1 Verfassungs- und völkerrechtliche Vorgaben

In Kinderschutzverfahren geht es um die Abwendung einer Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes in Ausübung des staatlichen Wächteramtes nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Schutzgut ist somit das Wohl des Kindes, allerdings spielt der Kindeswille bei der Bestimmung des Kindeswohls und bei den zur Gefährdungsabwendung zu treffenden Entscheidungen eine zentrale Rolle. Der Kindeswille als Ausdruck der Selbstbestimmung ist ebenfalls durch das Grundgesetz geschützt. Dem Kind steht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein Recht auf Schutz seiner Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit und auf Anerkennung der wachsenden Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu. Von staatlichen Stellen ist der geäußerte Kindeswille daher bei allen das Kind betreffenden Entscheidungen angemessen zu berücksichtigen – und zwar auch dann, wenn sich das Kind noch in der Entwicklung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit befindet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) muss jede gerichtliche Entscheidung, „die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, […] nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern das Kind auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen“, wobei dem Kindeswillen „mit zunehmendem Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes vermehrt Bedeutung“ zukommt.Footnote 1 Dies gilt in besonderem Maße für den Bereich des Kindesschutzes, weil dieser gerade der Wahrung der Grundrechte des Kindes dient.Footnote 2

Im Zentrum internationaler Übereinkommen zu Kinderrechten steht mit der Formulierung „best interests of the childFootnote 3 die bestmögliche Verwirklichung der Interessen des Kindes.Footnote 4 Der Interessenbegriff internationaler Übereinkommen ist mit dem deutschen Kindeswohlbegriff nicht vollständig identisch, sondern umfasst gleichermaßen das Wohl und den Willen des Kindes.Footnote 5 Dies gilt ungeachtet dessen, dass in den offiziellen deutschen Fassungen „best interests of the child“ mit „Kindeswohl“ übersetzt wird. Art. 12 UN-KRK verlangt zudem explizit eine angemessene Berücksichtigung der geäußerten Meinung des Kindes in staatlichen Verfahren.Footnote 6

Die Notwendigkeit einer persönlichen Anhörung des Kindes im Kinderschutzverfahren gründet sich ebenfalls auf verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 2 UN-KRK). Die Kindesanhörung ist Voraussetzung dafür, den Willen des Kindes als Träger eigener Grundrechte im gerichtlichen Verfahren und bei der Entscheidung berücksichtigen zu können.Footnote 7 Diesem Ziel dient auch die Vertretung der Interessen des Kindes durch die Verfahrensbeistandschaft,Footnote 8 weil diese den Willen des Kindes (wenngleich unter Beachtung von Kindeswohlbelangen) in das Verfahren einzubringen hat.Footnote 9

In der Praxis wurden diese Vorgaben bis vor kurzem unzureichend umgesetzt: Neuere Studien belegen, dass Minderjährige in fast der Hälfte aller Kinderschutzverfahren nicht angehört und nur gut 20 % aller Minderjährigen bei den Jugendämtern in die Prozesse der Entscheidungsfindung einbezogen wurden.Footnote 10 Zu Recht wird daher in dem 2021 reformierten § 159 FamFG die Pflicht zur Anhörung des Kindes stärker betont.Footnote 11

2 Das Verhältnis von Kindeswohl und Kindeswille

Das BGB enthält keine Aussage zum Verhältnis von Kindeswohl und Kindeswille. Ohnehin wird im Kindschaftsrecht nur ganz vereinzelt auf die Subjektstellung und die Wünsche des Kindes hingewiesen (etwa in § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB). Zentrales Schutzgut des § 1666 BGB ist das Wohl des Kindes. Um jedoch der verfassungs- und völkerrechtlichen Bedeutung des Kindeswillens angemessen Rechnung zu tragen, sollte bei der Entscheidungsfindung des Gerichts stärker zwischen Kindeswohl und Kindeswille differenziert werden (dazu 6.5).Footnote 12

Das FamFG erwähnt bei der Kindesanhörung explizit den Willen des Kindes (§ 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3, S. 3 FamFG). Bei der gerichtlichen Entscheidungsfindung kommt dem Kindeswillen eine doppelte Bedeutung zu: Er ist zum einen Ausdruck der Bindungen und Neigungen des Kindes und zum anderen Ausdruck der Selbstbestimmung, die mit zunehmendem Alter des Kindes an Bedeutung gewinnt.Footnote 13 Der Kindeswille ist dabei als Äußerung der Wünsche, Empfindungen, Befürchtungen, Ängste und Anliegen eines bestimmten Kindes bezogen auf die jeweils zu treffenden Entscheidungen, die u. U. erheblich die (nähere) Zukunft des Kindes prägen, zu verstehen.Footnote 14

