1 Einleitung

In familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren sind Entscheidungen des Familiengerichts untrennbar verzahnt mit den Einschätzungen von Jugendamt, Verfahrensbeistand/-beiständin und in aller Regel Sachverständigen. Im Verhältnis zwischen Familiengericht und Jugendamt kommen je eigene Entscheidungsbefugnisse hinzu: Entscheidung über den Sorgerechtseingriff bzw. die Gewährung von Hilfen. Diese geteilte Verantwortung wird teilweise kritisiert und eine eigene Kompetenz des Familiengerichts zur Anordnung von Leistungen nach SGB VIII oder zumindest eine familien- statt verwaltungsgerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns im Jugendamt gefordert (hierzu eingehend Meysen 2016). Dieser zwar nicht nach geltender Rechtslage, aber mit Blick auf die gesetzliche Gestaltung umstrittene Frage, geht der Text als erstes nach (2), um sich im Anschluss mit den Dynamiken bei Meinungsverschiedenheiten, den Stolpersteinen und Potenzialen für konstruktives Ringen um Schutz und Hilfe für Kinder und Jugendliche zu befassen (3). Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für ein neugierig interessiertes Auseinandersetzen bei Einschätzungsunterschieden.

2 Verantwortungsteilung zwischen Familiengericht und Jugendamt

2.1 Rechtliche Ausgangslage

Das Familiengericht kann Eltern verpflichten, bestimmte Leistungen nach SGB VIII in Anspruch zu nehmen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB), es hat aber keine Anordnungskompetenz, ein Jugendamt bzw. den Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Gewährung von Leistungen zu verpflichten (Sommer 2012b). Nach der Kompetenzverteilung im Rahmen der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) darf ein Gericht nur Verwaltungshandeln anordnen, wenn ein Gesetz dies ausdrücklich erlaubt. Dies stellt § 36a Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 SGB VIII noch einmal klar (bspw. BT-Drs. 15/3676, 36; 15/5616, 26; Wiesner/Schmid-Obkirchner 2015, § 36a SGB VIII Rn. 17; FK-SGB VIII/Meysen 2019, § 36a SGB VIII Rn. 9).

Beantragen Eltern, etwa aufgrund einer erwarteten oder erfolgten Verpflichtung durch das Familiengericht, Leistungen nach SGB VIII, ist der örtlich zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, über die Gewährung von Leistungen zu entscheiden. Wird einem Antrag nicht entsprochen, steht den Leistungsberechtigten der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten offen (§ 40 Abs. 1 VwGO).

In einem Verfahren zum begleiteten Umgang hat das Bundesverfassungsgericht in der fehlenden Anordnungskompetenz des Familiengerichts gegenüber dem Jugendamt keine verfassungswidrige Schutzlücke gesehen (BVerfG, 29.7.2015 – 1 BvR 1468/15; ebenso OLG Schleswig, 23.3.2015 – 10 UF 6 /15). Der Anspruch auf Leistungen der Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts (§ 18 Abs. 3 S. 3, 4 SGB VIII) könne vor den Verwaltungsgerichten geklärt, das familiengerichtliche Verfahren bis zur „verwaltungsgerichtlichen Klärung des Mitwirkungsanspruchs ausgesetzt werden“ (§ 21 FamFG). In einem Kinderschutzverfahren hatte das Bundesverfassungsgericht die Frage noch nicht abschließend geklärt, aber festgehalten, dass die gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Jugendamts über die Gewährung öffentlicher Hilfen nicht den Familien-, sondern den Verwaltungsgerichten obliegt (BVerfG 24.3.2014 – 1 BvR 160/14). Die bisherige Rechtsprechung verhält sich entsprechend (OLG Oldenburg, 27.11.2007 – 4 WF 240/07; VGH Kassel, 6.11.2007 – 10 TG 1954/07; VG Darmstadt, 29.8.2007 – 3 G 1267/07; OLG Nürnberg, 17.11.2014 – 11 UF 1097/14).

