Zusammenfassung
Der Artikel befasst sich mit dem Phänomen des Perspektivverstehens, das narratologisch begründet und literaturdidaktisch profiliert wird. Im Gegensatz zu Konzepten der Perspektivenübernahme, die primär auf die inhaltliche Ebene des Figurenverstehens fokussieren, zielt Perspektivverstehen auf die Erzählperspektive als Darstellungsphänomen. Im empirischen Teil des Beitrags werden Befunde aus dem Forschungsprojekt PAuLi vorgestellt, in dem mithilfe des Forschungsformats des Design Research u. a. das Ziel verfolgt wird, Lernprozesse des Perspektivverstehens zu rekonstruieren. Die Befunde bestätigen zum einen theoretische Annahmen, erlauben zum anderen aber deren Ausdifferenzierung und Schärfung sowie die Konturierung der mit dem Perspektivverstehen einhergehenden Anforderungen an die Rezipient*innen. Damit wird sichtbar, welchen Beitrag empirische Forschung zu einer genuin literaturdidaktischen Theoriebildung leisten kann.
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16 September 2023
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Notes
- 1.
Zur Debatte um die Unterscheidung der Fragen, was Literatur ist und was sie vermag, vgl. Matuschek 2010.
- 2.
Neben den drei im Folgenden erläuterten sind dies die zeitliche und sprachliche Perspektive (vgl. dazu auch den Beitrag von Schulte Eickholt in diesem Band).
- 3.
Zum täuschenden unzuverlässigen Erzählen als eine von drei Formen des unzuverlässigen Erzählens vgl. Köppe und Kindt 2014, S. 237–244.
- 4.
Dieser Stil ist in der Literatur aus dem Expressionismus bekannt, etwa bei Jakob van Hoddis Gedicht Weltende (1911), oder aus der Neuen Sachlichkeit, so vom Journalisten Erich Kästner.
- 5.
Die folgende Erläuterung unseres Kategoriensystems greift zum Teil Formulierungen eines früheren Beitrages (vgl. Freudenberg et al. 2023) auf, die dort zur Definition und Interpretation einzelner Kategorien bereits verwendet worden sind. Da es uns auf Kontinuität, Einheitlichkeit und Präzision der Kategorienbeschreibungen ankommt, haben wir diese Passagen zum Teil so belassen. Die Darstellung wird im Folgenden jedoch maßgeblich erweitert sowie ausdifferenziert und stellt den aktuellen Forschungsstand im Projekt dar (Zeitpunkt: Juni 2022).
- 6.
Damit knüpfen wir an die Überlegungen von Schmid an, der das Subjekt der Wahrnehmung (Wahrnehmungsstandpunkt) klar vom Objekt der Wahrnehmung trennt (vgl. Schmid 2014, S. 126–127), erweitern diese Unterscheidung aber durch die für uns zentrale Komponente der Erscheinungsform des Objekts.
- 7.
Schmid beschreibt Perspektive als ein „relationales Phänomen“ (Schmid 2014, S. 138).
- 8.
- 9.
Auch wenn „unsere Sicht“ hier die Rezipient*innenperspektive markiert und damit eine fiktionsexterne Größe meint, begibt sich dieser Standpunkt – quasi als eigene Fiktion – in die Fiktion hinein, um die Gegenstände der erzählten Welt nach eigenen Maßstäben zu vermessen. Der dominante Standpunkt ist entsprechend intern. Dies wird deutlich(er), wenn der Kontext der Äußerung mitberücksichtigt wird: Der Junge wurde hier gefragt, wie die beiden innerfiktiven Welten, die Riesenwelt und die Ameisenwelt, zusammenhängen. Er vollzieht mit dem Standpunkt „für unsere Sicht“ die Perspektive der Menschen in der Ameisenwelt nach.
- 10.
Denkbar ist aber auch, dass der Standpunkt der fiktiven Menschen in der erzählten Welt gemeint ist.
- 11.
Genauer könnte man sagen: Für den Jungen (x) ist er selbst (y (=x)) in seinen Gedanken ein Riese (z).
- 12.
Die Differenz der Objekterscheinung kann sich auf ganz unterschiedliche Qualitäten beziehen. In den Lernendenäußerungen zum Guggenmos-Gedicht spielen vor allem entitäre Differenzen (z. B. Riese vs. Junge), aber auch räumliche (groß vs. klein) oder axiologische Differenzen (gut vs. schlecht) eine wesentliche Rolle.
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von Heynitz, M., Schlachter, B., Steinmetz, M., Freudenberg, R. (2023). Perspektive und Perspektivverstehen narratologisch und empirisch. In: Bernhardt, S., Henke, I. (eds) Erzähltheorie(n) und Literaturunterricht. Deutschdidaktik. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66918-1_8
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Online ISBN: 978-3-662-66918-1
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