1 Einleitung

Für die meisten Professionellen in Kinderschutzverfahren hat es etwas zutiefst Irritierendes, wenn Eltern Kinder vernachlässigen, misshandeln oder missbrauchen. In der Forschung hat diese Reaktion Studien angestoßen, in denen es darum geht, zu erklären bzw. zu verstehen, wie es zu solchen Verhaltensweisen von biologischen oder sozialen Eltern gegenüber Kindern kommt. Das hieraus erwachsene Wissensgebiet zur Ätiologie (den Entstehungsweisen) von Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Beitrags. Von „Erklären“ ist dabei die Rede, wenn Einflussfaktoren und Prozesse beim Zustandekommen von Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch einigermaßen objektiv erhoben werden können. „Verstehende“ Zugänge zeichnen dagegen mehr die subjektiven Sichtweisen betroffener Eltern in Einzelfällen nach. Beide methodischen Zugänge ergänzen sich häufig und sind nicht klar voneinander geschieden, so kann sowohl im Rahmen erklärender als auch verstehender Ansätze untersucht werden, welche Rolle ein negatives Erleben des Kindes bei betroffenen Eltern spielt.Footnote 1

Forschung zur Ätiologie von Kindeswohlgefährdung ist schwierig: Weil Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch in der Gesellschaft (zu Recht) verurteilt werden, sprechen betroffene Eltern womöglich nicht offen darüber und es ist auch etwas dunkel, wie repräsentativ die Fälle sind, die entdeckt und untersucht werden. Im Rahmen erklärender Forschung liefern Längsschnittstudien (d. h. Studien, die Familien wiederholt untersuchen), die vertrauenswürdigsten Erkenntnisse. Hier lässt sich in der Auswertung erkennen, was in denjenigen Familien abläuft, in denen es später zu Gefährdung kommt. Testfall für die Aussagekraft so gewonnenen Wissens sind dann weitere Studien, in denen aufbauend auf dem gewonnenen Verständnis der Entstehungsweisen Risiken für Vernachlässigung bzw. Misshandlung in Familien eingeschätzt werden und später geprüft wird, inwieweit es in Familien mit höherem Risiko tatsächlich öfter zu einer oder mehreren Formen von Gefährdung gekommen ist als in Familien mit geringerem Risiko.

Eine weitere Prüfmöglichkeit für die Aussagekraft gewonnener Erkenntnisse sind Untersuchungen, in denen mittels Hilfen gezielt Prozesse verändert werden, von denen vermutet wird, dass sie ursächlich zum Entstehen von Vernachlässigung bzw. Misshandlung beitragen (z. B. von Eltern empfundene Hilflosigkeit in der Erziehung). Dann kann geprüft werden, inwieweit hier erfolgreiche Veränderungen tatsächlich mit weniger Gefährdung in der Folge einhergehen. Bei „verstehenden“ Forschungsansätzen ist die Aussagekraft etwas schwerer zu bestimmen und hängt vor allem von der Nachvollziehbarkeit des Vorgehens und der Stimmigkeit verschieden gewonnener Ergebnisse ab (Flick 2019). Bezüglich der Ätiologie von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch sind verstehende Ansätze bislang vor allem hinsichtlich des Alltags in Risikofamilien (z. B. Wahl et al. 1980), des Anbahnungsprozesses bei manchen Formen des sexuellen Missbrauchs (z. B. Conte et al. 1989; Katz & Field 2020) und dem günstigen oder ungünstigen Erleben von Hilfeinstanzen durch Eltern, was zu einer Beendigung oder aber Fortsetzung der Gefährdung beitragen kann (z. B. Berghaus 2020), wichtig geworden.

Die Erforschung verschiedener Wege, die in Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch münden können, ist mit der Aussicht verbunden, durch gute Einschätzungen von Wiederholungsgefahren und Ansatzpunkten für Hilfe zu einem besseren Kinderschutz beizutragen. Freilich muss es für die Anwendung immer einen Übertrag von der Forschung auf den Einzelfall geben, der im familiengerichtlichen Verfahren im Mittelpunkt steht. Deshalb ist es so wichtig, dass in den Verfahren Fachkräfte tätig sind, die die Befundlagen zu verschiedenen Entstehungsweisen von Gefährdung kennen und den Einzelfall hier richtig einordnen können.

