Im Zuge von Migrations- und Einwanderungsprozessen stellen Familien mit Migrationshintergrund in der heutigen Zeit einen großen und selbstverständlichen Teil der Bevölkerung dar. Nach dem Stand im Jahr 2020 haben über 30 % aller jungen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Die Arbeit der Sozialen Dienste im Kinderschutz muss sich daher der kulturellen und sozialen Heterogenität von Familien annehmen. Welche Anforderungen ergeben sich aus dieser Vielfalt für die Kinder- und Jugendhilfe, die Familiengerichtsbarkeit und den Kinderschutz? Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie sich die Bevölkerung in Deutschland nach Migrationsstatus und Herkunftsländern aufschlüsselt. Anschließend werden die Bedeutung und Merkmale migrationssensiblen Fallverstehens und Folgen für die Gestaltung von Hilfen im Kinderschutz aufgezeigt.

1 Kinderschutz in Migrationsfamilien

Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde, was im Jahr 2019 auf jede vierte Person in Deutschland zutraf. Diese Definition umfasst „zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen“ (Statistisches Bundesamt (Destatis) 2020).

Im Explorationsgespräch sollte die Fachkraft ihr Interesse und unterstützende Haltung signalisieren und mit ihren offenen und altersentsprechend formulierten (bei kleineren Kindern konkreteren und genaueren) Fragen zum Erzählen animieren, damit die aktuelle migrationsbiografische Situation eruiert werden kann (z. B. Wo bist du zur Schule gegangen? Welche Erinnerungen hast du an die Schulzeit? Bzw. welche Erinnerungen haben Sie an die Schulzeit Ihres Kindes?). Wenn dies relevant ist, können die aufenthaltsrechtliche Situation und etwaige damit verbundene Sorgen und Probleme erfragt werden. Außerdem sollte sich die Fachkraft für die Anforderungen an die Akkulturation interessieren, vor welcher die einzelnen Familienmitglieder stehen (siehe nachstehende Übersicht). Im Rahmen von Gesprächen mit Kindern sollte anfangs die Fachkraft sich selber und ihre Aufgaben kurz vorstellen, um im zweiten Schrit den Sinn bzw. das Ziel und das Thema des Gesprächs zu benennen.

Akkulturation

Als psychologisches Konzept beschreibt Akkulturation einen Prozess, den Individuen in Reaktion auf einen sich verändernden kulturellen Kontext und auf einen länger andauernden Kontakt zwischen Personen mit mehreren kulturellen Hintergründen durchlaufen. Als Strategien werden unterschieden die

  • Assimilation, also die Übernahme der Kultur der Mehrheitsgesellschaft unter Ablehnung der bisherigen eigenen Kultur,

  • Integration, also ein Streben nach Multikulturalität, bei der die mitgebrachte eigene Kultur in die Mehrheitsgesellschaft getragen wird,

  • Segregation bzw. Abgrenzung, also ein Erhalt der eigenen kulturellen Werte unter Vermeidung von Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft, und

  • Marginalisierung, also ein Bruch mit der bisherigen eigenen Kultur unter gleichzeitiger Ablehnung der Kultur der Mehrheitsgesellschaft (Berry 1997; Berry et al. 2002).

Diversitätsbewusstsein im Kinderschutz kann als grundlegende selbstreflexive Haltung aller im Verfahren Beteiligten definiert werden (Hamburger 2012). Diese Haltung beinhaltet ein Bewusstsein möglicher Auswirkungen von Migrationsprozessen auf Familien und Familienangehörige (Jagusch 2018). Zudem bringen Familienangehörige vor dem Hintergrund von Herkunft und Migrationsgeschichte möglicherweise besondere Vorverständnisse mit. Diese können Erziehungsziele oder legitime Formen des Ausübens elterlicher Autorität betreffen. Sie können sich beziehen auf Wege familiärer Entscheidungsfindung, Beziehungen zwischen den Generationen oder Geschlechtern oder auf das Verhältnis zwischen Familie und Außenwelt, etwa im Hinblick auf ratsame Formen von Offenheit gegenüber und Kooperation mit staatlichen Stellen sowie vorstellbare und akzeptable Formen von Hilfe.

Diese Vorverständnisse können in einem Spannungsverhältnis mit den Erwartungen und Vorstellungen stehen, die ihnen hier begegnen. Das notwendige Diversivitätsbewusstsein tifft im Kinderschutzverfahren auf universalistische, also nicht zur Disposition stehende, Rechte. So haben alle Kinder das Recht auf gewaltfreie Erziehung sowie auf Schutz vor Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch. Alle Sorgeberechtigten und Kinder haben das Recht auf Beachtung ihrer Beteiligungsrechte. In allen Fällen mit vorliegender Kindeswohlgefährdung stellt die Zusammenarbeit mit den Eltern die bevorzugte Lösung dar und eventuell doch notwendige Eingriffe sind auf dasjenige Mindestmaß zu begrenzen, das zur Gefährdungsabwehr ausreicht. Unterhalb der Gefährdungsschwelle und im Rahmen der Gesetze können zudem alle Eltern selbst entscheiden, wie sie für ihre Kinder sorgen und diese erziehen.

