Körperliche Kindesmisshandlung kann unterschiedliche Formen annehmen und entsprechend auch vielfältige Folgen nach sich ziehen. In diesem Beitrag wird zunächst in Grundzügen die Geschichte von körperlicher Misshandlung als Kinderschutzthema skizziert. Aufbauend auf einer definitorischen Einordnung des Begriffs körperliche Kindesmisshandlung und Vorstellung unterschiedlicher Unterformen und Sonderformen wird die Prävalenz von körperlicher Misshandlung und Überschneidung mit anderen Gefährdungsformen aufgezeigt. Anschließend werden mögliche psychische Folgen und Erkennungsmerkmale erläutert.

1 Geschichte von körperlicher Misshandlung als Kinderschutzthema

Die Idee, dass Kinder vor körperlicher Gewalt in der Familie zu schützen sind, hat viele Voraussetzungen. Sie ist eng gekoppelt an Einsichten und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Nicht nur muss körperliche Gewalt gegen Kinder problematisiert und als schädlich für ihre Entwicklung erkannt werden. Vielmehr muss eine Gesellschaft sich auf Normen zu körperlicher Gewalt gegen Kinder verständigen, sie braucht Vorgehensweisen, um verdeckte Gewalt zu erkennen und sie braucht Regeln für die Abwägung, wann körperliche Gewalt gegen Kinder so schwerwiegend ist, dass andere Rechte zurückstehen müssen, etwa das Recht von Kindern auf ein Aufwachsen mit ihren Eltern. Erkenntnisse, die dazu beigetragen haben, dass körperliche Misshandlung mittlerweile unstrittig als Kinderschutzthema angesehen wird, wurden schrittweise gewonnen und sind eng mit Sichtweisen auf Kinder und ihre Rechte verknüpft.

1.1 Von der prähistorischen Zeit bis ins späte Mittelalter

In prähistorischer Zeit und in der Antike bis hinein ins späte Mittelalter war die auf Erfahrung gestützte Einsicht vorhanden, dass manche Formen von körperlicher Gewalt Kinder verletzen oder töten können. Zwischenmenschliche Gewalt war vergleichsweise verbreitet und gewaltbedingte Verletzungen von Kindern sind bioarchäologisch gut dokumentiert (z. B. Redfern 2016, S. 135 f.). Allerdings fehlte es an systematischem Wissen zu den Folgen verschiedener Formen körperlicher Gewalt für Kinder, auch waren Normen gegen körperliche Kindesmisshandlung kaum vorhanden. In der römischen Antike unterstanden Kinder beispielsweise einer prinzipiell weitgehend unbeschränkten Macht des Vaters (patria potestas), praktisch allerdings abgemildert durch Pflichten von Fürsorge, Mäßigung und Schutz (McGinn 2013). Die Hauptsorge antiker und mittelalterlicher Gesellschaften waren allerdings angesichts einer hohen Sterblichkeit und knapper agrarischer Überschüsse unversorgt bleibende und von einem rechtmäßigen Erbe ausgeschlossene Kinder. Entsprechend waren die Versorgung von Waisen, Adoption und Erbrechte von Kindern Schwerpunkte rechtlicher und moralischer Ordnungen. Ein ausgeprägter Familialismus wurde mehr als Teil der Lösung zur Versorgung von Kindern, denn aufgrund der Gefahr exzessiver Gewaltausübung von Familienoberhäuptern als Problem gesehen. Trotzdem gab es zumindest Verbote von Kindstötungen (z. B. in Sure 6 Vers 151 des Koran), allerdings weitgehend ohne staatliche Strukturen zur Durchsetzung dieses Verbots. Zudem wurden in einigen antiken oder mittelalterlichen Gesellschaften Neugeborene in den ersten Lebenstagen von Tötungsverboten ausgenommen, konnten also beispielsweise ausgesetzt werden (z. B. Evans Grubbs 2013).

1.2 Von der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert

Mit dem verstärkten Zugriff von Staaten auf „ihre“ Bevölkerung, die möglichst gesund und grundlegend gebildet sein sollte (Maier 2014) und dem komplexen Prozess der Säkularisierung (Taylor 2009), der in eine neue Moralisierung des diesseitigen Lebens und einen technischen wie gesellschaftlichen Fortschrittsgedanken mündete, entstanden in der Neuzeit und insbesondere im 19. Jahrhundert in Europa zunächst private philanthropische, später staatliche Organisationen, um gefährdete Kinder, Arme und „gefallene“ Frauen zu „retten“ (Hämäläinen 2016). Parallel entdeckten Autor*innen der Aufklärung und in der Folge die entstehenden Wissenschaften von Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Pädiatrie sowie Psychiatrie die Kindheit als Thema und traten einen seitdem nie mehr abgerissenen Diskurs los, was Kinder für eine gute Entwicklung brauchen (Boardman Smuts 2006). Zusammen mit ersten Krippen, Kindergärten, Reformschulen und Kinderkliniken (z. B. Peter 2013) entstanden entsprechend in Deutschland im 19. Jahrhundert auch mehrere Kinderschutzvereine (z. B. 1898 der „Verein zum Schutz der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlung“, für eine Übersicht über private Kinderschutzinitiativen im Kaiserreich siehe Nitsch 1999). Mit dem bürgerlichen Liberalismus (Mill 1974) sickerte in die Gesellschaft zudem allmählich der Gedanke ein, Menschen könnten Rechte besitzen, nicht nur im öffentlichen Miteinander, sondern auch gegenüber dem Staat und in der Familie. Es dauerte allerdings noch lange, bis dieser Gedanke unstrittig auf alle sozialen Schichten, Frauen und Minderjährige erstreckt wurde. Zudem bedeutet das Zuerkennen von Rechten nicht automatisch, dass der Staat willens ist, diese Rechte für alle zu garantieren. Trotzdem nahmen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland erste staatliche Kinderschutzbehörden ihre Arbeit auf (z. B. Richter 2011). Zudem sind bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Versuche nachweisbar, besondere Kinderrechte auszuformulieren (Cabanes 2014).

