius – „erscheinet“ und „verschwinde[t]“ mit Licht und Musik durch ein bewegliches Bühnenelement;Footnote 5 Catharina von Georgien „erscheinetFootnote 6 im gleichnamigen Trauerspiel am Ende mit einem Fluggerät auf der Bühne (wie vor ihr die allegorisierte Ewigkeit).

Solche Auftritte sind, theatertechnisch gesprochen, State of the art in Deutschland und daher medienwirksamer als die Lektüre der Heiligen Schrift oder ein Gebet. Die damit erzielte theatrale Wirksamkeit des göttlichen Wortes ist aber wie gesagt mit dem Preis einer gewissen Zweideutigkeit zu bezahlen, explizit abzulesen an der Prophezeiung des höllischen Geistes aus dem Leo Armenius, der den Verschwörern einen erfolgreichen Umsturz voraussagt. Seine Worte werden sich bewahrheiten; die Verschwörer werden Leo töten und Balbus am Weihnachtstag in der Kirche (ein Ort, „Wo man kein Blut vergeust“) zum König krönen. Trotzdem lässt sich das „dir wird/ was Leo trägt.“Footnote 7 weiter auslegen, als es der Verschwörer anfangs wahrhaben wollen: Es ist nicht nur die „Cron“, die Michael Balbus erringen, sondern auch der „Tod“ Leos, der ihn eines Tages ereilen wird.Footnote 8 Der Beschwörer Jamblich gibt dies gerne zu, wenn er die teuflische Vorhersage, nach Abgang der Verschwörer wohlgemerkt, mit den Worten kommentiert: „Was uns der Geist erkläret; | Siht doppelsinnig aus.“Footnote 9 Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass gerade diese – als Geisterscheinung notwendige – Doppelsinnigkeit auf die göttliche Gerechtigkeit hinzielt, da der teuflische Geist mit seiner zweifachen Semantik nicht nur den Zeitpunkt und das Gelingen des Anschlags vorhersagt, sondern auch bereits den des Vollzugs des göttlichen Urteils über diese Tat.

Trotz der theatralischen Ambiguität bleibt das Wort der Geister, sogar das der bösen, also Gottes Wort. Dies ist nur bedingt mit der lutherischen Lehre in Übereinstimmung zu bringen, da nach ihr sich hinter Gespenstern und Geistern niemand anderes als der „Teufel“ selbst verbirgt, der „des Nachts“ für die Erscheinungen der „Gespenst vnd Poltergeister“ verantwortlich zeichnet.Footnote 10 Nach Meinung der Orthodoxie spricht in und mit den Geistern also nicht Gott, sondern sein größter Gegenspieler, mit dem der lutherische Christ aufgrund dessen biblisch garantierter Lügenhaftigkeit eigentlich keine Zwiesprache halten und dem er nicht glauben darf.

Aber das Theater hat eben, das weiß der Gryphius als Lutheraner und Theatermann in Personalunion, seine eigenen Gesetze. Es liegt nahe, zu vermuten, dass Gryphius, der den Auftritt der Geister dem jesuistischen Theater abgeschaut hat,Footnote 11 mit seinem Geisterprojekt auch der katholischen Gespensterlehre folgt oder sich ihrer zumindest bedient. Derzufolge wären Geister „animae damnatae“ bzw. „animae purgandae“,Footnote 12 also Verdammte bzw. Seelen im Fegefeuer, die zum Menschen kommen, um ihn zu schrecken oder ihn für ihre Erlösung um Hilfe zu bitten.Footnote 13 Sie hätten also ein, wie es bei Salman Rushdie heißt, „unfinished business“ auf Erden.Footnote 14

Bei Gryphius geht es bei dieser unerledigten Geschichte um Rache, Strafe und Gerechtigkeit, die den Geistern herbeizuführen zu Lebzeiten nicht möglich war. Dieser Position scheint beispielsweise Chach Abbas – aus Catharina von Georgien – anzuhängen, wenn er den „GeistFootnote 15 seiner märtyrerhaften Gegenspielerin Catharina, die er nota bene gerade hat hinrichten lassen (was er nun bitterlich bereut), beschwört, Gott um Rache an ihm anzurufen: „Princessin heische Rach!“Footnote 16 Doch Catharina, als Geist, widersteht dieser Versuchung, wie sie auch vorher, als Mensch, der Folter widerstanden hat – und bittet den obersten „Richter“ nicht um persönliche Rache. Auch ohne ihr Einwirken wird es eines Tages so kommen, dass, wie sie prophezeit, Abas’ „sigen […] ein Ende“ hat und er „dem Richter übergeben“ wird.Footnote 17 Catharina, zumindest die der B-Fassung,Footnote 18 reiht sich also in die Reihe der unabhängigen, wahrhaft prophezeienden Geister aus Leo Armenius ein, die mit dem göttlichen Wort in Verbindung stehen – und dem Zeitpunkt eins, dem Sieg ihres Widersachers, einen zweiten Zeitpunkt gegenüberstellen, nämlich den, an dem Gott als Richter über das zuvor erfolgte Unrecht auftritt.

Aber durch die Einflüsterung des Chach Abas ist eine zweite Position, dass nämlich Geister vor dem ewigen Richter „Rache heischen“ können, zumindest als Möglichkeit aufgerufen; eine Möglichkeit, die im Reyen zur zweiten Abhandlung realisiert wird, wenn die „von Chach Abas erwürgeten Fürsten“Footnote 19– auch das logischerweise Geister – tatsächlich vor Gott als Ankläger auftauchen und vor dem „Richter“ fordern: „Rache! Rache! Rache!“Footnote 20 In dieser und in der von Chach Abas evozierten, von Catherina aber nicht ergriffenen Position sind die Geister gerade keine Propheten mehr, sondern Ankläger in eigener Sache in einem Akkusationsprozess, die nur dann zu Propheten würden, wenn der oberste Richter ihrer Anklage auf ganzer Linie stattgäbe.

