FormalPara Warum ist das wichtig?

Kinder können auf ihre Grundrechte nicht verzichten. Ob sie Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch als solche verstehen, ist daher nicht ausschlaggebend dafür, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Dies ergibt sich alleine schon daraus, dass Kinderschutz auch bei Kindern greifen muss, die aufgrund von Alter und Entwicklungsstand noch nicht über Erfahrungen nachdenken oder sich dazu äußern können. Umgekehrt führen auch Angaben eines Kindes, es habe sich durch bestimmte elterliche Verhaltensweisen sehr verletzt oder missachtet gefühlt, nicht geradlinig zu einer Übernahme der Bewertung durch Jugendämter oder Familiengerichte. Auch wenn ein Hilfebedarf in entsprechenden Fällen anzunehmen ist, handelt es sich vielleicht lediglich um einen eskalierten Eltern-Kind Konflikt oder gar um induzierte Erinnerungen und Bewertungen im Kontext von Hochstrittigkeit und Beeinflussung (Blandon-Gitlin et al. 2020; Saini et al. 2020). Erleben und Bewertungen von Kindern und die Bewertungen von Jugendämtern sowie Gerichten im Rahmen von Gefährdungseinschätzungen fallen also nicht zusammen. Warum sich trotzdem damit auseinandersetzen, wie Kinder auf Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch reagieren und diese Erfahrungen zu verstehen versuchen? Vier Gründe sind hierfür ausschlaggebend:

  • Kinder sind eine zentrale, manchmal die einzige Informationsquelle im Hinblick auf Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch. In der Exploration bzw. Anhörung durchdringen und beeinflussen sich in aller Regel Schilderungen von Erfahrungen und den Reaktionen der Kinder darauf. Bestimmte Verständnisse von Kindern können es sogar sehr schwer machen, dass ein Gespräch überhaupt gelingt. So wird ein Kind, das davon ausgeht, es sei selbst an einem erfolgten sexuellen Missbrauch schuld und könne dafür bestraft werden, vermutlich nicht so leicht mit einer Autoritätsperson darüber sprechen. Manche Erklärungen von Kindern können für Fachkräfte auch irritierend sein, etwa wenn Rechtfertigungen von Elternteilen, warum es zu Misshandlung, Vernachlässigung oder Partnerschaftsgewalt gekommen ist, übernommen werden und die Darstellung prägen (z. B. erst habe ich nicht gehört und dann musste mich der Papa bestrafen). Ein Verständnis, das Kinder lediglich als mehr oder weniger gute Informanten über Erlittenes ansieht, verfehlt daher wesentliche Aspekte der Gesprächssituation.

  • Weiter üben Verständnis- und Bewältigungsversuche von Kindern einen Einfluss auf ihre Willensäußerungen aus, die wiederum einen Aspekt des Kindeswohls darstellen. So wird ein Kind, das davon überzeugt ist, es müsse sich selbst und die Mutter versorgen, weil diese nicht anders könne als zu trinken, häufig eine Fremdunterbringung entschieden ablehnen und sich gegebenenfalls an Versuchen beteiligen, Probleme zu vertuschen. Ein Wissen um Verständnis- und Bewältigungsversuche von Kindern ist daher auch sinnvoll, um mögliche Hintergründe eines geäußerten Kindeswillens ausleuchten zu können.

  • Kinder reagieren ganzheitlich, also körperlich, emotional und gedanklich auf Gefährdungserfahrungen und häufig auch auf eine Thematisierung solcher Erfahrungen. Daher kann es immer sein, dass Kinder in der Exploration oder Anhörung zu zittern beginnen, weinen, erstarren oder abbrechen wollen. Für alle professionellen Beteiligten am Verfahren ist es daher wichtig, sich mit den Reaktionsweisen von Kindern beschäftigt zu haben.

  • Schließlich beeinflusst ein Kinderschutzverfahren unweigerlich die Art und Weise, wie Kinder ihre Erfahrungen verstehen und beurteilen. Jenseits dann eventuell beschlossener Maßnahmen, stellt das Verfahren selbst bereits eine Intervention dar. Entsprechend der Kommunikationstheorie (z. B. Mortensen 2017) ist es etwa nicht möglich nicht zu reagieren, wenn Kinder angehört oder exploriert werden, da auch ein Schweigen, Wegschauen oder schnelles Stellen der nächsten Frage als Botschaft verstanden werden kann (z. B. „Es ist peinlich, was Du da erzählst.“ oder „Ich will das eigentlich gar nicht hören.“). Obwohl im Kinderschutzverfahren das Sammeln und Bewerten von Informationen in den Mittelpunkt gerückt ist, bleibt es sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, ob, wann und wie bewusst auf manche in Verfahren deutlich werdende Erfahrungen oder Verständnis- und Bewältigungsversuche von Kindern reagiert werden soll. Zudem kann es sein, dass diese Aspekte auch bei Schutzkonzepten und Hilfeplänen berücksichtigt werden müssen, da beispielsweise ein Kind, das starke Scham- und Schuldgefühle empfindet, im Rahmen ambulanter Hilfe bei weiteren Gefährdungsvorfällen nur schwer Hilfe suchen kann.