1.3 Vom 19. Jahrhundert bis heute

Im Vordergrund der Kinderschutzbewegung im 19. Jahrhundert stand zunächst allerdings weniger der Einsatz gegen körperliche Kindesmisshandlung als vielmehr die anthropometrisch nachweisbar schlechte Ernährungslage vieler Kinder (z. B. Floud et al. 2011), die Regulierung und ein Zurückdrängen von Kinderarbeit (Rahikainen 2014) sowie Sorgen um eine erzieherische Vernachlässigung proletarischer Kinder, deren Eltern beide lange Stunden arbeiten mussten. Jedoch erlangten auch Begrenzungen elterlicher Züchtigungsrechte auf ein „angemessenes“ Maß Gesetzeskraft (Parr 2005). Medizinisch wurde diskutiert, welche Körperstrafen besonders schädlich seien. Prominentes Beispiel einer für die damalige Zeit recht kritischen Einstellung gegenüber weit verbreiteten Körperstrafen ist der britische Arzt (und spätere Namensgeber der Parkinson’schen Krankheit) James Parkinson, der in seinem 1800 erstmals erschienenen Hausbuch „The Villager’s friend and physician“ vermerkte (dt. Übersetzung durch den Erstautor): „Eine Ohrfeige, (…) ein harter Schlag mit der flachen Hand gegen den Kopf, ist die bequemste Bestrafung und daher am weitesten verbreitet, wenn Launenhaftigkeit oder Trotz nach einer umgehenden Züchtigung verlangen. Doch wenn ich an das zarte Gewebe des Gehirns denke und daran, dass ein Hieb, ausreichend, um dem Missetäter das gewünschte Maß an Schmerzen zu verursachen, nicht ausgeführt werden kann, ohne dem Kopf einen erheblichen Schlag zu versetzen, muss ich dies für eine hochgradig unangemessene Art der Züchtigung erachten (…).“ (Parkinson 1812). Beim Entdecken schwerer Fälle körperlicher Misshandlung von Kindern, die sich selbst nicht äußern konnten, leisteten der französische Rechtsmediziner Ambroise Tardieu (Tardieu 1860) sowie hundert Jahre später der Pädiater Henry Kempe (Kempe et al. 1962) Pionierarbeit. Zudem trugen entwicklungspsychologische Längsschnittstudien dazu bei, dass Körperstrafen, selbst wenn sie ohne körperliche Verletzungsfolgen blieben, zunehmend kritischer gesehen und abgelehnt wurden (z. B. Straus et al. 1997). Eine ablehnende Haltung gegenüber Körperstrafen hat sich in Deutschland auch rechtlich durchgesetzt. Noch 1986 hielt der Bundesgerichtshof in einer Strafsache das Schlagen eines Kindes mit einem Wasserschlauch bis zum Entstehen von Striemen nicht von vorneherein für eine entwürdigende Erziehungsmaßnahme (BGH 25.11.1986 – 4 StR 605/86). Seit November 2000 formuliert aber § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ein „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ und bezieht sich dabei explizit sowohl auf „körperliche Bestrafungen“ wie auf emotionale Misshandlungen. Zur Begründung werden sozialwissenschaftliche Befunde zu schädlichen Wirkungen von Körperstrafen zitiert (Bundestags-Drucksache 14/1247, S. 4). Damit ist die Grenze des gesellschaftlich als zulässig Erachteten (zumindest in Bezug auf die körperliche Gewalt) in Deutschland klar definiert. Natürlich ist damit aber nicht gesagt, dass jede Art von körperlicher Bestrafung staatliche Eingriffe in ansonsten geschützte Grundrechte von Eltern und Kindern rechtfertigt. Hierauf wurde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich hingewiesen (ebd., S. 5).

