1 Geschichte sexuellen Missbrauchs als Kinderschutzthema in Deutschland

Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Phänomen, das sich bereits durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht, jedoch erst seit ungefähr vier Jahrzehnten Thema der klinischen Forschung ist, um Kenntnisse über Vorkommen, Gefahren, Maßnahmen zur Prävention und Intervention zu erweitern.

1980er

Zu Beginn der 80er-Jahre galt es zunächst, ein Tabu zu brechen. Betroffenenberichte markierten den Auftakt einer Debatte (Armstrong 1978; Gardiner-Sirtl 1983; Rush 1980). Sowohl beratende, helfende, familienorientierte als auch rechtsmedizinische Zugänge analysierten und diskutierten das Thema (Kavemann & Lohstöter 1984; Trube-Becker 1982; Walter 1989). Gleichzeitig etablierten sich erste Beratungsstellen, welche Beratungs- und Behandlungsangebote für sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche entwickelten und bis heute anbieten, beispielsweise Wildwasser e. V. in Berlin und Wiesbaden, Zartbitter e. V. in Köln, Kind im Zentrum in Berlin. Debatten über Begrifflichkeiten und Symptome wurden entfacht und erste Prävalenzstudien veröffentlicht.

1990er

Mit dem Begriff der „Mittäterschaft“ wurde die Rolle der Frauen bei sexuellem Missbrauch in den späten 80ern diskutiert: Sie waren nicht mehr nur passives Opfer des Gesellschaftssystems, sondern wurden als aktiv Mitwirkende angesehen (Thürmer-Rohr 1989). Damit wurde ein vermehrter Blick auf Frauen als Täterinnen gerichtet (Kavemann 1995). Im Jahr 1993 gab es die erste Fachtagung zu dem Thema (Kavemann 1994). Seitdem erschienen vor allem qualitative Studien, die zeigen, dass das Thema noch ein Tabu-Thema ist und vonseiten des professionellen Hilfesystems bagatellisiert wird (Denov 2001; Denov 2003; Peter 2008). Der Missbrauchsfall in Staufen hat das Thema Frauen als Täterinnen und ganz speziell Mütter als Täterinnen („friendly mother illusion“) erneut in die gesellschaftliche Diskussion gebracht (Geschäftsstelle der Kommission Kinderschutz 2019; Gerke et al. 2019).

2000er

In den Jahren vor der Jahrtausendwende kam es zu Fragen der Glaubhaftigkeit und der Debatte „Missbrauch mit dem Missbrauch“ (Busse et al. 2000; Fegert 1995; Rutschky 1992; Rutschky & Wolff 1994). Von Jurist*innen und Gutachter*innen in familiengerichtlichen Verfahren wurde eine Zunahme von falschen, instrumentalisierten sexuellen Missbrauchsvorwürfen vermutet. Jedoch konnten Busse et al. (2000) in einer umfangreichen Aktenanalyse familiengerichtlicher Verfahren zeigen, dass lediglich 3 % der Fälle Falschbeschuldigungen waren. Auch eine Zunahme an Falschbeschuldigungen wurde nicht bestätigt (Busse et al. 2000). Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung, eine qualitative, kriterienorientierte Textanalyse, wurde durch ein Urteil des BGH in Strafsachen vom 30.07.1999 (BGH 1 StR 618/98) nach den Wormser ProzessenFootnote 1 in Deutschland zum Standard in der Vorgehensweise bei der strafrechtlichen Begutachtung der Aussagen von kindlichen Opferzeugen erhoben. Der Ausgangspunkt dieser Begutachtung, d. h. die sogenannte Nullhypothese, ist die Annahme, dass die Aussage eines Kindes nicht wahr ist. Das heißt, die zugrunde liegende Frage für eine solche Begutachtung ist: „Könnte dieses Kind mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüssen von Dritten diese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert?“ (Volbert 1995). Betroffene fortgesetzter sexueller Gewalt und schwer belastete, multiplen frühen Kindheitsbelastungen ausgesetzte Personen empfinden diese Methode als Zumutung und ein Hinterfragen dieses Sonderwegs scheint angezeigt (Fegert et al. 2018). Dennoch wird diese Methode bis heute verwendet. Die Belastungen durch (Straf-) Verfahren sowie der institutionelle Umgang wurden unter anderem mittels Befragungen von Expert*innen sowie einer prospektiven Untersuchung sexuell missbrauchter Kinder erfasst (Fegert 2001). Es zeigte sich, dass Betroffene sich im Durchschnitt in einem Jahr an sieben unterschiedlichen Stellen vorstellen, wobei die Begutachtung häufig zu einer der Letzten gehört. Dies stellt eine enorme Belastung für die Betroffenen dar.