Nachfolgend werden in einem Viererschritt (1) unmittelbare Reaktionen von Kindern auf erfahrene Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch, (2) Verständnis- und Erklärungsversuche von Kindern sowie (3) kindliche Bewältigungsstrategien bei länger anhaltenden Gefährdungssituationen besprochen. Hieraus werden (4) Empfehlungen von Explorationen bzw. Anhörungen und für die Gestaltung von Hilfe- und Schutzkonzepten abgeleitet.

1 Unmittelbare Reaktionen von Kindern auf Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch

Informationen über die unmittelbaren Reaktionen von Kindern auf Situationen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch stammen im Wesentlichen aus zwei Quellen: zum einen aus Beobachtungen der psychischen Verfassung und Messung von Stressparametern nach entsprechenden Vorfällen, zum anderen aus den rückblickenden Angaben von Kindern darüber, was sie empfunden und getan haben.

Bei Ereignissen, die mit Gewalt bzw. Zwang verbunden waren, schilderten befragte Kinder nahezu durchgängig Angst, manchmal auch Verzweiflung, Traurigkeit oder andere belastende Gefühle als emotionale Reaktionen (z. B. Watkins-Kagebein et al. 2019). Dies gilt auch für ein Miterleben von Partnerschaftsgewalt (Noble-Carr et al. 2019). Bei sehr jungen Kindern kann ein negatives Erleben aus Reaktionen im Verhalten erschlossen werden, etwa Erstarren oder Weinen (z. B. Carpenter und Stacks 2009). Bei einigen Formen von Vernachlässigung wurden emotional negativ getönte Mangelzustände (z. B. bohrender Hunger, unerträgliche Langeweile oder Einsamkeit) sowie Traurigkeit, manchmal auch Angst beschrieben (Lavi & Katz 2016). Beginnend im Kindergartenalter wurden nach Gefährdungsereignissen zunehmend häufiger unmittelbar oder etwas verzögert auftretende negative selbstbewertende Gefühle (z. B. Scham, Schuldgefühl, Gefühl der Wertlosigkeit) genannt (z. B. Feiring & Taska 2005). Manchmal wird dies vermutlich durch Kommentare misshandelnder oder missbrauchender Elternteile gefördert, die die Verantwortung für das Geschehen dem Kind zuschieben. Beeinträchtigungen im Selbstvertrauen nach wiederholten Gefährdungserfahrungen sind aber ein generelles Phänomen und deuten darauf hin, dass es einen grundlegenden Zusammenhang gibt zwischen dem Selbstbild von Kindern und der Art und Weise, wie sie von ihren Bezugspersonen behandelt werden. Ab dem Grundschulalter werden gelegentlich gemischte und daher verwirrende Gefühle von Kindern berichtet (z. B. Angst und gleichzeitig Freude, wenn sich die Eltern nach einer Misshandlung entschuldigen und ein zukünftig positives Familienleben versprechen). Manchmal scheint es unmittelbar keine belastenden Gefühle zu geben, die stattdessen später auftreten. Bei erzieherischer Vernachlässigung (Mangeln an Regeln und Anleitung) erlebten Kinder beispielsweise belastende Gefühle häufig erst dann, wenn sie Verhaltenserwartungen, etwa in der Schule, aufgrund mangelnder Selbstkontrolle nicht erfüllen können. Auch bei einem frühen sexuellen Missbrauch, der als Spiel getarnt wird und nicht mit Zwang oder körperlicher Gewalt verbunden ist, kann es sein, dass belastende Gefühle erst dann oder wesentlich stärker dann einsetzen, wenn Kinder verstehen, dass sie missbraucht wurden.