2 Definition körperlicher Kindesmisshandlung

Vor allem für Umfragen, wie häufig Körperstrafen durch Eltern in Deutschland und in anderen Ländern noch vorkommen, werden manchmal alle Arten körperlicher Gewalt durch Eltern in einen Topf geworfen, so etwa in den Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (z. B. Hellmann 2014). Eine einfache Definition von Kindesmisshandlung setzt hier an und greift all diejenigen Formen körperlicher Gewalt heraus, die zu Verletzungen geführt haben oder führen können. Entsprechend definieren beispielsweise Leeb et al. (2008, S. 22) körperliche Kindesmisshandlung als „intentionalen Gebrauch körperlicher Gewalt gegen ein Kind, der zu einer körperlichen Verletzung führt oder das Potenzial hat, hierzu zu führen“ (Übersetzung durch Zweitautor). Soll Kindesmisshandlung allerdings als Form von Kindeswohlgefährdung gefasst werden, ist diese Definition einerseits zu weit, da von einer Kindeswohlgefährdung nur dann gesprochen werden kann, wenn zumindest erhebliche Schädigungen drohen (zum Tatbestand des § 1666 Abs. 1 BGB s. a. Voraussetzungen für kindesschutzrechtliche Maßnahmen: Tatbestand des § 1666 Abs. 1 BGB [Kap. 15]). Gleichzeitig ist die Definition zu eng, da auch psychische Schädigungen durch körperliche Gewalt und nicht nur körperliche Verletzungen vom Begriff der Kindeswohlgefährdung abgedeckt werden. Für den Bereich des familiengerichtlichen Kinderschutzverfahrens wäre von körperlicher Kindesmisshandlung also dann zu sprechen, wenn der intentionale Gebrauch körperlicher Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche durch Sorgeberechtigte droht, zu erheblichen physischen oder psychischen Schädigungen zu führen oder bereits Schädigungen zur Folge hatte. Die Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Schädigung muss substanziell sein. In der Rechtsprechung wird von einer „mit ziemlicher Sicherheit vorhersehbaren“ oder (bei sehr schweren drohenden Verletzungen) „hinreichend“ wahrscheinlichen Schädigung gesprochen (s. a. Voraussetzungen für kindesschutzrechtliche Maßnahmen: Tatbestand des § 1666 Abs. 1 BGB [Kap. 15]). Es ist leicht einzusehen, dass in der empirischen Forschung kaum mit nur schwer zu fassenden Eingrenzungen auf „erhebliche“ Schädigungen oder eine „hinreichende“ Wahrscheinlichkeit der Schädigung operiert werden kann, die im Recht ja auch für Einzelfallentscheidungen entwickelt wurden. Daher fallen tatsachenwissenschaftliche Definitionen und rechtliches Verständnis in der Regel nicht völlig zusammen. Die nachfolgend berichteten Studien wurden aber so ausgewählt, dass körperliche Misshandlungen im Mittelpunkt stehen, die mit (drohenden) schweren körperlichen oder psychischen Schädigungen einhergehen und die daher in der Regel auch eine Kindeswohlgefährdung darstellen. Dies gilt auf alle Fälle für eine nachfolgend vorgestellte Unterform der körperlichen Kindesmisshandlung, das misshandlungsbedingte Schädelhirntrauma (Schütteltrauma).

2.1 Misshandlungsbedingtes Schädelhirntrauma (Schütteltrauma) als Sonderform körperlicher Kindesmisshandlung

Misshandlungsbedingte Schädelhirntraumata zählen zu den häufigsten nicht-natürlichen Todesursachen bei Säuglingen und Kleinkindern (Keenan & Bratton 2006) und sind zudem in vielen Fällen für schwerwiegende Behinderungen verantwortlich. Da in der Regel sehr junge Kinder betroffen sind, die sich noch nicht äußern können, handelt es sich um ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig beim Erkennen von Kindesmisshandlung gesicherte medizinische Vorgehensweisen bei der Diagnose sein können. Diese haben sich in mehreren Schritten entwickelt. Subdurale Hämatome, also Blutansammlungen zwischen Gehirnoberfläche und harter Hirnhaut (dura mater), die einen Hauptbefund beim misshandlungsbedingten Schädelhirntrauma darstellen, sind Medizinern schon seit Jahrhunderten bekannt. Die Ursache blieb jedoch bis in die Moderne Gegenstand von Spekulationen. So postulierte Rudolf Virchow zunächst eine entzündliche Genese. Vor allem Kinderärzte erkannten einen Zusammenhang zur wirtschaftlichen Herkunft der Familien und postulierten Mangelernährung als mögliche Ursache. Der Berliner Kinderarzt Oskar Rosenberg vermutete dann zumindest bei einem Teil der Fälle eine traumatisch bedingte Genese, d. h. eine auf Gewalteinwirkung zurückzuführende Entstehung (Rosenberg 1913). Er beschrieb zudem Blutungen der Netzhaut des Auges, Atemstörungen, Anfälle oder andere neurologische Symptome als Begleiterscheinungen. Mit Einzug der Röntgenuntersuchungen in die Medizin fiel dem US-amerikanischen Radiologen John Caffey auf, dass zahlreiche seiner jungen Patienten mit Blutungen der harten Hirnhaut auch Knochenbrüche aufwiesen, die als Folge des Hochreißens und Packens bei einem gewaltsamen Schütteln eines Säuglings oder Kleinkindes verstanden werden konnten (Caffey 1974). In einigen Fällen resultierten zusätzliche Verletzungen zudem daraus, dass Kinder beim Schütteln gegen Wände geschlagen oder auf den Boden geschleudert wurden. Unter Einbeziehung weiterer Studien, etwa biomechanischer Modellierungen (z. B. Stray-Pedersen et al. 2021) und dem Vergleich von Befundbildern in Fällen mit und ohne Geständnis eines Schüttelns (z. B. Vinchon et al. 2022), entwickelten sich in der Folge diagnostische Leitlinien, bei welchen Befundbildern medizinisch sicher auf ein gewaltsames Schütteln geschlossen werden kann (Hymel et al. 2019). In Deutschland ist hier insbesondere auf die Kinderschutzleitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften hinzuweisen (AWMF 2019).

