Um Kinder effektiv vor gefährdenden Verhaltensweisen ihrer Eltern schützen zu können, gebietet das in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum Ausdruck kommende staatliche Wächteramt Behörden (z. B. Jugendämter) und Gerichten, Maßnahmen zum Schutz des Kindes zu ergreifen, wenn seine Eltern hierzu nicht willens oder nicht in der Lage sind. Um seinem Schutzauftrag gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber mit dem am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen KinderFootnote 1 ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung des Kindesschutzes u. a. im Straf- und Strafprozessrecht, aber auch im Familien- und Familienverfahrensrecht, ergriffen. Insbesondere wurden Regelungen zur Verbesserung der Qualifikationen von Verfahrensbeiständ*innen (§ 158a FamFG) und Familienrichter*innen (§ 23b Abs. 3 S. 3–5 GVG) geschaffen und die Anhörungserfordernisse des Kindes verschärft (§ 159 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 und 3, Abs. 3 FamFG; § 68 Abs. 5 FamFG), womit u. a. eine bessere Sachaufklärung erreicht werden soll.Footnote 2

Materiell-rechtlich normiert § 1666 Abs. 1 BGB die Voraussetzungen, unter denen ein gerichtliches Einschreiten zum Schutz des Kindes geboten ist. Danach ist neben der fehlenden Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern zur Gefahrenabwehr das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung die zentrale Grundvoraussetzung für einen familiengerichtlichen Eingriff in das Elternrecht. Diese Voraussetzungen sollen im vorliegenden Beitrag näher erörtert werden.

1 Maßstab „Kindeswohlgefährdung“

Erst das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB löst die gerichtliche Handlungspflicht aus. Dies bedeutet, dass familiengerichtliche Eingriffe in die elterliche Sorge unterhalb der Schwelle zur Kindeswohlgefährdung von vornherein nicht möglich sind. Dies gilt auch dann, wenn elterliche Erziehungsweisen nicht optimal für das Kind sind. Denn der Staat darf seine eigenen Vorstellungen einer gelungenen Kindererziehung regelmäßig nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen.Footnote 3 Beschlüsse nach § 1666 Abs. 1 BGB sollten daher auch keine Formulierungen enthalten, die auf die Anwendung eines falschen Prüfungsmaßstabs schließen lassen.

Beispiele für einen fehlerhaften Prüfungsmaßstab

„Eltern müssen der Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung zukommen lassen, damit die Kinder auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden“;Footnote 4 „die Fremdunterbringung wird dem Kindeswohl am ehesten gerecht“Footnote 5 oder „entspricht dem Kindeswohl am ehesten“.Footnote 6

2 Definition der Kindeswohlgefährdung

Der Bundesgerichtshof (BGH) definiert das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung wie folgt:

Eine Kindeswohlgefährdung ist dann gegeben, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.Footnote 7

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verwendet die folgende, auf einer älteren Formulierung des BGHFootnote 8 beruhende Definition:

Danach muss für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung bereits ein Schaden beim Kind eingetreten sein oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße bestehen, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.Footnote 9

Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH bestimmen also folgende drei Komponenten das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung:

  • das Schadensausmaß: Art und Schwere des (drohenden) Schadens (s. u. 15.3.1),

  • die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts (s. u. 15.3.2.) und

  • die zeitliche Nähe der Gefahr (Gegenwärtigkeit, s. u. 15.3.3).

