1 Innerfamiliäre sexuelle Gewalt gegen Minderjährige durch Bezugspersonen: Wichtiges kurz zusammengefasst.

Obwohl bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik anhand einzelner Gerichtsprozesse diskutiert (Fleming et al. 2003), konnten erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wesentliche Fortschritte bei der Enttabuisierung dieser Form von Kindeswohlgefährdung erreicht werden (Kavemann & Lohstöter 1984). Die zeitverzögert einsetzende intensive Forschung konnte Schädigungseffekte klar und für alle Formen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche belegen (für eine Forschungsübersicht siehe Noll 2021, s. a. Sexueller Missbrauch. Definition, Prävalenzen, Schädigungsmechanismen und Folgen [Kap. 23]). Sexuelle Gewalt durch enge Bezugspersonen, die im Vergleich zur sonstigen sexuellen Gewalt gegen Minderjährige häufig bereits jüngere Kinder betrifft, im Durchschnitt länger andauert und mit starken Gefühlen von Ausweglosigkeit verbunden ist (Katz et al. 2020), geht dabei noch einmal mit besonderen Beeinträchtigungen einher (für eine Forschungsübersicht siehe Kindler 2015).

Für familiengerichtliche Kinderschutzverfahren ist darüber hinaus der Befund wichtig, dass langfristige Folgen erlittener sexueller Gewalt in Kindheit und Jugendalter auch durch die Qualität von nachfolgender Fürsorge und Unterstützung seitens nicht-missbrauchender Elternteile oder anderer Fürsorgepersonen (z. B. Pflegeeltern) beeinflusst werden (z. B. Zajac et al. 2015), wobei die Mehrzahl nicht-missbrauchender Elternteile in der Situation nach entdeckter sexueller Gewalt selbst Unterstützung und Beratung benötigt (Serin 2018). Etwa die Hälfte der Mütter, die mit sexueller Gewalt gegen eines oder mehrere ihrer Kinder konfrontiert wird, hat zudem, nach ersten hierzu vorliegenden Studien, selbst Missbrauch oder Partnerschaftsgewalt erlebt (Langevin et al. 2021), sodass unter Umständen belastende Erinnerungen und Gefühle aus der eigenen Lebensgeschichte mit bearbeitet werden müssen. Weiter ist hervorzuheben, dass ein nennenswerter Teil der Kinder, die in Familien sexuelle Gewalt erfährt, auch andere Formen der Gefährdung erleben muss, sodass sich Schnittstellen zu Hilfen und Schutzmaßnahmen bei anderen Gefährdungsformen ergeben (s. a. Hilfen und Schutzkonzepte bei Misshandlung und Vernachlässigung [Kap. 32]). Beispielsweise wurde in einer deutschen Stichprobe familiengerichtlicher Kinderschutzverfahren nur in einem Drittel der Fälle mit sexueller Gewalt diese als alleinige oder als Hauptgefährdungslage beurteilt (Bindel-Kögel & Seidenstücker 2017).

Trotzdem ist es aus mindestens zwei Gründen gerechtfertigt, Hilfen und Schutzkonzepte bei innerfamiliärer sexueller Gewalt gesondert zu thematisieren: (a) Zunächst wird sexuelle Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder bzw. Jugendliche, innerhalb wie außerhalb von Familien, als intentionales, also beabsichtigtes Verhalten verstanden, was sich etwa in der Gestaltung der Missbrauchssituation oder im vorangegangenen Aufbau einer „besonderen“ Beziehung zum Kind, auch als Grooming bezeichnet (z. B. Katz & Barnetz 2016), äußert. Bei Kindesvernachlässigung und -misshandlung wird dagegen eher von Kompetenzmängeln und Überforderung der Eltern als Ursache ausgegangen. Das unterschiedliche Verständnis der Entstehungsweise verschiedener Gefährdungsformen (s. a. Warum kommt es zu Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch (Ätiologie)? [Kap. 17]) hat zur Folge, dass bei Erwachsenen, die sexuelle Gewalt ausüben, mehrheitlich nicht davon ausgegangen wird, sie seien (ohne starken äußeren Druck) zu einer Veränderung bereit. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Familie ist entsprechend unwahrscheinlicher und es kommt häufiger zu einer Anrufung des Gerichts mit der dann gegebenen Option von Sorgerechtseingriffen. (b) Zudem weist die Gefährdungsform der innerfamiliären sexuellen Gewalt gegen Minderjährige eine besondere Nähe zum Strafrecht auf, was für die anderen Gefährdungsformen, insbesondere die häufigste Gefährdungsform der Kindesvernachlässigung, nicht gilt. Tatsächlich eingeleitete, oder im Bewusstsein der Erwachsenen in der Familie auch nur drohende Strafverfahren, haben aber im familiengerichtlichen Verfahren häufig zur Folge, dass Erwachsene sehr auf Selbstverteidigung bedacht sind oder sich taktisch verhalten und es entsprechend unmöglich oder sehr schwer sein kann, glaubwürdig gemeinsam getragene Lösungsansätze zu finden.