2010

Im Jahr 2010 kam es zum sogenannten „Missbrauchsskandal“, in dem Betroffene sich öffentlich zu ihren Missbrauchserfahrungen am Canisius-Kolleg, im Kloster Ettal und an der Odenwaldschule sowie im Verlauf an vielen weiteren Institutionen äußerten. Die Bundesregierung reagierte darauf mit der Einrichtung eines Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“. Die ehemalige Berliner Frauensenatorin und Bundesfamilienministerin a. D. Dr. Christine Bergmann wurde als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) berufen. Über eine Anlaufstelle war es Betroffenen, Angehörigen und Fachkräften möglich, sich schriftlich per Brief oder E-Mail sowie telefonisch an die UBSKM und ihre Mitarbeiter*innen zu richten. Die Betroffenen hatten einen Prozess angestoßen, dessen Ziel es war und ist, „konkrete Antworten darauf [zu] finden, welche Hilfe und Unterstützung die Opfer benötigen, was nach Übergriffen zu tun ist und wie sie sich vermeiden lassen“ (Die Bundesregierung, 2010; aus Fegert et al. 2014). Zentral in einem solchen Aufarbeitungsprozess ist die Partizipation Betroffener. Die damalige „Telefonische Anlaufstelle“, heute als „Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch“ fortgeführt durch die aktuelle UBSKM Kerstin Claus, ermöglichte und ermöglicht eine solche Partizipation. Ein 2015 konstituiertes Fachgremium, der Betroffenenrat, vertritt zudem die Gruppe der Betroffenen und nimmt Stellung zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen über Themen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. So sollen die Belange möglichst vieler Betroffener auch auf Bundesebene Gehör finden und öffentlich gemacht werden.

Heute

Mit der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung im Internet geht sexueller Missbrauch vermehrt mit Missbrauchsabbildungen der Kinder (sog. „Kinderpornografie“) einher. Insbesondere die in den Medien berichteten Missbrauchsfälle in Lügde, Münster und Bergisch-Gladbach (Darknet-Plattform Elysium) haben das Ausmaß der Herstellung und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen im Internet und die professionelle Organisation der Täter*innen dargelegt. In der Polizeilichen Kriminalstatistik von 2019 ist ein Anstieg von 65 % bei Herstellung, Besitz, Erwerb und Verbreitung von sog. „kinderpornografischem“ Material im Vergleich zum Vorjahr zu erkennen. Laut Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2019 etwa 12.300 Fälle gemeldet, wobei die Dunkelziffer höher zu vermuten ist. Auch die Annäherung der Täter*innen an die Kinder und Jugendlichen geschieht zunehmend über das Internet (Cyber-Grooming). Laut der „EU Kids Online“ Studie (Hasebrink et al. 2019) gaben etwa 30 % der befragten 12- bis 17-Jährigen an, im letzten Jahr online nach sexuellen Dingen gefragt worden zu sein, obwohl sie diese Fragen nicht beantworten wollten. Unter den 15- bis 17-Jährigen wurde den Daten zufolge fast jede*r Zweite bereits so kontaktiert.

Die Corona-Pandemie hat das Geschehen des sexuellen Kindesmissbrauchs zusätzlich auf digitale Wege gelenkt. Laut der EU-Polizeibehörde Europol haben die Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet im Jahr 2020 deutlich zugenommen. Die Täter*innen suchen vermehrt nach Material, versuchen aber auch Kinder zu kontaktieren, die aufgrund der Pandemie mehr Zeit im Internet verbringen und dabei oft nicht beaufsichtigt werden (NDR, 28.12.2020).