Das FamFG verwendet aber auch den Begriff der Interessen des Kindes (mehrfach bei den Aufgaben der Verfahrensbeistandschaft, insbesondere in § 158 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 1, Abs. 4 S. 2 Nr. 2, § 158b Abs. 1 S. 1 FamFG). Unter Kindesinteressen im Sinne des § 158 FamFG sind sowohl das „subjektive Interesse des Kindes (Wille des Kindes) als auch das objektive Interesse des Kindes (Kindeswohl)“ zu verstehen.Footnote 15 Demzufolge ist davon auszugehen, dass sich der umfassendere Begriff der Kindesinteressen aus einer objektiven und einer subjektiven Komponente (Kindeswohl und Kindeswille) zusammensetzt.Footnote 16 Das Kindeswohl wird dabei durch die Erwachsenenperspektive (Eltern, Familiengericht, Jugendamt) bestimmt und trägt ein paternalistisches Element in sich (es geht um das „wohlverstandene“ Kindesinteresse), während der geäußerte Kindeswille vor allem Ausdruck von Selbstbestimmung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit des Kindes ist.Footnote 17

Da der Kindeswille als wichtiges Kriterium zur Bestimmung des Kindeswohls herangezogen wird,Footnote 18 werden Kindeswohl und Kindeswille häufig übereinstimmen. Es bleiben aber Fälle, in denen der Kindeswille nicht dem Kindeswohl entspricht und das Gericht mit dem Wille/Wohl-Konflikt angemessen umgehen muss. Folgt man dem BVerfG darin, dass mit zunehmendem Alter und wachsender Reife auch das Recht des Kindes auf Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit und auf Selbstbestimmung zunimmt,Footnote 19 dann liegt es nahe, einen Widerspruch zwischen Kindeswohl und Kindeswille dadurch aufzulösen, dass in Abhängigkeit von Alter und Entwicklungsstand des Kindes jeweils die eine oder die andere Komponente stärker bzw. schwächer gewichtet wird. In Anknüpfung an die Rechtsprechung des BVerfG gilt dann für den Wille/Wohl-Konflikt der Grundsatz: Je älter das Kind ist, desto stärker ist der geäußerte Kindeswille, d. h. das vom Kind selbst definierte Interesse, im Verhältnis zum Kindeswohl (im Sinne eines von Erwachsenen „wohl verstandenen“ Kindesinteresses) zu beachten. Abb. 6.1 soll diesen Grundsatz veranschaulichen.Footnote 20

Abb. 6.1
figure 1

Gewichtung von Kindeswohl und Kindeswille in Abhängigkeit von Alter/Entwicklungsstand des Kindes

Folgt man diesem Ansatz, dann ist ein Widerspruch zwischen Kindeswohl und Kindeswille keineswegs – wie teilweise vertreten wird – immer zugunsten des Kindeswohls aufzulösen.Footnote 21 Denn diese pauschale Lösung wird der verfassungs- und völkerrechtlich vorgegebenen Berücksichtigung der kontinuierlich wachsenden Selbstverantwortlichkeit und Autonomie von Minderjährigen nicht gerecht.

Der von Teilen der Rechtsprechung und juristischen Literatur vertretenen Auffassung, dass der Kindeswille nur ein Kriterium zur Bestimmung des Kindeswohls ist und daher bei einem Wille/Wohl-Konflikt das Kindeswohl stets vorgehe, lässt sich zudem die in der Familienrechtspsychologie vertretene These entgegenhalten, dass es grundsätzlich kein Kindeswohl gegen den Kindeswillen geben könne.Footnote 22 Diese These geht davon aus, dass der Kindeswille substanzieller Bestandteil des Kindeswohls ist und als wesentlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung und der Identität des Kindes anerkannt werden sollte.Footnote 23 Demzufolge ließe sich eine den Kindeswillen missachtende Handlung bzw. gerichtliche Entscheidung nicht mit dem Kindeswohl vereinbaren. Dem Kindeswillen müsste bei der Bestimmung des Kindeswohls Vorrang eingeräumt werden, der seine Grenze erst dann fände, wenn die Umsetzung des Kindeswillens zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde.Footnote 24

Unstrittig ist, dass das Gericht dem Willen des Kindes nicht stattgeben darf, wenn die auf dem Kindeswillen beruhende Anordnung einer kindesschutzrechtlichen Maßnahme zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung führen würde. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist eine kindesschutzrechtliche Maßnahme „ungeeignet, wenn sie in anderen Belangen des Kindeswohls wiederum eine Gefährdungslage schafft und deswegen in der Gesamtbetrachtung zu keiner Verbesserung der Situation des gefährdeten Kindes führt“.Footnote 25 Die Befolgung des Kindeswillens findet jedenfalls dann eine Grenze, wenn dies zu einer Kindeswohlgefährdung führen und somit dem Kind schaden würde.