3 Geister im Carolus Stuardus

Im Carolus Stuardus (Entst. 1649/50 [A]/1660? [B]; Erstdruck 1657 [A]/1663 [B]) wird diese Tendenz der Abwertung oder auch Umrüstung der Geister – von Propheten zu Anklägern in eigener Sache – fortgesetzt. Die erste Abhandlung der A-Fassung (bzw. die zweite der B-Fassung)Footnote 21 beginnt mit dem Auftritt der Geister Straffords und Lauds; später tritt auch der Geist Marias Stuarts hinzu. Die beiden ersteren – ehemalige Berater des Königs, die dieser später hinrichten ließ – sind nicht gekommen, um sich an Karl zu rächen. Sie wissen, dass der englische König bei ihrer Hinrichtung letztlich auf Druck des Parlaments gehandelt hat: „Doch klag ich werther Printz nicht über deine Treue“, wird explizit gesagt.Footnote 22 Vielmehr ist es ihnen anscheinend vor allem um das Unrecht zu tun, das Carolus bei seiner Hinrichtung widerfährt:

Er/ der sein Leben waget

Für sein verdrucktes Reich/ wird von dem Reich vertaget/

Für eines Henckers Fuß/ und legt auff einen Streich

Für aller Augen hin sein itzt enthalste Leich,Footnote 23

so der Geist Marias. Dieses Unrecht hat sich in Marias Augen den Anstrich des Rechts gegeben: In der Form der Independenten hat „thörichte Gewalt den Richterstul besetzt“Footnote 24; das „allzeit-blinde Volck sucht GOtt und Printz zu rächen“Footnote 25. Dieses – in Form der Hinrichtung unmittelbar bevorstehende – Bestreben wird als nicht gerechtfertigter Rachewunsch, als, wie es später heißt, „Rachgier“Footnote 26 bezeichnet. Also bedarf es nach royalistischer Logik einer Besetzung des Richterstuhls ohne „thörichte Gewalt“, in der diese falsche Rache durch eine richtige gerächt wird.

Vorderhand gerieren sich die drei genannten Geister als neutrale Propheten für eine Vergeltung des Unrechts, das Karl geschehen wird. Laud sagt in Richtung der Independenten bzw. des ganzen englischen Volks: „Weh! Weh! muß denn mein Geist sich wittern | Vnd dein [A: ein] Mord-Prophete seyn.“Footnote 27 Und wie die Vergeltung des Unrechts aussehen soll, weiß wiederum Maria: „Das gantze Land ist voll. | Voll Volck/ das bald dein [Karls] Blut mit Blut aussöhnen soll.“Footnote 28

Es besteht allerdings Anlass zum Zweifel, ob Laud und Maria (bei Strafford sieht es anders aus) wirklich neutrale Propheten im Sinne Catharinas sind oder ob sie nicht aus ihrer Parteilichkeit heraus um Rache heischen. Denn sie sind ja nicht irgendwelche Geister, sondern sie wurden allesamt im Rahmen politischer Prozesse hingerichtet und bezeugen qua Analogie mit ihrem – wie sie denken: ungerechten – Schicksal, die Ungerechtigkeit des Schicksals Carolus’. Maria macht diese Analogie ganz deutlich „So/ wie Maria fil/ wird unser Sohns Sohn leiden“.Footnote 29 Dementsprechend verlangt sie in der Form der Vergeltung für Carolus’ Prozess und Todesurteil auch Vergeltung für ihren eigenen Prozess und ihre eigene Hinrichtung.

Und bei genauerem Hinsehen gilt das, in ihren Augen, nicht nur für sie, sondern für alle englischen Könige, die nach der „Jnsell Art“ hingerichtet wurden: „Edwart“ (Eduard der Bekenner, 1003–1066), „Wilhelm“ (Wilhelm der Rote; 1056–1100), „Richard“ (Richard I., 1157/89–1199) usw.Footnote 30 Maria zählt also ein großes, anhaltendes Unrecht gegenüber der englischen Krone auf, das in dem Unrecht an Carolus kulminiert. Und all diese Formen des Unrechts werden, so die Vorstellung Marias, in der von ihr angestrebten Vergeltung für Carolus’ Unrecht sozusagen mitvergolten.

Angesichts dieser ‚Ahnenreihe‘ und angesichts der Tatsache, dass Maria in ihr einen Platz beansprucht, wird deutlich, dass das „soll“ aus Marias Rede alles andere als eine neutrale Prophezeiung ist (was ja auch die ironische Formulierung von der Aussöhnung mit und durch Blut erahnen lässt). Vielmehr ist sie nicht nur Beraterin Karls oder göttliche Prophetin, sondern anklagende Partei, die hofft, dass ihr Rachebegehren in „GOttes Recht“Footnote 31 überführt wird. Maria wird dabei eingerahmt von Laud und Strafford, die zwar nicht dem Hochadel entstammen, aber trotzdem durch ihren politischen Tod die gleiche Analogie heraufbeschwören. Beide unterscheiden sich jedoch untereinander. Laud gibt unmissverständlich zu Protokoll, dass er „durch ernster Rache wille | Aus seiner Gruben bracht“.Footnote 32 Ihm geht es also in erster Linie um seine persönliche Rache; erst in B wird etwas pflichtschuldig nachgeschoben, dass er diese persönliche Rache in eine göttliche „Rach“, die in seiner Hoffnung irgendwann „erscheint“,Footnote 33 zu überführen sucht. Strafford hingegen hegt keine Gelüste dieser Art, sondern möchte sich vielmehr „von keiner Rache“ leiten lassen: „Dein letztes [Wort] auff der Welt“, sagt er zu Carolus – Strafford gibt hier also eine kleine Prophezeiung für den Todeszeitpunkt am Ende des Tages ab – „war meines: ich verzih“.Footnote 34

