1 Einleitung

In der Kinderschutzpraxis kommt es darauf an, die elterlichen Einstellungen und Praktiken mit den Bedürfnissen eines konkreten Kindes und seinem Alter in Beziehung zu setzen. Zum Beispiel sind Säuglinge und Kleinkinder existenziell auf ihre Bezugspersonen und deren Zuwendung bzw. Versorgung angewiesen und daher besonders vulnerabel. Darüber hinaus wirken die ersten Erfahrungen nach, da sie das Fundament für die weitere körperliche, geistige, emotionale und soziale Entwicklung legen (Bornstein 2014). In dem vorliegenden Beitrag wird zunächst auf die Pflege und Versorgung als Teilaspekte elterlicher Erziehungsfähigkeit sowie deren Einschätzung eingegangen. Anschließend wird die Vermittlung emotionaler Geborgenheit als eine weitere wichtige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung thematisiert. Diese Aspekte müssen ausreichend geprüft werden, wenn in Kinderschutzverfahren die Fragen nach der Erfüllung der kindlichen Bedürfnisse und nach der Erziehungsfähigkeit des betreuenden Elternteils beantwortet werden sollen.

2 Pflege- und Versorgungsaspekt elterlicher Erziehungsfähigkeit und deren Einschätzung

In Folgendem wird zunächst auf einige zentrale Aspekte elterlicher Pflege- und Versorgungsleistungen eingegangen (26.2.1 bis 26.2.3), um sie im zweiten Schritt in Bezug zu den sozio-emotionalen Entwicklungsaufgaben des Kindes zu stellen (26.2.4). Danach werden Empfehlungen hinsichtlich der Einschätzung elterlicher Pflege- und Versorgungsfähigkeit formuliert (26.2.5).

2.1 Aspekte elterlicher Pflege- und Versorgungsleistungen

Elterliche Pflege- und Versorgungsleistungen sind in den ersten Lebensjahren von hoher Bedeutung, da sich Säuglinge und Kleinkinder weder selber versorgen noch selbst schützen oder Hilfe holen können. Eltern von Säuglingen und Kleinindern sind in der Betreuung und Versorgung ihres Nachwuchses stark gefordert, allein schon um die körperlichen Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen, seine Signale kennenzulernen, eine Beziehung aufzubauen und die Entwicklung anzuregen. Säuglinge und Kleinkinder entwickeln sich sehr rasch und der große Kompetenzzuwachs in dieser Entwicklungsphase (Bornstein 2019a) verlangt von Eltern viel Flexibilität. Beispielsweise sind die Anforderungen an die Sicherheit in der Wohnung bei einem Krabbelkind ganz andere als noch bei einem Säugling. Entsprechend haben Eltern von Säuglingen und Kleinkindern von allen Eltern die wenigste Freizeit, da die Betreuungs-, Pflege- und Versorgungshandlungen den größten Posten im täglichen Zeitbudget bilden (Panova et al. 2017). Bei Krankheiten und Entwicklungsauffälligkeiten, etwa frühkindlichen Regulationsstörungen, können die (zeitlichen) Anforderungen an Eltern noch einmal massiv steigen (Cierpka 2015). Mit zunehmendem Alter reduziert sich der Zeitaufwand für pflegerische Leistungen und auch ihre unmittelbare Bedeutung für Gesundheit und Wohlergehen des Kindes nimmt ab (Kindler & Reich 2006). Je älter die Kinder, umso mehr Zeit verbringen sie außerhalb des elterlichen Haushalts und damit auch unabhängig von den primären Bezugspersonen.

Sowohl national als auch international besteht in vielen Punkten Konsens darüber, was als grundlegende und minimal notwendige elterliche Pflege- und Versorgungsleistung für Säuglinge und Kleinkinder zu betrachten ist (Department of Health 2000; Hundt 2014; Kindler & Reich 2006; Reich 2005; Sierau et al. 2014), etwa:

  • Körperliche Bedürfnisse:

    • Die Gewährleistung einer ausreichenden Ernährung und Zufuhr von Flüssigkeit

    • Versorgung des Kindes mit einem angemessenen Schlafplatz, Unterkunft, adäquater, wetterangemessener Kleidung

    • genug Schlaf bzw. ein Schlaf-Wach-Rhythmus, ausreichende Hygiene

    • Körperkontakt bei jüngeren Kindern (Norholt 2020)

  • Schutzbedürfnisse:

    • Ein angemessener Schutz vor erkennbaren Gefahren oder Schaden,

    • angemessene Beaufsichtigung des Kindes, um auf dessen Bedürfnisse reagieren zu können,

    • ein grundlegender Schutz vor Krankheiten in Form von (zahn-)medizinischen Vorsorgeuntersuchungen und ärztlicher Vorstellung bei Beschwerden, die über Bagatellen hinausgehen.