3 Schadensprognose

Die Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, hängt folglich von einer vom Gericht anzustellenden Schadensprognose ab. Gerade wenn es um die grundrechtsintensive Maßnahme einer Trennung des Kindes von seinen Eltern geht, legt das BVerfG entscheidenden Wert darauf, ob die Gerichte eine ordnungsgemäße Schadensprognose angestellt haben.Footnote 10 Hierfür muss sich das Gericht eine möglichst zuverlässige Grundlage verschaffen, indem es den konkreten Sachverhalt umfassend ermittelt.Footnote 11 Sodann muss es alle für und gegen den Schadenseintritt sprechenden Umstände erörtern und gegeneinander abwägen und dies auch entsprechend schriftlich in seiner Entscheidung erkennbar machen. Denn bei Entscheidungen nach § 1666 BGB gelten hohe Begründungsanforderungen und zwar nicht nur, wenn Sorgerechtsmaßnahmen nach § 1666 BGB ergriffen werden,Footnote 12 sondern auch dann, wenn das Gericht diese für nicht (mehr) erforderlich hält.Footnote 13 Dies gilt insbesondere dann, wenn das Gericht von Maßnahmen nach § 1666 absehen will, obwohl das Kind in der Vergangenheit bereits Misshandlungen erlitten hat und die Eltern hierfür verantwortlich waren. (BVerfG VerfG 16.9.2022 – 1 BvR 1807/22), Soweit beim Kind bislang noch kein Schaden durch elterliches Verhalten eingetreten ist, wäre es unzureichend, das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung allein mit dem Vorliegen verschiedener Erziehungsdefizite der Eltern zu begründen. Denn diese sagen – von evidenten Fällen wie der körperlichen Misshandlung, dem sexuellen Missbrauch oder gravierenden, gesundheitsgefährdenden Formen der Vernachlässigung abgesehen – in der Regel noch nichts darüber aus, ob und inwieweit sich diese Defizite schädlich auf die Entwicklung und das Wohlbefinden des Kindes auswirken. Beispielsweise sind Konstellationen denkbar, in denen beide Eltern jeweils unterschiedliche Erziehungsdefizite aufweisen, die sich jedoch in Ergänzung beider Eltern zugunsten des Kindes ausgleichen. Denkbar sind auch Fälle, in denen beim Kind so viele Schutzfaktoren (z. B. gute psychische Widerstandskraft und/oder gute Problemlösefähigkeit des Kindes, sein Alter, Geschlecht, das Bestehen eines tragfähigen sozialen Netzwerks) vorliegen, dass die Defizite der Eltern voraussichtlich keine schädlichen Auswirkungen auf das Kind haben werden. Problematisch sind auch vage Andeutungen, die eine Gefährdungssituation assoziativ in den Raum stellen, ohne den konkreten Sachverhalt zu beschreiben und auf sein tatsächliches Gefährdungspotenzial hin zu analysieren.Footnote 14 Schematische Begründungen wie etwa der Hinweis auf eine bestehende gerichtliche SpruchpraxisFootnote 15 verbieten sich ebenso wie eine bloße Bezugnahme auf in der Entscheidung nicht oder nur unzureichend wiedergegebene Erkenntnisquellen wie z. B. Sachverständigengutachten oder Stellungnahmen verschiedener Fachkräfte.Footnote 16

Beispiele

Das BVerfG beanstandete die nicht näher spezifizierte gerichtliche Feststellung einer körperlichen Kindeswohlgefährdung, wonach der Vater das Kind „geschüttelt“ habe. Das Gericht hat dieses „Schütteln“ jedoch nicht näher erläutert. Den Berichten der Fachkräfte zufolge hatte der Vater seine damals noch sehr junge Tochter durch stärkeres Schaukeln und Schuckeln auf dem Arm zu beruhigen versucht. Gesundheitliche Schäden wurden von den Fachkräften hierdurch jedoch nicht befürchtet.Footnote 17

Für unzureichend hielt das BVerfG auch die vage gehaltenen Schilderungen eines Gerichts zu „komplexen Verhältnissen (der Mutter) zu dem Ex-Partner“ sowie einer „externen Beeinflussung“ durch Dritte, weil sich eine hieraus drohende Gefährdung des Kindes nicht erschloss.Footnote 18

Das BVerfG kritisierte zudem die Entscheidung eines Beschwerdegerichts, welches die Abänderung einer vollzogenen amtsgerichtlichen Eilentscheidung unter Hinweis auf seine eigene „ständige Rechtsprechung“ versagte, wonach bereits vollzogene amtsgerichtliche Eilentscheidungen lediglich dann abgeändert würden, wenn die „Beschwerde Umstände aufzeigt und glaubhaft macht, aus denen sich für den verbleibenden Zeitraum bis zur abschließenden Klärung im Hauptsacheverfahren eine Kindeswohlgefährdung oder die Gefahr sonstiger schwerwiegender Unzulänglichkeiten“ ergebe. Footnote 19 Abgesehen davon, dass es für eine derartige Beschränkung an einer gesetzlichen Grundlage fehlt, birgt ein solches Vorgehen die Gefahr, dass die Umstände des Einzelfalles nicht ausreichend berücksichtigt werden und die Entscheidung daher gegen verfassungsrechtliche Vorgaben – insbesondere Art. 6 Abs. 2, 3 GG – verstößt.