In der B-Fassung treten die von Maria aufgerufenen „ermordeten Engelländischen Könige“Footnote 35 dann selbst auf – und machen explizit, was bei Maria noch implizit war: Der „HErr“ wird angerufen, ja aufgeweckt („Wie lange schlummerst du“), damit er endlich „ewig Recht“ über das falsche irdische Recht spricht.Footnote 36 Und in beiden Fassungen endet das Stück mit dem – an einen Selbstplagiat gegenüber der Catharina gemahnenden – Aufruf der „Geister der ermordeten Könige“Footnote 37: „Rach! Rache! Rache! Rach! Rach! über disen Tod!“/ „Rach Himmel! übe Rach!“Footnote 38 – und zwar als „Rach über diß Gericht“Footnote 39. Gott soll also „zu Gericht“ über das Gericht gegen Karl „sitze[n]“.Footnote 40

Bemerkenswert ist nun, dass die derart aufgerufene „Rache“ allegorisch am Ende des Trauerspiels (also genau zu dem Zeitpunkt, da Catharina in ihrem Stück als Ewigkeit ihren großen Geister-Auftritt hat) tatsächlich auf den Plan bzw. die Bühne tritt – und zwar genauso, wie sich das die königlichen Geister gewünscht haben: Ihr persönlicher Vergeltungswunsch ist identisch mit der himmlischen Strafe: „Jhr Geister! laufft! weckt die Gewissen /|[…] Vnd zeigt warumb ich eingerissen!“,Footnote 41 heißt es aus dem Mund der Rache. Allerdings wird auch eine Option, wie das Rachebegehren nicht in die Tat umgesetzt werden müsste, ausdrücklich genannt: „Wo es [England] sich reuend nicht in Thränen gantz verteufft.“Footnote 42 Dass explizit eine Option auf Gnade und Vergebung genannt wird, die jedoch an keiner Stelle von Seiten der Royalisten auch nur erwogen wird, lässt es zumindest als zweifelhaft erscheinen, dass die Durchführung der Rache mit Gottes Willen in vollständiger Übereinstimmung steht.Footnote 43

Um diesen Befund besser einordnen zu können, müssen zwei historische Kontexte akzentuiert werden: die publizistischen Debatten in England (und Europa) rund um die (fehlende) Rechtfertigung der Hinrichtung des Königs (3) und die juristische Terminologie von Rache und Strafen im frühneuzeitlichen Deutschland (4).

4 Die publizistischen Debatten in England um den Tod des Königs

Schauen wir uns die rekonstruierte Konstellation von Rache, Strafe und Gerechtigkeit der Geister vor dem Hintergrund der englischen Publizistik der ZeitFootnote 44 bezüglich der Hinrichtung Karls I. an, die Gryphius in sein Stück über-setzt – und dies sowohl durch Einzelzitate als auch (und darauf kommt es mir besonders an) auf Strukturebene.

Royalisten und Antiroyalisten liefern sich nämlich eine Art von publizistischer Propagandaschlacht, in der in verschiedenen Anläufen die Argumente nicht nur ausgetauscht werden, sondern die Pro- und Kontrapositionen direkt aufeinandertreffen. Dieses argumentative Hin und Her kann auf verschiedene Arten geordnet werden. Eine besonders markante Argumentationslinie beginnt, wiewohl es schwierig ist, von einem wirklichen Anfang zu sprechen,Footnote 45 mit John Miltons The Tenure of Kings and Magistrates (dt. Das Lehnbesitztum der Könige und Obrigkeiten), geschrieben während des Prozesses gegen Karl und kurze Zeit nach dessen Hinrichtung 1649 veröffentlicht. In diesem Text entwickelt Milton, ausgehend von der Vorstellung, dass die Macht nach dem Willen Gottes beim (Gottes-)Volk liegt, die Theorie einer Übertragung dieser Macht an Herrscher qua Wahlrecht, die aber im Gegenzug auch deren Absetzbarkeit beinhaltet (wenn die Herrscher nämlich nicht dem Gemeinwohl dienen), was, nach der Exekution, als Rechtfertigung des Todesurteils gelesen wird.Footnote 46

Beinahe gleichzeitig, nämlich bereits am Tag nach der Beerdigung, erscheint Eikon basilike, mindestens in seiner letzten Fassung aus der Feder des Bischofs von Exeter John Gauden,Footnote 47 zeitgenössisch aber Karl selbst zugeschrieben, was dem Text eine hohe Popularität verleiht.Footnote 48 Eine vielfache Anzahl an Auflagen, vor allem aber (anders als bei Milton) eine schnelle Übersetzung in andere Sprachen, auch ins Deutsche, tut ein Übriges.Footnote 49 In diesem Text entwickelt ‚Karl‘ die Theorie einer Gottesgnadenschaft des Königs und reiht sich in die Imitatio Christi ein; dazu gleich mehr.

An Milton wiederum ergeht nach Erscheinen von Eikon basilike der Auftrag vom Council of State, auf diese Schrift zu reagieren; eine Aufforderung, der er mit einer Schrift namens Eikonoklastes nachkommt, in der er sich insofern als Kritiker der Eikon-Schrift und damit als Bilderstürmer zu erkennen gibt, als er das gezeichnete Bild Karls Kapitel für Kapitel, Argument für Argument widerlegt; alles basierend auf seinen oben genannten Überlegungen zur Wahlkönigschaft und, gemäß seines Auftrags, auf den Vorstellungen des Parlaments als gesetzgebender Institution.Footnote 50

Damit hört die Auseinandersetzung zwischen Royalisten und ihren Gegnern nicht auf – und auch Milton legt als Auftragsschriftsteller des Staatsrats die Feder nicht beiseite. In seiner Defensio pro populo anglicano von 1651 (die sogenannte Defensio prima) reagiert er auf Claudius Salmasius’ Defensio regia, die ebenfalls eine Auftragsarbeit (in diesem Falle von royalistischer Seite) war, erschienen in kurzem zeitlichen Abstand nach Karls Tod. Diese Auseinandersetzung ist ebenfalls ist von der Frage nach dem Für und Wider des Gottesgnadentums bzw. des göttlichen Rechts geprägt; auch in diesem Falle reagiert Milton Punkt für Punkt.Footnote 51