Die Verständigung über grundlegend notwendige Punkte bei der Pflege und Versorgung eines Kindes bedeutet nicht, dass jede einzelne Situation eindeutig als angemessen oder unangemessen eingeordnet werden kann. Zwar gibt es eindeutig unangemessene Situationen (z. B. einen Säugling eine ganze Nacht allein zu lassen). Häufig klärt sich das Bild zur Erziehungsfähigkeit eines Elternteils im Bereich Pflege und Versorgung aber erst über mehrere Beobachtungen und Gespräche hinweg. Mit dem Begriff eingeschränkter Erziehungsfähigkeiten sollte dabei vorsichtig umgegangen werden, sodass er nicht bei möglicherweise vorübergehenden Unsicherheiten oder Übergangskrisen angewandt wird, da dies die Herausforderungen der Eltern bei der Pflege und Versorgung von Kindern unterschätzt. Zwar verfügen Eltern – sowohl Mütter als auch Väter – in der Regel über intuitive Kompetenzen im Umgang mit Säuglingen (Djordjevic & Götz 2016; Papousek 2001). Diese können jedoch durch widrige frühere oder bestehende Beziehungserfahrungen, beeinträchtigtes psychisches oder physisches Wohlbefinden sowie spezifische Besonderheiten des Kindes beeinträchtigt sein. Zudem können mittels Intuitionen konkrete Fragen oft nicht beantwortet werden, etwa wie Unfallgefahren vermindert oder das Füttern gestaltet werden kann. Daher fühlen sich Eltern bei der Versorgung und Pflege ihres Kindes oft unsicher (Bornstein 2019a). Säuglinge und Kleinkinder können ihre Bedürfnisse und Wünsche noch nicht klar ausdrücken, oftmals müssen Eltern daher lediglich Vermutungen anstellen. Dabei zeigt sich notwendigerweise ein erhebliches Maß an Unterschiedlichkeit zwischen Eltern. In einer Studie wurden beispielsweise Mütter von einem Monat alten Säuglingen gebeten, einzuschätzen, welche Gefühle sie bei ihren Kindern wahrnehmen konnten. Neben Gefühlen, die von nahezu allen Müttern wahrgenommen wurden (99 % Interesse, 95 % Freude), gab es auch viel Unterschiedlichkeit, welche Gefühle bei den Kindern erkannt wurden (84 % Ärger, 58 % Angst und 34 % Trauer) (Johnson et al. 1982).

Hinzukommen unterschiedliche oder teilweise widersprüchliche Empfehlungen zur guten Pflege und Erziehung, die die Eltern bekommen, sei es von Fachkräften, aus der Fach- oder Ratgeberliteratur oder aus dem Freundeskreis. Eltern können die Angemessenheit ihres Handelns z. B. im Hinblick auf Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes (alleine aus einem Becher trinken oder das Brot selber schmieren, Anziehen und Ausziehen) oftmals erst nach einer Erprobung beurteilen. Dies sind alles Gründe dafür, den Eltern einen Spielraum für eigene Lernerfahrungen und Beobachtungen einzuräumen, ohne gleich von Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit zu sprechen (Kindler & Reich 2006).

2.2 Erziehung und Fürsorgeleistungen

Grundlegendes Wissen von Eltern über Themen wie Ernährung, Schlaf, Sicherheit, Umgang mit Krankheiten oder besondere gesundheitliche Bedürfnisse ihres Kindes ist von Bedeutung für eine gute Versorgung (Bornstein 2019b). Dies gilt insbesondere für Phasen des Übergangs (z. B. Entlassung aus der Geburtsklinik nach Hause), den Umgang mit nicht-alltäglichen Situationen (z. B. Erkennen von Unfallgefahren) und die Versorgung eines akut oder chronisch kranken Kindes bzw. eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen (z. B. Umgang mit einem Schreibaby). In all diesen Situationen fehlen oder greifen erlernte Routinen noch nicht bzw. können nur beschränkt von Vorerfahrungen übertragen werden. Neben fehlendem Wissen können auch eine ablehnende emotionale Einstellung zum Kind, eine übergroße Unsicherheit oder fehlende Unterstützung eine gute Pflege und Versorgung untergraben (Johnston et al. 2018). Elterliche Pflege und Versorgung haben mehrere Facetten, was die Erfassung und Beschreibung im Einzelfall erschwert und eine gute Übersicht umso erforderlicher macht. Bornstein (2019b, S. 13f.) beschreibt hierzu etwa vier übergeordnete Arten von Fürsorgeleistungen, die in dieser frühen Entwicklungsphase vorrangig sind:

  1. a)

    Die pflegerische Versorgung (nurturant caregiving): diese Art der Versorgung entspricht den körperlichen Bedürfnissen des Säuglings insbesondere hinsichtlich Nahrung, Schutz, Beaufsichtigung und Pflege. Die Eltern sind maßgeblich verantwortlich für die Förderung des Wohlbefindens der Säuglinge sowie die Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten. Zudem schützen Eltern Säuglinge vor Risiken und Stressoren.