Eine Gegenauffassung gesteht dem Familiengericht ein Letztentscheidungsrecht zu, wenn zwischen Jugendamt und Familiengericht über die Gewährung von Leistungen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung keine Einigung erzielt werden kann (OLG Koblenz, 11.6.2012 – 11 UF 266/12; Staudinger/Coester 2016, § 1666a Rn. 15 ff.; MünchKommBGB/Tillmanns 2017, § 1 SGB VIII Rn. 7). Im Bereich der Jugendgerichtsbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht eine Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit durch § 36a Abs. 1 SGB VIII abgelehnt, solange die Justiz eigene Mittel zur Umsetzung der Entscheidung und damit zur Verwirklichung der betreffenden öffentlichen Hilfen, die das Gericht anordnen will, einsetzen könne (BVerfG, 11.1.2007 – 2 BvL 7/06).

2.2 Gesetzlicher Änderungsbedarf?

Dass Familiengerichte die Jugendämter nicht zur Gewährung (weiterer) ambulanterHilfen verpflichten können, wird teilweise kritisch gesehen (Keuter 2015; Fahl 2015; Dürbeck 2015; Heilmann 2014; Lack & Heilmann 2014). Es wird sogar vorgeschlagen, die „Verfahren über Leistungen und sonstige Maßnahmen der Jugendhilfe, die das Verhältnis des Einzelnen als Leistungsberechtigten betreffen,“ dem Familiengericht zuzuweisen (Sommer 2012a, S. 359).

Eine solche Hierarchisierung der Verantwortung greift allerdings zu kurz. Das Jugendamt hat bei „gewichtigen Anhaltspunkten“ die Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen einzuschätzen (§ 8a Abs. 1 SGB VIII). Das Jugendamt trägt dabei die alleinige Verantwortung, den Erziehungsberechtigten die zur Abwendung der Gefährdung geeigneten und notwendigen Hilfen anzubieten (§ 8a Abs. 1 S. 3 SGB VIII) und, wenn trotz dieses Angebots erforderlich, das Familiengericht anzurufen (§ 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII) oder, falls ein sofortiges Tätigwerden erforderlich ist, das Kind oder die/den Jugendliche*n in Obhut zu nehmen (§ 8a Abs. 2, § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII). Die elterliche Sorge darf das Jugendamt nicht entziehen. Insoweit hat das Familiengericht die alleinige Verantwortung, über einen Sorgerechtsentzug zu entscheiden (§ 1666 BGB) und hierbei zu prüfen, ob eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie durch öffentliche Hilfen vermieden werden kann (§ 1666a Abs. 1 S. 1 BGB). Die Verantwortung für die Auswahl, Hilfeplanung und Überwachung der anhaltenden Geeignetheit und Erforderlichkeit von Leistungen trägt das Familiengericht nicht. Vielmehr ist das Jugendamt weiter und wieder in der Verantwortung, Leistungen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung zu gewähren, wenn das Familiengericht die elterliche Sorge nicht entzieht.

Das Familiengericht könnte die Letztverantwortung für den Hilfeprozess auch schwerlich übernehmen, selbst wenn ihm die Verantwortung über die Entscheidung zur Gewährung von Leistungen gesetzlich zugewiesen würde. Bei der rechtsverbindlichen familiengerichtlichen Anordnung einer Leistung bliebe das Gericht notgedrungen auch für die weitere Begleitung des Hilfeprozesses, für notwendige Änderungen in der Hilfegestaltung oder Leistungsart sowie die Beendigung der Hilfe verantwortlich (ähnlich Hammer 2014). Mit der Funktion, Qualifikation und den Ressourcen der Familienrichter*innen wäre dies schwer vereinbar. Insbesondere die Kenntnisse über die örtliche Angebotspalette, die jeweiligen Konzepte der Träger, deren fachlichen Qualifikationen, Stärken und Schwächen können Familiengerichte weder durch Fortbildung noch durch Sachverständige erlangen. Mit der Entscheidung über den Nichtentzug der elterlichen Sorge übergibt das Familiengericht daher die Verantwortung wieder dem Jugendamt und den Eltern, gegenüber denen es die Inanspruchnahme von Leistungen anordnet (s. a. Wirksame Hilfe- und Schutzkonzepte Kap. 32, 33 und 34). Die geteilte Verantwortung, teilweise als „Verantwortungsgemeinschaft“ bezeichnet (OLG Koblenz, 11.6.2012 – 11 UF 266/12), überschneidet sich somit nur in einem Teilbereich.