Umgekehrt muss dem Kindeswillen Geltung verschafft werden, wenn dessen Missachten bzw. Übergehen zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde.Footnote 26 So kann der Wille eines 12-jährigen (in einer Pflegefamilie lebenden) Kindes für den Ausschluss des Umgangs mit den Eltern maßgeblich sein.Footnote 27 Ebenso kann eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 S. 1 BGB maßgeblich auf dem der Rückführung entgegenstehenden und stabilen Willen eines 10-jährigen Kindes beruhen, wenn ein Brechen des Kindeswillens psychische Folgen für das Kind haben könnte.Footnote 28 Des Weiteren kann die Entziehung der Sorge und deren Übertragung auf das Jugendamt auf den Kindeswillen gestützt werden, wenn dessen Übergehen einer Kindeswohlgefährdung gleichkäme.Footnote 29

In diesen Fällen würde das Unterlassen der genannten Maßnahmen bzw. die Anordnung anderer Maßnahmen durch das Gericht zu einer sekundären KindeswohlgefährdungFootnote 30 führen. Denn ein „gegen den ernsthaften Widerstand eines Kindes erzwungenes Verhalten kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit unter Umständen mehr Schaden verursachen als Nutzen bringen“Footnote 31 und ist daher mit dem Persönlichkeitsrecht des Kindes unvereinbar.Footnote 32 Dies gilt grundsätzlich auch schon für Kinder im Grundschulalter.Footnote 33

Führt weder die Befolgung des Kindeswillens noch dessen Missachtung zu einer Kindeswohlgefährdung, dann stellt sich die Frage, wie mit einem Widerspruch zwischen Kindeswohl und Kindeswille umzugehen ist. Dann gilt zwar grundsätzlich die These, dass es kein Kindeswohl gegen den Kindeswillen geben kann, jedoch gibt es gerade in Kinderschutzverfahren Grenzen, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen (s. u. 6.3.1, 6.3.2 und 6.3.3).

3 Der Kindeswille im Kinderschutzverfahren

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist in Kinderschutzverfahren der Kindeswille als ein wesentliches Kriterium bei der Entscheidung zu berücksichtigen.Footnote 34 Der UN-Kinderrechtsausschuss interpretiert Art. 3 UN-KRK sogar dahingehend, dass den Kindesinteressen (und damit auch dem Kindeswillen) bei allen Entscheidungen im Rahmen einer Abwägung mit anderen Rechten und Interessen ein erhebliches Gewicht beizumessen sei.Footnote 35 Das Familiengericht muss sich daher mit dem Kindeswillen in den Entscheidungsgründen auseinandersetzen und ihn berücksichtigen, auch wenn dem Willen des Kindes nicht stets der Vorrang vor anderen Grundrechten einzuräumen ist.Footnote 36

Die Berücksichtigung des Kindeswillens in Kinderschutzverfahren setzt (ebenso wie bei der Wahrnehmung des Schutzauftrags des Jugendamtes) nach verbreiteter Auffassung voraus, dass ein beachtlicher Wille des Kindes vorliegt. Hierfür werden als Mindestanforderungen folgende vier Kriterien genannt: der Wille muss zielorientiert, stabil, intensiv und autonom sein.Footnote 37 Dies bedeutet, dass (1) das Kind eine konkrete Vorstellung von dem erstrebten Ziel haben, dass (2) der Wille des Kindes eine gewisse Zeit, gegenüber verschiedenen Personen und unter verschiedenen Umständen stabil sein, dass (3) das Kind seinen Willen nachdrücklich und entschieden verfolgen und dass (4) ein selbstbestimmt gebildeter Wille vorliegen muss.Footnote 38 Voraussetzung dafür ist wiederum, dass das hinreichend verständige Kind alle für die Willensbildung relevanten Informationen erhalten hat und auch über mögliche Folgen der Berücksichtigung seiner Meinung informiert ist (Art. 3a, 3c, 6b, 6c EÜAK).