Die große Mehrzahl aller Studien zu innerfamiliärer sexueller Gewalt gegen Minderjährige hat sich auf (soziale) Väter als Täter konzentriert. Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung in Deutschland hat jedoch gezeigt, dass von sexueller Gewalt in der Kindheit Betroffene zu etwas mehr als 10 % berichten, die Mutter sei am Missbrauch aktiv beteiligt oder sogar alleinige Täterin gewesen (Gerke et al. 2021). Zudem nannte etwas mehr als ein Drittel der Betroffenen die Mutter als Mitwisserin, die aber nichts unternommen habe. In familiengerichtlichen Verfahren wegen innerfamiliärer sexueller Gewalt durch einen (sozialen) Vater muss deshalb zumindest manchmal geprüft werden, ob Gefährdung auch durch die Mutter aufgrund eines (Mit-)Ausübens von oder des Unterlassens von Schutz vor sexueller Gewalt vorliegt (s. a. Sexueller Missbrauch. Bislang marginalisierte Konstellationen sexueller Gewalt und die Rolle digitaler Medien [Kap. 21]).

2 Trennung als in der Regel erforderlicher Bestandteil von Schutzkonzepten

Kann innerfamiliäre sexuelle Gewalt gegen ein Kind oder eine Jugendliche bzw. einen Jugendlichen im familiengerichtlichen Verfahren als hinreichend belegt angesehen werden, d. h. wird eine Kindeswohlgefährdung aufgrund bereits erfolgter innerfamiliärer sexueller Gewalt angenommen, so ist in der Regel eine Trennung von der Person oder den Personen erforderlich, von denen die sexuelle Gewalt ausgegangen ist. Hierfür sind in erster Linie drei Gründe ausschlaggebend. (a) Zunächst droht bei einem weiteren Zusammenleben eine (heimliche) Fortsetzung der sexuellen Gewalt, da die Motivation, sexuelle Gewalt auszuüben, nicht leicht verschwindet, betroffene Kinder unter Umständen manipuliert oder eingeschüchtert sind und eine durchgängige Kontrolle innerhalb der Familie meist unpraktikabel ist. (b) Weiter ist, unabhängig von der Rückfallgefahr, eine Trennung häufig auch deshalb erforderlich, weil die Person oder die Personen, von der bzw. von denen sexuelle Gewalt ausgegangen ist, ein starkes Interesse daran haben, dass betroffene Kinder sich außerhalb der Familie nicht mehr zur sexuellen Gewalt äußern, aber auch innerhalb der Familie das ihnen angetane Leid und Unrecht nicht mehr ansprechen und keine Hilfe in Anspruch nehmen. Dabei hat sich gerade eine aktive, durch Bezugspersonen unterstützte Auseinandersetzung mit dem Erlebten als förderlich für die weitere Bewältigung erwiesen (z. B. Simon et al. 2010). (c) Schließlich gehen von Personen, die sexuelle Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche ausüben, häufig auch andere Gefährdungen aus. In einer amerikanischen Studie wurden etwa für 31 % der (sozialen) Elternteile, denen innerfamiliärer sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde, in den nächsten 4,5 Jahren erneute Gefährdungsmitteilungen zu Kindern in dieser oder einer neuen Familie, mehrheitlich bezogen auf andere Gefährdungsformen als sexuellen Missbrauch registriert (Jonson-Reid et al. 2003).

Vereinzelt wird vorgetragen, die Gefahr eines Rückfalls sei bei innerfamiliärer sexueller Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder bzw. Jugendliche gering, weshalb erhebliche Eingriffe, wie etwa eine Trennung, als Schutzmaßnahme nicht erforderlich oder gerechtfertigt seien. Tatsächlich findet sich auch in Sachverständigengutachten manchmal der (zutreffende) Hinweis auf geringe im Strafrecht registrierte einschlägige Rückfallraten bei innerfamiliären Missbrauchstäter*innen. Beispielsweise fand Gundlach (2020) bei der Auswertung von Daten des Bundeszentralregisters gerechnet auf sechs Jahre zu verschiedenen Formen von Missbrauchsdelikten mit Körperkontakt Rückfallraten hinsichtlich eines erneuten Sexualdelikts in Form einer weiteren Verurteilung von 7,3 % bis 3,4 %. Solche Zahlen können aber aus mehreren Gründen Abwägungsprozessen im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren nicht zugrunde gelegt werden. Zunächst einmal ist bekannt, dass die Mehrheit der Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nie angezeigt wird, in der größten hierzu vorliegenden deutschen Studie etwa 86 % (Stiller & Hellmann 2017). Weiter ist bekannt, dass es in der großen Mehrheit angezeigter Sexualstraftaten nie zu einer Verurteilung kommt, die dann im Bundeszentralregister aufscheinen könnte (Jehle 2012). Bislang gibt es aber für Deutschland keine um diese beiden Fehlerquellen korrigierten realistischeren Schätzungen der generellen Rückfallrate. Zudem berücksichtigen Behauptungen einer generell geringen Rückfallrate andere Gefährdungsformen (bei denen das Strafrecht generell eine geringere Rolle spielt) regelhaft nicht. Ebenso wird die Lebenssituation nicht berücksichtigt. Da im familiengerichtlichen Verfahren vor allem die Rückfallgefahr unter der Bedingung eines Zusammenlebens mit Kindern, also einer Zugänglichkeit (potenzieller) konkreter Opfer, interessiert und Rückfallzahlen für Alleinstehende vermutlich nur begrenzt übertragbar sind. Im Einzelfall können Sachverständige diese Probleme bei der Abschätzung der individuellen Rückfallgefahr über eine Verbindung von statistischen Vorhersage-Methoden und Merkmalen des Einzelfalls berücksichtigen. Allerdings sind dann nur noch grobe Einordnungen eines Falls nach der Höhe des Rückfallrisikos möglich, sodass mit Punktschätzungen (genaue Angabe einer eingeschätzten Rückfallwahrscheinlichkeit, z. B. 30 %), wie sie in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs eine Rolle gespielt haben, sehr vorsichtig umgegangen werden muss (BGH, Beschluss vom 06.02.2019, XII ZB 408/18). Zukünftig sollten Sachverständige wie Gerichte hier zum einen alle Gefährdungsformen in Betrachtungen der Rückfallgefahr einbeziehen und zum anderen grobe Bandbreitenschätzungen (die sich in der o. g. Entscheidung des BGH ebenfalls finden) anstelle pseudoexakter Punktschätzungen verwenden.