Die genannten universalistischen Normen geben nun nicht nur einen Rahmen ab, sondern verlangen geradezu nach Migrationssensibilität. Denn ohne Respekt und ein Anknüpfen an Vorerfahrungen sowie ein Eingehen auf Vorverständnisse lassen sich Beteiligungsrechte nicht umsetzen und möglichst milde Mittel nicht ausloten. Die Suche nach geeigneten Hilfe- und Schutzkonzepten verlangt weiter ein Verständnis davon, wie Eltern und Kinder auf die spezifischen Herausforderungen antworten, die mit der familiären Migrationsgeschichte auf der psycho-emotionalen, sozio-ökonomischen, rechtlichen, kulturellen und bildungsbezogenen Ebene verknüpft sind (Jagusch 2018).

Migrationssensibilität bedeutet allerdings auch, Schutzansprüche von Kindern im Hinblick auf Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch nicht herunterzuschrauben, weil Zugang und Verständigung erschwert sind bzw. gefährdende Praktiken als kulturell üblich dargestellt werden. Fachkräfte, die wiederholt solche Verständigungen mit Familien erlebt haben, dürfen wachsam sein, nicht in kulturessenzialistische, stereotypisierende Deutungsweisen zu verfallen, d. h. Verständnisse entwickeln, wonach Kulturen eine stark vereinheitlichende und prägende Kraft darstellen, sodass Familien aus einer Herkunftskultur einander stark ähneln. Die Biografien und Geschichten von Familien mit Migrationshintergrund sind vielmehr von großer Pluralität gekennzeichnet, ebenso das Verhältnis zur Herkunftskultur. Fachkräfte sollten den Familienmitgliedern daher mit einer „professionellen Neugier“ begegnen und sich für deren jeweilige Selbstverständigung und etwaige kulturelle Verortung interessieren (Kelly & Meysen 2016). Migrationssensibilität als Kompetenz soll daher helfen, tatsächliche Besonderheiten zu erfassen und gleichzeitig vermeintliche, stereotypisierte kulturelle Differenzen zu erkennen und zu hinterfragen (Jagusch et al. 2012). Bezüglich anderer Verfahrensbeteiligter am familiengerichtlichen Verfahren und ihrer Professionen steht die Diskussion aber erst am Anfang.

Der Migrationshintergrund einer Familie ist nicht a priori als Risikofaktor im Kinderschutzkontext zu werten, d. h. Gefährdungsmitteilungen bei den Jugendämtern und eine dortige Bewertung der Situation als Kindeswohlgefährdung betreffen Familien mit Migrationshintergrund entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung (MFFJIV Rheinland-Pfalz 2017; Teupe 2012). Als Risikofaktoren treten hier vielmehr Merkmale von Familien, wie beispielsweise Armut, ein Familienstatus als Alleinerziehend (AWO Bundesverband e. V. 2010), unsicherer Aufenthaltsstatus sowie Bildungsbenachteiligung hervor, bei denen Familien mit Migrationshintergrund teilweise überproportional (z. B. Armut), teilweise unterproportional betroffen sind (z. B. Status als Alleinerziehend) (bke 2018). In der einzigen bislang vorliegenden Studie zu familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren waren Eltern mit Migrationshintergrund allerdings überrepräsentiert (Bindel-Kögel & Seidenstücker 2017, S. 125). Zwar misslingt die Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Familien in Gefährdungsfällen nur in einer kleinen Minderheit der Fälle so sehr, dass die Jugendämter nicht nur eine Kindeswohlgefährdung, sondern auch eine fehlende Bereitschaft bzw. Fähigkeit der Eltern zur Abwehr der Gefährdung sehen und daher das Familiengericht anrufen. Wenn dies geschieht, könnten aber Verständigungsbarrieren und kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen, sodass es zu einer Überrepräsentation von Familien mit Migrationshintergrund kommt.

Für die in vielen Nachbarländern heiß diskutierte Frage, ob im Kinderschutzsystem migrationsbezogene Diskriminierung stattfindet, ist allerdings nicht allein entscheidend, ob bei Familien mit Migrationshintergrund im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil häufiger oder seltener der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung aufkommt. Vielmehr stellt sich, mit mindestens gleichem Gewicht, die Frage, ob Kinder, die Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erfahren, und Familien, in denen Gefährdung auftritt, unabhängig von einem Migrationshintergrund einen ähnlich guten Schutz bzw. ähnlich gute Unterstützung erfahren. Hier gibt es insofern Hinweise auf Herausforderungen, als in Dunkelfeldstudien Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger von schwerer körperlicher Gewalt durch Eltern berichteten (z. B. Baier et al. 2009; Bergmann et al. 2019). Das Mehr an Misshandlungsfällen, die das Jugendamt erreichen, hat allerdings nicht das Ausmaß, wie es von Erhebungen im Dunkelfeld her zu erwarten wäre. Daher kann es sein, dass das bestehende Kinderschutzsystem hier noch nicht hinreichend sensibilisiert ist oder wichtige Zugangsbarrieren existieren. Beispielsweise gibt es in Familien mit Migrationshintergrund seltener Selbstmeldungen durch Eltern oder das nahe soziale Umfeld (Paz Martínez & Artz 2017).