Auch die Gesetzgebung hat sich an den technischen Wandel angepasst und am 22. Juni 2021 mit dem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder reagiert. Darin wurde sowohl das Strafrecht verschärft (z. B. bei Verbreitung, Besitz und Beschaffung von Missbrauchsabbildungen und der Verjährungsfrist), als auch eine bessere Strafverfolgung ermöglicht (z. B. Untersuchungshaft, Onlinedurchsuchungen). Neben der Ergänzung des Straf- und Strafprozessrechts enthält das Gesetz Maßnahmen zur Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern im Internet, aber auch im realen Leben (z. B. Qualifikationsanforderungen für Familien- und Jugendrichter*innen und -staatsanwält*innen, persönliche Anhörung von Kindern und Jugendlichen).

Inzwischen gibt es mit evidenz-basierten Traumatherapien gute psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten für Betroffene. Eine Meta-Analyse (Morina et al. 2016) konnte zeigen, dass psychologische Interventionen bei der Behandlung einer Posttraumatischen Belastungsstörung, also einer möglichen Folgestörung von Missbrauch, wirksam sind. Die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (TF-KVT) war die am besten erforschte Intervention und zeigte gleichzeitig die größte Evidenz. Auch eine als Begleiterkrankung vorliegende depressive Symptomatik konnte hierdurch reduziert werden. Der Einsatz psychopharmakologischer Interventionen ergab dagegen wenig Evidenz (Morina et al. 2016). Betrachtet man gleichzeitig die Heterogenität psychischer Folgen von Misshandlung und Gewalt, welche von Resilienz bis hin zu psychischen Störungen verschiedenster Kategorien reichen, wird jedoch auch deutlich, dass nicht jedes von Missbrauch betroffene Kind automatisch oder unreflektiert einer psychotherapeutischen Behandlung zugeführt werden sollte (Domhardt et al. 2015). Nach einem sorgfältigen Diagnostikprozess kann die Interventionsplanung abhängig von der Ausprägung der Störung erfolgen. Eine traumatherapeutische Frühintervention an einer hierfür spezialisierten Traumaambulanz kann die Chronifizierung posttraumatischer Stresssymptome verhindern und das psychosoziale Funktionsniveau verbessern (Rassenhofer et al. 2015). Sollte eine Weiterbehandlung nötig sein, kann die Traumaambulanz dabei unterstützen, einen Platz zu finden. Frühintervention in spezialisierten Traumaambulanzen führt zu signifikant stärkerer Reduktion posttraumatischer Belastungssymptome und depressiver Symptomatik im Vergleich zu normaler Versorgung mit Wartezeit und nicht speziell ausgebildeten Therapeut*innen (Rassenhofer et al. 2015). Daher sollte der Beginn einer Traumatherapie nicht hinausgezögert werden, wenn sie indiziert ist.

Teilweise wird betroffenen Kindern oder Jugendlichen eine Therapie vorenthalten, weil man vermutet, dass ihre Aussagen im Strafverfahren vor Gericht nach einer Therapie nicht mehr verwertbar sind. Die Empfänglichkeit für suggerierte falsche Erinnerungen ist jedoch gering (für eine systematische Übersicht s. a. Brewin & Andrews 2017), und es gibt keinerlei Evidenz zu einer Veränderung von Aussagen durch Traumatherapie. Es ist also eine ethische Abwägung, ob man ein Kind gegebenenfalls mehrere Jahre warten lässt, bis es eine Therapie bekommt, lediglich dafür, dass eine Verurteilung des Täters oder der Täterin wahrscheinlicher wird, oder ob man ihm zeitnah therapeutische Hilfsangebote macht, um die Symptomatik zu lindern, die Teilhabe zu verbessern und so mit großer Wahrscheinlichkeit eine Chronifizierung aufhält. Bei dieser Frage muss die positive Entwicklung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen im Vordergrund stehen.