Trennungen zwischen Personen, die in der Familie sexuelle Gewalt ausgeübt haben, und betroffenen bzw. weiteren gefährdeten Kindern können in sehr verschiedener Art und Weise erfolgen, etwa ohne staatliches Eingreifen durch Auszug mit oder ohne Elterntrennung. Möglich sind weiter entsprechende Verbote durch das Familiengericht entsprechend § 1666 Abs. 1 Nr. 3 und 4 BGB sowie Inobhutnahmen betroffener Kinder gefolgt von einer Fremdunterbringung, die von den Sorgeberechtigten mitgetragen werden kann oder durch einen Sorgerechtseingriff nach § 1666 Abs. 1 Nr. 6 ermöglicht werden muss. Da es eine Angst vieler, wenn auch nicht aller von innerfamiliärer sexueller Gewalt betroffenen Kinder ist, von der Familie getrennt zu werden (z. B. Paine & Hansen 2002), spricht viel für Lösungen, die eine Trennung von nicht-missbrauchenden Elternteilen und Geschwistern vermeiden. Manchmal ist dies jedoch nicht möglich, insbesondere wenn

  • in der Herkunftsfamilie fortgesetzte Gefahren drohen, etwa durch weitere Familienmitglieder oder neue Partner,

  • betroffene Kinder bzw. Jugendliche in einem solchem Umfang Auffälligkeiten entwickelt haben, dass eine erhebliche elterliche Überforderung eintritt, oder

  • es zu einer massiven einseitigen oder wechselseitigen Distanzierung von der Herkunftsfamilie gekommen ist, etwa ein Kind, das sexuelle Gewalt dem Jugendamt mitgeteilt hat, massiv für ein Zerbrechen der Familie verantwortlich gemacht wird und daher in eine familiär unhaltbare Situation gerät.

Kinder, die sexuelle Gewalt erfahren mussten, sind einem erhöhten Risiko erneuter sexueller Opfererfahrungen im weiteren Lebensverlauf ausgesetzt (Walker et al. 2019), auch wenn sie fremduntergebracht werden (z. B. Helfferich et al. 2019). Verlaufsstudien verdeutlichen die Belastungswirkung zusätzlicher Opfererfahrungen während der Fremdunterbringung (z. B. Witt et al. 2019) und unterstreichen auf diese Weise die Notwendigkeit guter Schutzkonzepte in stationären Einrichtungen und Pflegefamilien, wenn Kinder nach sexueller Gewalt dort platziert werden sollen.

3 Therapeutische Arbeit mit Missbrauchstätern

In manchen Fällen, in denen die beteiligten Erwachsenen eine Wiedervereinigung der Familie anstreben, werden in Verfahren Therapiemöglichkeiten für Personen, die sexuelle Gewalt ausgeübt haben, erörtert. Für eine fachliche Grundorientierung hierzu sind vier Punkte wichtig.

  1. (a)

    Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Wirkungsbefunde nur für spezialisierte Therapieangebote vorliegen. Teilweise ist es nötig, auch andere Störungen, etwa eine Suchterkrankung oder eine Depression, zu behandeln, die die Rückfallgefahr beeinflussen bzw. mit erheblichem Leid verbunden sind. Solche zusätzlichen Therapien reichen allein jedoch nicht aus, weshalb Standards durchgängig spezielle Sachkunde für die Behandlung von Missbrauchstätern verlangen (z. B. IATSO 1998). Allgemeine Formen von Psychotherapie sind daher für die Verhinderungen von Rückfällen und Folgeschädigungen betroffener Kinder als nicht ausreichend belegt zu beurteilen und entsprechende Nachweise von Behandlungen sind im Verfahren ohne größere Relevanz.