  2. b)

    Soziale Fürsorge (social caregiving): Diese Art der Fürsorge umfasst die vielfältigen visuellen, verbalen, affektiven und physischen Verhaltensweisen, die Eltern nutzen, um Säuglinge in den zwischenmenschlichen Austausch mit einzubeziehen. Hierzu gehört zum Beispiel Lächeln, Blickkontakt, Mimik und Gestik, Vokalisieren, Berührung oder Küssen. Zudem gehört zur sozialen Fürsorge auch die Regulierung des kindlichen Affekts, also etwa das Trösten bei Weinen sowie das Management und die Überwachung der sozialen und emotionalen Beziehungen des Kindes zu anderen Personen einschließlich den Geschwistern, weiteren Verwandten und außerfamiliären Bezugspersonen.

  3. c)

    Anleitung und didaktische Begleitung (didactic caregiving): Die didaktische Begleitung besteht aus verschiedenen Strategien, die Eltern anwenden, um Säuglinge anzuregen, sich mit der Umwelt zu beschäftigen und diese zu verstehen. Dazu gehört die Fokussierung der Aufmerksamkeit des Säuglings auf Dinge, Objekte oder Ereignisse in der Umgebung, das Vorstellen, Vermitteln und Interpretieren der Außenwelt, das Beschreiben und Demonstrieren sowie das Anregen oder Bereitstellen von Gelegenheiten zum Beobachten, Nachahmen und Lernen.

  4. d)

    Materielle Fürsorge (material caregiving): Die materielle Fürsorge umfasst die Art und Weise, wie Eltern die physische Umwelt des Säuglings gestalten und organisieren. Erwachsene sind verantwortlich für die Anzahl und Vielfalt der dem Kind verfügbaren Objekte (Spielzeug, Bücher), den Grad der Stimulation in der Umgebung, die Grenzen der körperlichen Freiheit und die Sicherheit des Kindes.

2.3 Väter als potenzielle Ressource

Meist übernehmen bislang Mütter die Hauptrolle bei der Pflege und Versorgung der Kinder, wobei historisch gesehen Kinder wie Mütter lange Zeit beide der rechtlichen Verantwortung von Vätern unterworfen waren. Vielfach wurde Müttern bzw. Frauen die alleinige Kompetenz für die Pflege und Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern zugesprochen und zeitweise unter dem Begriff der „tender years doctrine“ hieraus auch ein genereller Vorrang von Müttern bei Sorgerechtsverfahren betreffend jüngere Kinder abgeleitet (French 2019). In Kinderschutzverfahren lebt diese Tradition teilweise fort, indem Mütter eher als Väter für Vernachlässigung verantwortlich gemacht werden (Swift 1995) und ihre Kompetenzen im Bereich Pflege und Versorgung intensiver untersucht werden als die von Vätern. Tatsächlich hat die Zeit, die Väter mit ihren Kindern verbringen, zwar in den westlichen Kulturen zugenommen, dennoch übernehmen Väter immer noch vergleichsweise weit weniger Verantwortung für die Pflege und Erziehung der Kinder als Mütter (Bornstein 2019b). Nur bei 1,5 % der Familien übernehmen Väter beim Zusammenleben der Elternteile gleich viel oder gar mehr Erziehungszeit als ihre Partnerinnen (Lipp & Molitor 2016). Pleck (2012) spricht davon, dass Väter sich bei der Pflege und Versorgung häufig auf eine eher helfende Rolle beschränken. Entsprechend haben Väter in Kinderschutzverfahren häufig vergleichsweise weniger Erfahrung mit der eigenverantwortlichen Pflege eines Kindes oder seltener auftretenden Versorgungssituationen (z. B. Arztbesuch mit dem Kind). Als Gruppe betrachtet, können Väter jedoch eine ähnliche Kompetenz im Bereich der Pflege und Versorgung erwerben wie Mütter, weshalb es im Einzelfall sinnvoll sein kann, Väter noch stärker als Ressource zu betrachten und zu fördern.

2.4 Kindliche Entwicklung im Kontext Pflege und Versorgung

Ein etwas anderer Blick auf elterliche Pflege und Versorgung ergibt sich, wenn frühe Entwicklungsaufgaben von Kindern und die Rolle von Eltern in den Mittelpunkt gerückt werden. Geprägt wird dieser Blick vom Bild des „kompetenten Säuglings“ (Dornes 1993), der für seine Entwicklung aber auf Anregung und Beziehung angewiesen ist. Die kognitiven Fähigkeiten der Kinder weiten sich bereits im Säuglingsalter rasch aus (Siegler et al. 2011): Schon vor Sprachbeginn fangen die Kinder an, Regelmäßigkeiten (Kontingenzen) und Kausalrelationen zu verstehen sowie Kategorien und Konzepte zu bilden. Die motorische Entwicklung und Wahrnehmung spielt bei dem kognitiven „Begreifen“ der Umwelt eine zentrale Rolle. Die Kleinkinder erforschen aktiv neue Objekte und probieren bewusst Handlungen aus, um ihre Konsequenzen kennenzulernen (Verhoeven et al. 2019; Zimmer 2019). Dabei wird der sensitiven Begleitung seitens der Eltern jeweils eine wichtige Rolle beigemessen. Je nach Alter und Entwicklungsaufgabe können die Bezugspersonen dem Säugling auf etwas unterschiedliche Weise helfen, die Aufgaben zu erfüllen (vgl. Tab. 26.1). Pflege und Versorgung erscheint damit nicht mehr nur als etwas Notwendiges, sondern der Art und Weise, wie Pflege und Versorgung erfolgt, wächst eine Rolle bei der weiteren sozialen und emotionalen Entwicklung zu.