Manchmal reagieren Laien emotional ablehnend auf Forschung zur Ätiologie von Kindeswohlgefährdung, da ihnen nicht klar ist, wie Probleme zugleich erklärt bzw. verstanden und moralisch bewertet werden können. Die Überzeugung, dass Kinder ein Recht darauf haben, ohne Vernachlässigung und Gewalt aufzuwachsen, und dass die sexuelle Entwicklung ungestört verlaufen sollte, ist aber ein Kernelement ethischer Überzeugungen in unserer Gesellschaft. Ethische Bewertungen von Verletzungen der Grundrechte von Kindern in der Familie setzen voraus, dass Eltern ein gewisses Maß an Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit zugeschrieben wird, sodass sie sich prinzipiell gegen gefährdende Handlungen entscheiden können. Tatsächlich besteht hier aber kein Konflikt zwischen ätiologischer Forschung und ethischer Bewertung gefährdender Handlungen, weil menschliches Verhalten stets nur teilweise erklärt und vorhergesagt werden kann. Ob es nun an prinzipiellen oder praktischen Gründen liegt, dass Menschen sich selbst und mehr noch anderen teilweise undurchsichtig bleiben, ist strittig. Unstrittig ist dagegen, dass auf der Grundlage ätiologischer Forschung zwar praxisrelevante Einschätzungen und Hilfeempfehlungen möglich sind, eine deterministische, also Handlungsfreiheit völlig ausschließende Erklärung von Gefährdung, die allein ethische Bewertungen sinnlos machen würde, aber – von Ausnahmefällen abgesehen – nirgends in Sicht ist.Footnote 2

2 Überforderte Eltern: Eine bekannte Teilerklärung für Vernachlässigung und Misshandlung

Ist es zur Vernachlässigung oder Misshandlung eines Kindes gekommen, wird von Fachkräften im Kinderschutzverfahren nahezu automatisch nach vorausgehenden Belastungen gefragt. War das Kind ein Schreikind, d. h. ein Kind das täglich mehrere Stunden in einer für die Eltern kaum beeinflussbaren Weise geweint hat, oder war es anderweitig schwierig? Gab es Partnerschaftsgewalt oder schwere finanzielle Sorgen der Eltern? Dass diese Fragen von Anfang an gestellt werden, ist nicht ganz selbstverständlich. Tatsächlich lässt sich am Beispiel von Kindstötungen durch ledige Mütter nach der Geburt zeigen, wie erst im 18. Jahrhundert eine ausschließlich moralische Betrachtung durch einen Blick auf die Lebenssituation von sozialem Ausschluss und Armut bedrohter junger lediger Mütter ergänzt wurde (Häßler & Häßler 2008). Später wurden, neben erdrückenden persönlichen Notlagen, auch schwere psychische elterliche Erkrankungen als ein Hauptgrund für schwere Vernachlässigungs- oder Misshandlungsereignisse verstanden (Azar et al. 1998). Diese sogenannten einfaktoriellen ätiologischen Modelle, d. h. Modelle, die im Wesentlichen eine einzelne Ursache (drückende Notlage oder schwere psychische Erkrankung) für Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung sahen, bestanden zeitweise parallel zu charakterologischen (z. B. moralische „Verkommenheit“) und später auch „erbbiologischen“ Pseudotheorien.Footnote 3 Um 1980 herum wurde dieser Ansatz durch eine „ökologische“ Theorie ersetzt, die Vernachlässigung und Misshandlung in der Mehrzahl der Fälle durch eine Anhäufung von Belastungsfaktoren in mehreren Lebensbereichen von Eltern erklärte (Belsky 1980; Cicchetti & Rizley 1981). Eine Kumulation von Belastungen, etwa in der Form von Partnerschaftsgewalt, finanziellen Sorgen und sozialer Isolation in Verbindung mit einem schwierigen Kind und eventuell verbunden mit überdauernden Risiken, beispielsweise Misshandlungserfahrungen in der Kindheit der Eltern, soll dabei zusammengenommen über eine Überforderung der Eltern zu Vernachlässigung bzw. Misshandlung führen. Als „ökologisch“ wird dieser Erklärungsansatz bezeichnet, weil er die Wechselbeziehungen zwischen Eltern und ihrer Lebenswelt in den Blick nimmt.

