Zusammenfassung
Narratologische Konzepte finden aufgrund ihrer fachlichen Differenziertheit nur langsam Eingang in den literaturdidaktischen Diskurs. Wolf Schmids idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen wird hier als eine praxisorientierte Alternative zu komplexen Analyseinstrumenten vorgestellt, die auch im Literaturunterricht der Primarstufe bereits eingesetzt werden kann. Anhand literarischer Beispiele werden die Ebenen ‚Geschehen‘, ‚Geschichte‘, ‚Erzählung‘ und ‚Präsentation der Erzählung‘ vorgestellt. Gerade für die Integration in einen handlungs- und produktionsorientierten Unterricht eignet das Modell sich gut, da es die Operationen plausibilisiert, mit denen eine Erzählinstanz auf die fiktionale Wirklichkeit zugreift, um eine Erzählung präsentieren zu können. So kann das Modell zur Schärfung analytischen Vorgehens ebenso Einsatz finden wie zur Grundierung eigener Schreibprojekte im Kontext von handlungs- und produktionsorientierten Verfahren.
Schlüsselwörter
- Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht
- Literaturunterricht
- Literaturdidaktik
- Narratologie
- Idealgenetisches Modell
- Erzähltheorie
- Erzählperspektive
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Deutlich etwa in der notorischen Klage, eine Kategorie wie das unzuverlässige Erzählen wäre zu profillos, um anwendbar zu sein. Das Gegenteil erschwert ihre Anwendbarkeit: eine immer differenziertere Kategorien- und Subkategorienbildung, die zu erarbeiten zu umständlich ist, sollte man nicht ohnehin Teil des narratologischen Fachdiskurses sein. Das hier skizzierte Problem der Differenzierung ist freilich ganz grundsätzlich ein Problem moderner Wissenschaft, aber für einen ursprünglich anwendungsorientierten Fachbereich wie die Narratologie besonders misslich.
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Vgl. zur Kritik am Konzept Empathie Olsen 2011.
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Damit sind die durch diese Tendenzen forcierten Probleme einer durch die Kompetenzorientierung immer stärker auf operationalisierbare Prüfungsformate angewiesenen Schule noch gar nicht berührt, was hier auch nicht geschehen kann. Allerdings scheint die Integration narratologischer Konzepte gerade für Prüfungsformate insofern vielversprechend, als sie operationalisierbares Wissen bereitstellen.
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Das ist kein Grund per se, auf solche Formate zu verzichten. Allerdings ist die Tendenz deutlich, aufgrund der schlechten Messbarkeit solcher Lernziele Ganzschriften zunehmend aus dem Curriculum herauszunehmen, was nun in keiner Weise Ziel der Literaturdidaktik sein kann.
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Schmid weist Parallelen seiner Ebenen zu vorhergehenden Begriffen in seiner Darstellung ausführlich nach. Ich werde mich im Folgenden ausschließlich auf die Terminologie Schmids beziehen. Schmid selbst integriert traditionelle Begriffe wie Fabel/Sujet, histoire/discours, deren Unterschiede und Genese ich hier nicht weiter ausführen werde.
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Es erscheint nicht als notwendig, im Unterricht streng die genettesche Terminologie einzuführen. Vor- und Rückschau beschreiben mit nur wenig Verlust an begrifflicher Genauigkeit denselben Sachverhalt. Auch müsste geklärt werden, wie stark Anachronien auszudifferenzieren sind, da eine differenzierte Analyse hier nur als sinnvoll erscheint, wenn der Text mit Anachronien als Erzählprinzip arbeitet. Schmid argumentiert, dass die Begriffe Raffung und Dehnung im Grunde nicht korrekt seien, da durch die potentielle Unendlichkeit an Geschehensmomenten für jeden Augenblick des Geschehens auch eine Dehnung eine Raffung wäre, nur weniger extensiv (vgl. Schmid 2014, S. 234). Hier werden allerdings räumliche und zeitliche Kategorien etwas unzulässig vermengt. Denn in einer deskriptiven Pause kann die Erzählinstanz ja durchaus ‚länger‘ von einem Moment berichten, als dieser in der textual actual world andauert. Auch wenn dann immer nur Selektion vorliegt, da von nahezu unendlich vielen anderen Orten der Welt nicht berichtet wird, scheint doch der Begriff Dehnung hier angemessen. Schmids Vorschlag, von „hoher Deskriptivität“ (Schmid 2014, S. 234) zu sprechen, ist dennoch von Plausibilität. Es ließe sich fragen, ob damit aber nicht eine andere Kategorie greifbar wird, die eben die temporal ausgerichteten Begriffe Raffung und Dehnung gar nicht erfassen sollen.