Des Weiteren ist auf den (zum Zeitpunkt der Entscheidung) aktuellen Willen des Kindes abzustellen. Daher ist ein Kind in der Regel erneut anzuhören, wenn zwischen der Anhörung und der Entscheidung ein längerer Zeitraum liegt.Footnote 39 Da sich die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes in der Phase der Entwicklung zu einer eigenständigen Persönlichkeit auch innerhalb kürzerer Zeiträume stark ändern können, sind eine Anhörung des Kindes und eigene Feststellungen des Beschwerdegerichts zum Kindeswillen insbesondere dann geboten, wenn sich die Sachlage zwischenzeitlich wesentlich geändert hat und im Verfahren über die Änderung der Wünsche des Kindes berichtet wird.Footnote 40 Seit der Reform des § 68 FamFG im Jahr 2021Footnote 41 ist zudem in einem Kinderschutzverfahren, bei dem die (teilweise) Entziehung der Personensorge in Betracht kommt, grundsätzlich eine erneute persönliche Anhörung des Kindes im Beschwerdeverfahren erforderlich (§ 68 Abs. 5 Nr. 1 FamFG), sofern die Sache nicht zurückverwiesen oder die Beschwerde als unzulässig verworfen wird.Footnote 42 Auch der Rückgriff auf die persönliche Anhörung des Kindes in einem vorangegangenen anderen Verfahren genügt nicht den Anforderungen des § 159 FamFG.Footnote 43

Zusammenfassend zur Berücksichtigung des Kindeswillens führt das Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg aus: „Da familiengerichtliche Entscheidungen maßgeblichen Einfluss auf das künftige Leben eines Kindes nehmen und es damit unmittelbar betroffen wird, ist das Kind bei jeder Entscheidung eines Familiengerichts in seiner Individualität und mit seinem Willen einzubeziehen. Dieser Gesichtspunkt gewinnt mit zunehmendem Alter und zunehmender Einsichtsfähigkeit des Kindes an Bedeutung, denn nur so kann sich das Kind zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Person entwickeln. Der Kindeswille ist zum einen Ausdruck seiner inneren Verbundenheit mit einem Elternteil, somit also Indiz für seine innere Bindung zu diesem Elternteil; andererseits kann der Wille aber auch einen Akt der Selbstbestimmung darstellen. Zu den Mindestanforderungen an einen beachtlichen Kindeswillen gehören die Zielorientierung, die Intensität, die Stabilität und die Autonomie des Willens und seiner Bekundung. Dabei bedeutet das Erfordernis der Autonomie, dass der Wille des Kindes Ausdruck der individuellen, selbst initiierten Bestrebungen und somit quasi ein Baustein zur Selbstwerdung des Kindes, zur Bestätigung seines Subjektseins und Beweis sein soll für die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen des Kindes, wobei dies nicht ausschließt, dass auch Fremdeinflüsse an der Formierung des Willens beteiligt waren. Waren Fremdeinflüsse an der Formierung des Willens beteiligt, so kann der Wille dann nicht als Akt der Selbstbestimmung respektiert werden, wenn sich der Kindeswille nur als projizierter Elternwille, also eigentlich als Ausdruck von Fremdbestimmung darstellt. [Selbst der] induzierte Kindeswille kann aber auch allein deshalb zu beachten sein, weil er sich jedenfalls als eine zu respektierende, psychische Lebenswirklichkeit darstellt […]. Ist der Kindeswille eher weniger Ausdruck bewusster Selbstbestimmung, jedoch auf Grund einer solchen psychischen Lebenswirklichkeit zu beachten, so kann er im Verhältnis zu den übrigen Kindeswohlkriterien im Einzelfall weniger stark gewichtet werden […].“Footnote 44

Auch wenn sich diese Ausführungen des OLG Brandenburg auf ein Elternkonfliktverfahren beziehen, gelten sie grundsätzlich für alle Entscheidungen in Kindschaftssachen. In Kinderschutzverfahren sind aber im Hinblick auf die genannten Mindestanforderungen drei Faktoren besonders relevant:

  1. (1)

    Zunächst ist das Alter bzw. der Entwicklungsstand des Kindes (s. u. 6.3.1) zu nennen, denn nicht selten handelt es sich in Kinderschutzverfahren um kleine Kinder (über 40 % der kindesschutzrechtlichen Maßnahmen, die Familiengerichte im Jahr 2020 nach § 1666 Abs. 3 BGB anordneten, betrafen Kinder unter 6 Jahren).Footnote 45 Zudem treten bei Kindern, die misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt wurden, häufiger Entwicklungsverzögerungen oder -defizite auf (dazu Entwicklung der Gesprächsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen [Kap. 10]).

  2. (2)

    Des Weiteren kann gerade in Kinderschutzverfahren die Bildung eines selbstbestimmten Willens beeinträchtigt sein: So kann es Kindern, die längere Zeit Schädigungen ausgesetzt waren, in Folge von psychischen Beeinträchtigungen wie Angst oder Manipulation (zum induzierten Willen s. u. 6.3.2) schwerfallen, ihren Willen selbstbestimmt zu bilden.Footnote 46 Denn die „Selbstwahrnehmungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes“ ist von der „Qualität seiner Beziehungen und dem Sozialisationsstil im familialen Nahraum“ abhängig.Footnote 47 In diesen Fällen kann ein nicht auflösbarer Konflikt zwischen Kindeswillen und Kindeswohl auftreten,Footnote 48 der für alle Beteiligten (auch für das Jugendamt und die Verfahrensbeistandschaft) eine Herausforderung darstellt.