Jenseits ihrer Gefühle reagieren Kinder auf mehreren Wegen physiologisch auf Ereignisse, die als bedrohlich empfunden werden (z. B. Erhöhung von Wachheit, beschleunigter Herzschlag, Mobilisierung von Stoffwechselenergie, Drosselung der Verdauung). Die Gesamtheit dieser Wege wird als Stressreaktion bezeichnet (für eine Einführung siehe Schandry 2016, Kap. 17). Beteiligt sind unter anderem das Nervensystem und das Stresshormonsystem mit dem zentralen Stresshormon Cortisol. Die Stressreaktion stellt grundlegend eine Anpassungsleistung dar. Diese ist beeindruckend und weitreichend, wie sich etwa daran zeigt, dass auch bestimmte Aspekte des Immunsystems aktiviert werden, um Wundheilung zu beschleunigen und dass zudem eine erhöhte Lernbereitschaft für Angst-auslösende Umwelteindrücke besteht. Sehen sich Kinder sehr bedrohlichen Situationen völlig ausgeliefert, erleben sie teilweise Dissoziation, d. h. sie beschreiben ein inneres Heraustreten aus der Situation, was die Möglichkeiten, später über das Erlebte Auskunft zu geben, einschränken kann (Dalenberg et al. 2012). Sind Kinder anhaltend oder immer wieder schwerem Stress ausgesetzt, wird es zunehmend wahrscheinlicher, dass ihre Stressbewältigungsfähigkeiten überfordert werden. Der Spiegel des Stresshormons Cortisol kann dann chronisch erhöht sein, konstant niedrig bleiben oder es kommt zu überschießenden Reaktionen. Wegen dieser und anderer Folgewirkungen wird von „toxischem Stress“ (Shonkoff et al. 2012) gesprochen.

Fachkräfte in Kinderschutzverfahren sollten wissen, dass Gefährdungserfahrungen auch jenseits von körperlichen Verletzungen und psychischen Auffälligkeiten in den Körpern betroffener Kinder längere Zeit nachwirken können, was generell eine erhöhte Verletzlichkeit für Fehlentwicklungen bedingt (Koss & Gunnar 2018). Neben möglicher Fehlregulationen bei wiederholter Gefährdung lernt das Stressverarbeitungssystem von Kindern auch. In einem als Sensitivierung bezeichneten Prozess setzt die Stressreaktion früher ein, nämlich bei ersten Wahrnehmungen, von denen über mehrere Erfahrungen gelernt wurde, dass nun erneut Misshandlung oder eine andere Gefährdung drohen könnte. So zeigen sich beispielsweise Belastungsreaktionen bei Kindern nach miterlebter Partnerschaftsgewalt bereits dann, wenn sie nur laute Stimmen hören oder andere Anzeichen für einen sich anbahnenden Streit bemerken (Davies et al. 2016). Dieser Prozess kann für die Familiengerichtsbarkeit wichtig sein, weil es sein kann, dass eine Situation (etwa beim begleiteten Umgang) für eine unbeteiligte Person noch nicht bedrohlich scheint, das betroffene Kind aber Warnhinweise wahrnimmt und entsprechend mit Belastung reagiert (z. B. in der Pflegefamilie mehrere Tage schlecht schläft). Stress und eine folgenreiche Überforderung der Stressbewältigungsfähigkeiten sind Reaktionen von Kindern auf die wahrgenommene Bedrohung, die Teil vieler Gefährdungsformen ist (z. B. Misshandlung, sexueller Missbrauch, mangelnde Ernährung).

Bei manchen Formen von Vernachlässigung steht aber weniger eine Bedrohung als vielmehr die Erfahrung beständigen Mangels, etwa an Anregung und Zuwendung, im Mittelpunkt (McLaughlin et al. 2014). Hier ist es schwer, einzelne Situationen herauszugreifen und es lässt sich darüber streiten, ob sinnvoll von „unmittelbaren“ Reaktionen auf Einzelereignisse gesprochen werden kann. Über viele Erfahrungen mangelnder Anregung und Zuwendung hinweg, was auch als Deprivation bezeichnet wird, lässt sich aber eindeutig zeigen, dass Kinder dann lernen, von ihrer Umwelt wenig an Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anregung zu erwarten. Wissen, Interessen und Selbstwirksamkeit, d. h. Erwartungen, etwas bewirken zu können, werden weniger oder langsamer entwickelt. Vor allem aber wird auch die Fähigkeit zur Selbstkontrolle weniger ausgebildet, was sich neurophysiologisch in Form veränderter Entwicklung in manchen Bereichen des Gehirns nachweisen lässt (McLaughlin et al. 2019; s. a. Kindeswohl und kindliche Entwicklung [Kap. 8]).