Dennoch scheinen empirischer Evidenz zufolge Familien mit Migrationshintergrund in geringem Maße stärker belastet zu sein als Familien ohne Migrationshintergrund. Scheinbar mangelt es diesen Familien oftmals an Kenntnissen über die verfügbaren Unterstützungsangebote und es besteht Unvertrautheit mit dem deutschen Sozial- und Gesundheitssystem, woraus eine geringe Nutzung der meisten Angebote (mit Ausnahme von Schwangerschaftsberatung) resultiert (Salzmann et al. 2018). Allerdings deutet sich in den Hilfen zur Erziehung eine Trendwende an: Der Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund in den Hilfen zur Erziehung ist zwischen 2009 und 2016, jedoch überproportional zwischen 2014 und 2016, gestiegen. Diese Entwicklung geht vor allem auf den starken Anstieg der Fallzahlen für junge Menschen mit Fluchterfahrungen zurück, die stationär untergebracht worden sind (Lochner & Jähnert 2020). Familien mit Migrationshintergrund sind in der Erziehungsberatung weniger, in den Hilfen zur Erziehung des Allgemeinen Sozialen Dienstes häufiger anzutreffen (Teupe 2012). Die wichtigsten Initiatoren von Erziehungsberatungen für Familien mit Migrationshintergrund sind Kindertageseinrichtungen und Schulen.

2 Migrationssensible Fallbearbeitung

2.1 Hausbesuche und Inanspruchnahme von Hilfen

Alle Vorschriften, die Verfahren des Kinderschutzes bei Jugendämtern und Familiengerichten betreffen, gelten unterschiedslos für Familien mit und ohne Migrationshintergrund. Zumindest für Kinderschutzverfahren bei Jugendämtern sind jedoch in der Praxis auftretende Unterschiede belegt. Laut den Befunden einer Vollerhebung der Kinderschutzverdachtsfälle in mehreren Jugendämtern wird Familien mit Migrationshintergrund deutlich seltener ein (unangekündigter) Hausbesuch abgestattet (47 % vs. 64 % in der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund, vgl. Teupe 2012). Stattdessen werden die Familien häufiger zu einem Gespräch ins Jugendamt eingeladen. Dies hat neben pragmatischen Gründen (das einfachere Hinzuziehen eines Dolmetschers im Amt) auch noch weitere Ursachen: Die (familiäre) Situation wird als unvorhersehbarer und komplexer wahrgenommen. Zudem wird befürchtet, dass Hausbesuche vergleichsweise stärker als Eingriff in die Privatsphäre verstanden werden könnten und der eigene Schutz weniger gewährleistet werden könne. Im Ergebnis fallen Gefährdungseinschätzungen in Familien mit Migrationshintergrund häufiger uneindeutig aus: In 43 % der Gefährdungsmitteilungen zu Familien mit Migrationshintergrund wurde eine Gefährdung als nicht auszuschließen beurteilt, während dies in lediglich 34 % der Gefährdungsmitteilungen zu Familien ohne Migrationshintergrund der Fall war (Teupe 2012).

Auch hinsichtlich der Gewährung bzw. Inanspruchnahme von Hilfen im Vorfeld familiengerichtlicher Verfahren finden sich bei Familien mit und ohne Migrationshintergrund einige Unterschiede. Insbesondere wurden bei vorliegender oder nicht auszuschließender Gefährdung seltener Hilfen zur Erziehung vereinbart und auch tatsächlich durchgeführt und, wenn sie durchgeführt wurden, fiel die Erfolgsbewertung durch die Fachkräfte zudem schlechter aus. Rückfragen bei den Fachkräften ergaben, dass Hilfsangebote teilweise abgelehnt wurden, aufgrund einer Aktivierung familiärer bzw. sozialräumlicher Ressourcen verzichtbar erschienen oder betroffene Kinder ins Ausland gebracht wurden bzw. die Familie emigrierte (Teupe 2012). In einer anderen Untersuchung senkte in Deutschland insbesondere die Anwesenheit eines Vaters mit Migrationshintergrund in der Familie die Wahrscheinlichkeit, dass nach einer Gefährdungsmitteilung Hilfen eingeleitet wurden (Floor et al. 2020), möglicherweise weil Vorbehalte mancher Väter mit Migrationshintergrund gegen Hilfen besonders schwer abzubauen waren. Für familiengerichtliche Kinderschutzverfahren bedeuten diese Befunde, dass Gerichte und an Verfahren beteiligte Fachkräfte gehäuft damit rechnen müssen, dass zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung:

  • der Einblick in die Lebenswelt der Familie noch lückenhaft ist,

  • Unsicherheiten im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung bestehen,

  • ambulante Hilfen noch nicht erprobt werden konnten,

  • Vorbehalte in der Familie gegen Hilfen bestehen bzw. damit gedroht wird, betroffene Kinder ins Ausland zu verbringen.