Auch Beratungsstellen befinden sich in Deutschland noch in prekären Umständen, haben zu wenig Ressourcen und Personal, um den Betroffenen gerecht zu werden. Zudem fehlen spezifische Fachberatungsstellen bzw. in dem Bereich gut geschulte Beratende (Fegert et al. 2013b). Hier bedarf es laufender Fort- und Weiterbildungen.

Zitate von Anrufenden des Hilfetelefons sexueller Missbrauch

„Meine Erfahrung ist, dass einige Beratungsstellen und das Jugendamt große Unsicherheiten mit dem Thema Missbrauch haben. Das Jugendamt hat wiederholt eigene Entscheidungen und Verfahrenswege geändert, überworfen, auch sehr kurzfristig, z. B. am gleichen Tag eines Termins.“

„Ich hab auch eine tolle Kindertherapeutin, aber die darf nicht mit der Kleinen sprechen wegen der anstehenden Aussage.“

„Im Scheidungsverfahren musste ja zwangsläufig das Verbleiben der Kinder geregelt werden. Das ist so unübersichtlich und es gibt im juristischen Bereich so wenig Professionelle, die über Missbrauch Bescheid wissen. Das hat mich schon erschreckt. Da entscheidet jemand über mein Leben und das meiner Kinder und weiß so wenig über Kinder.“

„Ich habe mich trotzdem allein gelassen gefühlt, ich war völlig überfordert, emotional fertig. Wenn sich jemand mit mir in Ruhe hingesetzt hätte und mir das erklärt, dann wäre es gegangen. So war ich völlig auf mich alleine gestellt. Da muss noch viel passieren, in der Unterstützung.“

„Es hat mir keiner zugehört. Es hat sich niemand dafür interessiert. Ich war ein ‚Umzugskind‘, d. h. alle Auffälligkeiten wurden auf den Umzug geschoben.“

„In einer Kriseneinrichtung für Kinder und Jugendliche zu arbeiten, geht nicht ohne Wissen über dieses Thema.“

2 Definitionsansätze

„Als sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird jeder versuchte oder vollendete sexuelle Akt und Kontakt von Bezugs- und Betreuungspersonen (engl. „caregiver“) am Kind aufgefasst, aber auch sexuelle Handlungen, die ohne direkten Körperkontakt stattfinden.“ (Leeb et al. 2008)

Die hier gegebene Definition sexuellen Kindesmissbrauchs vom Amerikanischen CDC (Center for Disease Control and Prevention) bezieht lediglich sexuelle Handlungen durch Erwachsene mit ein. Es wird explizit von Bezugs- und Betreuungspersonen gesprochen, sodass hier die (selten vorkommenden) Fremdtäter*innen unerwähnt bleiben. Sexuelle Übergriffe durch Gleichaltrige oder ältere Kinder bzw. Jugendliche bleiben ebenfalls unerwähnt. Die Definition schließt ausdrücklich neben einer vollendeten sexuellen Handlung auch den Versuch einer sexuellen Handlung mit ein, denn auch der Versuch kann von einem Kind aufgrund seines Entwicklungsstandes nur schwer eingeordnet werden bzw. es in eine hilflose Lage bringen. Die Definition erwähnt zudem Handlungen mit („hands-on“, z. B. Berühren der Genitalien, Penetration mit Körperteilen oder Gegenständen, Aufforderung zur Berührung oder Stimulierung) sowie ohne Körperkontakt („hands-off“, z. B. Voyeurismus, Anschauen von pornografischem Material, digitales Verschicken oder Anfordern von Fotos mit sexuellen Inhalten). Anhand dieser Einteilung wird häufig eine kriminologische Gewichtung in leichtere (hands-off) und schwerere Fälle (hands-on) vorgenommen; in der Beratung, Hilfeplanung oder Therapie muss jedoch der subjektiven Wahrnehmung und Verarbeitung des sexuellen Missbrauchs eine viel größere Bedeutung beigemessen werden als der objektiven Einteilung in „leicht“ und „schwer“ (Fegert et al. 2013a).