  3. (3)

    Schließlich kann ein selbstgefährdender Wille vorliegen (s. u. 6.3.3).

3.1 Alter und Entwicklungsstand des Kindes

In Literatur und Rechtsprechung gab es früher eine Tendenz, nur den Willen älterer Kinder als beachtlich anzuerkennen. Lange Zeit wurde die Altersgrenze von 14 Jahren, die dem Kind bestimmte Rechte in Kindschaftssachen (z. B. Widerspruchsrechte des Kindes, Verfahrensfähigkeit) gewährt, als Orientierungswert für einen beachtlichen Willen angesehen.Footnote 49 Zudem wurde verlangt, dass das Kind seinen Willen auf vernünftige Überlegungen stützen müsse, damit der Wille als beachtlich anzuerkennen sei.Footnote 50

Tendenzen, einen Kindeswillen, der nicht hinreichend begründet oder aus der Erwachsenenperspektive als „unvernünftig“ empfunden wird, nicht zu beachten, sind jedoch kritisch zu bewerten.Footnote 51 Diese Sichtweise, die keineswegs nur den Willen kleinerer Kinder betrifft, ist schon deshalb problematisch, weil der Kindeswille nicht nur auf rationalen Überlegungen beruht, sondern auch emotionale Komponenten enthält.Footnote 52 Zudem geht es beim Kindeswillen gerade um die „vom Kind selbst definierten Interessen“ und nicht um dessen von Erwachsenen angenommenes „‚wohl verstandenes‘ Interesse“Footnote 53 oder um eine „erwachsenenzentrierte Rationalität“.Footnote 54 Wäre die Beachtlichkeit des Kindeswillens stets davon abhängig, dass dieser vernünftig ist, dann könnte ihm neben dem stärker objektiv interpretierten Kindeswohl kaum noch eine eigenständige Bedeutung zukommen.Footnote 55

Unstrittig ist, dass das Alter bzw. der individuelle Entwicklungsstand des Kindes ein wesentliches Kriterium für die Willensbildung und damit auch für die Berücksichtigung des Kindeswillens darstellt. Demzufolge sind Kinder auch entsprechend ihrem jeweiligen Entwicklungsstand an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen der Eltern (§ 1626 Abs. 2 S. 2 BGB) und der öffentlichen Jugendhilfe (§ 8 Abs. 1 S. 1 SGB VIII) zu beteiligen.

Die kognitive Entwicklungspsychologie geht heute davon aus, dass bereits Kinder im Alter von drei bis vier Jahren zahlreiche Kompetenzen erwerben, die eine selbstbestimmte Willensbildung ermöglichen,Footnote 56 weswegen sie ab diesem Alter grundsätzlich im Kinderschutzverfahren anzuhören sind, damit ihr Wille berücksichtigt werden kann.Footnote 57 Auch bei der jüngsten Reform des § 159 FamFG wurde betont, dass „Kinder bereits ab einem Alter von drei Jahren regelmäßig anzuhören [sind], da schon in diesem Alter zumindest aus der Beobachtung des Kindes Rückschlüsse auf beachtenswerte Wünsche, Tendenzen und Bindungen abzuleiten sind“.Footnote 58 Lediglich bei noch jüngeren Kindern beruht der Wille nicht auf bewussten Eigenentscheidungen, allerdings kann ihm auch dann noch ein Erkenntniswert für die Feststellung der persönlichen Bindungen des Kindes zukommen. In Kinderschutzverfahren hat sich das Gericht seit der Reform 2021 auch dann einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen, wenn das Kind (noch) nicht in der Lage ist, seinen Willen zu äußern (§ 159 Abs. 2 S. 3 FamFG).Footnote 59 Weiterführend hierzu wird auf den Fachtext Entwicklung der Gesprächsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen [Kap. 10] verwiesen.