Aus diesem Grund reicht auch das Vorliegen einer lediglich abstrakten Gefährdung des Kindeswohls nicht aus. Vielmehr sind stets die Umstände des konkreten Einzelfalles zu ermitteln und abzuwägen.Footnote 20 Um die Auswirkungen defizitärer erzieherischer Verhaltensweisen auf das Kind feststellen und eine zuverlässige Prognose treffen zu können, müssen die zum Schutz des Kindes handelnden Personen sich daher stets von folgenden Fragen leiten lassen:

  • Welche Schäden drohen dem Kind? Wie schwerwiegend sind diese Schäden? -> dazu 15.3.1

  • Welche Risiko- und Schutzfaktoren sprechen für oder gegen den Eintritt eines Schadens bei dem betreffenden Kind? → dazu 15.3.2

  • Droht die Gefahr bereits jetzt oder erst in Zukunft? → dazu 15.3.3

3.1 Art und Schwere der drohenden Schäden

In einer familiengerichtlichen Entscheidung müssen Art und Schwere der dem Kind drohenden Schäden konkret benannt werden.Footnote 21

An dieser Stelle sollen deshalb einige Fallgruppen besprochen werden, die typischerweise mit einem Schadenspotenzial für das Kind verbunden sind. Das Vorliegen einer Fallgruppe begründet jedoch nicht zwingend das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung. Ob und wie wahrscheinlich eine Realisierung dieses Schadenspotenzials in Zukunft ist (dazu unten 15.3.2), muss vielmehr zusätzlich geprüft werden.

Körperliche Misshandlungen

Gravierende körperliche Misshandlungendes Kindes führen in aller Regel zu erheblichen körperlichen und vor allem zu psychischen, gegebenenfalls sogar neurobiologischen Schäden beim betroffenen Kind.Footnote 22 Körperliche Strafen verstoßen gegen das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung nach § 1631 Abs. 2 BGB. Ob diese zugleich auch eine Kindeswohlgefährdung begründen, hängt von der Dauer, Regelmäßigkeit, Intensität, Willkür und dem Verhältnis zum Anlass der Strafe ab (s. a. Körperliche Misshandlung [Kap. 20]).Footnote 23

Psychische Misshandlungen

Psychische Misshandlungen können zu erheblichen psychischen und bei selbstschädigenden Verhaltensweisen des Kindes auch zu körperlichen Schädigungen bei ihm führen. Die Erscheinungsformen psychischer Misshandlungen sind mannigfaltig.Footnote 24 Sie können sich z. B. durch massive emotionale Abweisung, emotionalen Missbrauch, Manipulation, Ausbeutung des Kindes oder Miterleben häuslicher Gewalt äußern. Von der entsprechenden Erscheinungsweise hängt ab, welche konkreten psychischen oder physischen Schäden dem Kind im Einzelfall drohen (s. a. Psychische Misshandlung [Kap. 21]).

Sexueller Missbrauch

Die schweren körperlichen und seelischen Schäden eines Kindes im Falle eines erfolgten sexuellenMissbrauchs liegen auf der Hand. Schwierigkeiten werden sich in der Praxis eher auf der Ermittlungsebene insbesondere bei der Frage ergeben, ob ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat bzw. ob und welche Anhaltspunkte für das Drohen eines sexuellen Missbrauchs sprechen und ob und inwieweit ein Elternteil tatsächlich bereit und in der Lage ist, das Kind vor einem sexuellen Übergriff des anderen Elternteils oder einer/eines Dritten zu schützen (s. a. Sexueller Missbrauch – Definition, Prävalenzen, Schädigungsmechanismen und Folgen [Kap. 23]).Footnote 25