Schließlich wurde in einer Reihe von Studien mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen direkt darüber gesprochen, was sie während, unmittelbar nach und unmittelbar vor sich abzeichnenden Gefährdungssituationen in ihrer Kindheit getan haben (Katz et al. 2020b). Die Antworten der Kinder wurden zunächst vor allem im Rahmen der grundlegenden Unterscheidung zwischen Kampf und Flucht (Fight or Flight) verstanden. Vor allem Flucht und Rückzug (z. B. ins Zimmer gehen, Musik hören, die Wohnung verlassen) vor oder nach Gefährdungssituationen wurden immer wieder von Kindern beschrieben, aggressive Selbstverteidigung dagegen angesichts des Machtungleichgewichts zwischen Erwachsenen und Kindern in der Familie eher selten. Im Verlauf der Forschung wurde aber deutlich, dass Kinder, soweit sie von Alter und Entwicklungsstand her dazu in der Lage sind, sehr viel mehr Verhaltensweisen in Gefährdungssituationen zeigen. So wurde ein Verhaltensmuster von Erstarren während Gefährdungssituationen sichtbar, das beispielsweise während sexueller Missbrauchshandlungen immer wieder beschrieben wurde (z. B. Katz & Nicolet 2020).

Weitere Verhaltensmuster lassen sich als Beschwichtigen, insbesondere bei drohenden körperlichen oder psychischen Misshandlungen, und Fürsorglichkeit, insbesondere gegenüber vernachlässigenden oder sich selbst ebenfalls gefährdenden Elternteilen, bezeichnen. Auch Sabotage (z. B. Verstecken des Rohrstocks), Schutz für Dritte (z. B. sich vor jüngere Geschwister stellen) und Hilfesuche (z. B. bei den Großeltern) wurden geschildert (z. B. Arai et al. 2019; Katz et al. 2020c). Für familiengerichtliche Verfahren kann das heißen, dass das, was Kinder zu erzählen haben, sich manchmal nicht darin erschöpft, was Elternteile oder andere Bezugspersonen getan oder nicht getan haben. Vielmehr kann es sein, dass Kinder auch mit ihrer Handlungsfähigkeit, wie beschränkt diese auch gewesen sein mag, gesehen werden wollen oder gesehen werden sollten.

2 Verständnis und Erklärungsversuche von Kindern

Forschung und Praxis im Kinderschutz haben sich lange damit beschäftigt, wie wahrheitsgemäß, genau und nachvollziehbar Kinder über Gefährdungserfahrungen, insbesondere von sexuellem Missbrauch, Auskunft geben können. Es wurden Interviewmethoden entwickelt, die die Schilderung solcher Erfahrungen unterstützten und suggestive Verzerrungen vermeiden (für eine Übersicht siehe Lamb et al. 2018). Erst allmählich ist ins Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gerückt, dass Kinder auch versuchen, ihre Erfahrungen zu verstehen und mit Sinn zu versehen. Welche Denkmöglichkeiten Kinder hier haben und wie sie dies tun, hat Auswirkungen darauf, wie Fachkräfte sich mit Kindern verständigen und Schutzmaßnahmen erklären können. Auch die Bewältigungsverläufe bei den Kindern selbst werden beeinflusst. Unterschieden werden kann dabei zwischen Verständnis, Einordnung und Erklärung von Gefährdungsereignissen im engeren Sinne (z. B. wer für den Missbrauch verantwortlich ist) und den Bildern, die betroffene Kinder vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen von sich selbst, ihren wichtigsten Bezugspersonen und der Welt insgesamt entwickeln.

Längst bevor Kinder Wörter für die verschiedenen Gefährdungsformen kennen und bestimmte Erlebnisse dort einordnen können, können sie angenehme und unangenehme Erfahrungen unterscheiden und mit einfachen Gefühlswörtern belegen. Die ersten Gefühlswörter lernt die große Mehrheit der Kinder mit 2 bis 3 Jahren parallel zum Hervortreten spezifischer Gefühle, wie Freude, Angst, Traurigkeit und Ärger (Sroufe 1997). In der Kindergartenzeit nehmen das innere Lexikon an Gefühlswörtern sowie die Dialogfähigkeit über Gefühle weiter zu (Baron-Cohen et al. 2010) und selbst wenn ein Kind nicht weiß, dass es körperlich misshandelt wurde, kann es sich schon auf Erfahrungen beziehen, in denen jemand ihm wehgetan hat, es Angst hatte oder traurig war.