2.2 Auf andere übertragene artifizielle Störung (Münchhausen by Proxy) als weitere Sonderform körperlicher Kindesmisshandlung

Bei dieser weiteren Sonderform körperlicher Kindesmisshandlung gibt es bislang keine vergleichbar breit getragene diagnostische Leitlinie, sondern nur Empfehlungen einzelner Organisationen (z. B. APSAC 2018) sowie klinisch gewonnene Empfehlungen (z. B. Glaser 2020). Im Mittelpunkt steht hier das Vortäuschen, Fälschen oder Herbeiführen von Symptomen einer Erkrankung bei einem Kind. Wenn eine tatsächliche Erkrankung vorhanden ist, werden Symptome verstärkt bzw. verlängert oder zusätzliche Symptome hinzugefügt. Die vorgetäuschten, gefälschten oder induzierten Symptome werden genutzt, um das Kind untersuchen und behandeln zu lassen. Es geht dabei aber nicht vorrangig darum, widerrechtlich äußere Vorteile zu erreichen (z. B. längere Unterhaltszahlungen, Gewährung von Sozialgeld) oder Sanktionen zu vermeiden (z. B. indem Folgen eines Schütteltraumas als rätselhafte Erkrankung dargestellt werden). Solche Fälle kommen ebenfalls vor, jedoch wird dann von durch Erwachsene simulierten Erkrankungen bei Kindern gesprochen (Malingering by Proxy: Amlani et al. 2016). „Medizinische Misshandlung“ oder „Misshandlung durch Medizin“ werden als Oberbegriffe diskutiert, da Medizin im Rahmen des Misshandlungsgeschehens instrumentalisiert und entgegen der Absichten der medizinischen Fachkräfte zum Schaden von Kindern eingesetzt wird (Jenny & Metz 2020). Trotz vieler Forschungslücken ist klar, dass resultierende Belastungen und Beeinträchtigungen bei Kindern sehr ernsthaft sein können und Todesfälle sowie erworbene Behinderungen einschließen (z. B. Davis et al. 1998). Auch ist unstrittig, dass die Klärung und Bearbeitung entsprechender Fälle regelhaft die Zusammenarbeit mehrerer medizinischer Fachrichtungen verlangt. Eine Zusammenstellung des Forschungsstandes findet sich etwa bei Cording und Carter (2021); während Glaser (2020) und Bursch et al. (2021) eher das praktische Vorgehen in Verdachtsfällen fokussieren. Deutschsprachige Übersichtsarbeiten stammen etwa von Kindler (2006); Noeker (2004) und Häßler (2012). Fallstudien aus Deutschland wurden unter anderem von Lorenc (2011) und Heubrock (2018) vorgelegt.

3 Prävalenz von körperlicher Misshandlung und Überschneidung mit anderen Gefährdungsformen

Körperliche Misshandlungen spielen in etwa 20–30 % der familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren eine Rolle und stellen in 5–10 % der Fälle die Hauptgefährdungslage dar (Münder 2017). Bei einer Zahl von zuletzt 3640 erledigten familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren bei den Amtsgerichten in 2020 (Statistisches Bundesamt 2021a) und geschätzt 1,5 Kindern pro Verfahren entspricht dies ungefähr 1000–1600 bzw. 300–550 Kindern pro Jahr, bei denen sich Familienrichter*innen mit möglichen Misshandlungen als einer oder der hauptsächlichen Gefährdungsform auseinandersetzen müssen. Bei sehr viel mehr Kindern werden den Jugendämtern Hinweise auf eine körperliche Misshandlung mitgeteilt. Bei ungefähr 7500 Kindern sind die Ämter in 2020 zu dem Schluss gekommen, dass eine (akute oder latente) Kindeswohlgefährdung auch oder hauptsächlich wegen körperlichen Misshandlungen vorlag (Statistisches Bundesamt 2021b). Wie viele Kinder in Deutschland, unabhängig von einem familiengerichtlichen oder jugendamtlichen Kinderschutzverfahren, jedes Jahr durch elterliche Gewalt verletzt und deshalb medizinisch behandelt werden müssen, ist dagegen nicht bekannt. Für in der Regel schwere Verletzungen aufgrund eines misshandlungsbedingten Schädelhirntraumas hat eine Umfrage bei Kliniken zu der Schätzung geführt, dass jährlich etwa 110 Kinder dort vorgestellt werden (Berner et al. 2009).

Da vor allem bei Kindesmisshandlungen ohne schwere Verletzungsfolgen mit einem größeren Dunkelfeld zu rechnen ist, wurden in mehreren Studien Jugendliche (z. B. Hellmann 2014) oder Erwachsene (Witt et al. 2017, 2019) rückblickend zu körperlicher Gewalt durch die Eltern befragt. Für die Abschätzung der Häufigkeit körperlicher Misshandlung als Form von Kindeswohlgefährdung ist es sinnvoll, schwere Formen körperlicher Gewalt (z. B. Schläge mit einem harten Gegenstand oder mit berichteten Verletzungsfolgen) in den Mittelpunkt zu rücken. In den drei genannten Studien fanden sich hierzu Raten von 5,5 bis 12,7 % der Bevölkerung. Sollten diese Zahlen auch bei der jetzigen Generation von Kindern noch zutreffen, wäre bei insgesamt etwa 13,7 Mio. Minderjährigen in Deutschland mit 735.000 bis 1.739.000 Kindern bzw. Jugendlichen zu rechnen, die von schwerer körperlicher Gewalt durch die Eltern betroffen sind. Auch wenn in vielen Fällen ein Eingreifen des Gerichts nicht zur Debatte steht, da die Eltern beispielsweise freiwillig Hilfen annehmen oder einer Fremdunterbringung zustimmen und darüber hinaus die Anzahl jährlich bekanntwerdender Fälle nicht einfach in die Zahl der Kinder umgerechnet werden kann, die in den Jahren des Aufwachsens zusammengenommen schwere elterliche Gewalt erleben, zeigen die unterschiedlichen Größenordnungen der Zahlen doch recht deutlich, dass ein erhebliches Dunkelfeld existiert und viele Kinder nicht den Schutz erhalten, der ihnen zusteht.