Körperliche, emotionale, kognitive und erzieherische Vernachlässigungen

Vernachlässigungen sind die häufigste Erscheinungsform von Kindeswohlgefährdungen.Footnote 26 Verschiedene Vernachlässigungsformen treten oft in Kombination auf und können je nach Art, Schwere und Dauer der Vernachlässigung, Alter, Vulnerabilität und Lebensumständen des Kindes zu schwerwiegenden physischen und psychischen Schäden führen.Footnote 27 In der Praxis ist es häufig schwierig festzustellen, ob bzw. ab wann die Grenze zur Kindeswohlgefährdung überschritten ist, weil Vernachlässigungen oftmals schleichend verlaufen.Footnote 28 Eine Kindeswohlgefährdung kann jedoch nicht bereits bejaht werden bei lediglich von der Norm der Durchschnittsbevölkerung abweichenden Vorstellungen der Eltern über Ordnung und Sauberkeit bezüglich Wohnsituation und -umfeld, Kleidung und Körperhygiene, Kinderbetreuung und Erziehungsverhalten, solange hiermit keine erhebliche Beeinträchtigung des Kindes oder seiner Entwicklung verbunden ist (s. a. Vernachlässigung als Kindeswohlgefährdung [Kap. 19]).Footnote 29

Medizinische Behandlungen

Werden medizinisch, psychologisch oder psychiatrisch notwendige Behandlungen unterlassen, kann dies je nach Art der Erkrankung des Kindes zu entsprechenden körperlichen oder psychischen Schäden führen. Besonders gravierend ist die Verweigerung lebensrettender Operationen oder Blutübertragungen.Footnote 30 Sind medizinische Behandlungen hingegen nur empfohlen, aber medizinisch nicht zwingend (z. B. bestimmte Impfungen), wird eine gegenwärtige Gesundheitsgefährdung in der Regel nicht angenommen werden können. Auch die Vornahme medizinisch nicht erforderlicher Behandlungen kann beim Kind zu physischen und psychischen Schäden führen, beispielsweise bei hormonellen oder chirurgischen Eingriffen bei Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (Intersexualität), die nicht zur Abwendung eines Gesundheitsschadens vorgenommen werden.

Münchhausen-by-proxy-Syndrom

Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom ist dadurch gekennzeichnet, dass der betroffene Elternteil eine Erkrankung des Kindes hervorruft, verstärkt oder auch nur vortäuscht und wiederholt Ärzt*innen aufsucht, denen er die wahren Ursachen des Krankheitsbildes nicht offenbart, um diese zur Durchführung – oftmals invasiver – Untersuchungen oder Behandlungen zu veranlassen und hierdurch Aufmerksamkeit zu erlangen.Footnote 31 Das Hervorrufen von Erkrankungen beim Kind führt zu entsprechenden physischen Schädigungen des Kindes, gegebenenfalls sogar bis hin zum Tod. Das elterliche Verhalten kann zudem erhebliche psychische Folgen nach sich ziehen, weil das Kind die Erfahrung macht, den Eltern im intimsten Lebensbereich schutzlos ausgeliefert zu sein.Footnote 32

Aufenthaltswechsel

Da das Kind ein Grundbedürfnis nach Kontinuität seiner Lebensbeziehungen und Bindungen hat,Footnote 33 können Wechsel des personellen bzw. räumlichen Umfelds unter bestimmten Umständen verschiedene Schäden beim Kind verursachen.