Tab. 26.1 Sozio-emotionale Entwicklungsaufgaben im Säuglingsalter (Baker 2018; Waters & Sroufe 1983)

2.5 Einschätzung elterlicher Pflege- und Versorgungsfähigkeit

Auf der anderen Seite kann eine grob unzureichende Versorgung und mangelnde Pflege von Säuglingen und Kleinkindern rasch zu erheblichen Gefahren führen. Der höchste Anteil der Gefährdungen bei Kindern unter drei Jahren ist auf Vernachlässigung zurückzuführen und bei Säuglingen oder sehr jungen Kindern kann ein völliger oder weitgehender Zusammenbruch von Versorgung schnell zu Schädigungen bis hin zum Tod führen. Das Risiko, dass Kinder dann verhungern, dehydrieren oder innere Verletzungen bspw. durch Schütteln erleiden, ist hoch (Schutter 2020). Zudem zeigen vor allem Säuglinge das höchste Risiko, an einem Unfall (Bajanowski et al. 2005) oder aufgrund von Gewalt zu sterben (Ellsäßer 2017). Es wäre aber falsch, die möglichen Folgen mangelnder Pflege und Versorgung allein auf schwere drohende unmittelbare Schädigungen zu reduzieren. Vielmehr steht eine chronisch mangelhafte Pflege und Versorgung, auch ohne lebensbedrohliche Ereignisse, in Langzeitstudien deutlich mit Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, des Selbstvertrauens, der sozialen Fähigkeiten und des Schulerfolgs in Zusammenhang (z. B. Egeland 1997; Johnson et al. 2017; Manly et al. 2001; Vanderminden et al. 2019). Daher muss gerade in kritischen Entscheidungssituationen (z. B. vor der Entlassung von einer Geburtsstation oder bei der diagnostischen Abklärung nach einer eingegangenen Gefährdungsmeldung) fundiert eingeschätzt werden, ob Eltern ein Kind angemessen versorgen und pflegen können.

Eine solche Einschätzung baut auf einigen Informationen auf, die als Hintergrund für die Beurteilung wichtig sind. Dies gilt zunächst für die psychische (Calam & Bee 2018) und körperliche (Riedesser & Schulte-Markwort 1999) Gesundheit der betroffenen Eltern, auch wenn gesundheitliche Einschränkungen in aller Regel keinen direkten Schluss auf eine erhebliche Einschränkung der elterlichen Fähigkeit zur Versorgung und Pflege eines Kindes rechtfertigen, da sich Eltern mit ein und derselben Diagnose in ihrer Fähigkeit zu Pflege und Versorgung sehr unterscheiden können (vgl. auch Benjet et al. 2003; s. a. Psychische Erkrankung und Erziehungsfähigkeit [Kap. 28]). Zudem kann die Aufgabe der Elternschaft durch bestimmte Eigenschaften des Kindes komplexer und herausfordernder werden, vor allem im Hinblick auf das Temperament des Kindes, (chronische) Erkrankungen, körperliche oder geistige Behinderung, Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten (Bornstein 2019a). Deshalb sind auch Informationen hierzu als Hintergrund wichtig. Allerdings können solche Eigenschaften möglicherweise nur in Kooperation mit einem Kinderarzt bzw. einer Kinderärztin oder einer anderen involvierten Fachkraft aus dem Gesundheitswesen genauer eruiert werden.

Für den Kern der Einschätzung empfehlen Kindler und Reich (2006) Informationen zu den folgenden vier Punkten zusammenzutragen und gemeinsam zu bewerten:

Der gegenwärtige Versorgungszustand und die Entwicklungsgeschichte des Kindes

Wichtig ist die Inaugenscheinnahme des Kindes, etwa durch sozialpädagogische Fachkräfte, Sachverständige oder im Rahmen von Besuchen in der kinderärztlichen Praxis. Dabei ist unter anderem auf folgende Merkmale zu achten: den Zustand, Geruch und Angemessenheit der Kleidung, Aussehen der Zähne, Übermüdungssymptome (dunkle Augenringe, Trägheit, gegebenenfalls Reizbarkeit), bei Säuglingen und Kleinkindern Vorhandensein von wunden Stellen im Windelbereich, Sauberkeit im Bereich größerer Hautfalten sowie ausreichende Flüssigkeitszufuhr (mögliche Anzeichen für Dehydration: trockene Mund- und Augenschleimhäute, fehlende Tränenflüssigkeit bei Weinen, belegte Zunge, Verhaltensänderung im Richtung Teilnahmslosigkeit, Lethargie, trockene Windel, dunkler Harn, blasse, wie marmorierte Haut, die bei Druck der Fingerkuppe nur allmählich wieder rötlich gefärbt wird).