„Unter sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen versteht man ihre Beteiligung an sexuellen Handlungen, die sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht verstehen, dazu kein wissentliches Einverständnis geben können, die sexuelle Tabus der Familie und der Gesellschaft verletzen und zur sexuellen Befriedigung eines Nichtgleichaltrigen oder Erwachsenen dienen.“ (Schechter & Roberge 1976)

Diese Definition umfasst das Konzept des „informed consent“, der sogenannten wissentlichen Zustimmung. Ein Kind kann aufgrund seines Entwicklungsstandes nicht einschätzen, warum Erwachsene – aus einer sexuellen oder anderen Motivation heraus – Nähe Nähe zu ihm suchen. Deshalb kann ein Kind zwar willentlich („simple consent“), aber nicht wissentlich („informed consent“) in sexuelle Handlungen einwilligen (Fegert et al. 2013a). Zudem wird beschrieben, dass die Handlungen zur sexuellen Befriedigung der Täterin oder des Täters dienen, wobei das Bedürfnis der missbrauchenden Person entweder die eigene sexuelle Erregung oder auch die Erregung des Kindes sein kann.

„Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (UBSKM)

Der (fehlende) Entwicklungsstand eines Kindes zur wissentlichen Zustimmung sexueller Handlungen wird in dieser Definition des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Johannes-Wilhelm Rörig weiter ausdifferenziert in körperliche, seelische, geistige oder sprachliche Unterlegenheit. Zudem wird hier auf die Ausnutzung der Macht- und Autoritätsposition der Täterin oder des Täters eingegangen. Eine so entstehende komplexe Dynamik führt dazu, dass bei sexuellem Kindesmissbrauch nicht zwangsläufig Gewalt eingesetzt wird, sondern aus der überlegenen Position heraus sehr subtile Taktiken verwendet werden (s. a. Fegert et al. 2013a).

In Deutschland gilt sozialrechtlich die Klassifikation der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Aktuell ist das noch die ICD-10, die ICD-11 soll 2022 in Kraft treten. Die bisherige ICD-10 bietet Kodierungen zur Erfassung von Misshandlung (T74) sowie eine Differenzierung in die verschiedenen Formen von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung. Zudem kann auf der Achse 5Footnote 2 „Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände“, die im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie verwendet wird, kodiert werden, wenn Misshandlung oder Missbrauch vermutet wird.

Eine operationale Definition von Misshandlung besteht auch im aktuell zugänglichen Entwurf der ICD-11 nicht. Die Kodierung von Misshandlung kann jedoch deutlich ausführlicher als in der ICD-10 erfolgen, da Begleitumstände umfangreicher miterfasst werden können. Zusätzlich zur Form der Misshandlung können Verletzungen und deren Lokalisation, Täter*innen-Beschreibungen (Geschlecht, Beziehung zu Betroffenen) sowie der Kontext und Ort der Misshandlung angegeben werden.

Eine umfangreiche S3-Leitlinie zum Kinderschutz, d. h. eine von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erarbeitete, wissenschaftlich fundierte, störungsspezifische Empfehlung für das Notwendige, Nützliche und Obsolete in Bezug auf Diagnostik und Therapie („Leitlinie“), die sich durch höchste Qualität der evidenzbasierten, systematischen Entwicklung auszeichnet („S3“), erschien Anfang 2019 (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-069.html). Neben medizinischen Fachkräften sollen auch pädagogische Fachkräfte sowie Kinder und Jugendliche selbst mit entsprechenden Versionen unterstützt werden. Es werden zugrunde liegende Gesetze, Hinweise zum schrittweisen Vorgehen im Fall von Kindesmisshandlung und Beschreibungen der Schnittstellen involvierter Institutionen, d. h. ambulante und stationäre Bereiche des Gesundheitswesens sowie der Jugendhilfe und Pädagogik, gegeben. So sollen Beteiligte im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen geschult und unterstützt werden.

Je nachdem, welche der unterschiedlichen Definitionen, die sexuellen Missbrauch weiter bzw. enger definieren, in epidemiologischen Studien angewendet wird, variieren die Ergebnisse zu den Häufigkeiten sexuellen Missbrauchs (s. a. Jud et al. 2016a, b; Rumble et al. 2018).