2.2 Verständigung

Für eine migrations- und kultursensible Verfahrensgestaltung ist grundlegend sicherzustellen, dass betroffene Eltern und Kinder das Geschehen sprachlich verstehen und sich einbringen können. Rechtlich ergibt sich dies aus dem Recht auf ein faires Verfahren (z. B. Art. 6 EMRK), dem Anspruch auf rechtliches Gehör (z. B. Art. 103 Abs. 1 GG; § 185 Abs. 1 GVG). Die Verantwortung für die gegebenenfalls notwendige Beiziehung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers liegt beim Gericht, das entscheiden muss, ob Eltern bzw. Kinder der deutschen Sprache mächtig sind. Sinnvollerweise sollten aber Jugendämter, Verfahrensbeiständ*innen oder andere professionelle Beteiligte das Gericht informieren, wenn sie aus Gesprächen mit Eltern bzw. Kindern heraus den Eindruck gewinnen, dass Sprachkenntnisse nicht ausreichen. Zudem wird das Gericht bei den ersten Terminen im Rahmen der Einführung in den Verfahrensgegenstand und der Anhörungen von Eltern und Kindern sinnvollerweise darauf achten, ob die passive (Verständnis) und aktive (Äußerungsfähigkeit) Sprachfähigkeit gegeben scheint. Manchmal kommt es zu Fehleinschätzungen, wenn Eltern eine gute Alltagssprachkompetenz aufweisen, aber mit den vielen Spezialausdrücken im Gerichtsverfahren überfordert sind. Hierauf hat unter anderem die „Bad Boller Erklärung zur interkulturellen Kompetenz in der deutschen Justiz“ (2011) hingewiesen. Fehleinschätzungen können sich auch ergeben, wenn Eltern häufig nicken, sich aber nicht äußern oder Vorschlägen zur Abwendung einer Gefährdung umstandslos zustimmen. Deshalb kann es manchmal sinnvoll sein, Eltern zu bitten, in eigenen Worten wiederzugeben, worum es im Verfahren geht und wozu sie sich im Hinblick auf eine Abwehr von Gefährdung verpflichten.

Das Verständnis von Gegenstand und Ablauf des Verfahrens kann eine größere Anforderung darstellen als das Verständnis der im Verfahren gebrauchten Wörter und Sätze. Das Verständnis des Verfahrens berührt, jenseits der Sprachkompetenz, auch kulturell beeinflusste Bilder von Recht und Rechtspraxis, Kinderschutz und des richtigen Verhaltens bei Gericht. Deshalb kann es bei Eltern mit Migrationshintergrund sinnvoll sein, das Kinderschutzverfahren und seine Grundprinzipien (z. B. das Verhältnismäßigkeitsprinzip) ausführlicher zu beschreiben als sonst, die Eltern zu Nachfragen aufzufordern und sich zu erkundigen, wie nach Ansicht der Eltern ähnliche Fälle in der Herkunftskultur ihrer Familie gehandhabt werden würden, damit die Distanz eingeschätzt werden kann, die Eltern überwinden müssen, wenn sie sich ins Verfahren einbringen wollen (für eine vertiefende Erörterung s. a. Kriz & Skivenes 2010). Wenn Übersetzungsdienste in Anspruch genommen werden, wird in der Literatur empfohlen, auf professionelle Übersetzer*innen, möglichst mit einer Fortbildung zur Tätigkeit im Familiengericht bzw. im Kinderschutz, zurückzugreifen und die Eltern ausdrücklich über Regeln zu deren Verschwiegenheit zu informieren (Jagusch 2012). Um den Zugang zu erleichtern, wird ein ständig zu aktualisierendes Register angeraten, wie es viele Gerichte bereits führen.

2.3 Verhältnisse innerhalb der Familie

Im Unterschied zu dem in Deutschland verbreiteten und im Familienrecht tragenden Modell einer eigenständigen Kernfamilie mit einem oder zwei rechtlich und tatsächlich verantwortlichen, Fürsorge leistenden Eltern und Kindern, finden sich in manchen Herkunftskulturen über die Kernfamilie hinausreichende Autoritätsstrukturen, die zu ignorieren schlimmstenfalls zu untauglichen und unwirksamen Schutzkonzepten führt. Beispielsweise fungieren in manchen Familienverbänden Großelternteile, ältere Geschwister oder bereits länger im Land befindliche Familienmitglieder als Familienoberhaupt oder üben zumindest einen wesentlichen Einfluss auf die Eltern aus. Daher ist es erforderlich, in Explorationen zu erkunden und dem Gericht mitzuteilen, wer von Eltern und Kindern alles zur Familie gezählt wird und Einfluss ausübt. Gegebenenfalls ist es notwendig, Personen jenseits der Kernfamilie als Zeug*innen anzuhören und in Schutzkonzepte einzubeziehen.