  2. (b)

    In der Behandlung von Missbrauchstätern werden regelmäßig verschiedene Bausteine, etwa zur Auseinandersetzung mit schädlichen Überzeugungen (z. B. Kinder genießen Sex mit Erwachsenen), zur Empathieförderung und zur Rückfallprophylaxe eingesetzt, wobei die im Einzelfall vorhandenen Risiken und Behandlungsbedürfnisse berücksichtigt werden sollen. Auch medikamentöse Zusatzbehandlungen zur Senkung sexueller Impulse werden teilweise angeboten und bei Einverständnis der Behandelten eingesetzt. Bei ambulanten Therapien ist die Sicherheit von Kindern im Umfeld des Klienten bzw. der Klientin ein wichtiges Prinzip. Daher benötigen Therapiestellen, gestützt auf Schweigepflichtsentbindungen, in der Regel den Kontakt zu anderen Bezugspersonen betroffener Kinder und anderen beteiligten Institutionen. Ist dies nicht möglich, weil keine Schweigepflichtsentbindung erteilt wird oder das Therapiekonzept dies nicht vorsieht, muss dies Zweifel an der Seriosität des Unterfangens wecken. Einen Überblick über Behandlungsansätze bieten Beech et al. (2009), ein in Deutschland entwickeltes Modell, das auch für Dunkelfeldtäter*innen, also Missbrauchstäter*innen ohne strafrechtliche Verurteilung, gedacht ist, beschreibt Beier (2018). Die vorhandenen Therapiekonzepte benötigen eine mittelfristige Dauer von mindestens einem Jahr oder mehr und sehen in der Regel Formen von Nachbetreuung vor.

  3. (c)

    Die Untersuchung der Wirkung therapeutischer Arbeit mit Missbrauchstätern ist schwierig, weil Rückfälle nicht notwendig bekannt werden und sie in der Grundrate seltener sind als etwa im Bereich der Suchtbehandlung. Zugleich sind Wirkungsnachweise besonders wichtig, da fälschlich als erfolgreich eingeschätzte Behandlungen Kinder gefährden können. Die Befundlage deutet darauf hin, dass Erfolge von Behandlungen generell nicht leicht zu erzielen sind, da sich in Forschungsübersichten teilweise Nulleffekte finden (z. B. Grønnerød et al. 2015) sowie, vor allem in den letzten Jahren, schwach positive Effekte (Gannon et al. 2019). Selbst Nulleffekte auf der Gruppenebene schließen allerdings nicht aus, dass manche Missbrauchstäter in der Therapie deutliche Fortschritte erzielen, was in Verfahren allerdings nur dann eine Rolle spielen kann, wenn ein ausführlicher Bericht der Therapiestelle vorliegt und Jugendamt bzw. Sachverständige mit dem Therapeuten oder der Therapeutin Rücksprache nehmen können.

  4. (d)

    Vereinzelt werden Atteste über eine gerade erst begonnene Therapie vorgelegt und es wird bereits zu diesem Zeitpunkt verlangt, auf familiengerichtliche Maßnahmen zu verzichten. Dies ist jedoch nicht möglich, da die Befundlage nicht darauf hindeutet, dass bereits die Aufnahme einer Therapie das Rückfallrisiko nennenswert senkt. Vorliegende Kriterienkataloge für eine Wiedervereinigung von Familien nach innerfamiliärer sexueller Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche sehen entsprechend durchgängig vor, dass über eine Zeit hinweg die Bereitschaft zur Mitarbeit in der Therapie demonstriert wird und deutliche Fortschritte im Hinblick auf risikosenkende Merkmale erkennbar sind (z. B. Schaffer 2020).

4 Unterstützungsangebote für nicht-missbrauchende Elternteile

Gibt es in einem Fall innerfamiliärer sexueller Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche einen nicht-missbrauchenden Elternteil, so hat dies häufig die Folge, dass ein anfänglich eingeleitetes Kinderschutzverfahren ohne Maßnahmen endet, sofern der betreffende Elternteil einen Antrag nach § 1671 BGB stellt, da solche Entscheidungen generell im Verhältnis zu einem staatlichen Eingreifen nach § 1666 BGB als milderes Mittel anzusehen sind. Ein Kinderschutzverfahren wird häufig nur dann fortgeführt, wenn aufgrund der Vorgeschichte oder der aktuellen Situation Zweifel an der Erziehungsfähigkeit bzw. den Schutzfähigkeiten des betreffenden Elternteils bestehen. In beiden Fallkonstellationen kann es sein, dass nicht-missbrauchende Elternteile sich unter Druck fühlen und fälschlich annehmen, sie dürften jetzt weder Verunsicherung zeigen noch einen Hilfebedarf äußern. Daher ist es sehr wichtig, dass Gericht und Fachkräfte im Verfahren so einheitlich wie möglich signalisieren, dass bezogen auf die aktuelle Situation der Entdeckung innerfamiliärer sexueller Gewalt, unabhängig von sonstigen, im Verfahren zu prüfenden Zweifeln an der Erziehungsfähigkeit, die Mehrzahl nicht-missbrauchender Elternteile eine Krise erlebt und die Fähigkeit von Elternteilen, in dieser Situation Hilfe zu suchen und anzunehmen, positiv zu werten ist.

