Milton war der erste große englische Schriftsteller und Lyriker, der zu Lebzeiten auf dem europäischen Kontinent Bekanntheit erlangte, und Paradise Lost das erste englische Versepos, das in die europäischen Sprachen übersetzt wurde. Noch bevor Übersetzungen in andere europäische Volkssprachen erschienen, wurden im Deutschen mehrere Versuche unternommen, metrische Übertragungen von Paradise Lost zu verfassen, die aber unvollendet (und, in zwei Fällen, unveröffentlicht)Footnote 1 blieben, bis Johann Jakob Bodmer in den frühen 1720ern eine Prosaübersetzung der gesamten Dichtung begann, die er 1732 veröffentlichte und anschließend überarbeitete; in den folgenden 50 Jahren schuf er nicht weniger als sechs verschiedene Fassungen.Footnote 2 Obwohl sie ein Meilenstein der englisch-deutschen Übersetzungskultur bedeutete, war seine Übersetzung Ende des Jahrhunderts bereits vergessen – nicht, weil bessere Übersetzungen erschienen waren, sondern weil das Interesse an Milton gegenüber dem Enthusiasmus für andere Schriftsteller, allen voran Shakespeare, verblasste. Bodmers Übersetzung ist bis heute die einzige Prosaübertragung von Miltons Versepos ins Deutsche. Die Kritik und Verteidigung dieser Übersetzung gehörten zu zentralen Aspekten des literarischen Streits zwischen Bodmer und Breitinger in Zürich und Gottsched in Leipzig. Die Auseinandersetzung drehte sich um wichtige Probleme wie die Rolle der Einbildungskraft oder die Frage, was in der Literatur dargestellt werden durfte und was nicht.Footnote 3 Bodmers Übersetzung ist zwar gelegentlich untersucht worden, allerdings nicht in jüngerer Zeit und üblicherweise im Schatten dieser größeren Fragen. 1967 untersuchte Wolfgang Bender die ersten drei Fassungen der Übersetzung und beobachtete dabei eine Tendenz zur Straffung des Satzbaus.Footnote 4 Obwohl diese Einschätzung mit Sicherheit korrekt ist, verdeckt sie einige der Gemeinsamkeiten der verschiedenen Fassungen. Benders in der zweiten Hälfte seines Artikels vorgebrachte These, Bodmers Beweggrund zu dieser Übersetzung sei die Erkundung ästhetischer Fragen gewesen, gehorcht dem alten Muster, das die literarische und ästhetische Debatte in den Mittelpunkt stellt. Dies führt, genauso wie die Geringschätzung der Literaturkritik Bodmers, zur Unterwertung der Bodmerschen Übersetzungen.Footnote 5 In den letzten Jahren hat die Übersetzungswissenschaft neue Ansätze zur Erforschung von Übersetzungen aus dem achtzehnten Jahrhundert entwickelt, und im Folgenden werde ich zunächst zu der Frage, was Bodmer zu seiner Milton-Übertragung bewegte, zurückkehren, um anschließend zu versuchen, neues Licht auf die Übersetzungsprozesse und ihr Ergebnis zu werfen.

Bodmer entwickelte frühzeitig ein Interesse an der englischen Literatur und hatte zahlreiche englische Schriftsteller im Original gelesen, bevor er sich mit Milton auseinandersetzte – Locke, Sherlock, Defoe, Addison und Steele.Footnote 6 Noch bevor er Englisch lesen konnte, las er die französische Übersetzung des Spectators und entdeckte dort Milton, obwohl Addisons Beiträge zu Paradise Lost nicht darin enthalten waren; der französische Übersetzer hatte Miltons Dichtung als zu unkonventionell für den französischen Geschmack betrachtet.Footnote 7 Bodmer übersetzte nun ebenjene Ausgaben des Spectator und fügte sie als Anhang seiner „Abhandlung von dem Wunderbaren“ bei.Footnote 8 Sein Freund Laurenz Zellweger machte ihn mit Milton im Original bekannt und schenkte ihm die Tonson-Ausgabe von 1723.