3 Prävalenz und Überlappung mit anderen Gefährdungsformen

Die UN hat 2015 in ihren Nachhaltigkeitszielen für 2030 unter anderem formuliert, dass „Missbrauch, Ausbeutung, Handel und jede weitere Form von Gewalt und Folter an Kindern beendet werden“ muss (UN 2015, Ziel 16.2). Als Indikator dafür nennt sie den „Anteil junger Frauen und Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren, die bis zu ihrem 18. Lebensjahr sexuelle Gewalt erfahren haben“ (UN 2015, Indikator 16.2.3). Dafür sind Erhebungen der Häufigkeit sexuellen Missbrauchs von großer Bedeutung. Epidemiologische Studien schätzen die Prävalenzen, d. h. den Anteil von Kindern und Jugendlichen, die jemals sexuellen Kindesmissbrauch erfahren haben, auf 13–20 % für Mädchen und für Jungen auf 5–8 % (Barth et al. 2013; Pereda et al. 2009; Sethi et al. 2013; Stoltenborgh et al. 2011). In Deutschland ergaben sich in repräsentativen Stichproben Prävalenzen von 12–14 % mit höheren Prävalenzen für Mädchen (18 %) im Vergleich zu Jungen (9 %) (Häuser et al. 2011; Witt et al. 2017). Höhere Prävalenzen für erlebte sexuelle Übergriffe finden sich bei Kindern und Jugendlichen in Institutionen, wo neben Missbrauch durch Erwachsene häufig auch sexuelle Übergriffe durch Gleichaltrige berichtet werden (Allroggen et al. 2017; Witt et al. 2018).

Die Inzidenz von sexuellem Kindesmissbrauch, d. h. der Anteil an Kindern und Jugendlichen, die im letzten Jahr zum ersten Mal sexuellen Missbrauch erfahren haben, liegt in Deutschland bei ca. 5 % für Jugendliche und 1 % für Erwachsene (Allroggen et al. 2016). Diese Zahlen stammen aus dem sogenannten Dunkelfeld, d. h. sie sind über Befragungen erhoben worden und nicht unbedingt offiziell gemeldete Fälle. Das Hellfeld beinhaltet dagegen offiziell gemeldete Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs. Vergleicht man die Zahlen der Inzidenz aus dem Dunkelfeld mit dem deutschen Hellfeld der polizeilichen Kriminalstatistik, wird deutlich, dass das Hellfeld die tatsächliche Häufigkeit sexuellen Kindesmissbrauchs weit unterschätzt (Allroggen et al. 2016). Die deutsche Jugendhilfestatistik, auch eine Hellfeld-Statistik, beschreibt in 6 % der Fälle, in denen eine akute Kindeswohlgefährdung vermutet wird, sexuelle Gewalt als Art der vermuteten Kindeswohlgefährdung (Destatis).

Sexueller Missbrauch wird in vielen Fällen nicht als einzige Art der Misshandlung oder Vernachlässigung erlebt. So berichteten in einer deutschen Stichprobe ungefähr zwei Drittel der Betroffenen sexuellen Missbrauchs von mindestens einer weiteren Form der Gewalt (Witt et al. 2017). Über mehrere Studien (Debowska et al. 2017) zeigte sich konsistent, dass es eine Gruppe poly-viktimisierter Betroffener gibt, d. h. Betroffene, die viele Arten der Misshandlung, Vernachlässigung, des Missbrauchs oder anderer belastender Kindheitserfahrungen machen mussten. Diese Gruppe der poly-viktimisierten Betroffenen stellt in den verschiedenen Studien mit Prävalenzen von zwei bis 27 % einen alarmierend hohen Anteil dar mit den meisten externalisierenden (z. B. Aggression, Gewaltdelikte) sowie internalisierenden Folgen (z. B. Depression, Angststörung, Persönlichkeitsstörung) (Debowska et al. 2017).