Aus der Entwicklungsgeschichte, so wie sie im Kinder-Untersuchungsheft dokumentiert ist, sind unter Umständen Hinweise darauf erkennbar, ob ein deutlich unterdurchschnittliches Größenwachstum oder eine deutlich unterdurchschnittliche Gewichtszunahme vorliegen. Jedoch ist eine medizinische Abklärung notwendig, um herauszufinden, ob eine Gedeihstörung (Abknicken von der vom Kind etablierten Gewichtsperzentile) besteht, die auf unzureichende Versorgung zurückzuführen ist (Koletzko et al. 2019; Speer et al. 2019).

Die beobachtbare und berichtete Versorgung des Kindes und ihre Einbettung in das Leben des Elternteils

Zur Einschätzung der Qualität von Pflege und Versorgung gehört bei Säuglingen und Kleinkindern die direkte Beobachtung von entsprechenden Situationen (Wickeln, Füttern), ergänzt durch Gespräche mit den Eltern sowie eventuell vorhandene Fremdberichte (sozialpädagogische Familienhilfe, Kinderkrankenhaus, Mutter-Kind-Heim). Ältere Kinder können auch selbst zu Körperhygiene, Kleidung, elterlicher Beaufsichtigung und fehlenden Mahlzeiten exploriert werden. Vernachlässigung, etwa in Form unzureichender Versorgung mit Nahrung, meint dabei ein Muster wiederholter Unterversorgung, nicht das ein- oder zweimalige Fehlen von Mahlzeiten (Sierau et al. 2014). Als Unterstützung für die Beurteilung der vielen verschiedenen Aspekte von Pflege und Fürsorge auf der Grundlage der gesammelten Informationen wurden in Konsensrunden von Fachkräften mehrere Orientierungskataloge erstellt, die teilweise im Internet frei zugänglich sind, siehe z. B. Orientierungskatalog des Jugendamtes Landkreis Görlitz (2014); Jugendamtes Stuttgart (2005); Mall & Friedmanns (2016) oder Kersting (2008). Zu keinem dieser Orientierungskataloge wurden bislang allerdings Evaluationen veröffentlicht.

In der Eltern-Kind-Interaktion während Pflegehandlungen kann grundsätzlich auf die Bereitschaft und Fähigkeit eines Elternteils zu einem angemessenen Eingehen auf Signale des Kindes geachtet werden. Wenn diese elterlichen Fähigkeiten nicht oder nur defizitär ausgebildet sind, können sie systematisch im Rahmen von Feinfühligkeitstrainings verbessert werden. Solche Programme zielen darauf ab, die kommunikativen Signale der Kinder wahrzunehmen, zu interpretieren sowie prompt und adäquat auf diese zu reagieren (Hänggi et al. 2011; Ziegenhain et al. 2012, 2010). Ergeben sich zudem in der Beobachtung oder im Gespräch Auffälligkeiten, stellt sich die Frage nach Hintergründen. Manchmal entwickelt sich aus der Kombination eines unerfahrenen oder belasteten Elternteils mit einem Kind, das Regulationsprobleme oder ein schwieriges Temperament aufweist, eine negative Geschichte von Fütter-, Wickel- oder Einschlafinteraktionen, die dann in Form eskalierter Konflikte sichtbar oder berichtet werden. Die Versorgung eines Kindes kann zudem lebensgeschichtlich geprägte innere Konflikte und Spannungen in einem Elternteil triggern, die in der Literatur als „care conflict“ beschrieben wurden (Reder & Duncan 2001): Die selbst erlebte Vernachlässigung und Zurückweisung wird durch die Fürsorge für das eigene Kind wieder präsent und äußert sich durch Schwanken zwischen einem hohen Anlehnungsbedürfnis oder einer Überbehütung sowie andererseits Distanzierung von dem Kind und den Rollenerwartungen als Elternteil. Auch intergenerationale Transmission von erfahrener Vernachlässigung kann zum Tragen kommen (van Wert et al. 2019). Vereinzelt führen weltanschauliche Haltungen oder religiöse Überzeugungen zu einer mit Gesundheitsgefahren verbundenen einseitigen Ernährung oder einer Verweigerung dringend notwendiger medizinischer Hilfe (Boos & Fortin 2014).

Das unmittelbare Lebensumfeld des Kindes

Die unmittelbare Umgebung eines Kindes spiegelt die Qualität elterlicher Pflege und Versorgung wider. Es zeigt sich unter anderem, wie mit möglichen Unfallgefahren umgegangen wird (ungesicherte Treppen zu Hause, Fenster, Balkone oder Wasserstellen im Garten, gefährliche Gegenstände, Medikamente, siehe z. B. Agbato 2017; LeBlanc et al. 2006; Tymchuk et al. 2003). Auch die Art der Haushaltsführung liefert aufschlussreiche Informationen etwa im Hinblick auf Vorratshaltung der Lebensmittel, Umgang mit finanziellen Mitteln, Ordnung, Beschaffung und Instandhaltung von Hausgeräten wie Herd, Kühlschrank oder Waschmaschine. Wenn keine intakten Haushaltsgeräte vorhanden sind, kann dadurch die Haushaltsführung, Alltagsbewältigung und somit auch die Pflege und Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern deutlich erschwert werden. Daher dient die Informationsgewinnung über das unmittelbare Lebensumfeld des Kindes zur Feststellung des Handlungsbedarfs und Abwägung der zu ergreifenden Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen.