Bevölkerungsstudien, Aktienanalysen und Befragungen in Kinderschutzfällen weisen noch auf zwei zusätzliche praxisrelevante Umstände im Zusammenhang mit der Häufigkeit körperlicher Kindesmisshandlung hin:

  • Körperliche Kindesmisshandlung geht häufig mit anderen Gefährdungsformen einher. In einer der zitierten Bevölkerungsstudien zu Gefährdungserfahrungen in der Kindheit berichteten beispielsweise 87 % der Befragten, die körperliche Misshandlungen geschildert hatten, auch von anderen Gefährdungserfahrungen (Witt et al. 2017). Andere Studien zeigen ebenfalls hohe Überlappungsraten von körperlicher Kindesmisshandlung mit weiteren Gefährdungsformen (für eine Forschungsübersicht siehe Matsumoto et al. 2021). Die verschiedenen Gefährdungsformen müssen zwar nicht unbedingt zeitgleich vorliegen. Wenn aber ein Fall mit Hinweisen auf körperliche Kindesmisshandlung bei Gericht anhängig wird, sollte im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung regelmäßig auch nach anderen Gefährdungsformen gefragt werden.

  • Körperliche Kindesmisshandlung ist häufig kein einmaliges Ereignis, d. h. viele Eltern sind nicht in der Lage, nach einem Misshandlungsvorfall aus eigenen Kräften weitere Misshandlungen bzw. andere Gefährdungsereignisse zu vermeiden oder sich in Eigeninitiative ausreichend Hilfe zu holen. Eine hohe Rate wiederholter Misshandlung zeigt sich rückblickend, wenn bei verletzten Kindern nach Spuren früherer Misshandlungen gesucht wird oder prospektiv, wenn die Rate weiterer Gefährdungsmitteilungen nach einem bekannt gewordenen Misshandlungsvorfall erhoben wird. Beispielsweise enthielten medizinische Unterlagen bei misshandelten Kleinkindern zu 27,5 % Hinweise auf frühere Misshandlungen, obwohl es sich ja um sehr junge Kinder handelte und der Zeitraum für frühere Misshandlungsereignisse daher sehr kurz war (Sheets et al. 2013). In einer Studie bei Kindern mit misshandlungsbedingtem Schädelhirntrauma gab es sogar bei 79 % der Fälle Hinweise auf frühere Misshandlungen (Laurent-Vannier et al. 2020). Häufig werden ältere Verletzungen, etwa verheilte Knochenbrüche, erst durch genaue medizinische Untersuchungen aufgedeckt, die deshalb in der ärztlichen Kinderschutzleitlinie empfohlen werden (AWMF 2019). Prospektiv zeigte sich in der bislang weltweit größten hierzu vorliegenden Studie gerechnet auf 4,5 Jahre nach körperlicher Misshandlung eine Rate erneuter Gefährdungsmitteilungen bei betroffenen Kindern von 40,8 % (Jonson-Reid et al. 2003). In Deutschland lag diese Rate in Misshandlungsfällen bei einem 3-Jahres Follow-Up bei 28 % (Jagusch et al. o. J.). In Fällen eines misshandlungsbedingten Schädelhirntraumas wurden, sofern betroffene Kinder in der Familie verblieben oder dorthin rückgeführt wurden, in Zeiträumen von zwei bis zehn und mehr Jahren bislang Raten erneuter Gefährdungsmitteilungen zwischen 13 % und 77 % gefunden (z. B. Jaudes & Bilaver 2004; Stephens & Oates 2015). Auch bei Geschwistern körperlich misshandelter Kinder ist die Häufigkeit von Gefährdungsereignissen deutlich erhöht. In einer Langzeitstudie über 21 Jahre lag sie beispielsweise bei 55 % (Kisely et al. 2021). Diese Befunde haben für die Kinderschutzpraxis drei Folgen. Zum ersten sollte nach bekannt gewordenen Misshandlungen eines Kindes immer auch nach Geschwistern gefragt werden. Zweitens ist es angesichts hoher Raten wiederholter Gefährdungsereignisse und stets möglicher schwerer Schädigungen im Fall einer weiteren Misshandlung angezeigt, in allen Verfahren wegen der körperlichen Misshandlung eines Kindes möglichst freiwillige, notfalls aber auch unfreiwillige Maßnahmen zur Verringerung des Wiederholungsrisikos zu ergreifen. Welche Maßnahmen im Einzelfall erforderlich und geeignet sind, hängt, drittens, wesentlich vom Ausmaß der Wiederholungsgefahr und der Verletzlichkeit gefährdeter Kinder ab, bedarf also der einzelfallbezogenen Analyse. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Faktoren bei einer solchen Einschätzung der Wiederholungsgefahr findet sich im Fachtext Folgeabwägung bei außerfamiliärer Unterbringung (Kap. 34). Zwei weitere Texte in dieser Handreichung bieten Hinweise für die Ausgestaltung ambulanter Hilfe- und Schutzkonzepte nach Kindesmisshandlung (Potenziale, Grenzen und Risiken von helfenden und schützenden Interventionen [Kap. 30]) sowie Prüfkriterien für die Ungeeignetheit ambulanter Hilfen in manchen Fällen (Hilfe- und Fördermöglichkeiten dies- und jenseits der Kinder- und Jugendhilfe [Kap. 29]).