Es verwundert daher nicht, wenn Forderungen nach einer Anordnungskompetenz der Familiengerichte regelmäßig auf die „reine“ Anordnung begrenzt sind. Die Verantwortung dafür, ob es nach einer familiengerichtlichen Anordnung zur gewünschten Inanspruchnahme der Leistung kommt, ob das Kind und die Eltern die Hilfe so annehmen und gleichzeitig nutzen können, sodass das Kindeswohl nicht weiter gefährdet ist, scheint wie selbstverständlich dem Jugendamt zugeschrieben zu werden. Auch finden sich keine Diskussionen darüber, wie konkret das Familiengericht die Leistung anordnen soll (Trägerauswahl, Stundenumfang, Leistungsinhalte und -ziele, Vergütung etc.), wann das Familiengericht wieder einzubeziehen ist, wenn die Hilfe fortgesetzt, eingestellt oder wenn vom Angeordneten abgewichen werden soll. Auch die Rechtswegzuweisung, die einschlägige Verfahrensordnung, die Prüfdichte bei Ermessen, ein Beurteilungsspielraum der Verwaltung oder Fragen der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit nach dem Sozialgesetzbuch bleiben im Dunkeln (zum Auseinanderfallen s. a. Akteure im familiengerichtlichen Verfahren – Rollen und Zusammenwirken [Kap. 35]).

Eine Anordnungskompetenz würde durch die Aufhebung der Rechtswegtrennung nach hier vertretener Auffassung zu einer Entscheidungsmachtkonzentration beim Familiengericht führen, die das im Kinderschutzverfahren wichtige Prinzip der checks and balances im interdisziplinären Zusammenspiel zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern unterlaufen und in der Folge der Entscheidungen zu Verantwortungsunklarheiten führen würde.

3 Meinungsverschiedenheiten konstruktiv ins Gespräch bringen

Meinungsverschiedenheit als Normalität im Kinderschutz

In Kinderschutzverfahren sind unterschiedliche Perspektiven und Einschätzungen zur Gefährdungssituation sowie zu den Handlungsoptionen bei Schutz und Hilfe immanent. Denn Kinderschutz ist gekennzeichnet von

  • Uneindeutigkeit und Ambivalenzen im Hinblick auf die vielschichtigen, zukunftsgerichteten Einschätzungsaufgaben sowie die Bewertung von Ressourcen und Potenziale in Gegenüberstellung zu und Wechselspiel mit Risiken und Grenzen,

  • der Eigenständigkeit der Betroffenen mit ihrer Individualität und ihren Beziehungsdynamiken,

  • einer Vielzahl beteiligter Akteure mit unterschiedlichen professionellen Aufträgen.

Die diversen Prognoseentscheidungen von Jugendämtern und Familiengerichten finden somit nicht in einem klinischen, sondern in einem von Selbststeuerung und Veränderung geprägten Setting statt (Bode und Turba 2014, S. 352 ff.). Der Austausch über das Was und Warum der unterschiedlichen Bewertungen sind notwendiger Bestandteil und dienen somit der Qualifizierung professionellen Handelns im Kinderschutz. Die aktuelle Rechtslage zur Verantwortungsteilung zwischen Familiengericht und Jugendamt fordert beide Akteure zu diesem Austausch auf. Der Einbezug des Sachverstands von Verfahrensbeistandschaft und sachverständiger Begutachtung kann die Komplexität erhöhen und den Kampf um Deutungshoheit verschärfen, insbesondere wenn die Rollenklarheit als Richtschnur verloren geht. Aber es kann das zuhörend-diskursive Ringen um potenziell erfolgversprechende Wege zu Schutz und Hilfe für das Kind bzw. die/den Jugendliche*n auch befördern. Eine Achtung der Strukturen und verfahrensrechtlichen Vorgaben des jeweils anderen kann hilfreich wirken (s. a. Akteure im familiengerichtlichen Verfahren – Rolle und Zusammenwirken [Kap. 35]).

Das Jugendamt macht sich Entscheidungen zur Anrufung des Familiengerichts nicht leicht

Bevor Fachkräfte aus dem Jugendamt das Familiengericht anrufen, schätzen sie die Gefährdung sowie die Erforderlichkeit familiengerichtlicher Maßnahmen ein. Wenn das Familiengericht in der Folge zu einer anderen Einschätzung kommt, ist nicht zu erwarten, dass das Jugendamt seine oftmals über einen langen Zeitraum und nach viel Reflexion im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte entwickelte Einschätzung unmittelbar aufgibt. Eine natürliche Reaktion wäre, dass das Jugendamt seine Argumente noch einmal mit Nachdruck vorbringt, auch dazu, warum es eine weitere Gewährung von ambulanten Hilfen für nicht erfolgversprechend hält. Das Familiengericht steht vor der Frage, ob es auf seine Entscheidungshoheit nach § 1666 Abs. 1 BGB pochen soll und wie (Meysen 2016).