Die skizzierten Debatten, genauer gesagt: die beschriebene unmittelbare Konfrontation der sich ausschließenden Argumente in Bezug auf die göttliche Legitimation des Königs bzw. der Anhänger des Parlaments, werden in genau dieser Struktur in Gryphius’ Stück eingearbeitet. Ältere Forschungen, in deren Rahmen davon ausgegangen wurde, dass im Carolus Stuardus einzig der royalistischen und (in diesem ‚und‘ liegt möglicherweise das Problem) Karls Vorstellungen der Imitatio Christi Rechnung getragen würde,Footnote 52 haben hauptsächlich auf die zweite, vierte und fünfte Abhandlung in der Zählung der B-Fassung abgestellt. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass in der bisher vernachlässigten dritten Abhandlung die Position der Antiroyalisten wiedergegeben wird – mit dem gleichen Effekt, den wir auch aus der oben genannten publizistischen Debatte kennen, nämlich einer Konfrontation von sich ausschließenden axiomatischen Grundannahmen,Footnote 53 die in eine unabschließbare Reihe von Argumenten und Gegenargumenten führt, also in eine „argumentative Blockade“.Footnote 54 Die Topiken sind bei den Royalisten und Independenten gleich, nur spiegelbildlich aufgerufen und realisiert: In beiden Fällen wird behauptet, dass die göttliche Gerechtigkeit auf der jeweils eigenen Seite sei. Und diese Anordnung ist so beschaffen, dass kein Argument das andere aushebeln kann.

Gehen wir diese argumentative Blockade mit Hinblick auf die strafenden Geister bei Gryphius durch und beginnen wir mit der royalistischen Perspektive, wobei hier zwischen Karl und seinen Geist-Berater*innen unterschieden werden muss. Beide – also Laud, Maria und die englischen Königsgeister einerseits und Karl (und Wentword) andererseits – zeihen ihre Gegner eines Unrechts, weil sie mit dem Prozess und der geplanten Todesstrafe die göttliche Abstammung der Königswürde missachten, sind doch die Könige, in Marias Worten, die von „Gott[ ] Gesalbten“.Footnote 55 Demzufolge steht Karl in einer Linie mit dem göttlichen Richter, kann die richten, die ihn richten wollen, aber nicht von ihnen, sondern nur vom göttlichen Richter gerichtet werden.

Auch Karl denkt, zumindest in einer ersten argumentativen Linie, über Vergeltung nach, wenn er die Logik des Ius talionis als Folge des beschriebenen Unrechts seiner Gegner aufruft: „Wer nach der Klinge greifft/ muß durch die Kling’ auff-fligen: Wer durch Tumult’ auffsteigt: wird plötzlich unterligen“.Footnote 56 Darauf aufbauend setzt er jedoch, einen Schritt weitergehend, sein Leiden analog zur Imitatio Christi: „wir sind bereit zu leiden.“Footnote 57 In B wird die Analogie noch deutlicher ausgearbeitet: „Er schöpffte wahre Lust/ daß JEsus durch sein Leiden | Sich fast den Tag mit ihm gewürdigt abzuscheiden.“Footnote 58 Interessanterweise handelt es sich, genau genommen, um eine doppelte oder vermittelte Form von Imitatio Christi, nämlich über Strafford alias Wentwort, dessen Imitatio Christi zum Zeitpunkt seiner Exekution Karl nun in der gedanklichen Vorwegnahme seiner eigenen imitiert (was ihm, der er ja eigentlich unschuldig war, die Möglichkeit gibt, die Schuld dafür wie Jesus die der Welt auf sich zu nehmen):Footnote 59

Komm Wentworts werthe Seel! ich wil den Frevel büssen!

Jch wil wie du den Tod: ich wil das Mord-Beil küssen!

Erlöser blick’ uns an! Erlöser! Ach verzeih!

Erlöser nimm’ uns auff! Erlöser steh uns bey!Footnote 60

Diese Position ist, wie Berghaus nachgewiesen hat,Footnote 61 eine mehr oder weniger direkte Paraphrase des 1649 erschienenen, Karl wie gesagt selbst zugeschriebenen Eikon Basilike, in dem die Gottesunmittelbarkeit des Königs (Karl ist „als einem Könige von GOTT und den Rechten/ so wol der Kirchen als des Reichs Wolfahrt anvertrauet“/„as King, entrusted by God, and the Laws, with the good both of Church and State“)Footnote 62 in den Mittelpunkt gestellt wird.Footnote 63 Daraus folgt, wie bei Gryphius, eine Vergeltung im Sinne des Ius talionis. Dies besagt, dass die „Rächer meines Todes […] alles Ubel/ so sie an mich [Karl] verübet haben/ ihnen auff ihren Kopff vergelten werden“ („Avengers of My death […]: the injuries I have susteined from them shall bee […] punished“).Footnote 64

Auch der bei Gryphius vorgeführte Übergang zur Imitatio passionis Christi ist ganz im Sinne von Eikon basilike. Dort heißt es beispielsweise in einem Gebet, dass Karl, in Erwartung seines Todesurteils, spricht, dass er das „Exempel“ („example“) Jesu aufnehmen und seinen „Fußstapffen der Liebe nach[folgen]“ („to imitate […] charitie“) möchte – und zwar trotz oder wegen der Tatsache, dass ihm „Ungerechtigkeit“ („Injustice“) nachgesagt wird.Footnote 65 Auch hier werden also die angeblichen Missetaten des Königs so gewendet, dass sie als Übernahme der Sünde der Welt gedacht und so in den Gedanken der Imitatio überführt werden können.