Bodmer wusste, welchen Rang Miltons Gedicht in England einnahm und dass es „die Lust und das Vergnügen der Engelländischen Nation“ war.Footnote 9 Milton betrachtete er als durch und durch englischen Schriftsteller. Die englische Kultur, die aus seiner Sicht tiefere und ernsthaftere Gedanken zu bieten hatte als die französische, begann letzterer den Rang abzulaufen. Miltons politische Ansichten waren zum Kontinent durchgedrungen, und obwohl sein Ruf als Befürworter des Königsmords viele abstieß, stand ihm Bodmer als Schweizer Republikaner in seiner liberalen Züricher Umwelt wohlwollend gegenüber. Und während Miltons theologische Standpunkte in Frankreich, Italien, Spanien und anderen Ländern scharf kritisiert wurden, betrachtete der Schweizer Protestant Bodmer Paradise Lost als erhebendes und erbauliches christliches Gedicht und billigte dessen religiöse Botschaft ausdrücklich. Er setzte sich mit den theologischen Fragen, die das Werk aufwirft, auseinander, insbesondere mit der Frage nach freiem Willen und Gehorsam, zu der er seine eigenen Gedanken entwickelte.Footnote 10 Miltons religiöse Vorstellungen ließen sich problemlos in den deutschsprachigen Kontext des frühen 18. Jahrhunderts übertragen. Allerdings war Paradise Lost keine Predigt, sondern ein literarisches Werk, das christliche und heidnische Mythologie verband. Auch in Bodmers Augen war es ein Epos, „Ein Helden-Gedicht. In ungebundener Rede übersetzet“, wie es im Untertitel zu seiner Übersetzung heißt.Footnote 11

Mit hoher Wahrscheinlichkeit (und wie andere Beiträge bereits betont haben) fühlte Bodmer sich insbesondere von der Naturdarstellung in Paradise Lost angezogen.Footnote 12 Als Schweizer war Bodmer sich des Reizes und der Kraft der Natur bewusst. Ältere Untersuchungen haben zu Recht den Kontext von Bodmers Milton-Lektüre herausgestellt: die Flucht aus den Straßen Zürichs in die Landschaft der Umgebung und dort eine idyllische und erbauliche Naturerfahrung.Footnote 13 Die empirische Naturdarstellung traf also einen Nerv Bodmers und entsprach dem Zeitgeist. Wichtiger noch war, dass diese Naturerfahrung auf einer weiteren Ebene poetisch verarbeitet wurde. Eingebettet in Miltons Dichtung fand sich das Konzept des Erhabenen. Bodmers im Entstehen befindliches Verständnis des Erhabenen gehorchte dem vor-kantianischen Begriff, der seine Wurzeln in der Antike hatte (Pseudo-Longinus). Wie Longinus, der das Erhabene als ein rhetorisches Mittel zur Erzeugung von grenzenlosem Überschwang und gesteigertem Gefühl verstand, war auch Bodmer davon überzeugt, dass eine Möglichkeit, das Erhabene zu erreichen, in der Nachahmung der berühmtesten Autoren der Vergangenheit bestand.Footnote 14 Das Übersetzen selbst war eine Form der Nachahmung und des schöpferischen Strebens. Bodmer bewunderte den Geist des Dichters Milton und seinen Versuch, „Things unattempted yet in prose or rhyme“ (Paradise Lost I.16)Footnote 15 zu erreichen – im Vorwort zur dritten Übersetzung etwa schrieb er, „[daß] kaum ein höherer Gipfel ist, auf welchen sich das Gemüthe des Menschen erheben kann“.Footnote 16 So wichtig ihm der bildhafte und deskriptive Aspekt von Miltons Erzählstil und Locke’schem Empirismus waren, das Entscheidende war Addisons Vorstellung der „secondary pleasures of the imagination“;Footnote 17 die Natur wurde vermittels der Einbildungskraft betrachtet, und der Mensch setzte sich als freier Geist zu ihr in Beziehung. Bodmer sah Milton und andere Geistesgrößen wie Newton als Freigeister. Er bewunderte Milton als einen großen Poeten, der durch seine Dichtung die erhebende Erfahrung des freien menschlichen Geistes in der Natur geschaffen hatte. Die von Milton poetisch gestalteten Figuren waren Beispiele solcher freien Geister. Satan und die Engel treffen selbst die Entscheidung, den Himmel zu verlassen; Adam und Eva beschließen eigenständig, ungehorsam zu sein, und nehmen die Folgen ihres Handelns an. Die Übersetzung selbst ist ein Versuch, diese Freiheit vermittels der Literatur zu erfahren und die Leserschaft daran teilhaben zu lassen.