Das ökologische Modell der Erklärung von Vernachlässigung und Misshandlung als Folge einer Anhäufung von Belastungen und Risiken hat mindestens zwei wichtige Stärken: (a) Zunächst einmal macht dieser Ansatz die Tatsache verständlich, dass nur bei einer kleinen Minderheit misshandelnder bzw. vernachlässigender Eltern eine schwere psychische Erkrankung vorliegt. In der größten deutschen Untersuchung zu Tötungsdelikten an Kindern unter 13 Jahren war etwa nur eine einstellige Prozentzahl der Fälle allein über eine psychische Erkrankung des Täters bzw. der Täterin erklärbar (Höynck et al. 2015; Haug & Zähringer 2017). Zwar gibt es solche Fälle und Familiengerichte können entsprechend präventiv mit Situationen konfrontiert werden, in denen sich vorrangig aus der schweren psychischen Erkrankung eines allein oder hauptsächlich betreuenden Elternteils eine Kindeswohlgefährdung und gegebenenfalls eine Notwendigkeit zum Eingriff ergibt (z. B. im Fall einer Psychose einer sozial isolierten Mutter mit Säugling). Jedoch stellen solche Fälle alles andere als die Regel dar. Wenn psychische Erkrankungen bei Eltern in Kinderschutzfällen vorliegen, dann handelt es sich meistens um einen wichtigen, aber nicht beherrschenden Teil des Gesamtbildes (s. a. Psychische Erkrankung und Erziehungsfähigkeit [Kap. 28]). (b) Die zweite wesentliche Stärke des ökologischen Modells einer Häufung von Risiken und Belastungen in Familien als Erklärung für Vernachlässigung und Misshandlung besteht in den bestandenen empirischen Bewährungsproben. Mehrere große Längsschnittstudien aus verschiedenen Ländern haben nämlich gezeigt, dass mit der Anzahl familiärer Probleme Vernachlässigung und Misshandlung tatsächlich immer wahrscheinlicher werden und zudem die Mehrzahl der Kinderschutzfälle aus der Gruppe der mehrfach belasteten Familien stammt. In einer großen australischen Studie über 27 Jahre berichteten etwa 7 % der dann jungen Erwachsenen aus Familien ohne einschlägige Risiken rückblickend über Gefährdungserfahrungen in ihrer Kindheit, aber über 70 % der jungen Erwachsenen aus Familien mit 10 oder mehr einschlägigen Risiken (Doidge et al. 2017). Auf das Fünftel der Untersuchungsgruppe mit den meisten Risiken entfielen 40 % der Gefährdungsfälle und 60 % der Fälle mit mehreren Formen von Gefährdung, die am wahrscheinlichsten Gegenstand eines Kinderschutzverfahrens werden. Hier, wie auch in anderen Studien (z. B. Brown et al. 1998), zeigte sich ein exponentieller Anstieg der Wahrscheinlichkeit von Vernachlässigung bzw. Misshandlung mit zunehmender Zahl einschlägiger Risiken und Belastungen, von denen bislang 39 bekannt sind (Stith et al. 2009). Mehrere Studien haben sich zudem auf Risiken wiederholter Gefährdungsereignisse konzentriert (White et al. 2015), was für Kinderschutzverfahren von besonderer Bedeutung ist, in denen es häufig darum geht, weitere Gefährdungsereignisse zu verhindern. Hier relevante und wiederholt belegte Faktoren betreffen beispielsweise familiäre Stressfaktoren (z. B. Partnerschaftsgewalt), vom Kind ausgehende Belastungen (z. B. kindliche Verhaltensprobleme), elterliche Einschränkungen (z. B. eine Suchterkrankung) und Merkmale früherer Gefährdungsvorfälle (z. B. Anzahl früherer, begründeter Gefährdungsmitteilungen ans Jugendamt).

Die Befunde zu den Folgen einer Häufung von Risiken und Belastungen für das Vorkommen von Vernachlässigung bzw. Misshandlung haben für Kinderschutzverfahren mehrere praktische Folgen:

  • Zunächst einmal ist aufgrund der kumulativen Wirkung eine systematische Erfassung der vorhersagestärksten Risiken wichtig. Dafür gibt es Instrumente, die für Jugendämter bzw. Sachverständige entwickelt und positiv auf ihre Vorhersagekraft hin getestet wurden (van der Put et al. 2017), in Deutschland etwa das Risikomodul des Kinderschutzbogens (Kindler et al. 2009). Sich nur auf einzelne, gut sichtbare Risiken und Belastungen zu beschränken, ergibt kein Gesamtbild und kann daher zu Fehleinschätzungen führen. Nur selten können einzelne Belastungen und Risiken für sich genommen Schutzmaßnahmen begründen. Es gibt aber Ausnahmen, wie etwa schwere psychische Erkrankungen ohne ausreichende Krankheitseinsicht bei einem allein oder hauptsächlich für ein jüngeres Kind verantwortlichen Elternteil. Manche Risikofaktoren, wie Partnerschaftsgewalt, machen zudem nicht nur Vernachlässigung und Kindesmisshandlung wahrscheinlicher, sondern haben auch für sich genommen das Potenzial, Kinder schwer zu belasten (Kindler 2013).

