1 Entwicklung psychischer Misshandlung als Kinderschutzthema

Insgesamt lässt sich im Kinderschutz ein verstärkter Fokus auf die Themen körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch beobachten. Anderen Formen der Misshandlung, wie Vernachlässigung sowie psychischer Misshandlung, wurde bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Jedoch machen Wissenschaftler wie Joseph Spinazzola mit Aussagen wie „psychische Misshandlung sei ebenso schädlich wie sexueller Missbrauch“ (Spinazzola et al. 2014) vermehrt auf die Bedeutung von psychischer Misshandlung aufmerksam und konnten zeigen, dass Jugendliche mit psychischer Misshandlung im Vergleich zu Jugendlichen, die körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlebt hatten, gleichwertige oder höhere Ausgangswerte für Verhaltensprobleme, Symptome und Störungen aufwiesen. Cecil et al. (2017) kamen in einer Untersuchung von 204 Jugendlichen sogar zu dem Schluss, dass sich psychische Misshandlung als der wichtigste unabhängige Prädiktor der psychischen Symptomatik im Vergleich zu anderen Misshandlungstypen darstellt.

Bereits in den 1960er-Jahren (z. B. Mulford 1958) und dann verstärkt in den 1980er-Jahren (Hart & Brassard 1987) gab es Bemühungen um eine handhabbare Definition psychischer Misshandlung. Daraufhin lässt sich international auch eine vermehrt einsetzende empirische Forschung und international in einer Reihe von Jugendhilfesystemen eine verstärkte Beachtung psychischer Misshandlung als Form von Kindeswohlgefährdung beobachten (Kindler et al. 2006). Wichtige Schritte für die weitere Beachtung psychischer Misshandlung sind sicherlich die Leitlinien der American Professional Society on Abuse of Children zur psychischen Kindesmisshandlung (Brassard et al. 2019), die zur Aufnahme dieser Form von Misshandlung in die Achse V (Abnorme psychosoziale Umstände) des Multiaxialen Klassifikationssystems für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters beitrugen (Remschmidt & Schmidt 1994). In Deutschland waren Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) und Familiengerichte vor rund 15 Jahren noch insgesamt eher zurückhaltend bei der Bewertung psychischer Misshandlung als Kindeswohlgefährdung (Kindler et al. 2006).

2 Definition psychischer Misshandlung

Wie auch bei anderen Formen von Kindesmisshandlung, so besteht für die psychische Misshandlung keine einheitliche Definition. Bei psychischer Misshandlung kommt erschwerend hinzu, dass, wie bereits zuvor erwähnt, z. T. sehr unterschiedliche Unterformen zusammengefasst werden. Darüber hinaus besteht eine Vielzahl von Begrifflichkeiten, wie etwa emotionale Misshandlung oder verbale Misshandlung. Diese Begriffe werden häufig synonym verwendet. Terminologisch wird psychische Misshandlung im vorliegenden Text dem Begriff emotionaler Misshandlung vorgezogen (Hart & Glaser 2011). Eine weitverbreitete und viel beachtete Definition psychischer Misshandlung ist die Definition der American Professional Society on Abuse of Children (APSAC, Brassard et al. 2019, S. 6):

„Psychological maltreatment is defined as a repeated pattern or extreme incident(s) of caretaker behavior that thwart the child’s basic psychological needs (e. g., safety, socialization, emotional and social support, cognitive stimulation, respect) and convey a child is worthless, defective, damaged goods, unloved, unwanted, endangered, primarily useful in meeting another’s needs, and/or expendable.“

Psychische Misshandlung ist somit definiert als ein sich wiederholendes Verhaltensmuster einer Bezugsperson oder ein extremes Vorkommnis bzw. extreme Vorkommnisse im Verhalten der Bezugsperson, die die psychologischen Grundbedürfnisse des Kindes (z. B. Sicherheit, Sozialisierung, emotionale und soziale Unterstützung, kognitive Stimulation, Respekt) nicht erfüllen und einem Kind vermitteln, dass es wertlos, beschädigt, ungeliebt, unerwünscht, in Gefahr, in erster Linie nur dazu nützlich ist die Bedürfnisse eines anderen zu befriedigen, und/oder entbehrlich ist.

