1 Einleitung

Ein (teilweiser) Entzug der elterlichen Sorge nach § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB, der mit einer Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, ist nur dann zulässig, „wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentlichen Hilfen, begegnet werden kann“ (§ 1666a Abs. 1 S. 1 BGB). Im Kontext von Fällen, in denen Kinder mit Lebensgefährten der Mutter in einem Haushalt zusammenlebten, die wegen sexualisierter Gewalt gegen Kinder verurteilt waren, haben sich auch dem Bundesgerichtshof entsprechende Fragen der Verhältnismäßigkeit gestellt (BGH 23.11.2016 – XII ZB 149/16; 6.2.2019 – XII ZB 408/18). Die fehlende Auseinandersetzung mit der zu erwartenden verlässlichen Wirksamkeit der als „durchaus angezeigt“ ins Spiel gebrachten Hilfen (s. a. Potenziale, Grenzen und Risiken von helfenden und schützenden Interventionen [Kap. 30]), hier einer Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII oder eine Familienberatung (BGH 6.2.2019 – XII ZB 408/18), hat scharfe Kritik erfahren und die Frage aufgeworfen, ob drohender sexueller Missbrauch tatsächlich mit ambulanten Hilfen abgewendet werden kann (Kepert 2019, 2019a, 2020). In der Rechtspsychologie wurde in der Folge der ersten BGH-Entscheidungen aus dem Jahr 2016 die Frage aufgeworfen, ob wir genügend wissen, um handlungsfähig zu sein (Graf et al. 2018). Das Instanzgericht hat sich im nachfolgenden Beschluss zur BGH-Entscheidung aus dem Jahr 2019 differenziert mit den Hilfemöglichkeiten und ihren Erfolgspotenzialen auseinandergesetzt (OLG Karlsruhe 13.5.2019 – 18 UF 91/18).

Im Folgenden werden daher die möglichen Hilfe- und Fördermöglichkeiten nicht nur kurz skizziert (s. u. 29.3), sondern zunächst ein Hinweis für die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hilfen vorangestellt (29.2).

2 Prüfung der Potenziale „öffentlicher Hilfen“ zur Abwendung oder Beendigung einer Kindeswohlgefährdung

2.1 Bereitschaft bzw. Fähigkeit zur Abwendung der Gefahr

Die Geeignetheit von Hilfen lässt sich nicht abstrakt feststellen. Die Bereitschaft, Hilfen in Anspruch zu nehmen, an positiven Veränderungen mitzuarbeiten und die Fähigkeit, von den Hilfen in ausreichendem Maße zu profitieren, sind wesentliche Faktoren für eine wirksame Veränderung zu Abwendung oder Beendigung einer Kindeswohlgefährdung (zur Bedeutung der Mitwirkung für die Wirksamkeit von Hilfen s. a. Potenziale, Grenzen und Risiken von helfenden und schützenden Interventionen [Kap. 30]). Ein drohender Sorgerechtsentzug ist für Eltern ein enormer Anreiz, ihre Motivation zur Inanspruchnahme von Hilfen (wieder) zu entdecken und die Veränderungspotenziale hoch einzuschätzen. Inwieweit die Bereitschaft bzw. Fähigkeit der Eltern zur Inanspruchnahme und Nutzung von Hilfen besteht, um eine Gefährdung abzuwenden oder zu beenden, ist im Einzelfall möglichst strukturiert zu prüfen. Heinz Kindler schlägt vor, bei der familiengerichtlichen Sachverhaltsaufklärung vor allem folgende Faktoren zu berücksichtigen (Kindler 2020):

  • Zufriedenheit der Eltern mit ihrer gegenwärtigen Situation

  • Selbstvertrauen und realistische Hoffnung auf Veränderung

  • Subjektive Normen zur Annahme von Hilfe

  • Haltung gegenüber belegbaren Gefährdungsereignissen

  • Geschichte der Inanspruchnahme und Wirkung von Hilfen

  • Überdauernde oder nur langfristig zu verändernde Einschränkungen der elterlichen Fähigkeit, von Hilfen zu profitieren

Nähere Informationen siehe nachfolgende Übersicht:

Bereitschaft oder Fähigkeit der Sorgeberechtigten zur Abwendung einer Gefährdung

Zufriedenheit der Eltern mit ihrer gegenwärtigen Situation: Ein Hinweis zur Veränderungsmotivation ergibt sich aus der elterlichen Wahrnehmung der Lebenssituation der Familie, insbesondere der der Kinder. Können auf offene Fragen Gefahren und Belastungen nicht oder nur sehr eingeschränkt gesehen werden, so ist es für Eltern schwer, eine tragfähige eigene Veränderungsmotivation aufzubauen.