  • Psychische Schäden sind beispielsweise denkbar bei abrupten Trennungen des Kindes von seiner Hauptbezugsperson (Elternteil, Pflegeeltern, Verwandte, Stiefeltern, etc.). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Kind bereits mehrere Bindungsabbrüche erlebt hat und aufgrund seiner Disposition (z. B. Alter, Entwicklung, Vulnerabilität) voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, eine (erneute) Trennung zu bewältigen.Footnote 34 Nicht übersehen werden darf hierbei, dass derartige Schäden auch durch die staatlich veranlasste Trennung des Kindes von seinen Eltern – durch Inobhutnahme des Jugendamtes und/oder Fremdunterbringung infolge familiengerichtlicher Sorgerechtsentziehung – verursacht werden können (sekundäre Kindeswohlgefährdung) (s. a. Kindesschutz im BGB, FamFG und SGB VIII [Kap. 1]). Die Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung durch einen Aufenthaltswechsel bzw. Bindungsabbruch vorliegt, kann sich aber auch dann stellen, wenn die Rückführung eines Pflegekindes in den Haushalt der leiblichen Eltern geplant ist. Besteht zwar im Haushalt der Herkunftsfamilie des Kindes keine Kindeswohlgefährdung (mehr), kann eine solche aber je nach den bisherigen Erfahrungen und der Vulnerabilität des Kindes gerade aus der Rückführung resultieren (die Kindeswohlgefährdung kann dann durch eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB abgewendet werden). Allerdings ist zu beachten, dass lediglich allgemeine Belastungen des Kindes, die stets mit einem Wechsel der Hauptbezugspersonen verbunden sind, eine Rückführung des Kindes noch nicht ausschließen. Insbesondere darf eine Rückführung nicht allein mit dem Argument versagt werden, dass das Kind in den Pflegeeltern seine „sozialen“ Eltern gefunden hat.Footnote 35 Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf eine Herausnahme des Kindes aus seiner Pflegefamilie nur dann erfolgen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtspositionen des Kindes, insbesondere seines Persönlichkeitsrechts, noch hinnehmbar sind. Was für das Kind „noch hinnehmbar“ ist, kann nicht abstrakt festgestellt werden. Vielmehr ist in jedem Einzelfall, insbesondere mit Blick auf die Vorgeschichte des Kindes, das Verhältnis zu seinen Eltern und Pflegeeltern sowie seine Resilienz etc. sorgfältig zu prüfen, welche Tragweite die Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie in diesem Fall konkret hat und ob die Herkunftsfamilie über die besondere Fähigkeit verfügt, die mit der Trennung des Kindes von der Pflegefamilie verbundenen Belastungen abzufedern. In der Regel wird man zur Beantwortung dieser Fragen auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens angewiesen sein.

    Beispiel

    Eine Kindeswohlgefährdung dürfte vorliegen, wenn ein Kind seit vielen Jahren in der Pflegefamilie wohnt, eine sichere Bindung zu den Pflegeeltern hat, zu den leiblichen Eltern keine oder nur sehr begrenzte Kontakte hatte und sich zielgerichtet, intensiv, stabil und autonom gegen die Rückführung ausspricht.Footnote 36 Denn mit einer Rückführung würde man den beachtlichen Willen des Kindes brechen, was zur Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls und seiner Selbstwirksamkeit sowie zu Gefühlen der Macht- und Hilflosigkeit und langfristig zu Depressionen oder ähnlichen psychischen Erkrankungen führen könnte.Footnote 37

  • Häufige Wohnortwechsel können unter Umständen auch den Aufbau sozialer Beziehungen und das Erlernen sozialer Kompetenzen erschweren oder im Extremfall zu einer sozialen Isolierung des Kindes führen. Dies betrifft insbesondere die Fälle, in denen Eltern mit ihrem Kind untergetaucht sind oder beabsichtigen, dies zu tun.Footnote 38

  • Körperliche Schäden können dem Kind (gegebenenfalls neben seelischen Schäden) drohen, wenn es in ein Land oder Gebiet gebracht werden soll, in dem Krieg, ethnische Verfolgung oder Epidemien vorherrschen oder ihm konkret bestimmte Bräuche (z. B. Beschneidungen), kindeswohlschädigende Erziehungsmaßnahmen oder die Eingehung einer Ehe drohen.

Elternkonflikte

Das Miterleben massiver Elternkonflikte kann zu psychischen und gegebenenfalls auch physischen Schäden beim Kind führen. Dies gilt erst recht dann, wenn das Kind körperliche Gewalt zwischen den Eltern miterlebt hat (s. a. Kinder und Jugendliche im Kontext häuslicher Gewalt – Risiken und Folgen [Kap. 22]).Footnote 39 Körperliche Schäden können beispielsweise dadurch drohen, dass das Kind – gegebenenfalls auch ungewollt – in die Gewalthandlungen einbezogen wird, etwa weil es versucht, einen Elternteil vor dem anderen zu schützen. Darüber hinaus ist es – je nach Vulnerabilität und Resilienz des Kindes – möglich, dass infolge psychischer Belastungen des Kindes auch psychosomatische Schäden bei ihm eintreten. Eine hohe Konfliktintensität der Eltern, die nicht mit physischer Gewalt einhergeht, kann unter Umständen ebenfalls die psychische und gegebenenfalls auch physische Gesundheit des Kindes (z. B. in Form psychosomatischer Schäden oder selbstschädigender Verhaltensweisen) beeinträchtigen.