  • Generell gilt, dass proximale Risiken, d. h. solche Faktoren, die sich direkt auf die Erziehungsfähigkeit der Eltern und ihren Umgang mit einem Kind beziehen, in aller Regel vorhersagestärker sind als distale Faktoren (z. B. Alter der Eltern, sozioökonomische Lage der Familie), die nur vermittelt über viele Zwischenschritte wirken können (Kindler 2017). Daher ist vor einer Entscheidung in der Hauptsache der Aufwand gerechtfertigt, die Sichtweisen der Eltern auf Fürsorge beziehungsweise Erziehung und ihr Kind, ihre psychische Verfassung, den Familienalltag und die Verarbeitung des eigenen Aufwachsens, von Belastungen und Hilfen gut kennenzulernen. Natürlich erlauben nicht alle Eltern, sie so gut kennenzulernen, sodass Jugendamt und Sachverständige gegebenenfalls transparent darlegen müssen, welche Informationen über Risiken und Belastungen trotzdem vorliegen und welche Schlüsse daraus gezogen werden können.

  • Ist es bislang nicht zu Vernachlässigung und Misshandlung gekommen, können nur sehr zugespitzte Risikolagen Schutzmaßnahmen gegen den Willen der Eltern begründen, da ansonsten eine erhebliche Schädigung des Kindes schwerlich mit ziemlicher Sicherheit vorherzusehen ist. Meist kann es in reinen Risikofällen deshalb nur darum gehen, im Rahmen eines Erörterungstermins nach § 157 FamFG sinnvolle, aber freiwillige Maßnahmen zum Abbau von Belastungen und Risiken zu besprechen. Ist es bereits zu Vernachlässigung oder Misshandlung gekommen, ist die Situation insofern anders, als die Grundwahrscheinlichkeit weiterer Gefährdungsereignisse dann relativ hoch ist. In einer der weltweit größten hierzu vorliegenden Studien lag sie gerechnet auf die nächsten fünf Jahre nach einer körperlichen Kindesmisshandlung bei etwa 40 % und nach einer Vernachlässigung bei etwa 50 % (Jonson-Reid et al. 2003). Da jedes weitere Gefährdungsereignis zu weiteren Schädigungen beim Kind führen kann, sind in jedem Fall, insbesondere aber bei jüngeren, noch in keiner Weise zu Selbstschutz und Hilfesuche befähigten Kindern, Maßnahmen zur Verringerung des Wiederholungsrisikos angezeigt. Aufgabe der ökologischen Risikoanalyse ist es dann vor allem bei der Unterscheidung zu helfen, ob es um ein eher überdurchschnittliches oder eher unterdurchschnittliches Wiederholungsrisiko geht. Für die Frage, ob und unter welchen Umständen ambulante Hilfe- und Schutzkonzepte von Anfang an geeignet sind, um weitere Gefährdungsereignisse hinreichend sicher zu verhindern, ist dies von offenkundiger Bedeutung.