Mit dem Risiko der sexuellen Belästigung über neue Medien verhält es sich ähnlich: Aufgrund unterschiedlicher Definitionen und erfragten Erfahrungen stellen Prävalenzen lediglich annähernde Schätzungen dar und lassen sich zudem nur schwer vergleichen. Studien berichten, dass ungefähr 19 % der Internet-nutzenden Jugendlichen ungewollte sexuelle Annäherungsversuche und ungefähr 25 % ungewollt sexuelle Bilder erhalten (Mitchell et al. 2001). Mädchen und ältere Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren sowie Jugendliche, die oft das Internet nutzten oder belastende Kindheitserfahrungen durchlebten (z. B. Tod in der Familie, Umzug, Trennung der Eltern, Jobverlust eines Elternteils, physische oder sexuelle Misshandlung, Depressionen), hatten ein höheres Risiko (Mitchell et al. 2001). Das Risiko der Gewalt über neue Medien ist somit stark verflochten mit dem Risiko bereits existierender (offline) Risiken im Leben von Kindern und Jugendlichen (Livingstone & Smith 2014).

4 Schädigungsmechanismen und Folgen

Sexueller Kindesmissbrauch geht häufig mit langfristigen psychischen, körperlichen sowie psychosozialen Folgen einher. So zeigen sich in einer Längsschnittstudie (Fergusson et al. 2000) nach sexuellem Missbrauch erhöhte Relative Risiken:Footnote 3

  • Depressionen (RR = 2,5),

  • Angststörungen (RR = 2,7),

  • Verhaltensstörungen (RR = 2,3),

  • Alkohol-/Drogenabhängigkeit (RR = 2,2),

  • Suizidgedanken (RR = 2,3),

  • Suizidversuche (RR = 4,6).

Das Relative Risiko, an irgendeiner Störung zu erkranken, lag bei RR = 1,8. Geschlechterunterschiede zeigten sich in den Relativen Risiken für diese Störungen nicht (Fergusson et al. 2000).

Auch körperliche Folgen treten nach sexuellem Missbrauch vermehrt aufFootnote 4 (Clemens et al. 2018):

  • Adipositas (OR = 1,78),

  • Diabetes (OR = 1,53),

  • Krebs (OR = 1,79),

  • Bluthochdruck (OR = 1,22),

  • Myokardinfarkt (OR = 1,62),

  • Lungenerkrankung COPD (OR = 2,30) sowie

  • Herzinfarkt (OR = 2,02).

Weitere biopsychosoziale Folgen können früher Pubertätsbeginn, kognitive Defizite, maladaptive sexuelle Entwicklung, Veränderungen der Stressreaktion, vermehrt schwere Krankheiten und Inanspruchnahme des Gesundheitswesens, physische und sexuelle Reviktimisierung, frühe Schwangerschaften sowie häusliche Gewalterfahrungen sein (Trickett et al. 2011). Auch die Kinder von Betroffenen hatten ein höheres Risiko für Kindesmissbrauch/-misshandlung sowie für eine allgemein schlechtere Entwicklung (Trickett et al. 2011).

Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine der häufigsten Folgen nach belastenden Kindheitserfahrungen. Bei Kindheitstraumata ist zu unterscheiden zwischen Typ I Traumata, d. h. ein einziges, klar definierbares und abgegrenztes traumatisches Erlebnis, wie beispielsweise Unfälle, Naturkatastrophen oder Kriegserlebnisse, und Typ II Traumata, d. h. andauernde, häufig interpersonelle traumatische Erfahrungen, wie beispielsweise Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung (Terr 1991). Viele Kinder und Jugendliche, die Typ II Traumata erfahren haben, erfüllen die Kriterien einer PTBS nicht. Daher wird die Diagnose einer Traumaentwicklungsstörung diskutiert (Schmid et al. 2013). Betroffene von wiederholten interpersonellen traumatischen Erfahrungen zeigen häufig unter Einfluss der trauma-bezogenen Symptome zusammen mit biologischen Faktoren ein typisches Muster von sukzessiven Störungen, z. B. Regulationsstörungen im Säuglingsalter, Bindungsstörung in der frühen Kindheit, Verhaltensstörungen im Schulalter, emotionale Störungen in der Adoleszenz und Persönlichkeitsstörungen mit Substanzmissbrauch oder selbstverletzendem Verhalten im Erwachsenenalter (Schmid et al. 2013). Es wird vermutet, dass hinter all diesen aufeinanderfolgenden Schwierigkeiten die gleichen Schädigungsmechanismen liegen, d. h. eine beeinträchtigte Bindungsfähigkeit, verminderte Emotionsregulation, niedrige Selbstwirksamkeit sowie die Tendenz zur Dissoziation, die sich altersentsprechend unterschiedlich manifestieren, wie Abb. 23.1 zeigt (vgl. Schmid et al. 2013).