Defizitäre Förderung des Kindes

Lassen Eltern ihrem Kind nicht ein Mindestmaß an erzieherischer und kognitiver Förderung zukommen, können hieraus verschiedene Schäden beim Kind resultieren (s. a. oben Vernachlässigung). Unterbleibt bei ihm beispielsweise jegliche richtungsweisende und Grenzen setzende Erziehung, kann dies zu Schuldistanz, Delinquenz, Substanzmissbrauch oder Viktimisierung des Kindes durch Dritte führen.Footnote 40 Sprach- und Entwicklungsdefizite können die Folge einer unzureichenden kognitiven Förderung im Kleinkindalter sein. Soziale und kognitive Entwicklungsstörungen sind bei defizitärer schulischer Förderung oder bei Verweigerung eines Schulbesuchs möglich. Ein Hausunterricht durch die Eltern kann den regulären Schulbesuch in aller Regel nicht ersetzen, weil das Kind in der Schule die für seine Persönlichkeitsentwicklung notwendigen sozialen Kompetenzen erlernt.Footnote 41 Fehleinschätzungen der schulischen Leistungsfähigkeit des Kindes durch seine Eltern, z. B. die fälschliche Annahme einer Hochbegabung,Footnote 42 können zu einer – gegebenenfalls auch psychischen – Kindeswohlgefährdung führen.Footnote 43 Der Nichtbesuch eines Kindergartens könnte bei einem noch nicht schulpflichtigen Kind unter Umständen Entwicklungsdefizite zur Folge haben, wenn es einen entsprechenden Förderbedarf hat, den die Eltern selbst oder mit Hilfe sonstiger Personen (z. B. Tageseltern, Logopäd*innen, Therapeut*innen) nicht abdecken können.Footnote 44

3.2 Schadenseintrittswahrscheinlichkeit

Bei der Komponente der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit scheint der in der Definition der Kindeswohlgefährdung des BVerfG benannte Wahrscheinlichkeitsgrad („mit ziemlicher Sicherheit“) auf den ersten Blick deutlich strenger zu sein als die vom BGH verwendete Formulierung („mit hinreichender Wahrscheinlichkeit“). Trotz dieses insoweit missverständlichen Wortlauts fordert das BVerfG für das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung keinesfalls eine höhere Schadenseintrittswahrscheinlichkeit als der BGH.Footnote 45 Vielmehr stellen sowohl das BVerfG als auch der BGH eine Relation zwischen Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und Schadensausmaß her, indem sie für die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit umso geringere Anforderungen genügen lassen, desto schwerer der drohende Schaden wiegt (sog. „je-desto-Formel“).Footnote 46 Demnach kann auch bei geringer Eintrittswahrscheinlichkeit eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung vorliegen, wenn dem Kind besonders gravierende Schäden mit schwerwiegenden oder gar unumkehrbaren Folgen drohen (BVerfG 16.9.2022 – 1 BvR 1807/22).

Beispiel

Kommt ein sexueller Missbrauch des Kindes aufgrund konkreter Anhaltspunkte in Betracht, etwa weil sein Vater oder der mit der Mutter zusammenlebende Partner einschlägig (strafrechtlich) in Erscheinung getreten ist, dürfte regelmäßig eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, auch wenn die Gefahr eines Rückfalls bei diesem Mann aktuell gering ist. Denn im Falle einer Realisierung der Gefahr würden dem Kind massive irreparable Schäden drohen.Footnote 47 Das OLG Koblenz hat z. B. eine Kindeswohlgefährdung im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens angenommen, weil der Vater kinderpornografisches Material besaß und aufgrund des Verhaltens der Eltern (z. B. Abstreiten der deutlich sexuellen Komponenten der Aufnahmen durch den Vater, Verheimlichung des Jugendamtstermins des Vaters gegenüber der Mutter, Angabe der Mutter, der Vater habe früher „solche Dinge“ getan) ein erhöhtes Risiko für einen sexuellen Missbrauch der Kinder durch eigene Übergriffe oder mindestens durch Mitkonsum der Videos durch die Kinder gesehen wurde. Footnote 48