Seit der Reform des § 159 FamFG im Jahr 2021 kann von einer persönlichen Anhörung des Kindes und der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Kinderschutzverfahren nur aus schwerwiegenden Gründen abgesehen werden: „Schwerwiegende Gründe im Sinne der Regelung sind gegeben, wenn ausnahmsweise die zu erwartenden (physischen, psychischen oder seelischen) Belastungsmomente für das Kind schwerer wiegen als das unmittelbare rechtliche Gehör und die zu erwartende Sachverhaltsaufklärung, welche gegebenenfalls auch durch Dritte (Anhörung des Jugendamtes, Einholung eines Sachverständigengutachtens) herbeigeführt werden kann. Daneben können schwerwiegende Gründe bei Gefahr in Verzug vorliegen. Dies ist der Fall, wenn durch eine Anhörung des Kindes und die damit verbundene Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung ein erheblicher Nachteil für das Kind entstehen würde, wie etwa bei einer drohenden Verbringung ins Ausland oder einer ganz dringenden medizinischen Behandlungsbedürftigkeit.“Footnote 60 In diesem Fall (Gefahr im Verzug) ist die Anhörung des Kindes bzw. das Verschaffen eines persönlichen Eindrucks nach § 159 Abs. 3 S. 2 FamFG unverzüglich (d. h. ohne schuldhaftes Zögern) nachzuholen.

Auch wenn sich die Ermittlung des Willens bei jüngeren Kindern schwieriger gestalten mag, so entbindet dies das Familiengericht nicht von der Verantwortung, den Kindeswillen herauszufinden und bei der Entscheidung angemessen zu berücksichtigen.Footnote 61 Gegebenenfalls muss zur Feststellung des Kindeswillens ein Sachverständigengutachten eingeholt werden.Footnote 62

Im Übrigen bleibt es bei dem Grundsatz, dass dem Kindeswillen aufgrund verfassungs- und völkerrechtlicher Vorgaben mit zunehmendem Alter und wachsender Einsichtsfähigkeit auch eine größere Bedeutung bei der Entscheidung zuzumessen ist.Footnote 63 Bezogen auf die oben genannten vier Mindestanforderungen an den Kindeswillen (Zielorientierung, Intensität, Stabilität und Autonomie) ist daher festzuhalten, dass dem Willen ein umso größeres Gewicht zukommt, je ausgeprägter diese Merkmale vorliegen.Footnote 64

3.2 Induzierter Kindeswille

Nicht selbstbestimmt ist der Kindeswille, wenn er induziert bzw. manipuliert ist. Allerdings ist davon auszugehen, dass Beeinflussungsversuche durch Eltern oder andere nahestehende Personen weniger Auswirkung auf den geäußerten Willen des Kindes haben, als dies gemeinhin angenommen wird.Footnote 65 Zudem ist zu berücksichtigen, dass Kinder ihren Willen in der Regel relational, d. h. in Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen, bilden. Der Kindeswille ist somit nicht nur Ausdruck selbstbestimmter Willensbildung, sondern auch der Bindungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen.Footnote 66 Daher kann auch ein beeinflusster Kindeswille beachtlich sein, wenn er mit den Bindungsverhältnissen und Bedürfnissen des Kindes übereinstimmt.Footnote 67

Zum Ausschluss des Umgangs mit einem Elternteil auf Wunsch eines 12-jährigen Kindes führt das BVerfG aus: „Hierbei ist auch in den Blick zu nehmen, dass das Kind mit der Kundgabe seines Willens von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch macht […] und seinem Willen mit zunehmendem Alter vermehrt Bedeutung zukommt […]. Ein gegen den ernsthaften Widerstand des Kindes erzwungener Umgang kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit unter Umständen mehr Schaden verursachen als Nutzen bringen […]. Selbst ein auf einer bewussten oder unbewussten Beeinflussung beruhender Wunsch kann beachtlich sein, wenn er Ausdruck echter und damit schützenswerter Bindungen ist. Das Außerachtlassen des beeinflussten Willens ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen.“Footnote 68

In jedem Fall muss sich das Gericht mit dem induzierten Willen auseinandersetzen und ihn soweit wie möglich auch respektieren.Footnote 69 Zu berücksichtigen ist der induzierte Wille insbesondere dann, wenn ein Übergehen oder Brechen des Kindeswillens zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung führen würde.Footnote 70

3.3 Selbstgefährdender Kindeswille

Gerade in Kinderschutzfällen kann es sein, dass das Kind aufgrund psychischer Beeinträchtigungen (etwa aus Angst oder Schuldgefühlen heraus) einen Willen bildet, der selbstgefährdend ist. Ein solcher selbstgefährdender Kindeswille ist anzunehmen, „wenn sein Befolgen Lebensbedingungen herstellen würde, die im Missverhältnis zur objektiven Bedürfnislage des Kindes stehen und damit sowohl das Kindeswohl gefährden als auch Schutzbedarf für das Kind produzieren“ würde, wobei er „vom Kind selbst entwickelt oder von anderen Personen induziert sein“ kann.Footnote 71