Gleichfalls nicht immer übertragbar ist das im deutschen Recht verankerte (z. B. Art. 3 Abs. 2 GG, § 1626 Abs. 2 BGB), aber gleichwohl erst teilweise umgesetzte Modell gleichberechtigter Geschlechterbeziehungen in der Familie und eines demokratischen Erziehungsstils, in dessen Rahmen Kinder nach ihren Möglichkeiten in familiäre Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen werden. Beispielsweise gibt es einen Teil von Familien mit Migrationshintergrund, für die der Gehorsam von Kindern einen hohen Wert darstellt (z. B. Lansford et al. 2016) oder in denen geschlechterhierarchische Vorstellungen vertreten werden. Hier ist für Fachkräfte im Kinderschutz die Einsicht wichtig, dass es unethisch wäre, geschlechterhierarchische oder einseitig autoritäre Vorstellungen bzw. Praktiken in Familien aktiv zu bestärken. Gleichzeitig können Veränderungen unter Einsatz oder Androhung von Zwang nur dann in Frage kommen, wenn aus dem Umgang mit Macht in der Familie eine Kindeswohlgefährdung folgt. In allen anderen Situationen kann um eine Vorstellung von Gleichberechtigung und Mitentscheidung von Kindern lediglich geworben werden.

2.4 Partizipation und Koproduktion in der Hilfe

Öfter entstehen zudem Missverständnisse bei dem auf Partizipation und Koproduktion angelegten Verfahren der Hilfeplanung mit ihrer Auftrags- und Zielklärung, die sich unter Umständen im Gerichtsverfahren fortsetzen. Familien mit Migrationshintergrund assoziieren mit dem Staat oftmals eher Repression als Hilfe und haben zudem nicht selten schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht – sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern. Öffentliche Institutionen und Privatsphäre werden in einigen Herkunftskulturen strikt getrennt und Partizipation und Mitwirkung sowie das Recht der Wahl erscheinen nicht selbstverständlich (Schröer 2019). Wichtig ist daher, die Herausforderung, Innerfamiliäres nach außen zu tragen, ausdrücklich anzuerkennen, Partizipationsmöglichkeiten mehrfach zu benennen und dabei zwischen unverzichtbaren Maßnahmen zur Abwehr von Gefährdung und Wahlmöglichkeiten zu unterscheiden sowie zu erklären, welche Folgen es hat, wenn Vereinbarungen nicht ernst genommen werden. In der Praxis als sehr hilfreich können sich Trainings in interkultureller Kommunikation erweisen, in denen vermittelt wird, wie Probleme in verschiedenen Kulturen in einer als möglichst höflich und respektvoll empfundenen Weise angesprochen werden können, da hierdurch unnötige Verhärtungen vermieden werden (z. B. indirekte Thematisierung von Problemen durch das Erzählen von Fallbeispielen). Zudem können Punkte, auf die in der Gerichtsverhandlung nicht eingegangen werden kann, dann in der Vorbereitung angesprochen werden.

2.5 Kulturelle Beweggründe für Erziehungsverhalten

Bei der Erörterung der Bedingungen des Aufwachsens von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund im Kinderschutzverfahren muss unter Umständen auf kulturelle Beweggründe des Erziehungsverhaltens der Eltern geachtet werden. Daher sollte in der Regel im Vorfeld eines familiengerichtlichen Verfahrens mit den Eltern besprochen werden, welche Erziehungsvorstellungen sie in ihrer Herkunftsfamilie und Herkunftskultur verankert sehen und welche sie im Verlauf der Migration neu entwickelt oder übernommen haben. Wenn Fachkräfte hier Hintergrundwissen erwerben wollen, ist die grundlegende, wenngleich vereinfachende Unterscheidung zwischen eher individualistischen und eher kollektivistischen Kulturen hilfreich (Oyserman et al. 2002; Rogoff 2003; siehe nachfolgende Übersicht).

Individualistische und kollektivistische Kulturen

In eher individualistischen Kulturen sind Eltern sehr bemüht, individuelle Interessen und Fähigkeiten eines Kindes zu fördern und Kinder zu befähigen, entsprechend ihren Vorlieben zu wählen (z. B. welches Bilderbuch angeschaut werden soll) und eigene Interessen zu vertreten. In kollektivistischen Kulturen sorgen sich Eltern sehr darum, dass Kinder lernen, sich in die Familie und die Gruppe einzufügen und sich für die Familie, nicht für sich selbst anzustrengen. Entsprechend werden Rücksichtnahme, sich Einfügen und Orientierung an Familiennormen sehr gefördert (z. B. ein Bilderbuch mit den Geschwistern anschauen), was wiederum in der auf einem weltweiten Maßstab mittelmäßig individualistischen deutschen Kultur leicht als wenig kindorientiert wahrgenommen wird.

Spezifischere Informationen über die Befundlage zu Erziehungsvorstellungen in verschiedenen nicht-westlichen Ländern finden sich im Handbuch von Selin (2014).