4 Psychische Folgen körperlicher Kindesmisshandlung

Kinder, die unter Bedingungen chronischer Misshandlung aufwachsen müssen, erleiden mehrheitlich erhebliche Schädigungen ihrer psychischen Gesundheit. Beispielsweise fand eine Langzeitstudie bei 60 % der Kinder, die bereits in der frühen Kindheit körperlich misshandelt wurden, im späten Jugendalter zwei oder mehr psychische Erkrankungen (Sroufe et al. 2009). Andere Studien bestätigen den Befund bei Kindern, für die immer wieder Gefährdungsmitteilungen eingehen (z. B. Jonson-Reid et al. 2012). Hinzu kommen bei körperlichen Misshandlungen regelhaft vermeidbare Schmerzen und teilweise körperliche Verletzungen unterschiedlichen Schweregrads. In der Summe ist die Einordnung körperlicher Kindesmisshandlung in den Bereich der Kindeswohlgefährdung daher unstrittig.

Körperliche Misshandlung entfaltet ihre psychische Schädigungswirkung auf mindestens sechs Wegen. In einigen Fällen (a) haben körperliche Verletzungen dauerhafte Folgen in Form erworbener Behinderungen, die das geistige und seelische Wohl von Kindern beeinträchtigen. In einer Nacherhebung bei mehr als 1000 Kindern mit misshandlungsbedingtem Schädelhirntrauma wiesen mit 11 Jahren beispielsweise 45 % der überlebenden Kinder eine Lernbehinderung und 33 % motorische Entwicklungsverzögerungen auf (Jackson et al. 2021). Erlebte körperliche Misshandlungen lösen (b) teilweise massive Angst aus und überfordern die psychischen Bewältigungsfähigkeiten betroffener Kinder gravierend. Deshalb entwickeln sich unter diesen Umständen vielfach posttraumatische Belastungsstörungen. Dabei handelt es sich um eine krankheitswerte Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit mit dem Potenzial, Lebensqualität, Beziehungs- und Arbeitsfähigkeit langfristig ernsthaft zu gefährden (Santiago et al. 2013). In einer der vorliegenden Langzeitstudien wiesen Jahre nach körperlichen Misshandlungen noch 33 % der dann bereits Erwachsenen das Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung auf (Widom 1999). Auch unabhängig von einer posttraumatischen Belastungsstörung können (c) Misshandlungen zu Beeinträchtigungen selbstregulativer Fähigkeiten bei Kindern führen. Selbstregulative Fähigkeiten betreffen etwa die Kontrolle starker eigener Gefühle oder die Steuerung der eigenen Konzentration. Beides ist für die Bewältigung von Aufgaben, etwa in der Schule, und die Gestaltung von Beziehungen sehr wichtig und wird in frühen Beziehungen mit Hilfe der Bindungspersonen grundgelegt (für eine Forschungsübersicht siehe Pallini et al. 2018). Misshandelnde Eltern stehen für diese Aufgabe aber kaum zur Verfügung, sondern überfordern im Gegenteil die selbstregulativen Fähigkeiten ihrer Kinder durch ihr Verhalten noch zusätzlich. Daher finden sich bei körperlich misshandelten Kindern häufig deutliche Beeinträchtigungen in der Selbstkontrolle, was über Lernprobleme sowie Konflikte mit Gleichaltrigen und Lehrkräften ungünstige Fallverläufe begünstigt (für eine Forschungsübersicht s. Gruhn & Compas 2020). Zu Problemen mit Gleichaltrigen, erwachsenen Bezugspersonen und später Partnern sowie eigenen Kindern tragen (d) zudem feindselige Wahrnehmungsverzerrungen und ein fehlangepasstes Beziehungslernen bei. Damit ist gemeint, dass Misshandlungserfahrungen durch Bezugspersonen von vielen betroffenen Kindern so verarbeitet werden, dass sie sich weniger auf Vertrauensbeziehungen einlassen, ein erhöhtes Misstrauen entwickeln, Signale von anderen eher feindselig deuten und eher bereit sind, sich mit Zwang und Gewalt durchzusetzen (z. B. Dodge et al. 1995; Egeland et al. 2002). Erfahrungen von Misshandlung beeinflussen (e) weiter das Selbstbild und selbstbezogene Gefühle, d. h. misshandelte Kinder denken oft schlecht von sich und/oder schämen sich, da die Misshandlung als Beleg dafür verstanden wird, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung (s. a. Wie verstehen Kinder Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch? [Kap. 18]). Dieser Prozess trägt zu Ängsten und depressiven Störungen bei und verstärkt soziale Probleme. Schließlich gehen Misshandlungen auch noch (f) mit einer Reihe (neuro-)physiologischer Veränderungen einher (für eine aktuelle Übersicht siehe Cabrera et al. 2020). Einige dieser Veränderungen stellen kurzfristige Anpassungen an eine „gefährliche“ Familienumwelt dar, sind aber langfristig mit Kosten verbunden und werden unter der Überschrift der „allostatischen Last“ diskutiert (Guidi et al. 2021). Ein Beispiel ist das Stresshormonsystem von Kindern, das unter Bedingungen von Gefährdung „lernt“, schneller zu reagieren und manchmal sogar daueraktiviert zu bleiben. Kurzfristig ist dies eine Anpassung an eine gefährliche familiäre Umwelt. Langfristig werden aber Verhaltensstörungen und Stresserkrankungen begünstigt. Soweit bekannt, sind viele, aber nicht alle dieser Veränderungen langfristig reversibel, wenn sich die Fürsorgebedingungen dauerhaft bessern.