Wichtig ist es, in diesem Zusammenhang zu betonen, dass sich die Komponente der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit in der Praxis nicht mit Prozentzahlen wiedergeben lässt.Footnote 49 Weder der BGH noch das BVerfG fordern deshalb prozentuale Wahrscheinlichkeitsangaben. Erst recht wird keine überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im Sinne einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % verlangt. Die vielmehr geforderte Prognose zu einem etwaigen Schadenseintritt lässt sich am besten erstellen, wenn man alle für oder gegen den Eintritt eines Schadens sprechenden Risiko- und Schutzfaktoren ermittelt und gegeneinander abwägt. Risiko- und Schutzfaktoren können sich beispielsweise aus der Persönlichkeit des Kindes (z. B. Selbstbild und Selbstwertgefühl des Kindes, Fähigkeit zu adäquaten Problemlösungsstrategien, Bindungsqualität zu Bezugspersonen, wiederholte Trennungserfahrungen/Bindungsabbrüche in der Vergangenheit, emotionale Stabilität), dem Alter, Entwicklungsstand und Geschlecht des Kindes sowie aus der Persönlichkeit bzw. Konstitution der Eltern (z. B. emotionale Belastbarkeit, Selbstbild und Selbstwertgefühl, Fähigkeit zur adäquaten Konfliktlösung, zur Selbstöffnung und zur Problemeinsicht, soziale Kompetenzen, psychische und/oder Suchterkrankungen), aber auch aus der Umwelt (z. B. Geschwisterbeziehungen, soziales und familiäres Umfeld, soziale/finanzielle Sicherheit) ergeben. Die im Einzelfall vorliegenden Risiko- und Schutzfaktoren bedingen sich häufig gegenseitig. Sie können sich außerdem gegenseitig verstärken oder ausgleichen. Notwendig ist deshalb immer eine am Fall orientierte Gesamtbetrachtung aller Risiko- und Schutzfaktoren.Footnote 50 Mangels eigener familienpsychologischer Sachkunde wird das Familiengericht bei der Ermittlung und Bewertung der Risiko- und Schutzfaktoren sehr häufig auf die Einholung eines familienpsychologischen Sachverständigengutachtens, bei der Abklärung psychiatrischer Erkrankungen zudem auf die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens, angewiesen sein.

3.3 Gegenwärtigkeit der Gefahr

In zeitlicher Hinsicht muss die Gefährdung gegenwärtig bestehen; eine mittel- oder gar langfristige Gefährdung reicht zur Begründung einer Kindeswohlgefährdung nicht aus.Footnote 51 Dies bedeutet nicht, dass auch ein Schaden gegenwärtig drohen oder bereits eingetreten sein muss. Vielmehr ist zwischen den Begriffen der Gefährdung und des Schadens zu differenzieren.

Ein Schaden liegt vor, wenn beim Kind bereits eine der in § 1666 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgutverletzungen eingetreten ist, d. h. insbesondere sein körperliches, geistiges oder seelisches Wohl nicht nur unerheblich verletzt ist. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn das Kind andauernde Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Gesundheitsschäden aufweist. Ist der Schaden behoben, z. B. weil eine durch Missachtung der Aufsichtspflicht entstandene Verletzung des Kindes wieder verheilt ist, kann die Kindeswohlgefährdung nicht mehr mit dem Eintritt eines Schadens begründet werden. Vielmehr ist dann im Rahmen der anzustellenden Schadensprognose zu prüfen, ob aufgrund des elterlichen Verhaltens möglicherweise erneute Schäden dieser Art zu erwarten sind. In der Vergangenheit entstandene und zwischenzeitlich behobene Schäden können folglich Indizwirkung für den Eintritt künftiger Schäden entfalten.Footnote 52

Eine gegenwärtige Gefährdung des Kindeswohls liegt vor, wenn die für das Kind bestehende Sachlage jederzeit in einen Schaden umschlagen kann und das bisherige Ausbleiben eines Schadens lediglich vom Zufall abhing.

Beispiel

Der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestrafte Partner der Mutter könnte jederzeit bezüglich des Kindes der Mutter übergriffig werden. Keine gegenwärtige, sondern nur eine künftige Gefahr dürfte hingegen dann vorliegen, wenn das in Frage stehende Kind ein Säugling ist, der Partner der Mutter jedoch ausschließlich hebephile Neigungen hat. In diesem Fall läge erst kurz vor Einsetzen der Pubertät des Kindes eine gegenwärtige Gefahr vor.