Wirkung sachgerechter Interventionen zur Förderung der angemessenen Pflege und Versorgung des Kindes

Zunächst muss reflektiert werden, ob die bereits durchgeführten Interventionen und Hilfemaßnahmen angemessen waren (Macsenaere 2019). Falls dem so ist, kann mangelnde Erziehungsfähigkeit im Bereich Pflege und Versorgung als ein möglicher Grund für das Scheitern von Interventionsversuchen betrachtet werden.

Die Fähigkeit zur Versorgung und Pflege eines Kindes stellt einen grundlegenden Bereich elterlicher Fürsorge dar. Es sind nur wenige Fallkonstellationen denkbar, bei denen die Erziehungsfähigkeit in diesem Bereich erheblich eingeschränkt ist, während andere Bereiche der Erziehungsfähigkeit als gegeben angesehen werden können. Selbst bei erheblicher körperlicher Behinderung eines Elternteils liegt keine Einschränkung der Erziehungsfähigkeit vor, wenn bei gegebener Einsicht des Elternteils hinsichtlich der eigenen Einschränkungen z. B. geeignete Hilfen Dritter (Elternassistenz) oder Hilfsmittel (z. B. technische Hilfsgeräte für sprach- oder sehbehinderte Menschen zur Unterstützung der Kommunikation) verfügbar sind (Salzgeber 2020, S. 585). Oftmals ist jedoch eine angemessene Pflege und Versorgung gegeben, während andere Bereiche der Erziehungsfähigkeit wie z. B. Vermittlung von Regeln und Werten oder Aufbau und Aufrechterhaltung von Bindungsbeziehungen stark beeinträchtigt sind. Daher ist ein ganzheitlicher Blick unter Berücksichtigung der einzelnen Aspekte der Erziehungsfähigkeit notwendig, der auch das Bedürfnis der Kinder nach stabilen unterstützenden Gemeinschaften und nach Kontinuität im Visier hat.

3 Vermittlung emotionaler Geborgenheit

Vertrautheit und emotionale Geborgenheit, die sich als Zustand der wahrgenommenen emotionalen Sicherheit charakterisieren lässt, entsteht in Bindungen und Bindungsbeziehungen (Ahnert 2019). Bindungen sichern Zugang und Nähe zu Bindungspersonen und bedeuten für den anfangs sehr unreifen Nachwuchs Schutz und emotionale Sicherheit (zur Vertiefung s. a. Bindung und Trennung [Kap. 13]). Beständige, liebevolle Beziehungen sind für eine gesunde kindliche Entwicklung essenziell und gehören daher zu den Grundbedürfnissen von Kindern (Brazelton et al. 2002). Das Bedürfnis nach Bindung ist auch in der Praxis der Entscheidungsfindung im Familiengericht bedeutsam und zählt zu den Bedürfnissen, die den Kriterien der Kindeswohlprüfung bei gerichtlichen Streitfällen zugrunde liegen (Coester 1983, S. 175 ff.; vgl. Tab. 26.2). Diese kindlichen Bedürfnisse sind sowohl im Kindschaftsrecht als auch für Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe von Bedeutung.

Tab. 26.2 Bedürfnisse, die den Kriterien der Kindeswohlprüfung im Rahmen gerichtlicher Streitfälle zugrunde liegen (Kindler 2020, S. 115)

Neugeborene sind noch nicht an eine spezifische Person gebunden, jedoch lernen Babys mit der Zeit über alltägliche Fürsorge, ausdauernde Blickkontakte, emotionale Zuwendung sowie gemeinsames Spiel, wer für sie Fürsorge übernimmt und zugänglich ist. Im Laufe des ersten Lebensjahres entsteht aus diesen alltäglichen Erfahrungen eine tiefe und oft lebenslange Bindung zu den Eltern oder anderen alltäglichen Fürsorgepersonen (Cummings & Warmuth 2019). Diese Entwicklung kann auf der bereits zum Zeitpunkt der Geburt oder kurz danach vorhandenen Fähigkeit von Kindern aufbauen, Stimme und Gerüche, etwas später auch den Anblick ihrer Bezugspersonen zu erkennen, was in der Regel Mütter und Väter betrifft (Bornstein et al. 2015). So bildet sich das Bindungssystem des Kindes heraus („attachment system“), im Zuge dessen das Kind in Gefahrsituationen oder bei emotionaler Belastung die Nähe zu den vertrauten Personen sucht. Je nachdem, welche Erfahrungen das Kind mit der jeweiligen Bindungsperson macht, bilden sich unterschiedliche Bindungsqualitäten als relativ stabile Muster bei der sozialen Bewältigung von kindlicher emotionaler Belastung und Stresssituationen heraus (Ainsworth et al. 1978): sogenannte sichere, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindungsqualität. Eine sichere Bindungsqualität entsteht bei in der Regel unterstützenden Bindungspersonen und zeichnet sich durch einen offenen Ausdruck von Belastungen gegenüber der Bindungsperson aus, wodurch Stresssituationen gut ausbalanciert werden können und das Kind weiterspielen oder explorieren kann. Bei unsicher-vermeidender Bindungsqualität kann eine Vermeidung der Kommunikation von vorhandenen emotionalen Belastungen beobachtet werden, wobei sich das Kind kaum beruhigen kann, aber eine ansonsten drohende Zurückweisung durch die Bindungsperson das Mitteilen der vorhandenen emotionalen Belastungen verhindert. Bei einer unsicher-ambivalenten Bindungsqualität dient die Bindungsperson selbst bei deutlichen Belastungssignalen erkennbar weniger als Quelle der Beruhigung, da eine eher unbeständige Fürsorge erlebt wurde.