Ein weiterer Verständnisschritt von Kindern besteht in der Herausbildung von Einschätzungen, ungerecht behandelt worden zu sein, sozialen Vergleichen und schließlich Vorstellungen von Normalität in Familien. Soweit wir wissen, entwickeln sich einfache Vorstellungen, ungerecht behandelt worden zu sein, im zweiten Lebensjahr und gehen mit einem in dieser Altersgruppe beliebten Schmollen einher (Hardecker & Haun 2020). Rudimentäre soziale Vergleiche, unter Umständen verbunden mit spontaner Eifersucht, wenn etwa ein anderes Kind Zuwendung durch einen Elternteil erfährt, wurzeln schon im ersten Lebensjahr. Aber sich selbst und eigene Erfahrungen anhand einer sozialen Norm zu beurteilen, ist eher eine Errungenschaft des Kindergartenalters (Tomasello 2018). Die Normen, die Kinder dabei bilden und verstehen, sind in der Regel noch recht einfach (z. B. Spielzeug, das dem Kindergarten gehört, muss geteilt werden). Trotzdem können sie einen Anknüpfungspunkt bieten, weil Kinder Regeln wie „Kinder darf man nicht hauen“ oder „Um Kinder muss man sich kümmern“ verstehen können. Allerdings unterscheiden sich die Normen, die Kinder erlernen, und sie begreifen Regeln von Anfang an kontextbezogen, sodass im Kindergarten und in der Familie verschiedene Regeln gelten können (Rakoczy & Schmidt 2013).

Auch wenn Eltern eine hohe Autorität eingeräumt wird, können mindestens Grundschulkinder aber erkennen, dass Eltern Fehler machen können und ihre Autorität nicht grenzenlos ist (z. B. Tisak 1986). Hieraus lässt sich folgern: Bei Gesprächen mit jüngeren Kindern im Rahmen von Gefährdungseinschätzungen sind belastende Gefühle ein leicht verständlicher Aufhänger, um über Erlebnisse zu sprechen (z. B. „Hat Dir schon einmal jemand ziemlich wehgetan oder nicht?“), während dies für Normen etwas weniger gilt, auch wenn es möglich ist, Fragen zu stellen, die hier anknüpfen (z. B. „Hat schon einmal jemand etwas mit Dir gemacht, was man nicht machen darf?“). Spätestens beim Erklären von Schutzmaßnahmen ist es aber notwendig, einfache Regeln zur Erklärung einzuführen (z. B. „Kinder darf man nicht schwer verhauen. Darum schläfst Du jetzt woanders und wir reden mit dem Papa, damit das nicht wieder passiert.“).

Im Lauf der weiteren Entwicklung werden soziale Vergleiche von Kindern dann noch sehr viel ausgefeilter, ebenso ihr Verständnis von sozialen Regeln und Normen (Bosacki 2016). Dies gilt auch für Geheimhaltungsregeln, sodass sich Kinder in der mittleren Kindheit manchmal sehr stark verpflichtet fühlen, Stillschweigen über Ereignisse in der Familie zu wahren. Mit der Vorstellungskraft, wie andere sie sehen könnten, wächst bei vielen Kindern mit Belastungserfahrungen zudem die Furcht vor Stigmatisierung. Gemeint sind damit vorgestellte oder reale negative soziale Bewertungen aufgrund von Merkmalen, Erfahrungen oder Zugehörigkeiten, die eine starke soziale Kraft darstellen (Heatherton 2003). Kinder, die Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erleben mussten, empfinden sich häufig als stigmatisiert oder fürchten Stigmatisierung (z. B. Kennedy & Prock 2018), was ein Grund zum Schweigen oder Verharmlosen sein kann.

Daher ist es für alle am Kinderschutzverfahren beteiligten Fachkräfte wichtig zu überlegen, wie sie diesem Erleben oder dieser Furcht entgegentreten können. Möglich ist etwa, einem Kind zu vermitteln, es sei nicht als einziges betroffen (z. B. „Ich rede ja mit vielen Kindern und heute mit dir, das läuft so ab …“) und die Schweigepflichten der professionellen Beteiligten gut zu erklären. Auch wenn es ab dem Grundschulalter von ihren kognitiven Fähigkeiten her kein Problem mehr darstellt, Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch durch Eltern als normabweichend zu erkennen, kann es für betroffene Kinder und Jugendliche praktisch schwierig sein, zuverlässige Informationen darüber zu bekommen, was in Familien normal und üblich ist. Zum einen kennen Kinder und Jugendliche in der Regel nur wenige andere Familien sehr gut. Gerade weil viele Kinder mit Gefährdungserfahrungen dies verschweigen, sind sie zum anderen unsicher, inwieweit ihre Freundinnen und Freunde dies auch tun.