Früher Austausch statt Showdown

Termine beim Familiengericht können bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Akteur*innen die Bühne für einen Kampf um Deutungshoheit bieten. Bei Kindeswohlgefährdung geht es um viel für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. Dessen sind sich die Akteur*innen sehr bewusst, was es mitunter ausgesprochen schwer macht, abweichende Auffassungen auszuhalten. Dies kann sogar dazu führen, dass die eigene Durchsetzung in den Vordergrund und das Kind in den Hintergrund rückt. Doch gerade hier sind die Akteur*innen gefragt, sich für die Einschätzungen der jeweils anderen zu interessieren. Zeichnet sich bspw. vor einem Termin ab, dass zwischen Jugendamt, Verfahrensbeistand/-beiständin, Sachverständigen und/oder anderen Expert*innen, die sich ins Verfahren einbringen, unterschiedliche Einschätzungen zur Gefährdung oder deren Abwendung bestehen, empfiehlt sich ein direkter Austausch vor dem Termin. Dies ermöglicht, Missverständnisse aufzuspüren, die unterschiedlichen Sichtweisen sowie ihre Grundlagen im familiengerichtlichen Verfahren gut ins Gespräch zu bringen und die eigene Einschätzung noch einmal zu hinterfragen. Handlungssicherer Umgang mit den datenschutzrechtlichen Vorgaben erleichtert den frühzeitigen Austausch hierbei sehr (s. a. Schweigepflicht und Datenschutz Kap. 42).

Überraschungen im Termin erschweren Diskurs

Verfahrensbeistand/-beiständin und Jugendamt haben als Beteiligte im Verfahren Anspruch darauf, im gerichtlichen Termin angehört zu werden und sich für ihren Standpunkt einsetzen zu können (§ 158 Abs. 4 S. 2, § 162 Abs. 2 S. 1 FamFG). Schwierigkeiten treten daher auf, wenn bspw. das Familiengericht bereits in einem ersten Termin oder gar unmittelbar, nachdem es der/dem Verfahrensbeistand/-beiständin oder dem Jugendamt eröffnet hat, dass es dessen Einschätzung zur Erforderlichkeit eines Sorgerechtsentzugs nicht teile, Druck macht, zum Beispiel indem es eine Rücknahme des Vorschlags oder das Angebot ambulanter Hilfen fordert. Gefragt wäre zunächst eine eingehende Auseinandersetzung mit den divergierenden Sichtweisen. Auch kann den Beteiligten im Vorfeld eines Termins mitgeteilt werden, sich auch in diese oder jene Richtung Gedanken zu machen und entsprechend vorzubereiten. Das Jugendamt wird bei solchen Überraschungen regelmäßig nicht in der Lage sein, den Eltern verbindlich Angebote für ambulante Hilfen zu unterbreiten. Es würde in der Regel rechtswidrig handeln, wenn es im Termin bei Gericht über die Gewährung von Leistungen entscheidet, ohne zuvor die gesetzlich geforderten Verfahrensvorgaben einzuhalten. So ist es – gerade in Kinderschutzkontexten – verpflichtet, eine eingehende Hilfeplanung mit den Leistungsberechtigten durchzuführen, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte über die im konkreten Einzelfall angezeigte Hilfe zu entscheiden und ggf. die Leistungserbringer sowie kinder- und jugendpsychiatrische Expertise einzubeziehen (§ 36 Abs. 2 SGB VIII). Eine Anhörung beim Familiengericht kann dies regelmäßig nicht ersetzen.