3 Einen Schritt weiter: Risikomechanismen und darauf aufbauende Schutzkonzepte

Das ökologische Modell der Entstehung von Vernachlässigung bzw. Misshandlung infolge einer Kumulation von Belastungen und Risiken hat allerdings auch Grenzen. Insbesondere erklärt das Modell nicht, warum es manchmal auch in unbelastet erscheinenden Familien zu Misshandlung oder Vernachlässigung kommt, während substanzielle Anteile schwer belasteter Eltern das Wohl ihrer Kinder nicht gefährden, sondern sich intensiv um deren Wohlergehen bemühen. Eine denkbare Teillösung besteht darin, mehr Wert auf Schutzfaktoren zu legen, die die Wirkung von mehrfachen vorliegenden Risiken und Belastungen aushebeln können. Allerdings hat die Suche nach Schutzfaktoren beim Zustandekommen von Vernachlässigung und Misshandlung bislang vor allem Belege für einen Faktor, nämlich unterstützende Partnerschaften bzw. unterstützende enge, alltäglich verfügbare Beziehungen ergeben (Austin et al. 2020). Auch wenn die Suche nach Schutzfaktoren sicher noch nicht abgeschlossen ist, hat dieses mehrfach bestätigte Ergebnis doch nicht nur Erklärungswert, sondern auch praktische Konsequenzen. In manchen Verfahren kann ein aktivierender Ansatz mit stärkerem Einbezug eines unterstützenden Partners oder anderer eng verbundener Personen Teil eines Hilfe- und Schutzkonzepts sein.

Ein weiterer Ansatz zur Weiterentwicklung ätiologischer Modelle besteht in einer verstärkten Aufmerksamkeit für diejenigen Prozesse, die zu Vernachlässigung bzw. Misshandlung führen können. Solche Prozesse vermitteln zwischen Risikolagen und Gefährdungsereignissen. In Einzelfällen können sie aber auch ohne gravierende Risikolagen auftreten. Ein Verständnis relevanter Prozesse ist auch deshalb wichtig, weil sich daraus für Einzelfälle Hinweise auf besonders geeignete Hilfen gewinnen lassen (s. a. Hilfen und Schutzkonzepte bei Misshandlung und Vernachlässigung [Kap. 32]). Der empirische Nachweis ist aufwändig, weil dafür Studien mit mehreren Erhebungszeitpunkten benötigt werden. Daher sind vermutlich noch nicht alle relevanten Prozesse bekannt (für eine Übersicht siehe Kindler 2017). Vor allem für folgende Prozesse liegen aber Belege vor:

  • Lebensgeschichtlich verzerrte Vorstellungen von Fürsorge und Erziehung: Elternteile, die in ihrer Kindheit selbst Vernachlässigung oder Misshandlung erfahren mussten, entwickeln teilweise sehr lückenhafte Vorstellungen davon, was Kinder brauchen, was zu Vernachlässigung in der nächsten Generation führt und durch sehr konkrete Anleitung aufgefangen werden kann. Teilweise entwickeln betroffene Elternteile vor dem Hintergrund negativer Erfahrungen in der Kindheit ein erhöhtes Misstrauen, das zu feindseligen Deutungen kindlicher Signale führt. Der Elternteil nimmt etwa Ablehnung bzw. bewusste Provokation wahr und fühlt sich dann berechtigt, das Kind zu bestrafen oder zu ignorieren. Auch Hilfen werden durch erhöhtes Misstrauen erschwert. Ein Weg aus dieser Falle kann über Hilfen führen, die beim Verständnis kindlicher Signale helfen und den Bindungsaufbau fördern, aber auch Raum für die geduldige Entwicklung einer positiven Hilfebeziehung schaffen.

  • Konflikte mit eigenen Entwicklungsaufgaben bei jungen Eltern: Junge Eltern haben häufig noch wichtige eigene Entwicklungsaufgaben zu lösen, die viel Zeit und Energie erfordern (z. B. jemanden für eine Partnerschaft zu finden). Die Anforderungen durch die Bedürfnisse eines Kindes lösen dann teilweise Ärger und Wut aus, was zu Misshandlung führen kann, oder es gibt Versuche der Kompromissbildung, die in Vernachlässigung umschlagen. Lösungen bestehen hier nicht nur in der Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit dem Kind, sondern in der Suche nach kindeswohlverträglichen Arrangements, die Bedürfnissen des Kindes und Entwicklungsaufgaben der jungen Eltern Rechnung tragen.

  • Überforderung infolge generell herabgesetzter Belastbarkeit: Durch eine vorübergehend (z. B. postpartale Depression) oder dauerhaft herabgesetzte Belastbarkeit kommt es zu einer Überforderung in vielen Lebensbereichen, die immer neue Krisen und belastende Lebensereignisse bedingt (z. B. ungeöffnete Post führt zu Mietkündigung und Stromsperre, Vernachlässigung führt zu Verhaltensauffälligkeiten der Kinder). Innerhalb dieser Spirale nach unten kann die Situation so eskalieren, dass es zu Misshandlungen oder einem Zusammenbruch von Fürsorge kommt. Interventionen Dritter beinhalten in der Regel Kritik, was die Eltern weiter entmutigt oder langfristig ungünstige Bewältigungsstrategien (z. B. Behörden alles versprechen) fördert. Geeignete fachliche Interventionen erfordern hier eine gute Abklärung, inwieweit Gründe für eine herabgesetzte Belastbarkeit verändert werden können (z. B. Depressionsbehandlung) oder Bewältigungsfähigkeiten gestärkt werden können (z. B. hauswirtschaftliches Training). Zudem sind eine Sozialarbeit, die alle betroffenen Lebensbereiche umfasst sowie eine Förderung der Mitbestimmung der Eltern wichtig.