Schließlich beeinflussen Eltern die Gedanken von Kindern über richtiges und falsches, normales und unnormales Verhalten in der Familie (Bugental & Johnston 2000), sodass manche von Gefährdung betroffene Kinder sehr lange brauchen, um zu erkennen, dass ihre Erfahrungen kein normaler oder gerechtfertigter Bestandteil des Aufwachsens sind und sie nicht dafür verantwortlich sind. Am familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren beteiligte Fachkräfte treffen daher öfter auf Kinder und manchmal auch Jugendliche, die zwar Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch als belastend empfinden, ihre Erfahrungen aber normativ nicht sicher einordnen können. Deshalb kann es wichtig sein, hier Orientierung zu bieten. Gegenwärtige Vorstellungen davon, wie die Strukturen von moralischen Urteilen aussehen, unterscheiden zwischen normativen Bewertungen, Unterscheidungen zum Schweregrad von Verfehlungen, Zuschreibungen von Verantwortung sowie dem Verständnis von Folgen (Malle 2021). Im Gespräch mit Kindern kann es wichtig sein, auf jeden dieser Punkte einzugehen, dabei aber eng am Gesetz zu bleiben und beim Aspekt der Verantwortungszuschreibung Schuldzuweisungen an Kinder zu widersprechen, ohne selbst Schuld zuzuweisen.

Im Verlauf der Grundschule entwickeln Kinder in der Regel ein Verständnis von Rechten als universell (z. B. Melton 1980). Welche Rechte Kinder sich und anderen Kindern zubilligen, hängt allerdings sehr von der sozialen Situation und der Information über Kinderrechte ab (z. B. af Ursin & Haanpää 2018). Die Begriffe für die verschiedenen Gefährdungsformen sind Kindern noch weitgehend unbekannt oder unklar, während Jugendliche sich hier allmählich Wissen aneignen. Fachkräfte sollten die Fachbegriffe für die verschiedenen Gefährdungsformen im Gespräch mit Kindern und auch Jugendlichen in der Regel also nicht benutzen, sondern auf alltagssprachliche Umschreibungen ausweichen (z. B. schwer verhauen statt körperlich misshandeln, ständig schimpfen und anschreien statt psychisch misshandeln). Kinder und Erwachsene, wenn sie als Gruppen betrachtet werden, unterscheiden sich etwas darin, wie sie verschiedene Gefährdungssituationen bewerten (Lev-Wiesel et al. 2020). Vor allem bewerten Kinder emotionale Misshandlung (z. B. ständiges Anschreien, Ignorieren) schwerwiegender als Erwachsene, was dazu führen kann, dass Kinder dies in Befragungen hervorheben, während Erwachsene eher daran interessiert sind, etwas über Versorgungsmängel, sexuellen Missbrauch oder körperliche Gewalt zu erfahren.

Kinder, die unter Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch leiden, machen sich nahezu unweigerlich Gedanken über den Grund dafür. Zumindest nachträglich haben einige Studien mit Kindern ab dem Grundschulalter, Jugendlichen und jungen Erwachsenen über ihre Erklärungen gesprochen. Seit Beginn der Forschung war hier die Frage wichtig, inwieweit Betroffene sich selbst für das Geschehen verantwortlich fühlen. Anhand von Studien zur kognitiven (Selbstvorwürfe) oder emotionalen (Scham) Seite der Selbstzuschreibung von Verantwortung hat sich zeigen lassen, dass eine große Mehrheit der sexuell missbrauchten oder körperlich bzw. psychisch misshandelten Kinder sowie eine starke Minderheit vernachlässigter Kinder sich selbst Verantwortung zuschreiben (Bennett et al. 2010; Deblinger & Runyon 2005).

Warum manche Kinder sich mehr und andere sich weniger verantwortlich fühlen, ist bislang nicht gut verstanden. Vermutlich wurzelt dies in einigen Fällen in Schuldzuweisungen anderer. In anderen Fällen ist vielleicht eher der enge Zusammenhang zwischen erlebter Fürsorge und Selbstbild in Verbindung mit altersbedingt beschränkten kognitiven Möglichkeiten ursächlich. Wichtig sind Selbstvorwürfe und Scham, weil sie in Längsschnittstudien anhaltende psychische Probleme betroffener Kinder vorhergesagt haben (z. B. Feiring et al. 2002). Da während richterlicher Anhörungen vermutlich meist keine Zeit ist, um auf entsprechende Denk- und Gefühlsprozesse von Kindern einzugehen, sollten zumindest Verfahrensbeistände und Sachverständige versuchen, diese Ebene zu erreichen. Berichten Kinder von Selbstvorwürfen bzw. Scham oder wird dies in Berichten anderer deutlich, so sollte dies nämlich als klarer Indikator verstanden werden, dass ein Schutz vor weiteren Gefährdungsereignissen alleine nicht ausreicht, um Gefährdung abzuwehren. Vielmehr ist dann zusätzlich therapeutische Begleitung angezeigt.