Tatsächlich ist aus Studien bekannt, dass die Mehrzahl nicht-missbrauchender Elternteile die Situation nach der Entdeckung sexualisierter Gewalt in der Familie als schwere persönliche Krise erlebt. Anfänglich schwankendes oder widersprüchlich erscheinendes Verhalten sowie Wechsel zwischen Phasen drängender Aktivität und hilfloser Untätigkeit sind nicht ungewöhnlich. Teilweise wird auch Erleichterung beschrieben, wenn bereits diffuse Vermutungen bestanden (für eine Forschungsübersicht siehe Daignault et al. 2017). Neben persönlicher Beratung beschreiben McCarthy et al. (2019) im Hinblick auf Elternaufgaben drei Unterstützungskategorien, mit denen sich betroffene Elternteile auseinandersetzen müssen: (1) Ermutigung der Kinder, über die Erfahrungen zu sprechen, (2) Beruhigen und versuchen die Kinder zu trösten sowie (3) Unterstützung der Kinder bei der Orientierung und dem Bewältigungsprozess. Alle drei Aufgaben sind herausfordernd.

So ist es für die emotionale Sicherheit von Kindern von großer Bedeutung, mit Bindungspersonen offen über belastende Erfahrungen sprechen zu können und Unterstützung zu erhalten. Auf der anderen Seite sollen Kinder, denen es schwerfällt, ihre Erfahrungen und ihre Bedürfnisse zu formulieren, im Hinblick auf ein eventuelles Strafverfahren nicht suggestiv beeinflusst werden. Weiter kann es für Elternteile schwierig sein, Reaktionen und Symptome der Kinder zu verstehen und angesichts einer oft erst verzögerten Mitteilung und Öffnung von Kindern nicht in eine Vorwurfshaltung zu verfallen oder aufgrund von Schuldgefühlen das erzieherische Setzen von Grenzen einzustellen. Vielfach benötigen nicht-missbrauchende Elternteile daher Psychoedukation zu Symptomen und Reaktionen von Kindern auf sexuelle Gewalt, zu den Vorgehensweisen von Tätern bzw. Täterinnen und der Aufrechterhaltung eines erzieherischen Alltags. Dies kann die Anbindung an eine Fachberatungsstelle oder eine Erziehungsberatungsstelle erfordern. Je nachdem, wie ausgeprägt die persönliche Belastung eines Elternteils ist, kann auch zeitweise praktische Unterstützung in Form einer aufsuchenden ambulanten Hilfe zur Gewährleistung einer klaren und beständigen Tagesstruktur sinnvoll sein.

Krisenbedingte, vorübergehende Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit bei nicht-missbrauchenden Elternteilen sind in der Regel über ein ambulantes Hilfekonzept aufzulösen und bedürfen weder einer Herausnahme noch eines Eingriffs in das Sorgerecht. Hinweise auf bereits vor der Krise bestehende, möglicherweise erhebliche Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit können aber eine genauere Analyse (s. a. Vermittlung von Regeln und Förderung [LE 3.5 F 2], Psychische Erkrankung und Erziehungsfähigkeit [Kap. 28]) rechtfertigen, obwohl dies kurzfristig von den betroffenen Elternteilen meist als zusätzliche Belastung zur Unzeit wahrgenommen wird. Vorgängiges Ziel ist auch hier die Wiederherstellung der Erziehungsfähigkeit mittels geeigneter Angebote. Jedoch kann es sein, dass die Kombination von chronischen Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit mit akuten Belastungen nach Bekanntwerden der sexuellen Gewalt zu einem zeitweisen Zusammenbruch von Fürsorge und Erziehung führt, der nur durch eine vorübergehende Fremdunterbringung betroffener Kinder aufgefangen werden kann.

5 Unterstützungsangebote für betroffene Kinder und Geschwister

Als gesicherter Befund muss gelten, dass Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben und die behandlungsbedürftige Symptome bzw. psychische Belastungen entwickeln, zu einem erheblichen Teil keine professionelle Unterstützung erhalten (Pawils et al. 2017). Dies gilt auch für Kinder und Jugendliche, selbst wenn sie in öffentlicher Verantwortung aufwachsen, also in einer Pflegefamilie oder stationären Einrichtung untergebracht sind (Münzer et al. 2015). Die fehlende Versorgung trägt zu vielfach chronischen Belastungen und Beeinträchtigungen bei. Häufig wird fälschlich angenommen, dass Belastungen und Auffälligkeiten nach einem Ende der sexuellen Gewalt von selbst verschwinden. Geschieht dies nicht, verstreicht aufgrund von anschließenden Wartezeiten bei Therapiestellen leicht ein längerer Zeitraum, bis Kinder und Jugendliche Entlastung erfahren und Hilfe erhalten. Daher ist ein solches Vorgehen als unfachlich abzulehnen. Stattdessen ist es sinnvoll, bei Kindern bzw. Jugendlichen, die nach sexueller Gewalt psychisch belastet oder auffällig erscheinen, umgehend eine kinder- und jugendpsychiatrische bzw. kinder- und jugendpsychotherapeutische Abklärung zu initiieren. Selbst dann wird es aufgrund von Wartezeiten und, bei einem Teil betroffener Kinder und Jugendlicher, aufgrund von erst im Verlauf allmählich sichtbar werdenden Belastungen häufig einige Zeit dauern, bis benötigte therapeutische Hilfen eingeleitet werden.