Schauen wir uns nun den dritten Akt an, in dem wie gesagt den Independenten Raum für ihre Argumente gegeben wird. Es ist mehr als auffallend, dass hier (deutlicher in der B-Fassung, in der anhand der neu eingeführten Figur Fairfax als Diskussionspartner von Cromwell und Hugo Peter einiges explizit gemacht wird, was vorher implizit war) für alles, was auf der royalen Seite gesagt wurde, ein antiroyalistisches Gegenargument gebracht wird – und zwar entwickelt aus dem zu widerlegenden Argument, nur auf den Urheber zurückgewendet. Wenn, wie gezeigt, auf royalistischer Seite die Vorstellung geäußert wird, dass im Sinne des Ius talionis auf das Unrecht der Gegenseite eine Strafe folgen muss, die das Unrecht ahndet, so gilt oder galt dies auch für die Vertreter der independenten Position. Auch sie glauben: „Wer frevelt: der vergeh“Footnote 66 – und meinen dabei nicht ihre Verfehlungen, sondern die des Königs, die durch sie geahndet werden, und zwar im Sinne des Ius talionis: „Wir wütten wider den/ der über uns getobt.“Footnote 67

Die Independenten dürfen diese Strafinstanz darstellen, weil Gott ihnen die Rechte dazu im Sieg über Karl verliehen hat: „der gerechte GOtt/ hat uns den Sig gegeben.“Footnote 68 Aus dieser Situation leiten sie das Recht ab, eine neue Verfassung und damit eine neue Rechtssituation zu etablieren: „Wir haben Krafft des Sigs/ macht Satzungen zu stifften.“Footnote 69 Die gleiche Argumentation wie bei den englischen Königen also, nur aus der Zukunft in die Vergangenheit gelegt: Die Rache der republikanischen Partei wurde zur Rache/Strafe Gottes. Und weil dem so war, ist die Königswürde vernichtet, will heißen, dass „Carl […] kein König nicht“ mehr ist.Footnote 70 Der „Geist Gottes“ ist also jetzt nicht mehr in Karl als König, sondern, wie es Cromwell in B in bemerkenswerter Deutlichkeit ausspricht, „in mir“Footnote 71, als dem rechtmäßigen Überwinder. Aus diesem Grund glaubt Cromwell nun auch das Recht zu haben, Karl hinrichten zu lassen: „Der Richter Schärfe wird durchs heil’ge Recht versöhnt.“Footnote 72

Genau diese Spiegellogik findet sich auch in Miltons Eikonoklastes.Footnote 73 Auch hier wird darauf hingewiesen, dass des Königs „Handlungen und Absichten“ („actions and intentions“) genauso viel „Ungerechtigkeit in sich“ („injustice in them“) tragen wie „die, deren er Andere anklagt“ („then what he charges upon others“).Footnote 74 Wenn man Karls Aussagen und Gebete nur richtig zu lesen wisse, so Milton, dann könne man erkennen, dass Karls Anschuldigungen gegenüber seinen Gegnern solche „über ihn selbst“ („upon himself“) sind.Footnote 75 Insbesondere das entscheidende Argument Cromwells, dass nämlich Gott über den Sieg im Bürgerkrieg sozusagen Recht gesprochen und zugleich Rache verübt hat, findet sich genauso bei Milton. Dieser zitiert genüsslich, dass Karl gesagt habe, dass es „‚Gott gefiel‘, ihm Sieg oder Niederlage zu senden“ („it pleas’d God to send him Victory or Loss“)Footnote 76 – um dann noch genüsslicher zu betonen, wem „Gott den Sieg“ („to whom God gave Victory“) im Bürgerkrieg tatsächlich gegeben hat, nämlich der parlamentarischen Partei.Footnote 77 Und daraus leitet er den Anspruch ab, das Junktim „Gottes Verehrung und Unterthanentreue gegen den König“ („Religion to thir God, and loyalty to thir King“) zu lösen;Footnote 78 zugunsten einer Treue gegenüber der „Autorität der Gesetze“ („the authority of Law“) und dem Parlament (allerdings nicht gegenüber Cromwell als Person, das ist ein Zusatz Gryphius’),Footnote 79 das der „gerechten Sache“ („just cause“) in diesem Krieg verpflichtet war.Footnote 80

Daraus erhellt: Die argumentative Logik der politischen Geister aus dem zweiten Akt der B-Fassung in Bezug auf Unrecht und Strafe hat, so überzeugend sie für Royalisten sein mag, einen entscheidenden Nachteil. Sie kann die Umdrehung der Argumente für die Gegenseite, die sich damit genauso im Recht fühlt, nicht unterbinden und muss daher ihrer Neutralisierung hilflos zusehen.

5 Über Rache und Strafen

Ich möchte nun behaupten, dass die Spiegelung der Argumente von Royalisten und Independenten sich ihrerseits spiegelt, nämlich in den Rache- bzw. Strafbegehren der beiden Seiten gegeneinander. Dies einmal in einem ursprünglichen Sinne, weil beide Parteien für das Unrecht der jeweils anderen eine „spiegelnde[ ] Strafe“,Footnote 81 also eine Strafe, die das Unrecht der Gegenseite spiegelverkehrt abbildet, fordern, zum anderen in der Konfrontation der Rache bzw. Strafbegehren: Was die Independenten als Strafe für die Missetat der royalistischen Seite ansehen, ist von deren Warte aus gesehen die Missetat, die es ihrerseits zu strafen oder eben zu rächen gilt, und so weiter und so fort.

‚Rache‘ ist, wie oben ausgeführt, ein häufig verwendeter Begriff bei Gryphius, der einer historischen Erläuterung bedarf: Aufgerufen wird, so habe ich gezeigt, vordringlich die Rache Gottes, die überparteilich ist – und das private Rachebegehren der entweder royalistischen oder independenten Seite, das erst einmal parteilich ist, aber immer in der Hoffnung, ja sicheren Überzeugung formuliert wird, dass es in die göttliche Rache übergehen wird. Um diese Überdeterminierung zu verstehen, bedarf es eines Blicks in das frühzeitliche Verständnis von Strafe und Rache.