  • Suchterkrankung bindet Aufmerksamkeit, Ressourcen und Zeit der Eltern: Nach Zeitbudgetstudien erfordert insbesondere eine Abhängigkeit von illegalen Suchtstoffen ähnlich viel Zeit wie eine Vollzeitbeschäftigung, nur dass dadurch die finanziellen Ressourcen der Familie auch noch deutlich gemindert werden. Zudem kann es bei einem fehlenden Suchtstoff oder einer nachlassenden Wirkung zu Aggressionen oder während der Intoxikation zu fehlenden oder ungeeigneten Reaktionen auf kindliche Bedürfnisse kommen. Kommt es im Kontext einer Suchterkrankung zu einer Kindeswohlgefährdung steht die Suchtbehandlung am Anfang der Intervention. Teilweise werden im Verlauf aber weitere psychische Belastungen oder Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit sichtbar, die dann weitere Hilfen erforderlich machen.

  • Antisoziale Entwicklungsgeschichte von Eltern begünstigt Gewalt, mangelnde Regelsozialisation und Eltern-Kind-Zwangszirkel: Elternteile, die in ihrer Entwicklungsgeschichte gelernt haben, sich bei Einschränkungen mit Zwang und Gewalt durchzusetzen, reagieren manchmal ohne langes Überlegen mit Gewalt auf Einschränkungen durch Kinder (z. B. anhaltendes Weinen), auch wenn sie dies unter Umständen später glaubhaft sehr bereuen. Zudem wird Fürsorge und die Vermittlung von Regeln relativ stark an eigenen Bedürfnissen ausgerichtet und bleibt daher inkonsistent, was Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern begünstigt. Erzieherische Versuche der Kontrolle von Verhaltensauffälligkeiten in der Familie können dann zu eskalierenden, in Gewalt oder ein Ignorieren des Kindes umschlagenden Konflikten führen. Dieser Weg ist schwer zu verändern. Unter Umständen ist eine Eltern-Kind-Einrichtung in Verbindung mit einem Anti-Aggressivitätstraining und gegebenenfalls therapeutischer Hilfe für ein bereits verhaltensauffälliges Kind geeignet.

  • Negative Selbstwirksamkeit von Eltern führt zu wahrgenommenem Scheitern an der Elternrolle: Vor dem Hintergrund vielfachen Scheiterns in ihrem Leben nähern sich manche Eltern der neuen Aufgabe mit der Vermutung, auch an der Elternrolle zu scheitern. Gleichzeitig bestehen oft intensive Hoffnungen, das Kind möge einen positiven Wendepunkt in ihrem Leben darstellen. Wenn es dann zu Misserfolgen in der Elternrolle kommt (die viele Eltern kennen), reagieren diese Eltern manchmal mit verzweifelter Wut, was zu Misshandlung führen kann, oder sie geben auf, was zu Vernachlässigung führen kann. Liegt dieser Weg vor, scheint es wichtig, vorhandene positive Ansätze im Fürsorgeverhalten zu verstärken. Häufig ist auch eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll.

Manchmal wirken mehrere der auch als Risikomechanismen bezeichneten Prozesse zusammen. Zudem kann es im Einzelfall weitere Belastungen geben, die in Hilfe- und Schutzkonzepten Beachtung verdienen. Auch wenn nicht alle ätiologisch relevanten Risikomechanismen bekannt sind, ist es doch eine Anregung in Kinderschutzverfahren zu diskutieren, was eigentlich zur Gefährdung geführt hat und wie dem möglichst passgenau entgegengewirkt werden kann.