Ebenfalls problematisch ist die manchmal in Ermittlungsverfahren geäußerte Ansicht, der Beginn von therapeutischen Behandlungen solle bis zum Abschluss des Strafverfahrens aufgeschoben werden, selbst wenn betroffene Kinder bzw. Jugendliche psychisch belastet erscheinen. Zumindest für die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, deren Wirksamkeit als gut belegt gelten kann, deuten die Befunde allerdings eher darauf hin, dass mit therapiebedingt abnehmender Symptomatik die Fähigkeit zunimmt, schwierige Situationen, etwa ein Strafverfahren, durchzustehen (Deblinger et al. 2017), während es bislang keinen Anhaltspunkt für eine verzerrende Wirkung auf Gedächtnisinhalte gibt (s. a. Sexueller Missbrauch. Definition, Prävalenzen, Schädigungsmechanismen und Folgen [Kap. 23]). Dies gilt möglicherweise nicht für alle Therapieformen (Otgaar et al. 2021), sodass hier dringender Forschungsbedarf besteht, um minderjährige Zeuginnen und Zeugen sowie ihre Bezugspersonen nicht in einer Situation zu belassen, in der sie wählen müssen zwischen Hilfe und dem eventuell vorhandenen Ziel, einen Täter bzw. eine Täterin strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen (Bublitz 2020).

Es gibt mittlerweile gute, auf ihre Wirkung hin überprüfte Formen der Psychotherapie für die meisten Formen psychischer Störungen, die bei Kindern und Jugendlichen nach erfahrender sexueller Gewalt auftreten können, etwa posttraumatische Belastungsstörungen (für eine Übersicht siehe Jensen et al. 2020; s. a. Sexueller Missbrauch. Definition, Prävalenzen, Schädigungsmechanismen und Folgen [Kap. 23]). Bezugspersonen, wie nicht-missbrauchende Elternteile, Pflegeeltern und Bezugserzieher*innen in stationären Einrichtungen, werden dabei einbezogen. Für jüngere Kinder stehen spieltherapeutische Verfahren zur Verfügung. Ziel ist immer ein Abbau von Leidensdruck und Symptomen sowie eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Erlebten, sodass wieder Entwicklungs- und Zukunftsperspektiven in den Vordergrund rücken. Zeigen sich Kinder belastet und verunsichert, ohne dass die Schwelle zur Behandlungsbedürftigkeit überschritten wird, kann die Anbindung an eine Beratungsstelle hilfreich und ausreichend sein, wobei es hier Beratungskonzepte speziell für Mädchen und Jungen gibt (z. B. Mosser 2009), unter anderem da die Entwicklung von Intimität und Sexualität einen Bereich darstellt, in dem viele Betroffene sich verunsichert fühlen.

Im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren spielen Unterstützungs- und Hilfebedarfe betroffener Kinder auf dreierlei Weise eine Rolle. Zunächst einmal (a) ist das Verfahren einfach ein Ort, an dem sich Fachkräfte und nicht-missbrauchende Sorgeberechtigte begegnen und Informationen über lokal verfügbare Hilfeangebote für Kinder bzw. Jugendliche weitergegeben werden können, etwa von Fachkräften des Jugendamtes an Elternteile. Zudem kann der manchmal von Eltern geäußerten Ansicht, das Kind solle am besten jetzt die Missbrauchserfahrung vergessen, widersprochen werden, da sich diese Strategie in Längsschnittstudien als kontraproduktiv erwiesen hat (z. B. Simon et al. 2010). (b) Weiter ist die demonstrierte Bereitschaft und Fähigkeit, Unterstützungs- und Hilfebedarfe beim Kind wahrzunehmen und darauf angemessen zu reagieren, ein Aspekt bei der Beschreibung der Erziehungsfähigkeit eines nicht-missbrauchenden Elternteils, sodass in Verfahren, die die elterliche Sorge nach Hinweisen auf sexuelle Gewalt zum Gegenstand haben, dieser Aspekt überprüft werden muss. Schließlich können im Einzelfall (c) Symptome und Belastungen eines Kindes, die die weitere Entwicklung gefährden, und auf die Sorgeberechtigte nicht oder nicht angemessen reagieren, Auflagen oder Schutzmaßnahmen rechtfertigen. Dies wäre beispielsweise bei deutlichen Hinweisen auf eine posttraumatische Belastungsstörung eines Kindes der Fall, auf die nicht mit einer diagnostischen Abklärung und einer Behandlung reagiert wird, da die Störung unbehandelt nicht nur mit vermeidbarem Leid verbunden ist, sondern auch ein erhebliches Risiko für eine Chronifizierung birgt (z. B. Steinert et al. 2015). Da Schädigungsprozesse innerpsychisch in Kindern weiterarbeiten können, verfehlen Kinderschutzverfahren ihr Ziel der Abwehr bestehender Gefahren unter Umständen, wenn der Fokus ausschließlich auf der Beendigung laufender sexueller Gewalt liegt und nicht auch nach innerpsychisch fortlaufenden Schädigungsprozessen beim Kind gefragt wird.