Die Aufzählung der durch körperliche Kindesmisshandlungen angestoßenen Schädigungsprozesse soll verdeutlichen, dass einige Schädigungsprozesse in betroffenen Kindern auch dann weiterlaufen, wenn es nicht mehr zu weiteren Misshandlungen kommt. So verändern sich Entwicklungsrückstände in der Selbstkontrolle, feindselige Wahrnehmungsverzerrungen, ein negatives Selbstbild und eine bestehende posttraumatische Belastungsstörung nicht ohne weiteres, wenn ein Kind durch Fremdunterbringung vor weiteren elterlichen Misshandlungen geschützt ist. Die rechtlich in § 1666 Abs. 1 BGB geforderte „Abwehr bestehender Gefahren“ für das Wohl betroffener Kinder kann sich daher auch nicht darauf beschränken, nur die Verhinderung weiterer Misshandlungen in den Blick zu nehmen. Verbleibt das Sorgerecht bei den Eltern, sollte daher besprochen werden, inwieweit die Eltern erforderlichen Therapien und Fördermaßnahmen zustimmen. Gleiches gilt für die Auswahl eines geeigneten Ergänzungspflegers, da Verlaufsstudien zeigen, dass Kinder in Kinderschutzfällen häufig nicht die therapeutische und pädagogische Unterstützung erhalten, die sie benötigen (z. B. Münzer et al. 2018).

5 Erkennen körperlicher Kindesmisshandlung im Einzelfall

Beim Erkennen körperlicher Kindesmisshandlung kommt medizinischem Sachverstand, insbesondere bei jüngeren Kindern, häufig eine wichtige Rolle zu. Spezialisierte Kompetenz hierfür findet sich in rechtsmedizinischen Instituten und medizinischen Kinderschutzgruppen, meist an Kliniken. Schnelle Auskünfte können zudem bei der durchgehend besetzten Kinderschutzhotline (www.kinderschutzhotline.de) eingeholt werden. Gestützt auf eine mittlerweile umfangreiche Fachliteratur (für eine Einführung siehe Herrmann et al. 2016) und medizinische Leitlinien (AWMF 2019) kann meist beurteilt werden, wie sicher Verletzungsbilder auf Gewalteinwirkung zurückgeführt werden können, wobei auch der Anamnese und einer eventuell verzögerten elterlichen Hilfesuche bei einer Beurteilung jeweils eine wichtige Rolle zukommt. In der Regel können klare Aussagen darüber getroffen werden, ob von Eltern angegebene Entstehungsweisen von Verletzungen (z. B. die Verletzung eines Kindes durch Geschwister) möglich erscheinen oder nicht. Aus medizinischen Beurteilungen lässt sich meist nicht ableiten, durch wen genau ein Kind verletzt wurde (Ausnahmen hiervon sind z. B. die Zuordnung von Bisswunden oder die Analyse von Fremd-DNA nach sexualisierter Gewalt durch die Rechtsmedizin). Für strafrechtliche Verfahren, in denen ein individueller Schuldnachweis erforderlich ist, bedeutet dies, dass auch bei sicher gewaltbedingten Verletzungen eines Kindes, wie einem misshandlungsbedingten Schädelhirntrauma, häufig keine Verurteilung möglich ist (z. B. Feld et al. 2021). Umso wichtiger ist die Einsicht, dass es im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren nicht um einen solchen individuellen Tatnachweis, sondern um die Abwehr bestehender Gefahren geht, sodass eventuell eingestellte Ermittlungs- und Strafverfahren familiengerichtliche Maßnahmen nicht ausschließen (s. a. Häufige Missverständnisse im Kinderschutzverfahren [Kap. 43]). In einigen Verfahren werden medizinische Einschätzungen zur gewaltbedingten Genese von Verletzungen als unwissenschaftlich angegriffen (für einige Beispiele zu Behauptungen bezogen auf misshandlungsbedingte Schädelhirntraumata, die dann häufig zum Einsatz kommen, siehe Berthold 2020). Dies ist ein wichtiges Argument für die Einschaltung spezialisierten medizinischen Sachverstandes von Anfang an, da dann eine umfassende Einschätzung relevanter Differenzialdiagnosen, also anderen möglichen Ursachen eines Verletzungsbildes, und ein schneller Rückgriff auf Forschungsstände möglich ist.