4 Das Augenblicksversagen bei ansonsten kompetenten Eltern: Ein Mythos vor Gericht?

Gelegentlich müssen sich Familiengerichte mit Fällen befassen, in denen medizinische Befunde auf eine Vernachlässigung oder Misshandlung schließen lassen (z. B. bei einem Schütteltrauma), die Eltern aber jede Art von gefährdendem Verhalten von sich weisen und zudem keine familiären Risikolagen oder elterlichen Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit erkennbar sind. In einigen solcher Fälle haben Gerichte und manchmal auch Sachverständige oder Jugendämter den im Verkehrsrecht entwickelten Begriff des „Augenblicksversagens“ auf den Kinderschutz übertragen (z. B. BVerfG-Entscheidung vom 5.12.2016 – 1 BvR 2569/16). Impliziert wird hier eine Ätiologie von Gefährdungsereignissen in Form eines kurzzeitigen elterlichen Kontrollverlusts aus dem Blauen heraus und ohne Wiederholungsgefahr.

In der Forschung zur Ätiologie von Vernachlässigung und Misshandlung gibt es hierfür keine Entsprechung. In manchen Fällen zeigen sich bei einer genaueren Analyse sehr wohl relevante Risikofaktoren und Prozesse und es ist mehr fehlender Systematik oder inneren Bildern der Verfahrensbeteiligten von Misshandlung beziehungsweise Vernachlässigung geschuldet, dass diese nicht gesehen wurden. Beispielsweise wird häufig angenommen, misshandelnde Elternteile müssten generell besonders aggressiv sein und es wird übersehen, dass ein hohes Maß an Angst um ein Kind ebenfalls einen chronischen Stressor darstellt und aggressive Zusammenbrüche bewirken kann (Stith et al. 2009). In manchen Fällen bleibt die Entstehungsweise von Gefährdungsereignissen aber tatsächlich unklar. Für diese Fälle ist es wichtig, dass Jugendämter und Sachverständige Gerichten ein Konzept vorschlagen, das zumindest bei jüngeren Kindern tatsächlich prüft, ob eine Wiederholungsgefahr hinreichend sicher verneint werden kann, etwa indem über einige Zeit eine enge Begleitung in Form einer Aufnahme in eine Eltern-Kind-Einrichtung erfolgt und dort insbesondere die Bewältigung von Anforderungssituationen eingeschätzt und unterstützt wird.

5 Überzeugungstäter: Gefährdung aus der Überzeugung heraus, das Richtige zu tun

Neben schwerwiegenden elterlichen Psychopathologien als Ursache für Gefährdung und einer wesentlich häufigeren Entstehungsweise von Vernachlässigung bzw. Misshandlung über verschiedene Risikomechanismen, meist vor dem Hintergrund kumulierter Belastungslagen, sowie einer skeptisch zu beurteilenden Ätiologie in Form eines „Augenblicksversagens“ gibt es auch Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung, die ihren Hintergrund in normativen elterlichen Überzeugungen haben (z. B. bei weiblicher Genitalbeschneidung) und die daher mit den bisher dargelegten ätiologischen Ansätzen nicht zu greifen sind. Kennzeichnend ist hier, dass Gefährdungsereignisse im Interesse eines wahrgenommenen höheren Gutes in Kauf genommen werden. Dieses höhere Gut kann sich auf das Kind beziehen (z. B. dessen Seelenheil, indem es von sehr fundamentalistischen Eltern vom Schulbesuch und anderen Außenkontakten ferngehalten wird), aber auch vom Kind absehen (z. B. wenn es um die Verteidigung der Familienehre geht). Entsprechend ist es für das Verständnis der Ätiologie wichtig, relevante normative Überzeugungen der Eltern und ihres Umfelds herauszuarbeiten und die elterliche Responsivität gegenüber kindeswohldienlicheren Orientierungen, die etwa unserer Rechtsordnung zugrunde liegen, abzuklären.

6 Innerfamiliäre sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche: Vorläufige Antworten

Um das Thema innerfamiliärer sexualisierter Gewalt gegen Kinder hat sich eine eigenständige Fachdiskussion entwickelt. Dies ist einerseits gerechtfertigt, weil es hier im Vergleich zu den anderen Gefährdungsformen sehr viel häufiger um geplante, einem Lustempfinden dienende Handlungen von biologischen oder sozialen, meist männlichen Elternteilen geht und Verdeckungs- wie Fortsetzungsinteressen entsprechend größer sind. Der ansonsten größtenteils verfolgte Arbeitsansatz positiver Veränderung in Zusammenarbeit mit betroffenen Eltern läuft daher in vielen Fällen ins Leere. Nicht gerechtfertigt ist die starke Abtrennung dieses Bereichs allerdings insofern als Kinder, die sexualisierte Gewalt erleben, häufig auch andere Gefährdungsformen erfahren (z. B. Dong et al. 2003). Zu Entstehungsweisen sexuellen Kindesmissbrauchs liegen mehrere gut untersuchte ätiologische Modelle vor, etwa das 4-Faktoren Modell von Finkelhor (1984), wonach es dann zu einem sexuellen Kindesmissbrauch kommt, wenn