Bodmer erkannte die zentrale Bedeutung der Berglandschaften, die in Paradise Lost immer wieder heraufbeschworen werden. Das Gedicht beginnt bekanntermaßen mit der Anrufung der „Heavenly Muse, that on the secret top/ Of Oreb didst inspire/ That shepherd“ (I.6–8); im VII. Buch heißt es:

Immediately the mountains huge appear

Emergent, and their broad bare backs upheave

Into the clouds; their tops ascend the sky:

So high as heaved the tumid hills. (I.285–86).

Berge sind Symbole des Erhabenen, sinnbildlich für menschlichen Ehrgeiz und das Streben des Dichters nach Erfolg; sie repräsentieren außerdem die ehrfurchtgebietende Pracht von Gottes Schöpfung. Dass sie, wie Elizabeth Powers betont, in Bodmers sonstigen literarischen Werken nicht vorkommen,Footnote 18 überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die deutsche Gebirgsdichtung in ihren Kinderschuhen steckte. Bodmers Milton-Übersetzung gleicht diesen Mangel aus. Hinsichtlich der Gebirgsbeschreibung in der epischen Dichtung unterschied Bodmer sich von Gottsched, der flache Landschaften für geeigneter hielt.Footnote 19

Höhen lassen sich nicht ohne Tiefen darstellen. Der oben zitierte Abschnitt geht wie folgt weiter: „so low/ Down sunk a hollow bottom broad and deep“ (VII.288–289). Das zweite Buch von Paradise Lost beginnt mit der Betrachtung Satans und der gefallenen Engel in der Hölle: „High on a throne of royal state which far/ Outshone […]“. Es ist bemerkenswert, dass Bodmer Satan frühzeitig als einen höchst reizvollen Charakter herausstellt; an Adam interessieren ihn vor allem die theologischen Fragen,Footnote 20 an Satan ist es die Natur. In der Forschung ist es längst vergessen, dass Satan die Figur war, mit der Bodmer sich identifizierte. In Greifensee, wo er mit der Übersetzung begann, fühlte er sich Satan gleich; in einem Brief an Zellweger vom 28. Januar 1724 zitiert Bodmer den Abschnitt, der Satans Eintreffen im Paradies beschreibt (Paradise Lost IX.445–453):Footnote 21

Als ich aus der stadt kame auf das freye feld, ware mir zu muthe, wie dem Satan als er aus der helle, die mit flüssigem und gediegenem feüer brennt, wo das gefrorene Eiss die finger versenget, und kalt die Wirckungen des feuer verrichtet, in das paradijs kommen, dessen kostbarkeit und die Nakende Eva ihn fast vergessen machten, dass er der Mr. teuffel wäre. Ein jegliches Ding belustigte mich, das zusammengerächte grass, die Sent kühe, das schütteln der Nussbäumen &c. In Greiffensee fieng ich spielend an, die und diese beschreibung aus dem Milton zu verdeutschen.

Hans Bodmer, der Literarhistoriker und Herausgeber der Schriften Bodmers vergleicht diese Stelle mit dem Abschnitt von Paradise Lost (IX.445–453), in dem Satan Eva bewundert und Milton einen Gegensatz zwischen der Enge einer dichtbevölkerten Stadt und den „pleasant villages and farms of the countryside“ herstellt. Dieser bemerkenswerte pastorale Abschnitt machte einen tiefen Eindruck auf Bodmer. Sein Mitgefühl mit Satan ist für einen deutschsprachigen Schriftsteller im frühen 18. Jahrhundert außergewöhnlich und stellt das erste Auftreten einer solchen Empathie auf dem Kontinent dar – als Vorläufer ähnlicher Fälle im deutschen Sturm und Drang und der englischen Romantik, die beide Satan als Miltons Helden betrachteten.