Eine gegenwärtige Gefährdung des Kindeswohls ist auch gegeben, wenn sich ein Schadenseintritt bereits jetzt abzeichnet. Dies ist verhältnismäßig leicht zu bejahen, wenn das Kind bereits Belastungsanzeichen (z. B. Einnässen, Schlafprobleme, Leistungsabfall in der Schule) zeigt. Schwieriger wird es hingegen, wenn nach außen sichtbare Belastungszeichen fehlen. Da sich viele Gefährdungssituationen prozesshaft entwickeln, wie dies beispielsweise für Vernachlässigungssituationen typisch ist,Footnote 53 ist die Abgrenzung, ob aktuell bereits eine Gefährdungssituation vorliegt oder sich eine solche erst für die Zukunft abzeichnet, in der Praxis häufig sehr schwierig. Es empfiehlt sich daher, ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten einzuholen und die sachverständige Person gezielt zu diesem Aspekt zu befragen.

Beispiel

In dem einer Entscheidung des BVerfG zugrunde liegenden Fall hatte die Sachverständige selbst nur eine mittel- bis langfristige Gefährdungssituation festgestellt. Die fachgerichtlich darüber hinaus angeführten Tatsachen begründeten die Gegenwärtigkeit der Gefährdung nicht hinreichend.Footnote 54

4 Fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern zur Gefahrenabwehr

Weitere Voraussetzung für das Ergreifen familiengerichtlicher Maßnahmen zum Schutz des Kindes ist die fehlende Bereitschaft bzw. Fähigkeit der Eltern, die bereits festgestellte Kindeswohlgefährdung abzuwenden. In den meisten zur Entscheidung stehenden Fällen wird dieses Tatbestandsmerkmal gegeben sein. Es folgt in aller Regel aus den zur Begründung der Kindeswohlgefährdung festgestellten kindeswohlgefährdenden Handlungen oder Unterlassungen der Eltern. Gleichwohl sei hier auf Konstellationen verwiesen, in denen dieses Tatbestandsmerkmal zu verneinen ist.

Zum einen sind dies die Fälle, in denen der Schadenseintritt beim Kind nicht durch die Eltern (mit-) verursacht wurde, wie beispielsweise beim Vorliegen bestimmter Dispositionen (z. B. Intelligenzminderung) oder Krankheiten (z. B. Glasknochenkrankheit) des Kindes, sofern die Eltern alle beim Kind notwendigen Fördermaßnahmen oder Behandlungen vornehmen und die spezifischen Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergreifen. Auch wenn der Schaden des Kindes durch unvorhersehbare äußere Ereignisse (z. B. Unfälle, Schädigungen durch Dritte) verursacht wurde, den Eltern aber kein Verstoß gegen ihre Aufsichtspflicht angelastet werden kann, fehlt es an dem Tatbestandsmerkmal der unzureichenden elterlichen Gefahrenabwehr.

Zum anderen betrifft dies Konstellationen, in denen das Kind im Haushalt seiner Eltern zwar einer Kindeswohlgefährdung ausgesetzt war, die Eltern aber die bestehende Gefährdungssituation vollständig beseitigt haben. Hierzu zählen auch die Fälle, in denen die Eltern die bei ihnen drohende Gefährdung ihres Kindes dadurch ausgeräumt haben, dass sie sich mit einer Unterbringung des Kindes bei Dritten (z. B. Verwandte, Bekannte, Pflegeeltern, Einrichtung) einverstanden erklärt haben und bereit und in der Lage sind, freiwillig alle hierfür notwendigen Mitwirkungshandlungen zu erbringen. In der zuletzt genannten Konstellation wären ein Sorgerechtsentzug oder sonstige Eingriffe in die elterliche Sorge zudem auch unverhältnismäßig (s. a. Familiengerichtliche Maßnahmen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung [Kap. 7]).

5 Fazit

Die Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, darf niemals schematisch beantwortet werden. Vielmehr ist auf Grundlage der im Einzelfall stets zu ermittelnden relevanten Umstände eine Schadensprognose anhand des Schadensausmaßes, der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit und der zeitlichen Nähe der drohenden Gefahr anzustellen. Von eindeutigen Fällen abgesehen empfiehlt sich hierbei regelmäßig die Einholung eines psychologischen, gegebenenfalls auch psychiatrischen, Sachverständigengutachtens.