Selbstvertrauen und realistische Hoffnung auf Veränderung: Aus einer Position der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit heraus ist es für Eltern schwer möglich, die für eine Mitarbeit an Veränderungsprozessen nötige Kraft und Ausdauer aufzubringen. Die Einschätzung von Selbstvertrauen und Hoffnung der Eltern sollte Äußerungen über Zukunftsperspektiven, in der Vergangenheit erreichte Ziele und positive Ausnahmesituationen ebenso einbeziehen wie die beobachtbare Stimmung.

Subjektive Normen zur Annahme von Hilfe: In manchen Fällen machen subjektive Normen der Eltern erfolgreiche Hilfen unmöglich. Dies kann etwa der Fall sein, wenn Eltern ihre Privatsphäre sehr stark betonen, Autoritäten oder Glaubenssätze vorhanden sind, die nicht infrage gestellt werden dürfen, oder die Eltern von einer Nutzlosigkeit der angebotenen Hilfen überzeugt sind.

Haltung gegenüber belegbaren Gefährdungsereignissen: Eine die Verantwortung verleugnende Haltung von Eltern gegenüber belegbaren Gefährdungsereignissen erhöht die Wiederholungsgefahr und erschwert den Vertrauensaufbau zwischen Fachkräften und Eltern. Zudem kann unter diesen Umständen über Auslöser für kindeswohlgefährdende Situationen nur spekuliert werden. Allerdings deuten mehrere Studien darauf hin, dass manche Eltern, die vordringlich aus sozialen und strafrechtlichen Gründen Verantwortung ablehnen, sich dennoch erfolgreich auf geeignete Hilfen zur Erziehung einlassen und in deren Verlauf angemessene Strategien zum Schutz betroffener Kinder erarbeiten können. Eine anfängliche Verleugnung von Verantwortung sollte daher berücksichtigt, aber nicht als allein ausschlaggebender Faktor für eine negative Beurteilung elterlicher Veränderungsbereitschaft angesehen werden.

Geschichte der Inanspruchnahme und Wirkung von Hilfen: Eine Geschichte mangelnder oder sehr instabiler Mitarbeit bei früheren Hilfen muss, ebenso wie eine unzureichende Wirkung früherer, prinzipiell geeigneter Hilfen, Zweifel an der Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit von Eltern wecken. Umgekehrt erhöhen in der Vergangenheit positiv verlaufene Hilfeprozesse vielfach die Bereitschaft zur Mitwirkung. Inanspruchnahme und Wirkung früherer Hilfen sollten nicht allein aufgrund der Aktenlage, sondern unter Einbezug eines Gesprächs mit den Eltern beurteilt werden.

Überdauernde oder nur langfristig zu verändernde Einschränkungen der elterlichen Fähigkeit von Hilfen zu profitieren: In manchen Fällen ist bei Eltern weniger die Veränderungsbereitschaft als vielmehr die Fähigkeit, von verfügbaren Hilfen zur Erziehung zu profitieren, eingeschränkt. Dies kann sich etwa aus chronischen Bedingungen ergeben (z. B. geistige Behinderung, Residualsyndrome bei psychischer Erkrankung) oder aus Erkrankungen, die eine langwierige Behandlung erforderlich machen (z. B. Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen). Im Fall erforderlicher langwieriger Behandlungen kann sich die Beurteilung einer erheblich eingeschränkten Veränderungsfähigkeit dann aus dem Vergleich mit den Entwicklungsanforderungen und der Zeitperspektive betroffener Kinder ergeben.“ (Kindler, NZFam 2020, S. 379).