Beginnen wir mit der Rache Gottes: Man muss wissen, dass die Gerichtbarkeit Gottes (oder allgemeiner: seine Straftätigkeit) in der Luther-Übersetzung des Alten Testaments (z. B. Ps 58,11, Jer 50,28, Ez 25,17 u. a.) immer als „Rache“ wiedergegeben wird. Rache wiederum steht in einem engen Zusammenhang mit dem Zorn Gottes, insbesondere dem, der sich am Bruch der Zehn Gebote entzündet. In 2 Mo 20,3–5 (wiederholt in 5 Mo 5,9–10) heißt es: „Dv solt kein andere Götter neben mir haben. […] Bete sie nicht an/ vnd diene jnen nicht/ Denn ich der Herr dein Gott/ bin ein eyueriger Gott/ Der da heimsucht der Veter missethat an den Kindern/ bis in das dritte vnd vierde Glied/ die mich hassen“.Footnote 82 Zwar bezieht sich die Androhung Gottes, seinen „zorn“ bis ins dritte und vierte Geschlecht des Sünders auszuagieren, eigentlich nur auf denjenigen, der das erste der Zehn Gebote (in der lutherischen Zählung) gebrochen hat, nämlich auf die Forderung, keine anderen Götter neben dem einen zu haben. Sie gilt aber, wie Luther im Großen Katechismus ausführt, auch „auff alle gepot“,Footnote 83 die in dem Hauptgebot sozusagen in nuce schon enthalten sind. Gott straft also in seinem Zorn den Bruch der mosaischen Gebote durch Rache.

Auf diesen Zorn- und Rachebegriff bezieht sich der Kirchenvater Laktanz,Footnote 84 wenn er sich vom Zornbegriff der Stoiker, insbesondere von Senecas De ira, distanziert („Hier handelt es sich um den ungerechten Zorn“/ „haec est ira […] iniusta“) – und diesem den „gerechte[n] Zorn“ („ira iusta“) gegenüberstellt, der für die „Züchtigung der Schlechtigkeit“ („pravitatis correctio“) zuständig ist.Footnote 85 Dies ist nach Laktanz der Zorn, den wir „bei Gott“ („in deo“) finden.Footnote 86 Schon der Kirchenvater betont in diesem Zusammenhang, dass der solcherart definierte göttliche Zorn das „Beispiel“ ist, das „auf die Menschen gekommen ist“ („ad hominem pervenit exemplum“).Footnote 87 Auch die Nähe von Rache und Zorn wird bei ihm thematisiert. Mit Cicero befindet er: „ira est libido ulciscendi“ („Zorn ist Lust, sich zu rächen“).Footnote 88

Auf Laktanz’ Interpretation des Alten Testaments stützt sich wiederum Deutschlands wichtigster Jurist der Frühen Neuzeit, Benedikt Carpzov, wenn er mit explizitem Bezug auf De ira dei das Strafgebot des Staates mit dem göttlichen Zorn analogisiert: „Denn so wie wir mit unserer Macht unsere Untergebenen zügeln müssen, so muß auch Gott die Sünden aller Welt zügeln, und um dies zu tun, muß er in Zorn geraten“ („Nam sicut nos potestati nostra subjectos coercere debemus, ita etiam peccata universorum Deus coercere debet; quod ut faciat, irascatur necesse est“).Footnote 89 In diesem Zusammenhang leitet Carpzov das Grundprinzip des Ius talionis, wie zeitgenössisch üblich, aus 5 Mos 19,21 ab: „Dein auge sol sein nicht schonen/ Seel vmb seel/ Auge vmb auge/ Zan vmb zan/ Hand vmb hand/ Fus vmb fus“.Footnote 90

Carpzov bezieht sich jedoch zugleich auf das Neue Testament, nämlich auf den Anfang des 13. Kapitels des Römerbriefs (V. 1–4), der für das protestantische Ordnungs- und Rechtsverständnis der frühen Neuzeit, insbesondere die Zwei-Reiche-Lehre, von zentraler Bedeutung ist:

JEderman sey vnterthan der Oberkeit/ die gewalt vber jn hat. Denn es ist keine Oberkeit/ on von Gott/ Wo aber Oberkeit ist/ die ist von Gott verordnet. Wer sich nu wider die Oberkeit setzet/ Der widerstrebet Gottes ordnung/ Die aber widerstreben/ werden vber sich ein Vrteil empfahen. Denn die Gewaltigen sind nicht den guten wercken/ Sondern den bösen zu fürchten. Wiltu dich aber nicht fürchten fur der Oberkeit/ so thue gutes/ so wirstu lob von derselbigen haben/ Denn sie ist Gottes Dienerin/ dir zu gut. Thustu aber böses/ so fürchte dich/ Denn sie tregt das Schwert nicht vmb sonst/ Sie ist Gottes Dienerin/ eine Racherin zur straffe vber den/ der böses thut.Footnote 91

Zentral für Carpzov ist die Weitergabe der Rache Gottes an die Obrigkeit: „Gottes Dienerin/ eine Racherin zur straffe“. Kommt nämlich der Magistrat der heiligen Pflicht, die göttliche Rache als Ausdrucksform seines Zorns auszuführen, nicht nach, so „zieht Gott ihn selbst zur Strafe“ („Deus ipsem et ad vindictam exurgit“).Footnote 92

Damit ist neben dem Grundprinzip des Ius talionis – der Spiegelbildlichkeit von Tat und Strafe – auch das der Inquisition formuliert, dass nämlich bei einer Straftat nur noch von einer Seite ermittelt, angeklagt und gestraft wird, nämlich der der Obrigkeit (im Auftrag Gottes).Footnote 93 Diese Strafnotwendigkeit wird bei Carpzov über Gottes Zorn und Rache hergeleitet: Der Delinquent lehnt sich mit der Tat ursprünglich gegen Gott auf. Der damit hervorgerufene „Fluch“ („maledictio“) kann nur durch eine das Unrecht spiegelnde Bestrafung abgewendet werden – und zwar durch die Obrigkeit.Footnote 94