  • eine Person zu sexualisierter Gewalt gegen ein Kind motiviert ist und

  • ihre inneren Hemmungen sowie

  • den Widerstand des Kindes überwinden kann und

  • das soziale Umfeld hierfür geeignete Situationen ermöglicht oder zulässt.

Eine große Stärke der ätiologischen Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist die Berücksichtigung kindlichen Erlebens von Anbahnungsprozessen und die Schwierigkeiten, vor denen Kinder stehen, die Hilfe suchen wollen (Lemaigre et al. 2017). Dies ist nicht nur eine wichtige Unterstützung für Gespräche im Verfahren mit Kindern, deren Angaben bei der Beendigung der Gefährdung von großer Bedeutung sind, sondern weitet den ätiologischen Blick auch über das unmittelbare Geschehen hinaus und bezieht die Rolle des sozialen Umfelds und der Institutionen mit ein. Auch bei anderen Gefährdungsformen sind vielfach ältere Kinder betroffen und wenn Kinder nicht ermutigt werden, Hilfe zu suchen, stellt dies zumindest einen Umstand dar, der die Fortsetzung der Gefährdung mitbedingt. Dass sexualisierte Gewalt überwiegend im sozialen Nahfeld ausgeübt wird, ist schon lange bekannt. Erst im letzten Jahrzehnt werden aber Besonderheiten innerfamiliärer sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch biologische oder soziale Väter stärker empirisch untersucht. Dies hat sich deshalb als notwendig herausgestellt, weil diese Form sexualisierter Gewalt vergleichsweise häufig früh einsetzt und lange anhält (z. B. Fischer & McDonald 1998). In der derzeit größten Studie hierzu konnten Leclerc et al. (2014) drei Pfade der Entstehung innerfamiliärer sexualisierter Gewalt gegen Kinder durch Personen in einer Vaterrolle unterscheiden.

  • Bei einem durch sexuelle Devianz gekennzeichnetem Pfad handelte es sich um Männer mit ausgeprägten, devianten (abweichenden) sexuellen Fantasien und häufig negativem Selbstbild. Vor dem ersten tatsächlichen Übergriff verstärkten sich Fantasien des Übergriffs, Partnerschaftsprobleme und sozialer Rückzug gegenseitig. Übergriffe wurden geplant und überwiegend durch manipulative Strategien vorbereitet.

  • Beim zweiten Pfad ohne deviante Fantasien, aber mit kumulierenden psychischen und sozialen Problemen reagierten betroffene Männer mit einem ständigen Kreisen um das Thema Sexualität, die als Gegenwelt aufgebaut wurde. Vor tatsächlichen Übergriffen kam es häufig zu einer Zuspitzung realer Probleme.

  • Auf dem dritten Pfad wurden schließlich weder deviante Sexualfantasien noch ausgeprägte psychosoziale Probleme geschildert. Vielmehr schien hier vor allem eine wahrgenommene „günstige“ Gelegenheit für sexuelle Handlungen, häufig in Verbindung mit akutem Suchtmittelgebrauch ausschlaggebend.

Bei allen drei Pfaden sind Schutzmaßnahmen nach einem sexuellen Übergriff offenkundig gerechtfertigt. Möglichkeiten präventiven Eingreifens spezifisch zum Schutz vor sexualisierter Gewalt bestehen vor allem beim ersten Pfad, während bei den anderen beiden Pfaden manchmal die generelle Überforderung oder Suchtprobleme vorab ein Eingreifen, wenn auch ohne spezifischen Bezug zu sexualisierter Gewalt, begründen können. Über sexuelle Übergriffe durch Mütter ist bislang wenig bekannt, Einschränkungen in der mütterlichen Bereitschaft und Fähigkeit zum Schutz ihrer Kinder vor sexualisierter Gewalt sind in Risikofällen aber Teil notwendiger Abwägung (Graf et al. 2018).