2.2 Geeignetheit ambulanter Hilfen

Neben der Bereitschaft bzw. Fähigkeit zur Mitarbeit an der Abwehr einer Kindeswohlgefährdung stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Eignung ambulanter Hilfen. Die Überlegung, eine Hilfe müsste nur möglichst engmaschig sein, um den Schutz sicherzustellen, reicht hierzu nicht aus (zu klassischen Missverständnissen s. a. Häufige Missverständnisse im Kinderschutzverfahren [Kap. 43]). Heinz Kindler (2020) empfiehlt, insbesondere vier Argumenten nachzugehen, um zu hinterfragen, ob der Einsatz ambulanter Hilfen zur Erziehung in einem Gefährdungsfall ausreichende positive Veränderungen versprechen:

  • Risikoargument

  • Koproduktionsargument

  • Argument überdauernder Einschränkungen

  • Zeitablaufsargument

(siehe auch nachfolgende Übersicht)

Beurteilung der Eignung ambulanter Hilfen

Das Risikoargument: Zumindest hinsichtlich Kindesvernachlässigung und Misshandlung gibt es mittlerweile Einschätzungshilfen mit belegter Vorhersagekraft, die zwischen Fällen mit hohem, mittlerem und geringem Wiederholungsrisiko differenzieren und die von geschulten Jugendamtsfachkräften und Sachverständigen angewandt werden können. Vor allem bei einem hohen Wiederholungsrisiko und einem noch nicht oder kaum zum Selbstschutz fähigen Kind ist zu bedenken, dass ambulante Hilfen zur Erziehung erneute Gefährdungsereignisse in nicht betreuten Zeiten nicht ausschließen können. Zudem entfalten auch gelingende ambulante Hilfen erst über mehrere Monate Wirkung, sodass unter Umständen zu Beginn der Maßnahme eine Schutzlücke entsteht.

Das Koproduktionsargument: Ambulante Hilfen zur Erziehung sind für ihre Wirkung auf eine inhaltliche Zusammenarbeit mit den Eltern angewiesen. Die Effekte ambulanter Hilfe werden „koproduziert“. Wenn Eltern in der Anhörung nur bereit sind, Hausbesuche zuzulassen, aber keine Veränderungsthemen benennen können, ist die Grundwahrscheinlichkeit eines Scheiterns der Maßnahme hoch.

Das Argument überdauernder Einschränkungen: In manchen Fällen weisen Eltern oder ihre Lebenssituation Merkmale auf, von denen bekannt ist, dass sie Wirkung ambulanter Hilfen aufheben oder deutlich mindern. Hierzu zählen etwa Hochstressbedingungen, wie Partnerschaftsgewalt, oder Suchterkrankungen. Damit eine ambulante Hilfe zur Erziehung greifen kann, müssen zunächst diese Bedingungen verändert werden, was unter Umständen einige Zeit in Anspruch nimmt.

Das Zeitablaufsargument: In manchen Fällen erscheinen schließlich langfristig positive Veränderungen durch eine ambulante Hilfe zur Erziehung zwar erreichbar. Gleichzeitig sind Kinder aber bereits sehr auffällig und altersbedingt besteht nur noch wenig Zeit für eine deutliche Veränderung des Entwicklungsverlaufs, sodass (zumindest für einige Zeit) die starke Intervention des Wechsels in ein therapeutisches Milieu erforderlich ist.“ (Kindler, NZFam 2020, S. 380)

3 Hilfe- und Fördermöglichkeiten

3.1 In der Kinder- und Jugendhilfe

Der Leistungskatalog der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII ist geprägt durch sowohl eine hohe Ausdifferenzierung als auch eine breite Gestaltungsoffenheit. Im Zentrum stehen die Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII. Die Personensorgeberechtigten haben einen Rechtsanspruch, wenn eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). In §§ 28 bis 35 SGB VIII sind acht verschiedene Hilfearten aufgeführt. Da die Gewährung nur „insbesondere“ nach Maßgabe dieses Katalogs erfolgt, ist der Katalog nicht abschließend und es können auch sogenannte unbenannte oder flexible Hilfen zur Erziehung gestaltet werden (§ 27 Abs. 2 SGB VIII; FK-SGB VIII/Tammen & Trenczek 2022, § 27 SGB VIII Rn. 18; Wiesner/Wapler/Wapler 2022, § 27 SGB VIII Rn. 33 ff.).