Diese Definition psychischer Misshandlung macht auch deutlich, dass diese die verbale Misshandlung einschließt, verbale Misshandlung somit eher ein engeres Repertoire an Verhalten der Bezugspersonen umschreibt.

2.1 Unterformen psychischer Misshandlung

Neben dieser allgemeinen Definition psychischer Misshandlung enthält die Definition der American Professional Society on Abuse of Children (APSAC) sechs weitere Unterformen, die einzeln oder in Kombination auftreten können und als psychische Misshandlung angesehen werden, wenn sie die Beziehung einer Betreuungsperson zum Kind kennzeichnen. Diese sechs Unterformen sind in Tab. 21.1 dargestellt.

Tab. 21.1 Unterformen psychischer Misshandlung nach der American Professional Society on Abuse of Children (APSAC)

Die Autor*innen der Definition geben zu bedenken, dass die Misshandlungserfahrungen eines Kindes in eine oder mehrere dieser Formen eingeteilt werden können und nicht unbedingt in nur eine oder vollständig in eine dieser Subformen passen (Brassard et al. 2019). Darüber hinaus machen die Definitionen deutlich, dass psychische Misshandlung als eigenständige Form auftreten kann, sie aber häufig mit anderen Formen gemeinsam oder eingebettet in diese auftritt. Eine eigenständige Form psychischer Misshandlung wäre zum Beispiel, wenn eine Bezugsperson ein Kind beschimpft ohne körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch auszuüben. Brassard et al. (2019) geben auch zu bedenken, dass eine operationale Unterscheidung verschiedener Formen von Misshandlung bedeutsam ist, es jedoch wichtig ist anzuerkennen, dass die meisten Formen von Kindesmisshandlung eine psychische Komponente haben. Entsprechend wurde psychische Misshandlung auch als Kern aller Formen von Kindesmisshandlung gesehen und damit als Hauptursache für die langfristigen negativen Folgen von Kindesmisshandlung (Navarre 1987).

Partnerschaftsgewalt

Eine spezielle Form der Kindesmisshandlung ist das Miterleben von Partnerschaftsgewalt bzw. häuslicher Gewalt. Auch hier hat sich mittlerweile ein Verständnis für die Schädlichkeit des Miterlebens von Partnerschaftsgewalt durchgesetzt. So wird Partnerschaftsgewalt weitestgehend als Form von Kindesmisshandlung anerkannt (zum Thema Häusliche Gewalt allgemein s. a. Kinder und Jugendliche im Kontext häuslicher Gewalt – Risiken und Folgen [Kap. 22].

2.2 Erkennen psychischer Misshandlung

Bei psychischer Misshandlung ergibt sich im Gegensatz zu anderen Formen der Misshandlung, wie etwa körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch, die Schwierigkeit der Operationalisierung und damit auch der Diagnostik bzw. der Frage nach dem Erkennen von psychischer Misshandlung. Wie lässt sich psychische Misshandlung also erkennen? Hier ist anzumerken, dass psychische Misshandlung zwar auch als umschriebenes Ereignis vorkommen kann, z. B. drückt eine Bezugsperson in einer Trauerphase dem noch lebenden Kind gegenüber aus, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn das noch lebende statt dem Geschwisterkind gestorben wäre. In den meisten Fällen ist psychische Misshandlung jedoch ein chronisches Geschehen, bei dem eine tiefgreifende Beeinträchtigung der Beziehung vorliegt. Gängige Kinderschutzbögen wie der sogenannte Stuttgarter Kinderschutzbogen (Strobel et al. 2008) bieten altersangepasste Anhaltspunkte mit Ankerbeispielen zum möglichen Auftreten psychischer Misshandlung. Insgesamt können natürlich psychosoziale Beurteilungsverfahren wie Verhaltensbeobachtungen, Interviews und Fragebögen unter Berücksichtigung ihrer Reliabilität und Validität beim Erkennen psychischer Misshandlung hilfreich sein. Hier können insbesondere Informationen über Interaktions-, Betreuungs- und Behandlungsmuster und deren Auswirkungen auf das Kind erhoben werden. Eine umfassende Beurteilung beinhaltet idealerweise mehrere Interviews und verschiedene Informationsquellen und Verhaltensbeobachtungen. Hierbei gilt auch wie bei anderen Formen der Misshandlung, dass mit den betroffenen Personen respektvoll und authentisch umgegangen werden sollte, um die Wahrscheinlichkeit einer freiwilligen Beteiligung an der Evaluation und jeder nachfolgenden Intervention zu erhöhen.