Soweit Kinder und Jugendliche Ursachen für Gefährdungsereignisse bei den Eltern sehen, kämpfen sie häufig mit dem Umstand negativer wie positiver Erfahrungen mit den Elternteilen oder einer trotzdem vorhandenen Bindung an die Eltern. Daher sehen Kinder meist veränderliche Faktoren bei den Eltern verantwortlich (z. B. „Da hatte die Mama nur Stress, drum hat sie vergessen, uns etwas zu Essen zu machen.“). Viele Kinder hoffen entsprechend auf positive Entwicklungen bei den Eltern und sind, sofern sie nicht schon sehr viele Enttäuschungen durchlebt haben, bereit, Änderungsversprechen Glauben zu schenken. Davon kann die Beurteilung der Gefährdung aber nicht abhängig gemacht werden. Bei dieser Einschätzung handelt es sich vielmehr um eine Fachkraftaufgabe. Wenn sich Kinder doch unveränderliche elternbezogene Erklärungen für zugefügte Vernachlässigung, Misshandlung oder zugefügten Missbrauch aneignen, geht dies manchmal mit Unversöhnlichkeit einher (z. B. „Papa haut ja doch immer wieder zu, darum mag ich ihn am liebsten nicht mehr sehen.“), in einigen Fällen aber auch mit einer Bereitschaft, Gefährdung hinzunehmen oder Fürsorge zu leisten („Mama ist immer traurig, so dass sie manchmal nicht aufstehen kann, darum muss ich mich um die Mama kümmern.“). Wenn erste Untersuchungen auf Deutschland übertragbar sind, tendieren Fachkräfte dazu, elternbezogene Erklärungen von Kindern zu beschweigen (Katz et al. 2020a). Tatsächlich deutet dies auf Unsicherheiten und eine Leerstelle in der Fachdiskussion hin, wie im Gespräch auf elternbezogene Liebeserklärungen, Ablehnung, Veränderungshoffnung und Opferbereitschaft von Kindern nach Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch reagiert werden kann.

Gefährdungserfahrungen werden für Kinder dadurch stimmiger, aber auch prägender, dass sie das Selbst-, Familien- und Weltbild beeinflussen. So halten sich viele vernachlässigte und misshandelte Kinder für nicht liebenswürdig oder schlecht (z. B. Toth et al. 2000). Zugleich werden Bezugspersonen und die Welt als eher abweisend, feindselig oder gefährlich verstanden. Entsprechend kann es für betroffene Kinder schwierig sein, sich auf vertrauensvolle Gespräche einzulassen und sich Alternativen zu ihrer jetzigen Lebenssituation vorzustellen, die nicht durch Vernachlässigung bzw. Misshandlung gekennzeichnet sind. Manchmal sind betroffene Kinder aber auch über lange Zeit sehr verunsichert oder verwirrt, weil sie sehr verschiedene Botschaften erhalten und Erfahrungen machen. Eine ähnliche Verunsicherung und Verwirrung im Hinblick auf Selbst-, Beziehungs- und Weltbilder findet sich auch häufig bei sexuell missbrauchten Kindern (z. B. Ensink et al. 2020). Hier ist es auch der für Kinder noch schwer verständliche Bereich von Sexualität, der zusätzlich verunsichernd wirkt und dazu führt, dass Sexualität in der weiteren Entwicklung teilweise eine überwertige Bedeutung zugesprochen oder der Bereich ganz vermieden wird (z. B. Vaillancourt-Morel et al. 2015). Wenn Kinderschutz erfolgreich ist, können sich die Selbst-, Familien- und Weltbilder von Kindern auch wieder verändern. Allerdings deuten Studien mit Adoptiv- und Pflegekindern darauf hin, dass alte Bilder nicht restlos verschwinden, sondern unter Umständen wieder reaktiviert werden können.

3 Bewältigungsstrategien von Kindern nach Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch

Über unmittelbare Reaktionen auf Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch und Versuche, das Geschehen zu begreifen, hinaus entwickeln Kinder Bewältigungsstrategien. Dabei geht es zum einen um die Handhabung von Beziehungen zu gefährdenden Eltern, zum anderen um den Umgang mit belastenden Erinnerungen.

Im Hinblick auf Bindungen zu Eltern, die vernachlässigen, misshandeln oder missbrauchen, hat sich gezeigt, dass viele Kinder unter diesen Bedingungen Strategien entwickeln, die ein Mindestmaß an Nähe und Versorgung mit einem Höchstmaß an Schutz zu vereinbaren suchen. In der Bindungsforschung wird dann von kontrollierenden Bindungsmustern gesprochen (z. B. Lecompte & Moss 2014), weil betroffene Kinder Gefahren, die von Bindungspersonen ausgehen, zu kontrollieren versuchen. Manche Kinder entwickeln dabei ein fürsorgliches Muster und versuchen Bindungspersonen zu stützen, um die Nähe aufrechtzuerhalten. Andere Kinder entwickeln ein hohes Maß an Wachsamkeit und beschwichtigendem Verhalten, um sich anbahnende Gewaltausbrüche oder Übergriffe zu erkennen und möglichst zu vermeiden. Kontrollierende Bindungsmuster sind eine Anpassungsleistung, jedoch sind sie mit chronischem Stress verbunden, was stressbedingte Erkrankungen nach sich ziehen kann. Zudem können Kinder Gefährdungsereignisse trotzdem häufig nicht verhindern.