Die Nähe, die Bodmer zu Milton, sogar zu dessen Blindheit und Ruhm empfand,Footnote 22 sein Mitgefühl mit den Figuren des Gedichts, dessen Naturdarstellung und die geisteserbauende Rolle der Literatur waren die Hauptbeweggründe zu diesem Übersetzungsprojekt. Die Aufgabe, Milton ins Deutsche zu übertragen, erforderte großen Einsatz und große Empathie. Bodmer betrachtete Miltons Paradise Lost nicht einfach als christliche Glaubenslehre, sondern als ein durch seine Darstellung der Natur und der Rolle menschlicher Handlungstragender erhebendes literarisches Werk. Dieser erhabene Aspekt des Gedichts musste eingebürgert und verdeutscht werden, weil er in der deutschen Dichtung vor den 1720er Jahren kaum vorgekommen war. Angesichts der Größe seiner selbst gestellten Aufgabe ist es nicht verwunderlich, dass Bodmer eine Übersetzung in Prosa wählte, statt zu versuchen, eine metrische Fassung zu fabrizieren oder den weit ausgreifenden Stil Miltons in Blankversen nachzuahmen.Footnote 23 Obwohl Miltons Dichtung einen ernsthaften und erhabenen Gegenstand behandelt und darin häufig syntaktische Inversionen und Anspielungen auf die Antike vorkommen, bleiben dem Jambus des Blankverses einige Eigenschaften ungebundener Sprache erhalten. Im Vergleich zu den einzelnen metrischen Einheiten der Lyrik war Prosa für eine Übertragung von Miltons Stil – mit seinen langen Sätzen und seinem temporeichen Erzählstil – besser geeignet. Im Hinblick auf das Erhabene in Bodmers Ästhetik stellt Elizabeth Powers erhellend fest, dass die den Gebirgen und anderen Naturphänomenen zugeschriebene atemberaubende Macht sich mit der Unregelmäßigkeit und dem Mangel an Symmetrie der poetischen Sprache deckt.Footnote 24

Der Fall Satans und seiner Engel in die Hölle, „a place of utter darkness fitliest called chaos“,Footnote 25 ließe sich sowohl in gebundener Sprache und poetischem, vom Barock beeinflussten Ausdruck darstellen als auch auf schmucklose und realistische Weise in Prosa. Bodmer entschied sich für Letzteres. Darüber hinaus wusste er, dass die deutschen Versübersetzungen von Paradise Lost unvollendet geblieben waren und vermutete zu Recht, dass er mit einer Übertragung in Prosa ein breiteres Publikum erreichen würde.

Damit sind wir beim Thema des Skopos der Übersetzung angelangt, der Frage nach dem Zielpublikum von Bodmers Übersetzung.Footnote 26 Wenn es in Paradise Lost von den Lesern des Werkes heißt, „and fit audience find, though few!“ (VII.31), dann ist das insofern irreführend, als Milton, obwohl er in einem schwierigen politischen Umfeld mit der Zensur zu kämpfen hatte, zu Lebzeiten und darüber hinaus ein breites Publikum erreichen konnte. Bodmer war sich dessen bewusst und erklärte im Vorwort zu der Übersetzung von 1732, das Gedicht habe Anklang bei Männern und Frauen aller Stände, jeden Alters, Lebenswandels und Bildungshintergrundes gefunden.Footnote 27 Die Erwähnung von Leserinnen ist wichtig: Ein Ausdruck der Verbreiterung des angestrebten Zielpublikums ist Bodmer und Breitingers Entscheidung, Miltons verlohrenes Paradies zusammen mit anderen englischen Büchern 1746 auf eine Lektüreliste für Frauen zu setzen.Footnote 28 Mit dem Fortschreiten der Aufklärung im deutschsprachigen Raum gingen zunehmend entschiedene Bemühungen von Schriftstellern und Übersetzern wie Bodmer einher, ein größeres Publikum mit Gedanken aus dem Ausland zu erreichen. Dies musste auf angemessen lesbare Art geschehen. Die Wahl der Prosaform traf den Publikumsgeschmack, der später eine Flut empfindsamer und realistischer Romane nach sich ziehen sollte. In diesem frühen Stadium der Popularisierung und damit auch Demokratisierung der Literatur versuchten Übersetzer wie Bodmer, die Bildung der Bevölkerung zu fördern, indem sie kanonische Werke in Prosa übersetzten. In der Praxis war das Publikum allerdings nicht so groß wie von Bodmer erhofft und seine Übersetzung wurde innerhalb einer kleinen Gruppe von gebildeten Lesern und unter Dichtern wie etwa Klopstock rezipiert, dessen Freund und Mentor er war.