6 Verdachtsklärung im familiengerichtlichen Verfahren als Grundlage für Schutzkonzepte und Hilfen

Im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren gelten nicht die Beweisschwellen eines Strafverfahrens. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verringert vielmehr die Schwere des drohenden Schadens im Fall eines (fortgesetzten) sexuellen Missbrauchs den Grad der benötigten Sicherheit bei der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, um eine Kindeswohlgefährdung und Schutzmaßnahmen vom Familiengericht bejahen zu können (z. B. BGH Beschluss vom 23.11.2016 – XII ZB 149/16). In Einzelfällen wurde hier schon eine Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts von 30 % (BGH Beschluss vom 23.11.2016 – XII ZB 149/16 Rn. 8) oder sogar 25 % (OLG Frankfurt Beschluss vom 28.02.2019 – 5 UF 200/18 Rn. 53) als ausreichend für Schutzmaßnahmen angesehen. Steht im Raum, dass sich innerfamiliäre sexuelle Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche bereits ereignet hat, so bemisst sich die Wahrscheinlichkeit eines (weiteren) Schadenseintritts an drei Faktoren: der Sicherheit, mit der von bereits erfolgter sexueller Gewalt ausgegangen werden muss, der Wahrscheinlichkeit einer Fortsetzung der sexuellen Gewalt oder einer anderen Form von Gefährdung und den Schutzfähigkeiten eventuell vorhandener nicht-missbrauchender Sorgeberechtigter.

Für die Beurteilung der Sicherheit, mit der von bereits erfolgter sexueller Gewalt gegen ein oder mehrere Kinder in einer Familie ausgegangen werden muss, existieren Modelle zu denjenigen Informationsquellen, die prinzipiell zu einer Klärung beitragen können (Unterstaller 2006; Vrolijk-Bosschaart et al. 2018). Zu nennen sind hier (a) Geständnisse, (b) Sachbeweise (z. B. Videoaufnahmen), (c) Beobachtungen Dritter (z. B. Beobachtungen nicht direkt betroffener Geschwister), (d) (rechts-)medizinische Befunde, (e) Verhaltensanzeichen beim betroffenen Kind und (f) Angaben des betroffenen Kindes. Viele dieser Informationen liegen selten (z. B. Beobachtungen Dritter, aussagekräftige rechtsmedizinische Befunde) oder nur bei spezifischen Fallkonstellationen vor (z. B. wenn das familiengerichtliche Verfahren aus einem Ermittlungsverfahren hervorgegangen ist und bei einer Hausdurchsuchung entsprechende Bilddateien sichergestellt wurden). Trotzdem ist es sinnvoll, sich der Aufgabe der Verdachtsklärung mit Übersicht zu nähern und gegebenenfalls noch nicht genutzte Möglichkeiten ins Auge zu fassen, wenn, nach Lage des Falls, aussagekräftige Ergebnisse möglich erscheinen (z. B. je nach geschilderten sexuellen Handlungen und verstrichener Zeit eine rechtsmedizinische Untersuchung). Eine Besonderheit stellen Verhaltensanzeichen beim Kind dar, insbesondere sexualisiertes Verhalten im Kindergartenalter, denen zwar das Potenzial zugesprochen wird, einen Verdacht zu begründen, die aber verschiedene Hintergründe haben können und daher allein nicht als ausreichend aussagekräftig angesehen werden um zu entscheiden, dass wahrscheinlich sexuelle Gewalt stattgefunden hat (Friedrich 2002).

Da andere Informationsquellen vielfach nicht zu aussagekräftigen Ergebnissen führen oder nicht verfügbar sind, kommt den Angaben betroffener Kinder häufig eine herausgehobene Stellung zu. So konnten in mehreren Studien Schutzmaßnahmen meist nur dann ergriffen werden, wenn betroffene Kinder sich gegenüber Fachkräften äußerten (z. B. Keary & Fitzpatrick 1994). Allerdings ist es für betroffene Kinder alles andere als einfach, sich zu äußern (s. a. Wie verstehen Kinder Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch [Kap. 18]). Daher spielt eine unterstützende, aber nicht suggestive Form der Befragung mit ausreichend Zeit für den Aufbau einer Vertrauensbeziehung eine wichtige Rolle (s. a. Rechtliche Vorgaben zur Kindesanhörung und kindgerechte Anhörung [Kap. 5]). Angaben von Fachkräften an Beratungsstellen, die ein Kind über längere Zeit begleiten konnten, können deshalb hier im Rahmen von Stellungnahmen in Einzelfällen wichtige Hinweise geben. Bei äußerungsbereiten und -fähigen Kindern, die keinen stärkeren suggestiven Einflüssen ausgesetzt waren, kann eine aussagepsychologische Analyse der Angaben unter Umständen Belege für erlebnisbegründete Angaben eines Kindes liefern (für eine kurze Einführung siehe Volbert 2016, für eine ausführlichere Darstellung siehe Greuel et al. 1998). Teil der aussagepsychologischen Methodologie ist eine gründliche Analyse möglicher Fehlerquellen oder Motive für falsche Angaben eines Kindes. Allerdings kommt die Methode aus dem Kontext des Strafrechts mit seiner Unschuldsvermutung. Dabei gelingt die Anpassung an den Kontext des Kinderschutzrechts mit der deutlich anderen Gewichtung verschiedener prinzipiell möglicher Fehlentscheidungen nicht immer. Daher ist hier besondere Aufmerksamkeit geboten. Wie auch bei der Diagnostik zu anderen Gefährdungsformen ist es von großer Bedeutung, den Prozess der Abklärung mit innerer Offenheit zu starten, da sich sonst Bestätigungsfehler einstellen können, d. h. insbesondere solche Informationen wahrgenommen und berücksichtigt werden, die eigene Hypothesen stützen (z. B. Spratt et al. 2015).