Bezüglich des Umgangs mit belastenden Erinnerungen wurden in der Forschung ebenfalls verschiedene Strategien von Kindern unterschieden, etwa ein vermeidendes Muster, bei dem ein Nachdenken oder Sprechen über Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch möglichst vermieden wird. Ebenso finden sich aktive Formen der Bewältigung, verbunden mit einem Annehmen von Hilfe, sowie verstrickte Muster, bei denen Kinder sich zwar häufig mit ihren belastenden Erfahrungen beschäftigen, aber keine Bewältigungsperspektiven entwickeln können. Sowohl vermeidende als auch verstrickte Muster sagen eher ungünstige Verläufe vorher (z. B. Simon et al. 2010). Daher ist es wichtig, dass am Ende eines familiengerichtlichen Kinderschutzverfahrens eine Situation besteht, die betroffene Kinder zu aktiver Bewältigung ermutigt und sie dabei unterstützt.

4 Perspektiven für Anhörungen und familiengerichtliche Kinderschutzverfahren

Die wichtigste Schlussfolgerung aus den hier vorgestellten Befunden ist, dass Kinder nicht nur als Informationsquellen über Vernachlässigungs-, Misshandlungs- und Missbrauchsereignisse zu sehen sind. Vielmehr sollte das Verfahren ihnen erlauben, mit ihren Bewältigungsanstrengungen und Verstehensversuchen sichtbar zu werden. Dies kostet nicht sehr viel Zeit, sondern erfordert nur eine etwas andere Gesprächsführung. Zwei Gründe sind hierfür ausschlaggebend: Zum einen soll damit verhindert werden, dass das Verfahren Ohnmachtserfahrungen betroffener Kinder doppelt. Zum anderen, noch wichtiger, soll damit die Chance erhöht werden, dass Gerichte tatsächlich angemessene Hilfe- und Schutzkonzepte beschließen, die berücksichtigen, dass innere Schädigungsprozesse ohne angemessene Begleitung und therapeutische Versorgung in der Folge von Gefährdung weiterlaufen, auch wenn es nicht erneut zu Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch kommt.

Zum zweiten zeigen die dargestellten Befunde, dass Kinder ihre Erwartungen und Reaktionsmuster in die Gesprächssituationen im Rahmen eines familiengerichtlichen Kinderschutzverfahrens einbringen. Daher können sich die Verfahrensbeteiligten vorbereitend Gedanken machen, wie sie reagieren wollen, wenn Kinder etwa zu weinen beginnen, misstrauisch sind, verharmlosen oder sich selbst die Schuld zuweisen. Zudem lösen die Strategien, die Kinder sich angeeignet haben, auch bei Fachkräften unter Umständen bestimmte Reaktionen aus und es ist gut, sich hier selbstkritisch zu kontrollieren. So lösen vernachlässigte Kinder unter Umständen wenig Interesse aus und stehen deshalb immer in der Gefahr, übersehen oder schnell „abgefertigt“ zu werden. Wichtig ist es auch, sich vor Augen zu halten, dass Kinder mit Gefährdungserfahrungen häufig wenig Anlass haben, Erwachsenen besonderes Vertrauen entgegenzubringen, sodass einer ausreichend langen Aufwärmphase in Anhörungen und Gesprächen eine große Bedeutung zukommt.

Schließlich ergeben sich aus den Befunden auch einige konkrete Hinweise für Gespräche, etwa die Möglichkeit, an belastende Gefühle anzuknüpfen, umgangssprachliche Umschreibungen für die verschiedenen Gefährdungssituationen einzusetzen oder eine Struktur, welche Facetten angesprochen werden können, wenn es darum geht, wie Kinder ihre Erfahrungen normativ einordnen (erste Ebene der normativen Bewertung: in Ordnung – nicht Ordnung, zweite Ebene des Schwergrads: nicht schlimm – sehr schlimm, dritte Ebene der Verantwortungszuschreibung). Zudem lassen sich Hinweise für die Entscheidungsfindung ableiten, etwa inwieweit eine Situation geschaffen werden kann, die Kinder bei aktiver Bewältigung unterstützt und nicht im Gegenteil Vermeidung fördert.