Die Vorstellung von der Obrigkeit als „von Gott“ kommend und sich in der heiligen Pflicht befindend,Footnote 95 den göttlichen Zorn und die göttliche Rache auf weltlicher Ebene auszuagieren, ist jedoch nur dann widerspruchsfrei, wenn sie singulär ist und in ihrer Singularität von Gott legitimiert wurde. In Gryphius’ Drama gibt es jedoch, wie gesehen, zwei Obrigkeiten, die beide den Anspruch haben, „von Gott“ zu kommen. Deswegen können diese Obrigkeiten nicht Ausführende einer göttlichen Strafe sein; vielmehr stehen sie als Geschädigte und Partei im Sinne einer Majestätsverletzung vor Gottes Gericht und erheben Klage. Insofern ist ihre Rache eben nicht mehr im Sinne des Inquisitionsrechts identisch mit der Gottes, sondern fällt zurück auf den Status einer für das mittelalterliche Akkusationsstrafrecht typischen PrivatklageFootnote 96 bzw. tendiert sogar dazu, den individuellen Zorn in einer rechtsgeschichtlich noch früher anzusetzenden Privatstrafe zu realisieren (deren Spuren sich allerdings bis in die Neuzeit verfolgen lassen).Footnote 97

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass beide Parteien den Anspruch auf Objektivität ihres Rachebegehrens fallenließen. Da der genannte Anspruch jedoch doppelt vorhanden und in sich gespiegelt ist, verbleibt es auch auf dieser Ebene bei der Blockade, die wir bereits aus der Publizistik kennen, nur dass die Situation hier in eine tendenziell nicht endende Spirale von Gewalt und Gegengewalt führt, da jede Strafe/Rache der Gegenseite ein neuerdings zu sühnendes Verbrechen darstellt und vice versa.

6 Zwei Gruppen von Leichen im Keller der englischen Geschichte

Nun habe ich oben bereits ausgeführt, dass die royalistische Position über ein Argument verfügt, das sie aus der alttestamentlichen Logik von Schlag und Gegenschlag – publikatorisch wie auf der Strafebene – ausbrechen lässt, nämlich Karls bereits in der A-Fassung formulierte, in B jedoch stärker herausgearbeitete Hinwendung zur Imitatio Christi und damit zum Liebesgebot des Neuen Testaments. Dieses Argument formuliert mit dem Imperativ des Verzeihens theoretisch eine Stoppregel in der genannten Gewaltspirale. Doch genau hier erweisen sich, wie ich zeigen möchte, die (royalistischen) Geister stärker als der König und machen ihm mit ihrer unauflöslichen und unauslöschlichen Rachelogik einen Strich durch die Rechnung.

Schauen wir uns Karls Hinwendung zum Liebesgebot im Detail an: In einem einzigen Punkt folgt Gryphius im dritten Akt der B-Fassung Milton nicht. Milton zerpflückt nämlich auch die Vermahnung Karls an „seinen Sohn, ‚nicht nach Rache zu trachten‘“ („his Son not to study revenge“) wie alle anderen religiös-moralischen Handlungen/Aussagen des Königs als etwas,Footnote 98 das den „Sauerteig der Unwahrheit“ („leven of untruth“) trage.Footnote 99 Bei Gryphius hingegen wird kein Fragezeichen daran angebracht, wenn der König, wie es in Eikon basilike heißt, Gott bittet, dass „GOTT mein Blut […] nicht wolle zurechnen“ („God would not impute My blood“), also sich dafür einsetzt, die Logik der Talion und der Rache zu beenden – und zwar deswegen, weil er Jesus nachfolgen möchte; auch in der „Liebe“ („charitie“) und auch im „vergeben“ („forgive“).Footnote 100

Diese Position wird nämlich, ich kehre zu Gryphius’ Text zurück, als Konsequenz aus der Imitatio Christi angesehen. Das Verzeihen, das Karl von Christus für seine Untaten erbittet („Erlöser […] Ach verzeih“; s.o.), möchte er, der er sich in einer strukturellen Identität mit diesem Erlöser zu befinden glaubt, auch für seine Peiniger walten lassen. „[V]on Christo lernen“ heißt lernen, „Wie man verzeihen“ und noch mehr: wie man „[l]iben“ soll.Footnote 101 Und das wiederum heißt, dass Gott nicht nur ihm, sondern auch seinen Peinigern vergeben und also die Rache aussetzen soll, selbst wenn diese gerechtfertigt sein sollte, wie es die englische Krone glaubt. Wentword hatte also ganz richtig prophezeit. Karls letzte Worte kreisen tatsächlich ums Verzeihen, ihm gegenüber – vor allem aber gegenüber seinen Gegnern: „Vergib mir was ich je verbrach | Vnd fordre vmb diß Blut nicht Rach!“Footnote 102; leicht variiert in B: D, S. 547; V, V. 479–480: „Vergib mir was ich je verbrochen | Vnd laß die Blutschuld ungerochen“).

Karls Bitte an Gott um Aussetzen der Rache, also die Bitte um Verzeihen als Form der übergesetzlichen Liebe, im vorletzten Auftritt (nach A-Zählung), wird dadurch kontrastiert, dass im letzten die Geister der ermordeten Könige ihr Rachgeheul anstimmen. Deutlich zu sehen also, dass in diesem Stück auch auf Seiten der Royalisten zwei sehr unterschiedliche Logiken am Werk sind, die dem Neuen und dem Alten Testament zuzuordnen sind: Wenn Maria und die von ihr auf den Plan gerufenen altenglischen Königsgeister und ehemaligen Berater argumentieren, dass sich die Independenten gegen Gott schuldig machen, weil sie eine Position für sich beanspruchen, die nur Gott zusteht, dann klagen sie ihre Gegner des Bruchs des ersten der zehn Gebote an. Karl hingegen hat über den bei Carpzov herangezogenen Anfang von Röm 13 hinausgelesen und weiß, dass genau anschließend an die Vorstellung von der Obrigkeit, die „aus Gott“ ist und daher dessen Zorn in der von ihr festgesetzten Strafe ausagiert, das Liebesgebot formuliert wird, und zwar als Erfüllung und Überwindung der zehn Gebote. In Röm 13,9–13,10 heißt es: „Denn das da gesagt ist/ Du solt nicht ehebrechen/ Du solt nicht tödten/ Du solt nicht stelen/ Du solt nicht falsch gezeugnis geben/ Dich sol nichts gelüsten. Vnd so ein anders Gebot mehr ist/ das wird in diesem wort verfasset/ Du solt deinen Nehesten lieben/ als dich selbs. Die Liebe thut dem Nehesten nichts böses. So ist nu die Liebe des Gesetzes erfüllung“.Footnote 103