Bodmer schrieb außerdem für ein Schweizer Publikum, was sich in der ersten Übersetzung niederschlägt, die für ihre Helvetismen gescholten wurde. In den darauffolgenden Übersetzungen entwickelt sich Bodmers Stil weiter und enthält zunehmend Elemente des von Gottsched propagierten obersächsischen Deutsch. Wie Wolfgang Bender feststellt, gehören zu den Veränderungen, die Bodmer in der zweiten Übersetzung vornahm, „oft sehr weitgehende Eingriffe in den Text, in Syntax und Wortwahl“;Footnote 29 Bodmer passte den Satzbau an, um seine Übersetzung lesbarer und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Übersetzungen von Metaphern (wie auch Wortspielen und Latinismen) blieben weitgehend unverändert. Bodmer schätzte sie als zentrales Element des Miltonʼschen Stils und des Erhabenen – und indem er sie in Prosa übersetzte, verringerte er die Wahrscheinlichkeit des Vorwurfs, eine blumige, schwülstige poetische Sprache zu benutzen. Auch hierin unterschied er sich von Gottsched, der Miltons „seltsame Metaphoren“ und „verblümte Ausdrückungen“ ablehnte.Footnote 30 Bodmer erkannte, dass Milton nicht leichtfertig Metaphern gebrauchte, sondern auf gekonnte Weise rhetorische Mittel kombinierte, um zu beschreiben und zu überzeugen. Bodmers Überarbeitungen seiner Übersetzung zeigen, dass er die Entscheidung, in Prosa zu übersetzen und dadurch Miltons Leserschaft zu vergrößern, für die richtige hielt. In Anbetracht der Tatsache, dass Paradise Lost nur ein paar Jahre zuvor auf eine Liste vom Papst verbotener Bücher gesetzt worden war, war es durchaus eine gute und fortschrittliche Lösung.

Das herausragende Merkmal der Bodmerʼschen Übersetzung ist ihre grammatische Genauigkeit.Footnote 31 Dies ist umso bemerkenswerter, als Bodmer erst anhand von Milton seine Englischkenntnisse vertiefte. Die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Fassungen sind auffälliger als die Unterschiede zwischen ihnen. Die vielzitierten schweizerdeutschen Elemente der ersten Fassung, die Gottscheds Verachtung heraufbeschworen, betreffen hauptsächlich Rechtschreibung und Aussprache bzw. gelegentlich das Genus (z. B. ‚Spur‘ maskulin statt feminin, wie es in der Epoche die Norm gewesen wäre), und die wichtigsten Eigenschaften der Übersetzung, wie etwa Satzbau und Wortstellung, sind insgesamt eher gleich als verschieden. Wie wichtig Bodmer Genauigkeit und die Vermittlung des Inhaltes waren, zeigt sich an der Einführung von oft ausführlichen Fußnoten in der Übersetzung von 1742.Footnote 32 Diese sollen den fremden Text nicht verbessern, sondern erläutern, Klarstellungen vornehmen und Autor und Leser*innen zusammenbringen. Einen Gegensatz hierzu stellt die französische Prosaübersetzung dar, die paraphrasierend zahlreiche Änderungen vornahm.Footnote 33