Scheint es hinreichend sicher, dass sich in einer Familie sexuelle Gewalt gegen ein Kind bzw. eine Jugendliche oder einen Jugendlichen ereignet hat, so spielen in der Folge die Wahrscheinlichkeit erneuter Gefährdung durch die Person, von der die sexuelle Gewalt ausgegangen ist, sowie die Schutzfähigkeiten nicht-missbrauchender Sorgeberechtigter eine Rolle. Die Einschätzung der Gefahr fortgesetzter sexueller Gewalt durch Missbrauchstäter*innen kann meist nur im Rahmen eines Sachverständigengutachtens eingeschätzt werden, weshalb sich entsprechende Hinweise im Fachtext zur Bewertung von Sachverständigengutachten finden (Auswertung und Qualitätsprüfung von Sachverständigengutachten [Kap. 40]). Wichtig ist, dass in manchen Fällen nicht nur die Gefahr fortgesetzter sexueller Gewalt, sondern auch das Risiko anderer Gefährdungsformen geprüft werden muss, da manche Missbrauchstäter*innen Kinder auch körperlich misshandeln und es zudem eine hohe Überlappungsrate zwischen innerfamiliärer sexueller Gewalt und Kindesvernachlässigung gibt (Witt et al. 2017). Forensisch-psychiatrische Sachverständigengutachten zum Rückfallrisiko bei Missbrauchstäter*innen prüfen die Gefahr anderer Gefährdungsformen nicht automatisch, weshalb explizit danach gefragt werden sollte. Bestehen Zweifel an den Schutzfähigkeiten eines nicht-missbrauchenden Elternteils, so empfehlen Graf et al. (2018) im Verfahren insbesondere folgende Aspekte zu fokussieren: (a) realistische Einschätzung von Risiken durch den Partner bzw. die Partnerin, der Belastung des Kindes und eigener Handlungsmöglichkeiten, (b) Qualität der Vertrauensbeziehung zwischen Kind und nicht-missbrauchendem Elternteil, (c) auf die Partnerschaft bezogene (z. B. starke Verlustangst) oder generelle (z. B. Suchterkrankung) Einschränkung der Schutzfähigkeiten.

Für alle Schutzmaßnahmen nach § 1666 Abs. 3 BGB gilt, dass sie nur möglich sind, wenn das Gericht in der Zusammenschau und Würdigung aller Informationen zu dem Schluss kommt, dass die Anzeichen für sexuelle Gewalt und für eine fortbestehende Gefahr soweit gesichert werden konnten, dass eine vorliegende Kindeswohlgefährdung zu bejahen ist. In der Jugendhilfepraxis manchmal anzutreffende Überlegungen, dass bei wenig eingreifenden Maßnahmen (z. B. Auflagen) die Gefahr vielleicht weniger belegt sein müsse, entsprechen nicht der Rechtslage. Sowohl Familiengerichte als auch Jugendämter im jugendamtlichen Kinderschutzverfahren nach § 8a SGB VIII stehen am Ende des Verfahrens unter dem Zwang zu entscheiden, ob sie eine Kindeswohlgefährdung als gegeben ansehen oder nicht. Eine Grau- oder Übergangsstufe, mit einem ungeklärt bleibenden Verdacht, die aber trotzdem manche Eingriffe möglich macht, existiert rechtlich nicht.

Dies hat zur Folge, dass es Fälle gibt, in denen ein Unbehagen bestehen bleibt, eine Kindeswohlgefährdung aber nicht bejaht werden kann. In solchen Fällen endet das Verfahren mit einem Beschluss, dass von Maßnahmen nach § 1666 BGB abgesehen wird. Trotzdem kann versucht werden, Sorgeberechtigte im Rahmen der Erörterung nach § 157 FamFG zur freiwilligen Inanspruchnahme von Hilfen und zur Einwilligung in ein Schutzkonzept zu bewegen. Angesichts der Belastungen durch ansonsten immer wieder drohende Kinderschutzverfahren, stimmen Eltern dann teilweise einer Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zu. Zu denken wäre in einem solchen Fall etwa an eine Erziehungsbeistandschaft, um betroffene Kinder und Jugendliche im Fortgang zu unterstützen oder an eine Kinderpsychotherapie, wenn etwa sexualisiertes Verhalten bei der Initiierung des Verfahrens eine wichtige Rolle gespielt hat. Zudem können Schweigepflichtsentbindungen, etwa der Kita oder von Schule und Hort gegenüber dem Jugendamt, von Bedeutung sein.