Bei der Herausbildung der verschiedenen Bindungsmuster spielt die feinfühlige Wahrnehmung, Responsivität (Antwortbereitschaft) und promptes und angemessenes Eingehen auf kindliche Signale eine wichtige Rolle. Die Bindungserfahrungen wirken sich auf sich entwickelnde innere Beziehungsmodelle aus, die wiederum die Beziehungs- und Bewältigungsfähigkeiten der Kinder zukünftig mitbestimmen. Zudem werden die Bindungserfahrungen der Erwachsenen an die nächste Generation weitergegeben, wobei die elterliche Feinfühligkeit als ein wichtiges Bindeglied zwischen elterlicher Bindungsrepräsentation (d. h. Organisation und Bewertung von Erinnerungen und Erfahrungen mit den Bindungspersonen) und kindlichem Bindungsverhalten fungiert (van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg 2019). Mit der elterlichen Feinfühligkeit wird die Fähigkeit einer Bindungsperson bezeichnet, die Signale des Kindes zu erkennen, richtig zu interpretieren sowie prompt und angemessen auf diese Signale zu reagieren. Somit ist Feinfühligkeit als Oberbegriff für bindungsrelevante Qualitätsmerkmale des Interaktionsverhaltens von Müttern und Vätern zu verstehen, wobei aktuellen Befunden zufolge keine bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich der Feinfühligkeit von Müttern und Vätern bestehen (Eickhorst et al. 2010). Allerdings zeigen eine Reihe von empirischen Ergebnissen, dass positive wie negative Lebensereignisse die bestehenden Bindungsmuster verändern können (Kirkpatrick & Hazan 1994; Feeney & Noller 1996). So kann z. B. ein unsicher gebundenes Kind im Zuge von sicheren Beziehungs- und Bindungserfahrungen ein sicheres Bindungsmuster aufbauen. Umgekehrt kann durch traumatische Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Verlust eines Elternteils ein unsicheres Bindungsmuster entstehen. Auch die inneren Beziehungsmodelle können sich ändern, wenn neue Erfahrungen den bisherigen Erfahrungswerten grundlegend widersprechen.

Meist spiegelt sich in der kindlichen Bindungsentwicklung vor allem die erfahrene Fürsorge seitens der Eltern wider, wodurch bedeutsame Beeinträchtigungen der Bindungsentwicklung Rückschlüsse auf elterliche Erziehungsfähigkeit und insbesondere die Vermittlung emotionaler Geborgenheit möglich sind. Ausnahmen, die keine Rückschlüsse auf eine eingeschränkte elterliche Erziehungsfähigkeit erlauben, bilden z. B. psychische Erkrankungen des Kindes wie etwa Störungen aus dem autistischen Spektrum (Rutgers et al. 2007), die zeitweise Herausnahme eines Kindes aus der Familie oder eine schwere kindliche Erkrankung verbunden mit einem langen stationären Klinikaufenthalt.

Der Bindungsaspekt der elterlichen Erziehungsfähigkeit kann auch aufgrund von elterlichen (psychischen) Erkrankungen oder Belastungen beeinträchtigt sein, wenn die Erkrankung dazu führt, dass Eltern als Bindungspersonen häufig nicht, verzögert, sehr wechselhaft, feindselig oder Angst auslösend auf das Kind reagieren (Azar et al. 2017; Benjet et al. 2003). Jedoch lässt sich die Beschreibung der Erziehungsfähigkeit nicht ohne Weiteres aus einer gestellten medizinischen Diagnose ableiten, sondern elterliches Fürsorgeverhalten und Bindungsmuster beim Kind sollten direkt eingeschätzt werden (Salzgeber 2020). Darüber hinaus kann der Bindungsaspekt der elterlichen Erziehungsfähigkeit aufgrund von Ablehnung eines Kindes wegen seiner Behinderung, Verhaltensstörung oder -auffälligkeiten, chronischen Erkrankung oder anderen Merkmalen beeinträchtigt werden (z. B. Sien et al. 2019). Andererseits können sich jedoch auch positive Fähigkeiten und Stärken der Eltern zeigen, die auf Motivation für etwaige Veränderungsprozesse hindeuten können. Beispielsweise können sich durch die Erfahrung, ein Kind mit einer chronischen Erkrankung aufzuziehen, neue Möglichkeiten und Familienroutinen sowie ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln (Power et al. 2019).