Häufige Diskussionspunkte in Kinderschutzverfahren rund um Erziehungsvorstellungen und -praktiken in manchen Familien mit Migrationshintergrund betreffen unter anderem den Umgang mit Körperstrafen, die Mithilfe und den Einbezug älterer Kinder bei der Betreuung jüngerer Geschwister und die teilweise massive Kontrolle der Sexualität jugendlicher Mädchen.

Moralvorstellung von Sexualität von Mädchen und Frauen

In einigen Kulturen, vor allem in Nordafrika, dem Nahen Osten und in Ostasien, haben sich Erziehungs- und Moralvorstellungen entwickelt, die eine strikte familiäre Kontrolle der Sexualität von jugendlichen Mädchen und Frauen verlangen und dies mit einem Konzept von Familienehre verknüpfen (Mayeda & Vijaykumar 2016). In einigen Fällen halten Familien auch nach einer Migration an derartigen Vorstellungen fest, was bei betroffenen jugendlichen Mädchen zu schwierigen Balanceakten und schweren psychischen Belastungen führen kann, die dann wiederum einen Beratungsanlass darstellen können (z. B. Hawkey et al. 2018). Wird Gewalt angedroht oder ausgeübt, sind Schutzmaßnahmen gerechtfertigt, allerdings meist nur dann praktikabel, wenn betroffene Jugendliche einwilligen. In Schweden hat sich gezeigt, dass bei etwa 40 % der Schutzmaßnahmen bei jugendlichen Mädchen Gewalt mit Bezug auf ein Konzept von Familienehre eine Rolle gespielt hat (Linell 2017).

Körperstrafen in der Erziehung haben bei der Mehrheit der Eltern in Deutschland jede Legitimität verloren, wozu das seit dem Jahr 2000 geltende Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB) beigetragen hat (Bussmann 2005). Im weltweiten Maßstab ist das aber eine noch ungewöhnliche Situation. Lediglich 4,5 % der Kinder weltweit sind per Gesetz von Körperstrafen zuhause geschützt (Paz Martínez & Teupe 2020). In vielen Kulturen bejahen Eltern mehrheitlich oder zu erheblichen Teilen Körperstrafen in der Erziehung als sinnvoll und notwendig (Lansford et al. 2017). Bei Müttern und Vätern, die diese Einstellung teilen, kann es sein, dass die in Deutschland unter Fachkräften verbreitete Überforderungshypothese, wonach Eltern dann zu Gewalt greifen, wenn sie durch kumulierende Belastungen überfordert sind, nicht zutrifft. Vielmehr werden Körperstrafen unter Umständen auch ohne empfundene Überforderung als richtig (normativ) empfunden. Dies hat Folgen für die Bearbeitung der Problematik im Rahmen sozialer Arbeit. Übliche Hilfeansätze, die insbesondere auf einen Abbau familiärer Belastung und den Aufbau anderer Erziehungsmethoden setzten, sollten dann durch grundlegende Überzeugungsarbeit ergänzt werden. Hierzu gehört die Information über die Situation im Hinblick auf Körperstrafen in Deutschland, den weltweiten Rückgang des Einsatzes von Körperstrafen, die Befundlage zur Schädlichkeit von Körperstrafen und die Einfühlung in die Perspektive des Kindes, das geschlagen wird (Fontes 2017). Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen um Körperstrafen in Familien mit Migrationshintergrund ist es für Fachkräfte zudem wichtig, darüber Bescheid zu wissen, dass Körperstrafen zwar immer einen Beratungsanlass darstellen, aber nicht immer als Kindeswohlgefährdung einzuordnen sind. Unterscheidungskriterien stellen auf die Verletzungsträchtigkeit der Körperstrafen, eine beziehungsprägende Wirkung und erzieherische Willkür ab (Kindler 2016).

Im Zuge der gesellschaftlichen und demografischen Entwicklung wurde in Deutschland nicht nur Kinderarbeit verboten, sondern Kinder wurden auch immer weiter von Mithilfe im Haushalt freigestellt (Schulz 2020). Da dies deutlich mit der Situation in manchen Familien mit Migrationshintergrund kontrastiert, in denen ältere Geschwister wiederholt und dies teilweise über mehrere Stunden in Betreuungsaufgaben eingebunden werden, erfolgen manchmal Gefährdungsmitteilungen oder das Gericht wird unter Hinweis auf eine Parentifizierung der älteren Geschwister angerufen. Hier ist es für Fachkräfte wichtig zu wissen, dass (a) die Übernahme von Betreuungsaufgaben durch ältere Geschwister im weltweiten Maßstab eher die Regel denn die Ausnahme darstellt (Lancy 2014), (b) eine Gefährdung des älteren, Fürsorge leistenden Kindes erst dann angenommen werden sollte, wenn wichtige Entwicklungsaufgaben nicht mehr bearbeitet werden können (z. B. erkennbare Beeinträchtigung der schulischen Entwicklung), (c) eine Gefährdung jüngerer Geschwister dann angenommen werden sollte, wenn ältere Geschwister durch die übertragenen Aufgaben erkennbar überfordert sind und Erwachsene nicht zugänglich sind. Generell ist darauf hinzuweisen, dass eine als „instrumentell“ bezeichnete Parentifizierung durch Mithilfe im Haushalt bzw. die Betreuung jüngerer Geschwister innerhalb des genannten Rahmens deutlich weniger schädlich zu sein scheint als eine emotionale Parentifizierung, also das Ausnutzen eines Kindes als Vertrauensperson und Partnerersatz (Graf & Frank 2001).