Wörter, die für abstrakte Begriffe oder Vorgänge stehen – Nomen und Verben etwa – werden üblicherweise richtig aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und Bodmer gibt sich alle Mühe, eine deutsche Entsprechung zu finden, ohne die Bedeutung anzupassen oder zu verändern. Das lässt sich daran ablesen, wie er in späteren Fassungen bestimmte Wörter anders überträgt: Beispielsweise wird „Justify [the ways of God to men]“ in der ersten Fassung mit juristischem Anklang als „rechtfertigen“ übersetzt. Die Verwendung von „retten“ in den späteren Fassungen ist nicht nur eine prägnantere, sondern durchaus auch poetischere Wortwahl. Bodmer übersetzt „taste [of that forbidden tree]“ zunächst als „vergiftetes Essen“, spart diese Formulierung in den Fassungen von 1742 und 1769 allerdings aus, sodass Geschmack und Aroma des Apfels verschwinden und das Konzept des Ungehorsams auf abstraktere Weise vermittelt wird – mit seinen biblischen Untertönen ist „Ungehorsam“ allerdings eine gute Übersetzung von „Disobedience“.Footnote 34 Im Kontrast dazu steht beispielsweise, in einer neueren Übertragung, die abstrakt-legalistische „Widersetzlichkeit“.Footnote 35

Die Verwandtschaft zwischen dem Deutschen und Englischen ist gelegentlich hilfreich, beispielsweise bei der Übersetzung von Wortspielen. Für das englische „Fall“ etwa, das in seiner spirituellen und physikalischen Doppelbedeutung (als Sündenfall oder Sturz aus der Höhe) auftritt, wählt Bodmer „Fall“ anstelle von „Sturz“:

Him the Amighty Pow’r

Hurled headlong flaming from th’ethereal sky

To bottomless perdition […] (V. 44–45)

Die allmächtige Kraft warf ihn von der etherischen Bühne mit einem gräßlichen Fall und Brand flammend in das bodenlose Verderben hinunter.Footnote 36

Solche Metaphern stellen für Bodmer keine Schwierigkeit dar, ebenso wenig wie Miltons Wortspiele. Beispielsweise verwendet er das Wort „Wurzel“ in seiner Doppelbedeutung als Baumwurzel und Wurzel allen Leids. In seiner Studie zu John Miltons Stil weist Christopher Ricks darauf hin, dass Milton Wortspiele und Sprachkomik oft als Fundament eines Witzes einsetzt, der die Strenge seines epischen Stils ausgleicht und sich in einer Prosaübersetzung besser widergeben lässt als in den metrischen Übertragungen, in denen die Lyrik einen klassizistischen Anstrich bekommt.Footnote 37 Bodmer schenkt auch der Form einzelner Worte Aufmerksamkeit und findet Entsprechungen für deren klangliches Zusammenspiel, indem er unter Verwendung von Alliteration und Onomatopoesie die Gemeinsamkeiten des Englischen mit dem Deutschen ausnutzt: „So talked the spirited sly snake“, (IX.613): „so sagte die begeisterte schlaue Schlange“; „So glister’d the dire Snake“ (IX.643): „So schimmerte die gräuliche Schlange“.