Die Gestaltungsoffenheit bedeutet allerdings nicht, dass zu jeder Zeit jede denkbare Hilfe vorgehalten werden kann oder dass eine entsprechende Pflicht bestünde. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat vielmehr zur Befriedigung des ermittelten Bedarfs die notwendigen Vorhaben rechtzeitig und ausreichend zu planen (§ 80 Abs. 1 SGB VIII). Hierzu werden mit Trägern der freien Jugendhilfe Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen geschlossen (§§ 77, 78a ff. SGB VIII). Die Leistungspalette soll vor Ort ein „möglichst wirksames, vielfältiges und aufeinander abgestimmtes Angebot gewährleisten“ (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII). Die Jugendhilfeplanung ist hierbei Instrument zur beteiligungsorientierten, lebenslagenbezogenen und bedarfsgerechten Gestaltung von Angeboten und in diesem Sinne örtliche Kinder- und Jugendhilfepolitik (Wiesner/Wapler/Schön 2022, § 80 SGB VIII Rn. 6).

Zum Leistungskatalog der Hilfen zur Erziehung gehören:

Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII)

Im Kontext von Kinderschutz hat Erziehungsberatung Potenziale in Bezug auf Vertraulichkeit und ein Setting, das anders als aufsuchende Arbeit weniger intrusiv in die Lebenswelt unmittelbar eindringt. Therapie und Erziehungsberatung sind nicht ohne weiteres abgrenzbar, oftmals in Erziehungsberatungsstellen miteinander verknüpft (FK-SGB VIII/Struck 2022, § 28 SGB VIII Rn. 6). Ist die spezifische Fachlichkeit für den jeweiligen Kinderschutzkontext in der Erziehungsberatungsstelle vorhanden, können Erziehungsberatungsstellen Eltern und/oder Kindern nicht nur die differenzierten diagnostischen Kompetenzen, sondern Unterstützung etwa bei der Verarbeitung von Geschehenem sowie der Bearbeitung von Belastungen und persönlichen Themen, welche die Erziehung beeinflussen, zur Verfügung stellen (bke 2012, S. 42 ff.).

Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII)

Die sozialeGruppenarbeit ist primär auf Jugendliche ausgerichtet (Wiesner/Wapler/Wapler 2015, § 29 SGB VIII Rn. 3). In der Praxis dieses gruppenpädagogischen Ansatzes ist eine Vielfalt von Methoden und Konzeptionen festzustellen, mit denen die soziale Handlungsfähigkeit verbessert, Selbstvertrauen gestärkt und Perspektiven erarbeitet werden.

Erziehungsbeistand (§ 30 SGB VIII)

Im Mittelpunkt der Erziehungsbeistandschaft steht, stärker bspw. als bei der sozialpädagogischen Familienhilfe, die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen. Kernstück sind regelmäßige Beratungsgespräche mit den Kindern oder Jugendlichen. Wegen der Eingebundenheit der Kinder- und Jugendliche ist die systemische Arbeit mit den Eltern oder anderen Personen aus dem sozialen Umfeld integraler und unverzichtbarer Bestandteil (FK-SGB VIII/Struck & Trenczek 2022, § 30 SGB VIII Rn. 5 ff.).

Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII)

Die Familie ist Adressat*in und Ort der aufsuchendenHilfe. Die Fachkräfte arbeiten in der unmittelbaren alltäglichen Lebenswelt und damit auch unmittelbar in den emotionalen Spannungsfeldern von Familien. Elemente der Arbeit sind beratende Gespräche, modellhaftes Handeln und praktische Unterstützung im Familienalltag sowie bei der Lebensbewältigung (Wiesner/Wapler/Wapler 2022, § 31 SGB VIII Rn. 9 ff.; FK-SGB VIII/Struck 2022, § 31 SGB VIII Rn. 8 ff.). Der Umfang der Wochenstunden variiert je nach Bedarf. Als maximaler noch hilfreicher wöchentlicher Stundenumfang werden 20 Stunden angesehen (Helming et al. 1999, S. 225). Die Hilfe wird in der Kinder- und Jugendhilfe mitunter als Allzweckhilfe eingesetzt. Die Nähe zum Lebensfeld der Familie bietet aber nicht nur Chancen, sondern auch Risiken (Wolf 2012, S. 144 ff.). Sie kann nicht bei jeder Problemlage positive Veränderungen unterstützen und bedarf einer sorgfältigen Auftragsklärung (Hilfekontrakt mit Zielsetzungen), damit sie eine belastete Lebenssituation von Kindern oder Jugendlichen nicht stützt, statt sie nachhaltig zu verbessern (z. B. bei häuslicher Gewalt).

Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 SGB VIII)

Tagesgruppen haben eine pädagogisch-therapeutische Ausrichtung mit divergierenden Konzeptionen mit heilpädagogischer oder sozialtherapeutischer Gruppenarbeit für unterschiedliche Altersgruppen, Betreuungsdauer, Zahl und Qualifikation der Fachkräfte. Elemente sind Gruppenarbeit und heilpädagogische und/oder therapeutische Einzelförderung. Auch die Förderung schulischer Entwicklung kann Bestandteil sein. Die Elternarbeit als wesentliches Element findet über Hausbesuche, Elterngespräche sowie eine Einbeziehung der Eltern in die Arbeit in der Tagesgruppe statt. Ziele sind die Unterstützung der emotionalen Entwicklung und Stabilisierung des Kindes (FK-SGB VIII/Struck 2022, § 32 SGB VIII Rn. 6 ff.).

Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII)

Die Aufnahme eines Kindes über Tag und Nacht im eigenen Haushalt ist im SGB VIII als Vollzeitpflege bezeichnet (§ 44 Abs. 1 S. 1 SGB VIII) . Traditionell werden in Deutschland in Pflegefamilien vor allem Kinder untergebracht, die zum Zeitpunkt der Aufnahme in der Pflegefamilie noch jünger sind (Berth 2019; Ristau-Grzebelko 2011). Einige Regionen bieten aber auch Pflegefamilien für ältere Kinder und Jugendliche an. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind Pflegestellen mit besonders qualifizierten Pflegepersonen zu gestalten, die regelmäßig von Fachdiensten besonders intensiv begleitet und unterstützt werden (§ 33 S. 2 SGB VIII).

Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform (§ 34 SGB VIII)

Werden die Kindernicht im eigenen Haushalt aufgenommen, sondern in einer Einrichtung, so reicht die Bandbreite der Unterbringungsformen von familienanaloger Unterbringung, Intensivangeboten bis zu Gruppenangeboten mit niedrigerer Betreuungsintensität. Die Vielfalt der oft komplexen Bedarfe von Kindern, die außerfamilial untergebracht werden, spiegelt sich wider in einer ausgesprochen bunten Landschaft an Angebotsformen für stationäre Einrichtungen (Meysen et al. 2019a, S. 96 ff., 123 ff.; Tabel 2020).

Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII)

Eine Hilfe, die sowohl in ambulanter als auch stationärer Form gestaltet werden kann und sich durch eine hohe zeitliche Verfügbarkeit der Fachkräfte und Personalschlüssel auszeichnet, ist die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (Wiesner/Wapler/Wapler 2022, § 35 SGB VIII Rn. 7 ff.). Das Angebot einer individuellen Beziehung ist Grundlage der Arbeit. Diese wird teilweise erlebnispädagogisch realisiert. Herausforderung ist der Transfer der positiven Erfahrungen aus den oft alltagsfernen Betreuungsarrangements in den Alltag (FK-SGB VIII/Struck & Trenczek 2022, § 35 SGB VIII Rn. 9 ff.).

Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII)

Haben Kinder oder Jugendliche eine seelische Behinderung, also die Diagnose einer psychischen Störung und eine Teilhabebeeinträchtigung, haben sie Anspruch auf Eingliederungshilfe. Der Leistungskatalog umfasst ebenfalls ambulante, stationäre Hilfen (§ 35a Abs. 2 SGB VIII). Besteht auch eine seelische Behinderung und ist in der Hilfe auf diese einzugehen, so umfasst die Leistung nach § 35a SGB VIII auch den Anteil der erzieherischen Hilfe (§ 9 Abs. 1 SGB IX). Bei der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen (§ 35a Abs. 1a SGB VIII) und bei der Hilfeplanung (§ 36 Abs. 3 SGB VIII) sind Kinder- und Jugendpsychiater*innen bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen zu beteiligen.

Gemeinsame Wohnform für Mütter/Väter und Kinder (§ 19 SGB VIII)

Die Mutter-/Vater-Kind-Einrichtungen sind ein Angebot für Eltern, die allein für ihr Kind oder ihre Kinder zu sorgen haben, solange das jüngste Kind zum Zeitpunkt der Aufnahme in der Einrichtung unter sechs Jahre alt ist FK-SGB VIII/Struck 2022, § 19 SGB VIII Rn. 7, 13). Die Hilfe findet ihr Hauptbetätigungsfeld vor allem bei jungen Müttern (BzgA 2005, S. 110 ff.). Im Fokus der Hilfe steht vor allem die Persönlichkeitsentwicklung des Elternteils mit dem Ziel einer gemeinsamen Lebensführung mit dem Kind bzw. den Kindern. Einen umfassenden Schutz von Kindern bieten die Einrichtungen nicht und setzen die Perspektive des Aufbaus positiver Entwicklungsbedingungen im Zusammenleben zwischen Mutter und Kind voraus. Plätze für eine gemeinsame Unterbringung von Vätern und Kindern sind, auch wegen der geringen Nachfrage, rar und stehen nicht in jeder Region zur Verfügung (FK-SGB VIII/Struck 2022, § 19 SGB VIII Rn. 6).

Frühe Hilfen

An der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitshilfe sind die Frühen Hilfen angesiedelt. Hauptaugenmerk gilt einem möglichst frühzeitigen, koordinierten und multiprofessionellen Angebot für werdende Eltern und Familien mit Kindern bis zum Alter von ungefähr drei Jahren (§ 1 Abs. 4 KKG). In Kinderschutzkontexten werden teilweise Tandems von Familienhebammen und sozialpädagogischen Familienhelfer*innen eingesetzt oder videogestützte Programme zur Förderung der Feinfühligkeit von Eltern (Gloger-Tippelt et al. 2014; Suess et al. 2016).

3.2 Eingliederungshilfe nach SGB IX

Kinder und Jugendliche mit einer geistigen und/oder körperlichen Behinderung fallen in die vorrangige Leistungszuständigkeit der Eingliederungshilfe nach SGB IX. Dies gilt insbesondere auch im Kontext von Mehrfachbehinderungen (§ 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII; BVerwG 23.9.1999 – 5 C 26/98 ständige Rechtsprechung). Insbesondere relevant ist dies bei stationärer Unterbringung. Insoweit ist das Jugendamt, das im Kinderschutzverfahren mitwirkt, nicht leistungszuständig, sondern der jeweils zuständige Träger Eingliederungshilfe.

Leistungskollisionen ergeben sich auch bei Eltern mit Behinderungen. Einerseits haben Eltern mit Behinderungen Anspruch auf Leistungen der Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII wie alle anderen Eltern auch. Andererseits haben sie Anspruch auf Teilhabeleistungen zur „unterstützten Elternschaft“ nach § 78 SGB IX, welche sowohl die sogenannte Elternassistenz als rein physische, praktische Alltagsleistung insbesondere für Eltern mit Körper- und Sinnesbehinderungen (§ 78 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB IX) als auch die sogenannte begleitete Elternschaft für Eltern mit geistigen oder seelischen Behinderungen im Sinne pädagogischer Anleitung, Beratung und Begleitung zur Wahrnehmung der Elternrolle (§ 78 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB IX) umfasst. Mangels klarer Abgrenzungsregelungen bestehen hier gesetzlich nicht aufgelöste Zuständigkeitsüberschneidungen (eingehend hierzu, auch zu Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB bei Eltern mit Behinderung, siehe Schönecker 2021).