Eine Beobachtung der Interaktion zwischen Betreuungsperson und Kind ist besonders bedeutsam. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass eine wiederholte Beobachtung stattfindet, um eine repräsentative Stichprobe von Verhaltensweisen zu erhalten und Muster der Kind-Bezugsperson-Beziehung zu erkennen. Bei der Beurteilung dieser Interaktionen sollten positive sowie negative Aspekte der Beziehung beachtet werden. Auch Interviews eignen sich, um einen Eindruck über die Beziehungsqualität zu erhalten. Hier gilt es jedoch darauf zu achten, dass auch schwer misshandelte Kinder sich energisch dafür einsetzen können, bei dem misshandelnden Elternteil zu bleiben. Dabei können sie das Auftreten oder die Auswirkungen der Misshandlung leugnen, die Verantwortung vom misshandelnden Elternteil ablenken und die Schuld für problematisches Verhalten des Elternteils übernehmen (Baker & Schneiderman 2015). Daher sind Interviews alleine nicht ausreichend, um die wahre Natur der Eltern-Kind-Beziehung zu bestimmen (Baker & Schneiderman 2015; s. a. Familienpsychologische Sachverständigengutachten im Kinderschutz [Kap. 39]).

3 Prävalenz psychischer Misshandlung und gemeinsames Auftreten mit anderen Misshandlungsformen

Mittlerweile liegt eine Metaanalyse zum Ausmaß von psychischer Misshandlung weltweit vor (Stoltenborgh et al. 2012). Diese ist im Kontext mehrerer Metaanalysen zu verschiedenen Formen von Kindesmisshandlung entstanden. Auf Basis der Ergebnisse gehen die Autoren davon aus, dass psychische Misshandlung, erhoben im Selbstbericht, die häufigste Form von Kindesmisshandlung darstellt (Stoltenborgh et al. 2015). Auf Basis von 29 Studien mit insgesamt über sieben Millionen Teilnehmenden fanden die Autor*innen eine Prävalenz von weniger als 1 % in Studien, die auf Angaben Dritter beruhen und eine Prävalenz von 36,3 % aufgrund von Angaben im Selbstbericht (95 %-Konfidenzintervall 28,2 % bis 45,5 %). Die Überlappung mit anderen Formen von Kindesmisshandlung konnte in den Daten von Stoltenborgh und Kolleg*innen (2015) nicht untersucht werden, da lediglich drei der untersuchten Studien mehrere Formen von Kindesmisshandlung untersuchten.

Auch für Deutschland liegen mittlerweile zwei bevölkerungsrepräsentative Studien vor, die die Häufigkeit mehrerer Formen von Kindesmisshandlung untersuchen (Häuser et al. 2011; Witt et al. 2017). Die beiden Studien wurden mit identischer Methodik durchgeführt, sodass die Raten gut vergleichbar sind und mit gewissen Einschränkungen Rückschlüsse über die Entwicklung in der Häufigkeit zulassen. In beiden Studien wurde das Vorliegen von psychischer Misshandlung retrospektiv mit dem Childhood Trauma Questionnaire (CTQ, Bernstein et al. 2003) erfasst. Der CTQ ermöglicht darüber hinaus eine Schweregradeinteilung. Häuser und Kolleg*innen (2011) fanden in ihrer Untersuchung eine Prävalenz von 10,3 % für gering bis mäßige Ausprägung psychischer Misshandlung, 3,0 % für mäßig bis schwere Ausprägungen und 1,6 % für schwere bis extreme Ausprägungen psychischer Misshandlung. Witt und Kolleg*innen (2017) fanden in der jüngeren Untersuchung eine Prävalenz von 12,1 % für gering bis mäßige Ausprägung psychischer Misshandlung, 3,9 % für mäßig bis schwere Ausprägungen und 2,6 % für schwere bis extreme Ausprägungen psychischer Misshandlung. Somit gaben 6,5 % der Befragten einen mindestens moderaten Schweregrad psychischer Misshandlung an. Frauen gaben emotionale Misshandlung mit 8,7 % deutlicher häufiger als Männer mit 4,1 % an (Witt et al. 2018).