Ein selbstgefährdender Wille liegt etwa vor, wenn das Kind bei den Eltern verbleiben möchte, obwohl diese nicht in der Lage sind, die Kindeswohlgefährdung abzuwenden und ein Verbleiben des Kindes in seiner Familie (im Gegensatz zu einer Fremdunterbringung) zu einer Verfestigung der Entwicklungsstörungen führen würde.Footnote 72 In Kinderschutzverfahren äußern Kinder nicht selten den Wunsch, bei den sie gefährdenden Eltern bleiben zu wollen, weil sie die Gefährdungssituation mit der für sie unbekannten Alternative (insbesondere der Fremdunterbringung) nur schwer abwägen können.Footnote 73

Einem selbstgefährdenden Kindeswillen darf aber weder durch Anordnung noch durch Unterlassen einer kindesschutzrechtlichen Maßnahme entsprochen werden, wenn dies zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung (s. o. 6.2) oder zu einer Verfestigung der Gefährdungslage führen würde.

4 Der Umgang mit dem Kindeswillen

Auch wenn in Kindschaftssachen für alle professionellen Akteure die Maxime gilt, „den Kindeswillen so weit wie möglich herauszuarbeiten, ernst zu nehmen und gegebenenfalls auch zu akzeptieren“,Footnote 74 so ist doch zu beachten, dass die Möglichkeit zur Äußerung auch einschließt, dass sich das Kind nicht äußern oder einzelne Fragen nicht beantworten möchte. Das Kind ist daher bereits zu Beginn der Anhörung darauf hinzuweisen, dass es sich nicht äußern muss, wenn es dies nicht möchte. Keinesfalls darf das Kind zur Mitteilung seines Willens gedrängt werden, vielmehr ist zu respektieren, wenn sich das Kind nicht äußern möchte.Footnote 75 Entscheidend ist, dass dem Kind nach Unterrichtung über den Verfahrensgegenstand die Möglichkeit gegeben wurde, in einer vertrauensvoll gestalteten Atmosphäre seinen Willen mitzuteilen.

Beim Umgang mit dem Kindeswillen sind die folgenden vier Schritte zu beachten:Footnote 76

  1. (1)

    Kenntnisnahme des Kindeswillens: Das Kind ist aufgrund verfassungs- und völkerrechtlicher Vorgaben (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 2 UN-KRK) anzuhören, sofern keine schwerwiegenden Gründe für das Absehen von der Anhörung sprechen. Bereits zu Beginn der persönlichen Anhörung ist das Kind darauf hinzuweisen, dass es sich nicht äußern muss, wenn es dies nicht möchte. Weiterführend zu den Anforderungen an eine kindgerechte Anhörung wird auf den Fachtext Rechtliche Vorgaben zur Kindesanhörung und kindgerechte Anhörung [Kap. 5] verwiesen.

  2. (2)

    Vergewisserung über das Vorliegen der Anforderungen an einen beachtlichen Kindeswillen: Auch dieser Schritt ist Teil der persönlichen Anhörung des Kindes. Die Kindesanhörung dient nämlich auch der Prüfung, ob die oben beschriebenen Mindestanforderungen vorliegen (s. o. 6.3), der Feststellung des Entwicklungsstandes des Kindes (s. o. 6.3.1) sowie der Ermittlung, ob ein induzierter oder selbstgefährdender Wille vorliegt (s. o. 6.3.2 und 6.3.3). Gegebenenfalls ist ein Sachverständigengutachten zu diesen Punkten einzuholen.

  3. (3)

    Interpretation und Berücksichtigung des Kindeswillens: Der geäußerte Wille des Kindes ist gegebenenfalls durch Nachfragen weiter aufzuklären sowie im Kontext des jeweiligen Sachverhalts und der vorliegenden Familiensituation zu interpretieren. Der Kindeswille ist sodann bei der Entscheidung angemessen zu berücksichtigen, wobei im Grundsatz gilt, dass dem Kindeswillen im Verhältnis zum Kindeswohl mit zunehmender Einsichtsfähigkeit des Kindes auch eine immer stärkere Bedeutung zukommt (zu den Einzelheiten s. u. 6.5).

  4. (4)

    Nachsorge: Die Nachsorge bezieht sich sowohl auf die Anhörung des Kindes als auch auf die gerichtliche Entscheidung.Footnote 77 So sollte das Kind im Anschluss an die Anhörung eine Resonanz zu seinen Äußerungen sowie Erläuterungen zu einem möglichen Ausgang des Verfahrens erhalten, wenn es dies möchte. Diese Aufgabe obliegt sowohl der Verfahrensbeistandschaft (§ 158b Abs. 1 S. 3 FamFG) als auch dem Familiengericht (§ 159 Abs. 4 S. 1 FamFG). Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, dass das Gericht die Eltern auf einen angemessenen Umgang mit Äußerungen des Kindes hinweist, wenn diese gegebenenfalls von den Eltern als negativ empfunden werden könnten. Schließlich ist es im Anschluss an die Endentscheidung wichtig, dem Kind den Inhalt der Entscheidung altersgemäß zu erklären (§ 158b Abs. 1 S. 4 FamFG) und dabei auch darauf einzugehen, welche Bedeutung sein Wille für die Entscheidung hatte, wenn es dies wissen möchte.