Entsprechend der empirischen Befundlage wird die elterliche Fähigkeit zur Übernahme einer Rolle als positive Bindungsperson als ein zentraler Faktor der Erziehungsfähigkeit in diesem Bereich angesehen (Bornstein 2019b; van Bakel & Hall 2018). Bei der Einschätzung des Bindungsaspekts der elterlichen Erziehungsfähigkeit ist es empfehlenswert, mehrere Indikatoren heranzuziehen und zusammen zu bewerten (Kindler & Zimmermann 2006):

  • Die Beziehungsgeschichte des Kindes mit der Bindungsperson: Hier ist insbesondere auf etwaige längere Trennungen oder krankheitsbedingt eingeschränkte psychologische Verfügbarkeit der Bindungsperson, eingeschränkte Wahrnehmung kindbezogener Bedürfnisse sowie Anhaltspunkte für emotionale Ablehnung oder Schuldzuweisung an das Kind zu achten.

  • Das Verhalten des Kindes in Situationen, die emotionale Belastung beim Kind auslösen können (z. B. Trennungen im Zuge einer Eingewöhnung in einer Kindertageseinrichtung, Müdigkeit, Hunger oder Verletzungen): Relevante Hinweise für die Einschätzung sind insbesondere kindliche Verhaltensmuster, die völlig losgelöst von der Bindungsperson oder Angst gegenüber der Bindungsperson sind, des Weiteren auch Kontaktbereitschaft des Kindes unabhängig davon, ob das Kind die Personen kennt oder nicht.

  • Das beobachtbare Fürsorgeverhalten der Bindungsperson gegenüber dem Kind: Eine sehr geringe Feinfühligkeit dem Kind gegenüber, die sich durch verzerrte Wahrnehmung kindlicher Signale oder stark verzögerte oder unangemessene Reaktionen äußert, stellt einen Anhaltspunkt für eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit dar.

  • Die geäußerte Haltung der Bindungsperson gegenüber dem Kind und ihrer Fürsorgerolle: Hier stehen Anhaltspunkte für eine Ablehnung oder Identifikation des Kindes mit einer äußerst negativ erlebten Person im Vordergrund oder auch Situationen, die auf eine Abwertung oder ein Ausblenden der Bindungsbedürfnisse des Kindes hindeuten. Weitere Hinweise liefern Merkmale von Hilflosigkeit, Verwirrung oder Distanz, die die Fürsorgerolle kennzeichnen.

  • Die Lebensgeschichte und Lebenssituation der Bindungsperson: Hier stellt sich zunächst die Frage, inwieweit eine Bindungsperson selbst mindestens eine positive und dauerhafte Vertrauensbeziehung in ihrer Kindheit erlebt hat, sodass ein positives inneres Modell elterlicher Fürsorge entstehen konnte (Rönnau-Böse 2020; Werner & Smith 2001). Zudem können sich Lebenssituationen oder biografisch bedingte Faktoren ergeben, die die physische oder psychische Verfügbarkeit der Bindungsperson wiederkehrend oder dauerhaft beeinträchtigen (z. B. ausgeprägte negative Residualsymptomatik, also das Weiterbestehen der Symptome nach einer im Wesentlichen erfolgreichen Therapie, bei einer schizophrenen Erkrankung) (Joyal et al. 2007).

  • Das Bild des Kindes von der Beziehung zur Bindungsperson: Ab etwa drei Jahren verfügen die Kinder über ein inneres Bild ihrer Bindungsbeziehungen, was durch Schilderung von konkreten Situationen oder Erfahrungen sowie verbalisiertes Gefühl von Zurückweisung eruiert werden kann (Gloger-Tippelt & König 2016).

  • Die Reaktion der Bindungsperson auf geeignete Hilfen zur Erziehung: Im Rahmen von Hilfen zur Erziehung kann generelle Stabilisierung der Bindungsperson sowie die Förderung ihrer Feinfühligkeit gegenüber dem Kind fokussiert werden (Ziegenhain et al. 2012). Zudem kann die elterliche Bindungsgeschichte aufgearbeitet werden (Grossmann & Grossmann 2007). Erfolglos gebliebene angebotene Hilfen zur Erziehung liefern Hinweise auf Einschränkungen der Fähigkeit eines Elternteils, für das Kind eine stabile und positive Bindungsperson darzustellen, da sich auch zukünftig negative kindliche Bindungserfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vermeiden lassen.

4 Fazit

Das Bedürfnis des Kindes nach körperlicher Versorgung durch Nahrung und Pflege sowie nach Sicherheit und emotionaler Zuwendung in stabilen sozialen Beziehungen, das insbesondere im Kleinkindalter dominant ist, gehört zu den elementaren menschlichen Bedürfnissen, deren Erfüllung für eine gesunde kindliche Entwicklung essenziell ist (Cierpka 2014). Eine mangelhafte oder gar fehlende Bedürfnisbefriedigung kann negative Folgen für die Bewältigung von altersangemessenen Entwicklungsaufgaben und das Kindeswohl mit sich bringen (Dettenborn & Walter 2016).