2.6 Besondere migrationsbezogene Belastungen

Neben Besonderheiten der Verfahrensgestaltung, der Familienstruktur und der Erziehungsvorstellungen, die unter Umständen, wenngleich aufgrund der großen Unterschiedlichkeit zwischen Familien mit Migrationshintergrund keineswegs in jedem Fall, der Reflexion bedürfen, können auch besondere migrationsbezogene Belastungen der Eltern eine Rolle spielen. Hier ist vor allem an posttraumatische Belastungsstörungen infolge traumatischer Erlebnisse vor und während einer Flucht zu denken, die ein Teil der Eltern mit Migrationshintergrund erleben mussten, sowie an chronische psychische Belastungen aufgrund eines ungesicherten Aufenthalts oder aufgrund von Schwierigkeiten bei der identifikativen Selbstverortung bei gleichzeitigem Verlust eines Selbstbilds als starke, schützende Eltern.

Posttraumatische Belastungsstörungen kommen als möglicher Hintergrund einer Kindeswohlgefährdung bei geflüchteten Eltern vor allem dann in Betracht, wenn emotionale Instabilität oder innere Abwesenheit berichtet werden. Eine diagnostische Abklärung und gegebenenfalls Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörungen sollten in diesen Fällen Teil des Schutzkonzeptes werden. Zusätzliche besondere Belastungen können sich nach der Migration etwa aus Erfahrungen von Diskriminierung oder einem ungesicherten Aufenthaltsstatus ergeben. Zusammenhänge solcher Postmigrationsbelastungen zur psychischen Gesundheit, die dann wiederum die Erziehungsfähigkeit beeinflussen können, sind nachgewiesen (z. B. Giacco 2020). Die Anzahl betroffener Familien ist erheblich (Meysen & Schönecker 2020). Etwa 12 % der Familien mit Migrationshintergrund im Kinderschutz lebten in einer Vollerhebung von Gefährdungsmitteilungen aus mehreren Jugendämtern in einer ungesicherten aufenthaltsrechtlichen Situation (laufendes Asylverfahren, Duldung oder kein rechtmäßiger Aufenthalt). In jedem 4. Fall mit Migrationshintergrund kannten die ASD-Fachkräfte den Aufenthaltsstatus aber nicht genau: teils wegen eigener Unsicherheiten oder Unsicherheiten beim Ansprechen dieses schwierigen Themas oder wegen Schwierigkeiten im Kontakt mit den Ausländerbehörden (Jagusch et al. 2012). Zu empfehlen ist daher bei familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren ein regelmäßiger Sachvortrag zur aufenthaltsrechtlichen Situation und den wahrnehmbaren psychischen Auswirkungen eventueller Unsicherheiten auf Eltern und Kinder.

2.7 Verhaltensprobleme der Kinder und Jugendlichen

Zuletzt können sich besondere Aspekte dann ergeben, wenn größere Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf ungeeignete oder hilflose Bewältigungsversuche der Eltern treffen und sich hieraus Kinderschutzverfahren ergeben. Hier stellt sich für Fachkräfte die Frage, wie sie die Entwicklungsbedingungen eines Kindes unter Einbezug der Migrationssituation analysieren können, um mit den Eltern und gegebenenfalls weiteren Verfahrensbeteiligten Lösungsvorschläge zu entwickeln. Die beiden hierfür klassischen Modelle stammen von Garcia Coll et al. (1996) sowie Juang et al. (2018). Das abgebildete Modell aus Garcia-Coll u. a. (1996, S. 1896) macht einen Vorschlag, wie die Hintergründe von Entwicklungs- und Verhaltensproblemen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gut ausgeleuchtet werden können (Abb. 31.1)

Abb. 31.1
figure 1

Einflussfaktoren auf Entwicklungs- und Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund

Wichtig an dem Analyseschema ist, dass Einflussfaktoren jenseits der Eltern sowie die Akkulturationsbemühungen von Eltern und Kindern einbezogen werden, da dies manchmal neue Lösungsansätze ermöglicht. Zudem wird eine Kulturalisierung problematischen Handelns von Eltern bzw. Kindern vermieden, d. h. die einseitige Rückführung von Problemen auf die Herkunftskultur. Vielmehr soll stets die Entstehungsgeschichte des problematischen Verhaltens in der jeweiligen Familie und ihrer Umwelt eruiert werden. Wenn kindeswohlgefährdende Verhaltensweisen dabei kulturell begründet werden, bedeutet eine migrationssensible Perspektive nicht, dass diese Verhaltensweisen anders zu bewerten sind als bei Familien ohne Migrationshintergrund. Der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe mit all seinen Implikationen gilt bei Familien mit und ohne Migrationshintergrund gleich. Es darf keine „kulturellen Relativierungen“ geben, die zur Folge hätten, dass die rechtlichen Vorgaben nicht geprüft oder nicht umgesetzt werden (Paz Martínez & Teupe 2020, S. 23)