5 Die Berücksichtigung des Kindeswillens im Rahmen der Entscheidung

Gerade bei einem Kind, das Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt war, kann ein falsch verstandenes Schutzbedürfnis der professionellen Akteure dazu führen, dass der selbstbestimmt gebildete Wille des Kindes hinter dem (aus Erwachsenenperspektive) wohlverstandenen Interesse des Kindes zurückgestellt wird. Bei einer unzureichenden Berücksichtigung des Kindeswillens besteht dann die Gefahr der „Fortsetzung einer von mangelndem Dialog, fehlender Achtung und Resonanz gezeichneten Lebensgeschichte, in der die persönlichen Belange der Kinder schon viel zu häufig ignoriert wurden und ihre Selbstbestimmungswünsche nichts galten“.Footnote 78

Studien belegen zudem, dass die große Mehrheit der Kinder bei wichtigen Entscheidungen beteiligt, d. h. in die Entscheidungsprozesse angemessen einbezogen werden möchte, nicht aber selbst für die Entscheidung verantwortlich sein will. Vor allem Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, gaben an, dass sie nicht (angemessen) an der Entscheidungsfindung beteiligt wurden und sich daher übergangen fühlten.Footnote 79 Daher sind die angedachten kindesschutzrechtlichen Maßnahmen im Gespräch mit dem Kind zu thematisieren und der Kindeswille ist auch diesbezüglich bei der Entscheidung angemessen zu berücksichtigen.

Schließlich sollte auch in Kinderschutzverfahren – trotz der in § 1666 BGB vorgesehenen Ausrichtung auf das Kindeswohl – stärker zwischen Wohl und Wille differenziert werden.

Übersicht

Dies wird in der neueren juristischen Literatur inzwischen mit Nachdruck gefordert: „Dass das Kindschaftsrecht mit seinem zentralen Bekenntnis zum Kindeswohlprinzip […] nicht zwischen Wohl und Wille unterscheidet, enthält noch Spuren einer Zeit, als dem Kindeswillen überhaupt nur wenig Bedeutung zukam. Heute verführt dieser inhaltlich überwundene, daher unscharfe und bei unbefangener Betrachtung eigentlich widersprüchliche Ausgangspunkt dazu, die Ergründung des subjektiven Kindeswillens mit Erwägungen zum vernünftigen Kindesinteresse zu vermengen.

Es sollte daher stärker zwischen Wohl und Wille unterschieden werden. Dies könnte auch die Art und Weise, wie gerichtliche Entscheidungen begründet werden, beeinflussen. Wenn der Wille des Kindes als etwas aufgefasst wird, das nicht ‚irgendwie‘ im Wohl aufgehen kann, erhöht sich die Chance für eine ausdrücklichere Begründung dafür, warum das Wohl einen gegenläufigen Willen überwiegen soll.“Footnote 80

Denn auch in Fällen, in denen ein nicht auflösbarer Widerspruch zwischen Kindeswohl und Kindeswille bleibt, darf der Wille des Kindes nicht einfach übergangen werden bzw. ohne Resonanz bleiben.Footnote 81 Vielmehr muss das Gericht den Gründen für das Auseinanderfallen von Wohl und Wille nachgehen sowie die Folgen einer Beachtung des Kindeswillens denen einer Nichtbeachtung gegenüberstellen. Grenzen ergeben sich aus möglichen Gefährdungslagen (s. o. 6.2 und 6.3.3): So darf dem Kindeswillen nicht stattgegeben werden, wenn dies zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung führen würde. Umgekehrt ist jedoch dem Willen des Kindes zu folgen, wenn das Brechen oder Übergehen des Willens das Kindeswohl gefährden würde.

6 Fazit

Der selbstbestimmt und informiert gebildete sowie autonom bestehende und stabile Kindeswille muss im Kinderschutzverfahren maßgeblich berücksichtigt werden. Fallen Kindeswohl und Kindeswille auseinander, muss besonders sorgfältig geprüft werden, ob der Wille des Kindes selbstbestimmt gebildet wurde. Auch in Kinderschutzverfahren gilt der Grundsatz, dass der Kindeswille als ein wesentlicher Bestandteil des Persönlichkeitsrechts des Kindes anzuerkennen und im Verfahren auch angemessen, d. h. in Auseinandersetzung mit Kindeswohlvorbehalten, zu berücksichtigen ist, sofern dies nicht zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung führt.