Neben medizinischen Einschätzungen tragen, zumindest bei älteren Kindern, häufig Angaben betroffener Kinder zur Klärung im Raum stehender Misshandlungsvorwürfe bei. Daher ist die fachkundige Exploration betroffener Kinder durch Fachkräfte des Jugendamtes oder Sachverständige, gegebenenfalls aber auch im Rahmen einer Anhörung ebenfalls von großer Bedeutung. Hier gibt es empirisch gestützte Empfehlungen zum Aufbau solcher Explorationen (s. a. Rechtliche Vorgaben zur Kindesanhörung und kindgerechte Anhörung [Kap. 5]). Bestehen Unsicherheiten, inwieweit von einem Kind angegebene Misshandlungen einer Entscheidung zugrunde gelegt werden können, kann eine aussagepsychologische Analyse dieser Angaben durch hierauf spezialisierte Sachverständige sinnvoll sein (für eine einführende Darstellung siehe Pfundmair 2020). Eine aussagepsychologische Analyse läuft allerdings ins Leere, wenn Misshandlungen nur verneint werden oder es zuvor beeinflussende Befragungen des Kindes, etwa im Rahmen eines Sorgerechtskonfliktes, gegeben hat. In einigen Fällen gelingt es, die Mitwirkungsbereitschaft von Eltern zu wecken, die sich von eigenen Misshandlungen oder Misshandlungen durch den anderen Elternteil bzw. Partner distanzieren möchten und weiteren Misshandlungsereignissen vorbeugen möchten und daher Misshandlungsereignisse zugeben. Welche Maßnahmen in diesen Fällen zur Abwendung weiterer Misshandlungen geeignet und erforderlich sind, bedarf, wie weiter oben bereits genannt, der einzelfallbezogenen Analyse. Aus einem elterlichen Einräumen von Misshandlungen sollte nicht geschlossen werden, dass keine Wiederholungsgefahr besteht. Der Stellenwert der Angaben von Kindern und Eltern bei der Klärung im Raum stehender Misshandlungsvorwürfe verweist auf die Bedeutung der Beziehungsgestaltung vor und während des familiengerichtlichen Verfahrens, da Eltern wie Kinder sich eher öffnen, wenn sie sich nicht abgelehnt, sondern zur Mitarbeit eingeladen fühlen.

6 Abgrenzung körperlicher Misshandlungen von bloß unzulässigen Körperstrafen

Nach § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB sind alle Körperstrafen unzulässig. Allerdings hat die Vorschrift nur Appellcharakter (Jestaedt 2013). Bei bekanntwerdenden Körperstrafen ist deshalb zwar durchgängig ein Beratungs- und Hilfeangebot gerechtfertigt. Ob Körperstrafen eine Kindesmisshandlung als Form von Kindeswohlgefährdung darstellen, ist aber im Einzelfall zu prüfen. Die notwendige Differenzierung zwischen Körperstrafen und Kindesmisshandlungen stellt in mehreren Rechtsordnungen eine relevante Frage dar, sodass sich hierzu in den Sozial- und Humanwissenschaften eine Fachdiskussion entwickelt hat (Coleman et al. 2010). Hieraus hat sich eine Heuristik entwickelt, also ein Vorschlag, wie auf der Einzelfallebene eine möglichst treffsichere Unterscheidung getroffen werden kann. Diese Heuristik enthält drei Schritte. Im ersten Schritt geht es um die Verletzungsträchtigkeit der Körperstrafen im Einzelfall. Als körperlich verletzungsträchtig beurteilte Körperstrafen, also etwa ein Schlagen mit einem harten Gegenstand oder der Faust, sollten durchgängig als Misshandlung und damit als Kindeswohlgefährdung eingeordnet werden. Bei der Beurteilung können sichtbare, aktuell medizinisch feststellbare oder bereits früher dokumentierte verdächtige Verletzungen sowie Schilderungen der Gewalt durch Kinder oder Personen, die die Gewalt beobachten konnten, herangezogen werden. Im zweiten und dritten Schritt geht es nur um Körperstrafen, die als körperlich nicht oder wenig verletzungsträchtig zu beurteilen sind. Hier wird im zweiten Schritt empfohlen, diese dann als Misshandlung und damit als Kindeswohlgefährdung einzustufen, wenn sie so häufig und drückend sind, dass sie die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern negativ prägen. Eine solche negativ beziehungsprägende Wirkung der Körperstrafen lässt sich entweder aus Schilderungen eines Kindes über seine Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit Schlägen, beobachtbarer Angst vor den Eltern oder einem entsprechenden, mit elterlicher Gewalt begründetem Handeln von Kindern (Weglaufen, Bitte um Inobhutnahme) begründen. Schließlich wird in einem dritten Schritt vorgeschlagen zu prüfen, inwieweit es sich um willkürliche Bestrafungen handelt, d. h. Bestrafungen ohne für das Kind erkennbare oder erfüllbare erzieherische Absicht (z. B. Bestrafungen, um den anderen Elternteil zu demütigen oder Bestrafungen bei nächtlichem Einnässen). Willkürliche Bestrafungen sind noch stärker als Körperstrafen ohnehin mit Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden und daher noch belastender. Die Beurteilung im Einzelfall erfordert es, betroffenen Kindern und schlagenden Eltern zuzuhören. Als Hinweis kann es gelten, wenn Kinder selbst nicht wissen und verstehen, warum sie geschlagen werden, oder wenn Eltern völlig unrealistische Anforderungen formulieren (z. B. Kind soll nachts nicht einnässen), Strafen aus der Ähnlichkeit mit anderen Personen abgeleitet werden (z. B. „er ist wie sein Vater, das macht mich rasend“) oder Willkür offen zugegeben wird (z. B. „ach ja, er wird es schon verdient haben“). Auch wenn Körperstrafen im Einzelfall nicht als Kindesmisshandlung eingestuft werden, stellen sie doch einen Hilfeanlass dar, da sie stets mit vermeidbaren Schmerzen verbunden und als Erziehungsmethode kontraproduktiv sind (Heilmann et al. 2021).