Unausgesprochene Unterstellungen

Kontraproduktiv können sich auch – meist – unausgesprochene Unterstellungen auswirken. Häufig anzutreffen ist die Annahme, das Jugendamt würde (nur) aus sachfremden (Kosten-)Gründen die weitere Gewährung ambulanter Leistungen ablehnen (s. a. Häufige Missverständnisse im Kinderschutzverfahren [Kap. 43]; explizit ausgesprochen bei OLG Koblenz, 11.6.2012 – 11 UF 266/12). Tatsächlich sind stationäre Leistungen deutlich kostenintensiver als ambulante. Fachkräfte wiederum unterstellen Familienrichter*innen mitunter, sie würden tendenziell das Elternrecht überhöhen. Subkontexte können dazu führen, dass die tatsächlichen Gründe weder gehört noch hinterfragt werden (Schmidt 2015). Wenn sich Familiengericht, Jugendamt, Verfahrensbeistand/-beiständin und Sachverständige*r für die Gründe der anderen interessieren, ohne sie unbesehen zu übernehmen oder in Abrede zu stellen, ist die Möglichkeit eröffnet, eventuelle Missverständnisse aufzuklären und das Verstehen zu vertiefen. Den Akteur*innen mit sozial- und/oder humanwissenschaftlicher Expertise fällt es bei einer solchen Auseinandersetzung mit ihren Argumenten gegebenenfalls erheblich leichter, sich darauf einzustellen, dass Ergebnis der Prüfung möglicherweise eine abweichende Einschätzung des Familiengerichts sein wird. Steht die Frage der (weiteren, erneuten oder erstmaligen) Gewährung ambulanter Hilfen im Raum, ist regelmäßig notwendig, dass das Familiengericht dem Jugendamt die Gelegenheit gibt, für sich zu klären, ob es (wieder) in einen Hilfeprozess zur Stützung des Verbleibs des Kindes in der Familie eintritt oder Rechtsmittel gegen einen Nichtentzug der elterlichen Sorge einlegen will (§ 162 Abs. 3 S. 2 FamFG).

Achtung der Entscheidungshoheit des Familiengerichts, Bewusstsein zur eigenen Machtposition im Familiengericht

Jugendamt, Verfahrensbeistand/-beiständin, Sachverständige und andere Expert*innen, die ihren Sachverstand in das familiengerichtliche Verfahren einbringen, sind aufgefordert, ihre Einschätzungen zur Notwendigkeit familiengerichtlicher Maßnahmen in einer für das Gericht nachvollziehbaren Weise schriftlich und/oder mündlich darzulegen. Für das Jugendamt lassen sich die erforderlichen Inhalte der Stellungnahme nach § 50 Abs. 2 SGB VIII entnehmen. Danach berichtet es über erbrachte Hilfe, bringt erzieherische Gesichtspunkte ein und schätzt die Erfolgschancen weiterer Hilfen ein. Der oder die Sachverständige hat die Beweisfrage des Familiengerichts zu beantworten und zentrale Aufgabe der Verfahrensbeistandschaft ist, den Willen des Kindes zu ermitteln und diesen ins Verfahren einzubringen. Wichtig ist dabei, dass alle Akteur*innen die Entscheidungshoheit des Familiengerichts über einen Sorgerechtsentzug respektieren und somit eine abweichende Sicht auf die Möglichkeiten der Gefährdungsabwendung zugestehen. Hierzu bedarf es der Anerkennung, dass das Familiengericht die anspruchsvolle Aufgabe hat, eine eigene Einschätzung zu entwickeln, auch wenn es

  • die Familie nicht so lange kennt und sich nicht vergleichbar lange und vertieft mit der Perspektiventwicklung für das Kind auseinandergesetzt hat wie die Fachkräfte im Jugendamt;

  • sich nicht so lange mit dem Kind ausgetauscht und auseinandergesetzt hat wie die/der Verfahrensbeistand/-beiständin;

  • nicht die sozial- und humanwissenschaftliche Expertise der/des Sachverständigen mitbringt.