Durch die Konfrontation der beiden letzten Auftritte wird deutlich, dass es etwas gibt, das sich Karls Vorstellung einer Aufhebung der Gesetze in Verzeihen und Liebe widersetzt: Und dieses Etwas, das sind die Leichen im Keller der politischen Geschichte oder die sprichwörtlichen Geister der Vergangenheit, sozusagen als figurgewordene Erinnerung an die Unabgeschlossenheit politischer Geschichte. Die in ihnen manifestierte alttestamentliche Logik lässt sich anscheinend nicht durch eine einzige neutestamentliche Figur wie Karl, auch wenn sie den Anspruch erhebt, durch das ganze Land durch den zweiten Körper des KönigsFootnote 104 verbreitet zu sein, aufheben. Die Geister der Vergangenheit sind zäher als jede Forderung nach Amnesie und Amnestie, selbst wenn diese vom König selbst kommt. In der A-Fassung, die noch nicht weiß, was sich Anfang der sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts ereignen wird, drückt sich diese Resistenz gegenüber dem Liebesgebot in der besagten Konfrontation der beiden Auftritte aus. Es wird also zumindest eine Ahnung von der Unmöglichkeit, das Rachebegehren durch Verzeihen aufzulösen, formuliert.

In der B-Fassung von 1663, also drei Jahre nach der Inthronisierung von Karl II. und der Tötung bzw. Schändung der Independenten, ist aus dieser Ahnung Gewissheit geworden. Dementsprechend belässt Gryphius die beiden letzten Szenen und montiert vor sie einen Auftritt des (erfundenen) Independenten Poleh, der „rasend“ wird, weil er die Unschuld Karls I. und seine Schuld eingesehen hat: „Du stirbst ohn Schuld; und ich leb’ allem Recht zu wider!“Footnote 105

Dieser Auftritt wirkt nun auf das erste Sehen als eine Verstärkung der royalistischen Position, weil zum ersten Mal jemand auf Seiten der Independenten das eigene Straf- und Rachbegehren für illegitim erklärt. Aber wie schon am Anfang herausgearbeitet, sind Auftritte von Wahnsinnigen und Geistern – und in der Vision des wahnsinnigen Poleh werden die „freyen Geister Independenten genant“ tatsächlich zu „Geister[n]“ im metaphysischen Sinne;Footnote 106 – immer ambig („ambages“; s.o.); und dies nicht zuletzt durch ihren Bezug auf mehrere Zeitpunkte:Footnote 107 In Polehs Vision wird dem jetzigen Unrecht, das Karl widerfährt (Zeitpunkt 1), bereits die spätere Rache dafür durch die Royalisten gegenübergestellt (Zeitpunkt 2), aber eben auch, wie ich argumentieren möchte, die Möglichkeit einer Rache für diese Rache (Zeitpunkt 3) usw. usf.

Gezeigt werden in Polehs Wahnsinnsvision/Geisterdarstellung nämlich nicht einfach eine Strafe, sondern die grausame „Virtheilung des Hugo Peters und HewledsFootnote 108 und die Leichen „Cromwels“ und seiner Mitstreiter, die wiewohl schon tot, erneut am Galgen aufgehängt und damit geschändet werden.Footnote 109 Auch die royalistischen Geister aus dem ersten (A-Auflage) bzw. zweiten Akt (B-Auflage) sind wieder anwesend: „Wentwort“ und „Laud“. Wentword scheint vergessen zu haben, dass er mal das Vorbild für Karl bei der Imitatio Christi (und dem Verzeihen) war, denn beide Geister vertreten Poleh „den Außgang“.Footnote 110 Sie verweigern damit dessen letzte Bitte: „Last! last mich offnen Weg zu eurer Rache finden; | Last/ Wentwort/ Mittel mich zu meiner Straff ergründen“Footnote 111 – und suchen Rache und Strafe selbst. Wie das aussieht, sehen die Zuschauenden ja in der grausamen Bestrafung der anderen Independenten.

Wiewohl das Trauerspiel wenig Zweifel daran lässt, dass die monarchische Partei – zumindest in Form von Karls Trachten nach Liebe und Verzeihen – im Recht ist, so sehr setzt es sie ins Unrecht, da sie dieses Trachten sehr schnell nach seinem Tod vergisst; ganz im Gegenteil zu den Dingen, um deren Vergessen Karl gebeten hatte, nämlich das Unrecht, das ihr widerfahren ist.Footnote 112 Und nach der Ausführung ihrer Rache in Form der Tötung und Schändung der Independenten gibt es – dieses Ergebnis macht die B-Fassung ganz deutlich – nicht mehr nur eine Partei, deren Geister der Vergangenheit, deren Leichen im Keller, deren figurgewordene Erinnerung an das eigene Unrecht nach alttestamentlicher Rache schreien, sondern zwei, nämlich Royalisten und Independenten. Denn spätestens jetzt widerfährt auch Letzteren Unrecht, was zur Folge haben wird, dass sie ihrerseits durch ihre Geister auf Beendigung des „unfinished business“ dringen werden. Die Chance auf Liebe und Verzeihen ist damit gegen Null gesunken; und die monarchistische Partei hat sich durch den Bruch des Liebesgebots ganz offiziell um den Anspruch gebracht, göttliches Recht zu manifestieren. Die Geister sprechen da trotz oder wegen ihrer Ambiguität eine ganz eindeutige Sprache.