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Eine Position, der Kindt und Köppe widersprechen (vgl. Kindt und Köppe 2014, S. 86).
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Natürlich hat jede Schüler*in dann alle drei Transformationsschritte vollzogen, denn der fertige Text setzt ebenso Linearisierung der selektierten Geschehensmomente und natürlich Verbalisierung voraus.
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Perspektive ist auch für die Empathiebildung höchst relevant. Gegenüber wem wir demzufolge Empathie empfinden, hängt ganz entschieden von der Lenkung durch die Erzählinstanz ab. Und das beginnt schon mit der Selektion. Olsens differenziertes Stufenmodell literarischer Empathiefähigkeit, das auf den Fähigkeiten Emotionswahrnehmung und -einnahme basiert (vgl. Olsen 2011, S. 10‒12), könnte durch eine Metakategorie ergänzt werden, da es auf rein inhaltlicher Ebene verbleibt. Leser*innen können neben inhaltlich kompetenten Formen der Emotionswahrnehmung die Art und Weise erkennen, wie Emotionen vermittelt und gelenkt werden ‒ was erst durch eine Lektüre möglich ist, die auch formale Aspekte registriert und als maßgebliche Ursache der Emotionseinnahme erkennt.
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Die Bedeutsamkeit des Ereignisses für eine Geschichte ist in Schmids Modell nicht integriert. Natürlich wäre es aber im HPU eine sinnvolle Ergänzung, möchte man das Geschehen als unmarkierten Raum integrieren.
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Etwas differenzierter als Schmid schlagen Silke Lahn und Christoph Meister noch die Differenzierung zwischen Geschehnis (unmarkierte Veränderung), Ereignis (markierte Veränderung) und Geschehen (Gesamtsequenz aller Geschehnisse und Ereignisse) vor (vgl. Lahn und Meister 2016, S. 218).
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Mit dem Tablet etwa ließe sich so bereits in der ersten Klasse eine vollständige Geschichte aufzeichnen. Einsatzmöglichkeiten und Grenzen des Tabletgebrauchs habe ich an anderer Stelle vorgestellt (vgl. Schulte Eickholt 2023, i. Dr.).
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Es sei noch darauf hingewiesen, dass sich damit auch die Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte und die Sensibilisierung für mediale Unterschiede verknüpfen lassen. So hat die mittelalterliche Malerei etwa regelmäßig Handlungen dargestellt, indem die Protagonisten gleich mehrfach im Bild präsentiert wurden. Eine solche Bildvorstellung, die erst durch die Einführung der Zentralperspektive und die damit veränderte Mimesis-Konzeption bildender Kunst beendet wurde, bietet die Möglichkeit, gerade stark linear erzählte Texte (wie die regelmäßig behandelten Märchen) im vollständigen Handlungsverlauf auf ein solch synchron-seriell verfahrendes Bild zu bringen und damit den Handlungsraum der Geschichte viel umfassender darzustellen als etwa durch Einzelbilder oder Comics.
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Schulte Eickholt, S. (2023). Wolf Schmids idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen im Kontext eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts. In: Bernhardt, S., Henke, I. (eds) Erzähltheorie(n) und Literaturunterricht. Deutschdidaktik. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66918-1_9
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