Schwierig wird es, wenn einzelne Akteur*innen, insbesondere das Jugendamt, dem Familiengericht ihre/seine Auffassung aufdrängen wollen, statt eine eigenständige und unabhängige Entscheidungsfindung zu unterstützen oder die Möglichkeit einer Beschwerde zu nutzen. Das Hinterfragen fachlicher Positionen anderer Akteur*innen durch das Familiengericht ist nicht als mangelndes Vertrauen oder Wertschätzung in die Einschätzung des Jugendamts, der/des Verfahrensbeistand/-beiständin oder Sachverständigen zu verstehen, sondern immanenter Teil des gerichtlichen Auftrags, sich selbst eine Überzeugung zu bilden (s. a. Häufige Missverständnisse im Kinderschutzverfahren [Kap. 43]). Erforderlich ist jedenfalls ein reflektiertes Bewusstsein der Familienrichterin/des Familienrichters, dass sie/er eine erhebliche Machtposition nicht nur gegenüber den Beteiligten aus der Familie, sondern auch gegenüber den anderen Akteur*innen innehat. Ob die fachliche Expertise der verschiedenen Akteure tatsächlich eingebracht und für das Verfahren nutzbar gemacht werden kann, hängt wesentlich von der Verhandlungsleitung der Richterin oder des Richters ab und von dessen Erlaubnis, sich proaktiv einbringen zu dürfen. Jugendamt und Verfahrensbeistand/-beiständin bedürfen ihrerseits ein Selbstverständnis als Fachbehörde bzw. Vertreter*in des Kindes und Beteiligte im Verfahren, um nicht wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen und zu hoffen, dass ihre Expertise bei der Suche nach Wegen zu einem nicht gefährdendem, förderlichen Aufwachsen des Kindes gefragt sein wird.

Strukturierung der geteilten Verantwortung

Beabsichtigt das Familiengericht entgegen der Einschätzung des Jugendamts oder der/des Verfahrensbeiständin/-beistands, das Sorgerecht nicht zu entziehen, können diese im erstinstanzlichen Verfahren um beschwerdefähige Entscheidung ersuchen. Wollen Jugendamt und/oder Verfahrensbeistand/-beiständin nicht gegen einen Beschluss vorgehen oder lehnt das Oberlandesgericht ab, das Sorgerecht zu entziehen, ist das Jugendamt in der Regel gesetzlich angehalten, in eine Hilfeplanung mit den Eltern und ihren Kindern einzutreten. Das Familiengericht sollte die Eltern verpflichten, mit dem Jugendamt einen Hilfeplan zu erarbeiten und – nach Rücksprache mit dem Jugendamt – hierzu eine Frist setzen. Das Ergebnis der Hilfeplanung sollte in der Folge wiederum dem Familiengericht mitgeteilt werden, damit es prüfen kann, ob es zur Bekräftigung der Verbindlichkeit gegenüber den Eltern ein Gebot zur Inanspruchnahme der Leistungen ausspricht.

4 Neugieriges Auseinandersetzen bei Einschätzungsunterschieden

Wesentliche Faktoren, damit das Ringen um Schutz und Hilfe für das Kind oder die/den Jugendliche*n qualifizierend wirkt, sind eine

  • neugierig interessierte Kommunikation zwischen allen Beteiligten, wofür dem Familiengericht als Verfahrensleitung eine besondere Verantwortung zukommt;

  • diskursive, sich selbst nicht überhöhende Kommunikationskultur, in welcher die Akteur*innen unterschiedliche Positionen einbringen, aushalten, miteinander austauschen, abwägen und werten können. Das Jugendamt, aber auch Verfahrensbeiständ*innen sind hierbei vor allem gefragt, auszuhalten und sich ggf. zu beschweren. Familiengericht und in Teilen auch Sachverständige bedürfen einer Reflexion ihrer Machtposition, um sich für Abwägungen und die Möglichkeit unterschiedlicher Wertungen zu öffnen.

Sind die Akteur*innen von der Richtigkeit ihrer Ansichten überzeugt, können abweichende Einschätzungen und die Abwertung ihrer Sichtweise geradezu schockierend sein. Hier gilt es, die – auf den ersten Blick – widersprüchlichen Vorstellungen zunächst nebeneinander zu stellen. Das Familiengericht sollte zunächst skeptisch gegenüber Polaritäten sein. Ziel ist, die unterschiedlichen Positionen in einen allseits neugierigen Austausch zu bringen (Cecchin et al. 2010). Wichtig ist, dass alle Gelegenheit haben, ihre Gründe näher zu erläutern, nachzubessern oder zu ergänzen. Die spätere Akzeptanz der Wertungen des Familiengerichts oder der/des Sachverständigen wird desto eher erreicht, je mehr sie erkennen lassen, dass sie sich mit den Sichtweisen von Jugendamt, Verfahrensbeistand/-beiständin, anderer Expert*innen sowie der Beteiligten aus der Familie auseinandergesetzt und gleichzeitig die Grenzen bei der Vorhersage der Wirkungen von bestimmten Hilfen im Blick haben.