Diese beispielhaft angeführten Übersetzungen einzelner Wörter und Wendungen zeigen, dass Bodmer meist korrekt übersetzte und seine Prosaübertragung poetische Eigenschaften besaß. Der Prozess des verdeutschenden Übersetzens (domestication)Footnote 38 erfolgt, ohne dass diesen Eigenschaften des Originals Abbruch getan würde. Tatsächlich gab es zu diesem Zeitpunkt in den beiden Sprachen eine ganze Reihe einander entsprechender Konzepte und verwandter Wörter. Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel. Das Wort „Limbo“ beispielsweise,Footnote 39 schon vor Milton in Verwendung, im Deutschen allerdings nicht nachgewiesen, wird als „Limbo“ übersetzt, also als Lehnwort; seine Bedeutung wird durch das Attribut erklärt: „Into a Limbo large and broad, since called The Paradise of Fools“ (III.495); „in einen weiten und breiten Limbo […] das Paradies der Narren geheissen wird“ (III.474–483).Footnote 40 „Pandämonium“, ein weiteres im Deutschen des frühen 18. Jahrhunderts nicht vorhandenes Wort, dessen Bedeutung aus dem Zusammenhang und seinem griechischen Ursprung zu ersehen war, wurde durch Bodmers Übersetzung im Deutschen bekannter. Eine weitere Form von Fremdwort, die durch Bodmers Übersetzung eingebürgert wurde, stellt „Myriaden“ dar, in diesem Fall ein eingedeutschtes englisches Wort. Peter Ganz weist darauf hin, dass von Berge es 1682 benutzt. In seiner ersten Übersetzung verwendet Bodmer „Millionen“, ändert die Wortwahl 1742 aber zu „Myriaden“.Footnote 41

Solche Einzelbeispiele für Schlüsselwörter und -wendungen sind aufschlussreich, mehr Aufmerksamkeit haben allerdings die Stilmerkmale im weiteren Sinne auf sich gezogen. Von ihnen hängen Erzählfluss und Lesbarkeit ab. Ein Vergleich des ersten Abschnittes (d. h. der ersten 26 Verszeilen) in den Fassungen von 1732, 1742 und 1769 ist diesbezüglich sehr aussagekräftig. Die späteren Fassungen sind um ein paar Wörter kürzer, aber der Satzbau bleibt weitgehend der gleiche. Die ersten 26 Verszeilen bestehen aus gerade einmal drei Sätzen. Miltons Sätze sind vergleichsweise lang und fließen majestätisch über die Versgrenzen hinweg. Er verwendet Inversionen – oft mit Partizipien – um das Tempo zu variieren und ein retardierendes Moment zu schaffen, beispielsweise „Things unattempted yet in prose or rhyme“ (I, 16). Diese Partizipialkonstruktionen sind von einem zugrundeliegenden Satz abgeleitet. Bodmers erste Übersetzung enthält nur zwei Sätze und in den Fassungen von 1742 und 1769 sind es drei, sodass die Sätze immer noch länger sind als im Original. Er gebraucht häufig Relativsätze, die Erklärungen enthalten oder Ergebnisse darstellen. Während Miltons Stil knapp ist, formuliert Bodmer alles aus und benutzt weniger Partizipien als Attribute. Aufgrund der syntaktischen Unterschiede zwischen dem Deutschen und Englischen kann er nicht das stilistische Mittel der Inversion verwenden, das in Miltons Dichtung Nachdruck und Pathos erzeugt. An einer Stelle im ersten Abschnitt finden wir den vorangestellten Relativsatz, „Was in mir dunckel ist, erleuchte […]“, für „What in me is dark illumine […]“; in den späteren Fassungen verwirft Bodmer dies allerdings und vermeidet allgemein diese und andere Arten von Inversion. Dies wirkt sich insofern aus, als den Sätzen, obwohl sie dynamischer fließen, das retardierende Moment und die Erhabenheit des Miltonʼschen Stils fehlen; die Stilebene ist eine niedrigere. Bodmer schafft es, sprachlichen Fluss und Klarheit zu erzeugen und greift nicht in den Inhalt ein, selbst wenn dadurch der Erzählfluss unterbrochen wird oder gar nicht erst in Gang kommt. Die Stilebene wird dadurch gesenkt, ein Teil der Größe und Erhabenheit des Miltonʼschen Stils kommt nicht zum Tragen. Doch trotz der längeren Sätze geht in Bodmers Übersetzung der Rhythmus nicht gänzlich verloren, und obwohl er ungleichmäßig ist, bewirkt er doch hier und da ein rhetorisches Pathos nach der Art des Originals. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Anfang der Fassung von 1742, der eindringlich und fesselnd wirkt. Es gelingt Bodmer auch, einige von Miltons Alliterationen zu erhalten, wie beispielsweise in den oben zitierten Sätzen („So talked the spirited sly snake“ (IX.61): „So sagte die begeisterte schlaue Schlange“; „So glister’d the dire Snake“ (IX.643): „So schimmerte die gräuliche Schlange“). Dies verbessert den Erzählfluss und reicht ein Stück weit an die stilistische Raffinesse der Beschreibungen bei Milton heran.