Abb. 23.1
figure 1

Entwicklungsheterotopie von traumatischen Belastungen. (cf. Schmid et al. 2013)

Gleichzeitig sind ca. 10–53 % der betroffenen Kinder und Jugendlichen resilient, d. h. sie zeigen ein hohes Funktionsniveau trotz sexueller Missbrauchserfahrungen (Domhardt et al. 2015). Die wichtigsten Schutzfaktoren waren hierfür Bildung, interpersonelle und emotionale Kompetenzen, Kontrollüberzeugungen, Copingstrategien, Optimismus, soziale Beziehungen, externale Attribution von Schuld (d. h. die Gründe eines Ereignisses werden bei anderen oder bei der Situation gesehen anstatt bei sich selbst) und vor allem Unterstützung durch die Familie und das soziale Umfeld (Domhardt et al. 2015). Es gibt also kein spezifisches „Missbrauchssyndrom“, das eindeutig auf sexuellen Missbrauch hinweist.

5 Fazit

Sexueller Kindesmissbrauch ist insbesondere seit 2010 Thema in politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussionen. Es wird vermutet, dass es neben sehr kleinen Prävalenzzahlen im Hellfeld ein großes Dunkelfeld gibt. So zeigen sich zweistellige Prozentzahlen in epidemiologischen Studien. Der Aufarbeitungsprozess, der im Jahr 2010 durch viele Betroffene angestoßen wurde, war ein wichtiger erster Schritt in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Annäherung an das Thema sexueller Kindesmissbrauch. Nun ist es wichtig, dass das Thema und all seine Facetten weiterhin gesehen, wissenschaftlich untersucht und in partizipativen Modellen diskutiert werden.

Sexuelle Gewalt über digitale Medien ist ein Thema, das mit der alltäglichen und omnipräsenten Nutzung des Internets immer wichtiger wird. Kinder und Jugendliche brauchen hier Präventionsmaßnahmen, die sich ihren Bedürfnissen und Interessen annähern anstatt solche, die vorrangig Vorsichtsgebote aussprechen. Bisher wenig gesehene Gruppen sind männliche Betroffene, Betroffene, die durch ihre Mutter sexuell missbraucht wurden, oder Kinder und Jugendliche, die sexuelle Übergriffe durch ein Geschwisterkind oder einen Gleichaltrigen erfahren haben (s. a. Sexueller Missbrauch. Bislang marginalisierte Konstellationen sexueller Gewalt sowie die Rolle der digitalen Medien [Kap. 24]). Diese bedürfen mehr Aufmerksamkeit vonseiten der Forschung, aber auch vonseiten der Fachkräfte. Viele dieser marginalisierten Betroffenengruppen berichten, dass ihnen bei Offenlegung des Missbrauchs nicht geglaubt wurde oder ihre Erfahrungen bagatellisiert wurden. Gleichzeitig zeigt die Forschung schwerwiegende und langfristige Folgen nach sexuellem Missbrauch, wobei sich die Schädigungsmechanismen nicht deutlich unterscheiden, wenn der Missbrauch durch eine Frau, die eigene Mutter, einen Gleichaltrigen oder ein Geschwisterkind getätigt wurde. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass das Thema sexueller Kindesmissbrauch, insbesondere in seinen einzelnen Facetten, noch deutlich mehr Aufmerksamkeit und weiterer Forschung bedarf.