3.3 Unterstützung nach häuslicher Gewalt

Die Unterstützung nach häuslicher Gewalt bezieht häufig auch Kinder und Jugendliche bzw. adressiert die Elternrolle mit ein. Für gewaltausübende Elternteile gibt es an vielen Orten Angebote der Täterarbeit (BMFSFJ 2019). In etlichen Frauenhäusern werden spezielle Angebote für Kinder vorgehalten (Herold 2013). Teilweise werden auch von der Kinder- und Jugendhilfe spezifische Angebote für Kinder und Jugendliche, die häusliche Gewalt miterlebt haben, vorgehalten (z. B. Gauly 2020). Systemische Beratung in der Frauenhausarbeit, die Frauen direkt in ihrer Mutterrolle anspricht und das gesamte Familiensystem in den Blick nimmt, begegnet besonderen fachlichen Anforderungen und Vorbedingungen (Lenz und Weiss 2020), weshalb in der Praxis die Arbeit in Frauenhaus, Interventionsstelle/Frauenberatung/Notruf oder Täterarbeit oft auch durch die Arbeit von Erziehungsberatungsstellen ergänzt wird.

3.4 Gesundheitshilfe

Haben Kinder oder Jugendliche durch Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch Schädigungen davongetragen, kann insbesondere die Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie etliche Angebote machen, um die jungen Menschen bei der Verarbeitung des Geschehenen und der Überwindung von (gesundheitlichen) Belastungen zu unterstützen (s. a. Potenziale, Grenzen und Risiken von helfenden und schützenden Interventionen [Kap. 30], s. a. Sexueller Missbrauch. Definition, Prävalenzen, Schädigungsmechanismen und Folgen [Kap. 23]). Als öffentliche Hilfen zur Abwendung einer Gefährdung, um (weitreichendere) Eingriffe in die elterliche Sorge zu vermeiden, decken diese Angebote mit Bezug auf Kinder je nach den spezifischen Gesundheitsfragen – etwa zwischen zahnärztlicher Behandlung und Entwicklungsverzögerung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und Schreibaby – ein weites Spektrum ab. Diagnostik zur Entwicklung im sozialpädiatrischen Zentrum oder bei psychischer Störung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie können insoweit helfen, die Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit und elterlicher Erziehung in den Blick zu nehmen.

Angebote für psychisch oder suchtkranke Eltern beziehen zunehmend die Elternrolle und die Bedürfnisse der Kinder mit ein, etwa als Gruppenangebote, Patenschaften, multimodalen oder kombinierten Ansätzen. Die Verbreitung der Angebote ist aber noch weit entfernt von bundesweiter Verlässlichkeit (Schmenger & Schmutz 2019). In einigen Kliniken und Reha-Einrichtungen besteht die Möglichkeit, dass Kinder zu stationären Aufenthalten ihrer psychisch oder suchterkrankten Eltern mitgenommen werden können („Begleitkinder“). Die Finanzierung erfolgt über die Krankenversicherung (z. B. § 11 Abs. 3, § 18 Abs. 2 SGB V), Rentenversicherung (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 SGB V) oder als unbenannte Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 2 SGB VIII. Bei der Beurteilung der Geeignetheit solcher Formen der gemeinsamen Unterbringung erhöhen sich häufig die Chancen auf einen Behandlungserfolg bei den Eltern, zu prüfen ist allerdings auch, ob ein entwicklungsförderliches Aufwachsen des Kindes oder Jugendlichen und damit dessen Wohl mit der Hilfe gewährleistet werden kann (z. B. Auswirkungen eines Wechsels des sozialen, persönlichen Umfelds, Lebensumgebung und ausreichend Förderung des Kindes in der Einrichtung für Erwachsene, Erziehungsfähigkeit der Eltern während der Therapie; näher hierzu Meysen et al. 2019b).