Eine kurze rhetorische Frage wie „Who first seduced them to this foul revolt“, wird von Bodmer adäquat übersetzt als „Wer beredete sie zu dem schändlichen Aufstand“;Footnote 42 dass „first“ unübersetzt bleibt, entstellt den Sinn wohl kaum. Die Antwort auf diese Frage, „Th’infernal serpent“, wird ebenso gut und wirksam zu „Der höllische Wurm“. Milton verwendet häufig Elisionen, so auch an dieser Stelle. Im ersten Absatz finden sich in 26 Verszeilen acht Beispiele (siehe Anhang). Diese Elisionen dienen üblicherweise dem Rhythmus; die meisten von ihnen sind einfach gestrickt und tragen zur Gesamtwirkung bei, so beispielsweise „Heav’nly muse“ und „heav’ns and earth“, wo die Auslassung kaum auffällt. Andere lassen sich schwer aussprechen; in diesem Abschnitt etwa „Above th’Aonian mount“, an späteren Stellen dann Namen wie Uriel, die zweisilbig ausgesprochen werden sollen und die Leser*innen ins Straucheln bringen können. Das klingt gekünstelt und altertümelnd. Bodmer hat mit dieser Schwierigkeit nicht zu kämpfen, weil er in deutsche Prosa übersetzt. So formuliert er „über den Aonischen Berg hinaus“ (zehn Silben anstelle von sieben): Die Wörter werden unabhängig voneinander betont, die Bedeutung ist klar, und es gibt keinen Hang zur Altertümelei. Bodmer hat den Text im Sinn einer zielsprachenorientierten Übersetzung auf sanfte Weise modernisiert und verdeutscht. Der Stil hat sich gewandelt, die Sprachebene ist schlichter. Bodmer unternimmt nirgendwo den Versuch, Miltons altertümliche Stilelemente nachzuahmen oder den Text alt und erhaben wirken zu lassen, obwohl er diese Eigenschaften bewunderte.Footnote 43 Insgesamt lässt Bodmers Übertragung eine Strategie der Einheitlichkeit erkennen; sie vermeidet zerstückelten Satzbau, Polysemie und plötzliche Veränderungen der Sprachebene und weist damit die von Lawrence Venuti hervorgehobenen Merkmale einer guten Übersetzung auf.Footnote 44

Es ließe sich sagen, dass Bodmer aufgrund der Vereinfachung der Stil- und Sprachebene, die mit dem Prozess des verdeutschenden Übersetzens einhergeht, sein Ziel, seinem Publikum eine erbauliche Leseerfahrung und eine Begegnung mit dem Erhabenen zu bieten, verfehlt hat. Stellenweise liest sich Das Gedicht[e] von dem Verlohrenen Paradiese eher wie ein Roman als wie eine zum Vortrag bestimmte Dichtung. An Kritikern mangelte es ihm nicht, und es gab viele, die eine poetischere Übersetzung vorzogen; nach 1740 ging die Tendenz dann auch hin zu metrischen Übertragungen von Miltons Gedicht. Gleichwohl dürfte es Leser*innen gegeben haben, die aufgrund der Genauigkeit der Übersetzung in ihrem aufrichtigen und entschiedenen Versuch, Milton einer deutschen Leserschaft nahezubringen, die Bedeutung des ‚Wunderbaren‘ und die Neuartigkeit dieser Erfahrung gespürt haben werden. Das aus England stammende Erhabene war in Deutschland eingebürgert worden, und dieser Prozess war vonstattengegangen, ohne dass der Übersetzer versucht hätte, den fremden Text zu verbessern, unangemessen in ihn einzugreifen oder ihm die kulturellen Normen und Werte seiner Muttersprache aufzuzwingen.