4 Forschungsstand zu den Folgen

Kindesmisshandlung im Allgemeinen beeinflusst das spätere Leben der Betroffenen auf vielfältige Weise. Die Folgen umfassen psychosoziale Beeinträchtigungen, aber auch wirtschaftliche Aspekte und zudem eine signifikante Verringerung der Lebensqualität. Auch die Sterblichkeit, psychische als auch somatische Gesundheitsprobleme sind erhöht, wenn in der Kindheit Misshandlung erlebt wurde (Norman et al. 2012). In einer ersten großen epidemiologischen Studie in den USA, in der die Auswirkungen von Misshandlungen im Kindesalter auf die körperliche Gesundheit im Erwachsenenalter untersucht wurden, zeigten Felitti und seine Kolleg*innen bereits vor über 20 Jahren, dass Menschen, die Misshandlung in der Kindheit erlebt haben, ein erhöhtes Risiko für verschiedene Krankheiten hatten, die zu den weltweit häufigsten Todesursachen gehören. Hier scheinen insbesondere die verschiedenen Formen von Kindheitsbelastungen relevant zu sein. Abhängig von der Anzahl der berichteten belastenden Kindheitserlebnisse stieg bei den Teilnehmenden der Studie das Risiko für schweres Übergewicht auf das 1,6-fache, für Herzkrankheiten auf das 2,2-fache, für Krebserkrankungen auf das 1,9-fache, für Schlaganfall auf das 2,4-fache, für chronische Lungenerkrankungen auf das 3,9-fache und für Diabetes auf das 1,6-fache. Aber auch die Risiken für Alkohol- und Drogenmissbrauch, Depressionen und Selbstmordversuche stiegen um das 4- bis 12-fache an, ebenso wie Risiken für riskante Gesundheitsverhaltensweisen wie Rauchen, geringe körperliche Aktivität und überdurchschnittlich viele Geschlechtsverkehrspartner*innen (Felitti et al. 1998). Darüber hinaus wurde Kindesmisshandlung als Risikofaktor für nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) identifiziert (Lang & Sharma-Patel 2011). Insgesamt leben Menschen, die in der Kindheit Misshandlung erlebt haben, bis zu 20 Jahre kürzer als Personen, die keine Kindesmisshandlung erlebt haben (Brown et al. 2009).

So ist das Risiko für Suizidversuche bei den Gruppen, die zusätzlich psychische Misshandlung berichten, um das 3,4-fache bis 5,6-fache erhöht im Gegensatz zu der Gruppe, die keine psychische Misshandlung angibt (Witt et al. 2019b). Dies ist ein wichtiger Befund, der die Relevanz von psychischer Misshandlung für das spätere Leben zeigt. Auch andere Studien zeigen, dass psychische Misshandlung genauso schwerwiegende Konsequenzen haben kann, wie zum Beispiel körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch (Vachon et al. 2015). Einige Autor*innen nehmen sogar an, dass psychische Misshandlung die schädlichste Form von Kindesmisshandlung darstellt (Naughton et al. 2017).

Neben den Folgen für das Leben jedes einzelnen Betroffenen führt Kindesmisshandlung zu einer enormen wirtschaftlichen Belastung. Die jährlichen Kosten allein in Deutschland liegen zwischen 11 und 30 Mrd. € (Habetha et al. 2012).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass jede Form von Kindesmisshandlung langfristige körperliche, psychische und sozioökonomische Folgen haben kann. Besonders gefährdet sind Menschen, die in der Kindheit mehrere Formen von Kindesmisshandlung erlebt haben. Insbesondere psychische Misshandlung tritt häufig gemeinsam mit anderen Formen von Kindesmisshandlung auf. Die negativen Folgen psychischer Misshandlung wurden lange unterschätzt.