3 Migrationssensible Hilfen

Hilfeprozesse gelingen vor allem dann, wenn Lösungen wirklich gemeinsam gesucht werden und Verständnis und Verständigung im Vordergrund stehen. Zwar können sich auch aus Kinderschutzinterventionen gegen den Willen der Betroffenen manchmal im Verlauf noch gelingende Hilfen entwickeln, jedoch stellen erfolgversprechende und zugleich freiwillige Hilfen im Jugendamt und beim Familiengericht die bevorzugte Option dar. Um diese Möglichkeit gut auszuloten, können Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund oder Kulturvermittler*innen als Brückenpersonen hilfreich sein, da hierdurch lebensweltliche und kulturelle Distanzen bei Vereinbarungen genauer gefasst und teilweise überwunden werden können. Inwieweit allerdings die mancherorts gängige Praxis, Familien mit Migrationshintergrund dann auch im Rahmen ambulanter Hilfen Fachkräften zuzuordnen, die selber Migrationshintergrund haben, Vorteile im Hinblick auf die Arbeitsbeziehung aufweist, ist empirisch bislang nicht entschieden (Cabral & Smith 2011). Bislang scheinen andere Qualitäten von Fachkräften, die Hilfe leisten, wie Wertschätzung, Unvoreingenommenheit und Sachkunde, bedeutsamer. Zudem dürfte es angesichts der Vielfalt an Herkunftskulturen und der Unterschiedlichkeit von Akkulturationsverläufen praktisch auch schwer möglich sein, Fachkräfte in Hilfefällen auf der Grundlage von Ähnlichkeit zuzuordnen. Entsprechend ermutigt die Literatur dazu, Gemeinsamkeiten über unterschiedliche Kulturen und Lebensläufe hinweg nicht auszublenden und Unsicherheiten im Umfang mit dem antizipierten Fremden als Anlass für Fragen und Interesse zu nutzen (Paz Martínez & Teupe 2020).

Bei der Ausgestaltung von Hilfen, insbesondere stationären Hilfen, ist zu bedenken, dass Angehörige von Gruppen, die im Herkunftsland aufgrund ihrer Kultur oder Religion Verfolgung, Diskriminierung oder Deklassierung erlebt haben, oft in großer Sorge sind, Kinder könnten den Zugang zu der Kultur bzw. der Religion ihrer Eltern verlieren. Studien haben gezeigt, dass bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen die Wahrung des Kontakts zur Religion, Spiritualität und Kultur des Heimatlandes die Integration in der neuen Kultur fördert, die Lebenszufriedenheit verbessert und die Ressourcen zur Selbstbemächtigung stärkt (Hasan et al. 2018; Pieloch et al. 2016; Nasıroğlu und Çeri 2016; Lustig et al. 2004). Kinder- und Jugendhilfesysteme in einigen Teilen der Welt haben diesen Punkt als wesentlich aufgegriffen. In der englischen Kinder- und Jugendhilfe wird die Ermöglichung und Förderung kultureller Identität als ein wesentliches Element des Kindeswohls verstanden. Entsprechend ist für Deutschland zu empfehlen, dass bei Fremdunterbringen, etwa als Ergebnis eines Kinderschutzverfahrens, in geeigneten Fällen die Planung, wie das Kind Teil der Herkunftskultur der Eltern werden kann, ein ständiger Punkt im Hilfeplan werden sollte und dies den Eltern im Kinderschutzverfahren auch zugesichert werden sollte.

Um die Hilfen im Kinderschutz migrationssensibel zu gestalten, müssen tatsächliche Besonderheiten erkannt werden und vermeintliche Differenzen, die sich womöglich in stereotypen Wahrnehmungen manifestieren würden, müssen als solche reflektiert werden. Diese Reflexion, die möglichst im Team erfolgen sollte, braucht strukturierte Orte und hinreichend Zeit, um Vorurteilen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen entgegenzuwirken (Bonewitz et al. 2020). Bei Familien mit und ohne Migrationshintergrund geht es gleichermaßen darum, zuzuhören sowie bei Fragen und Unklarheiten offen und transparent nachzufragen und nicht vorschnell zu interpretieren (Kelly & Meysen 2016). Es geht vor allem um Vermittlung von Sicherheit und Vertrauen, Kooperation und die Herstellung gemeinsam getragener Verantwortung. Anders gesagt geht es darum, sich einzufühlen und Einfühlung zu ermöglichen (Nitsch 2010).

Damit die Hilfen migrationssensibel gestaltet werden können, bedarf es Wissen zu Kulturtheorien und -konzepten (z. B. unterschiedliche Erziehungsvorstellungen), Wissen zu migrationsspezifischen Themen (etwa rechtliche und politische Bestimmungen), Wissen zu Rassismus und Diskriminierung sowie Wissen zu sozioökonomischen Lebenslagen (Paulus 2019).