1 Einordnung Modul

Neben den Themen, wie sich die Entwicklung von Kindern grundsätzlich fassen und gliedern lässt (s. hierzu Kap. 8 und 9) und was Kinder für eine gute Entwicklung brauchen (s. hierzu Gelingende Entwicklung, Teilhabe und Resilienz [Kap. 11]), stellt sich in den Human- und Sozialwissenschaften schon lange die Frage, welche Erfahrungen die Entwicklung von Kindern belasten, wie diese Belastungen wirken und wie diese Wirkungen aufgefangen und abgemildert werden können. Viele Studien beschäftigen sich dabei mit strukturellen Belastungsfaktoren (z. B. Kinderarmut), die eher Gegenstand der Sozialpolitik als der Familiengerichtsbarkeit sind. Andere Untersuchungen drehen sich um Generationenschicksale, etwa das Erleben von Krieg bzw. Flucht in der Kindheit. Obwohl solche Studien sehr lehrreich sein können, haben wir uns hier auf prinzipiell vermeidbare und im Rahmen von familiengerichtlichen Verfahren bedeutsame Belastungserfahrungen von Kindern in Familien konzentriert.

2 Zusammenhänge zwischen Belastungserfahrungen und kindlicher Entwicklung

Eine erste, ganz grundlegende Frage in dieser Art von Forschung war, ob, wie intensiv und wie lange die in den Blick genommenen Belastungserfahrungen kindliche Entwicklung beeinträchtigen. Hierzu liegen zahlreiche Untersuchungen vor. Ausgehend von einer Studie von Felitti et al. (1998) hat sich in der Medizin und in der Psychologie, weniger in der Sozialpädagogik und bislang gar nicht im Familienrecht, für kindliche Belastungserfahrungen der Begriff „Adverse Childhood Experiences“ ACEs) etabliert. Anzahl und Art der untersuchten ACEs variieren deutlich zwischen den Untersuchungen, in einem Großteil der Studien wurden allerdings folgende zehn Faktoren untersucht (vgl. Liming & Grube 2018):

  • Emotionale Misshandlung

  • Physische Misshandlung

  • Sexueller Missbrauch

  • Emotionale Vernachlässigung

  • Physische Vernachlässigung

  • Elterliche Trennung/Scheidung

  • Miterleben von häuslicher Gewalt

  • Alkohol- und Drogenmissbrauch eines Elternteils

  • Psychische Erkrankung eines Elternteils

  • Inhaftierung eines Elternteils

Soweit die belastenden Kindheitserfahrungen Gefährdungsformen betrafen, ist darauf hinzuweisen, dass deren Definition in den Studien nicht anhand strafrechtlicher oder familienrechtlicher Kategorien erfolgte, sondern mehrheitlich auch leichtere Fälle umfasste, die bei einem Bekanntwerden nicht notwendigerweise ein Einschreiten des Familiengerichts zur Folge gehabt hätten.

Es wurden übereinstimmend moderate (d. h. in der Alltagswelt bei einem Vergleich von Lebensläufen in einem größeren Bekanntenkreis gerade noch wahrnehmbare) Zusammenhänge zwischen verschiedenen ACEs und einer großen Bandbreite kindlicher Entwicklungsaspekte festgestellt, wie z. B. gesundheitlichen Problemen, Erlebens und Verhaltensproblemen, Aufmerksamkeits- und schulischen Problemen. Folgen von ACEs ließen sich dabei über den gesamten Lebenslauf hinweg beobachten, d. h. es waren sowohl unmittelbare Konsequenzen im Kindergartenalter (z. B. Jimenez et al. 2016) und der mittleren Kindheit (z. B. Hunt et al. 2017; McKelvey et al. 2018) sowie langfristige Folgen bis ins Jugend- und Erwachsenenalter (Choi et al. 2019) festzustellen, wobei Schädigungen manchmal auch erst mit deutlicher Verzögerung sichtbar wurden (vgl. Witt et al. 2019). In einer Meta-AnalyseFootnote 1 von Hughes et al. (2017), in welche die Befunde von 37 internationalen Studien mit insgesamt über 250.000 Teilnehmenden einflossen, zeigten sich Zusammenhänge zwischen ACEs und verschiedenen psychischen und physischen Gesundheitsaspekten im Erwachsenenalter, wobei sich die stärksten Zusammenhänge für riskantes Sexualverhalten, psychische Gesundheit, Alkohol- und Drogenkonsum, Gewaltausübung und suizidales Verhalten ergaben. Die Befunde weisen auf einen „Dosis-Wirkungs-Zusammenhang“ hin, d. h., dass das Risiko für ungünstige Entwicklungen mit der Anzahl an ACEs zunimmt (vgl. auch Petruccelli et al. 2019). Aus Deutschland liegt ebenfalls eine aktuelle Studie vor, in welcher 2531 Personen ab dem Alter von 14 Jahren (durchschnittliches Alter: 48,6 Jahre) rückblickend nach ACEs sowie aktuellen psychosozialen Belastungen befragt wurden (Witt et al. 2019). Von den Teilnehmenden berichteten 43,7 % von mindestens einer ACE, 8,9 % sogar von vier oder mehr ACEs, wobei elterliche Trennung/Scheidung (19,4 %), Alkohol- oder Drogenkonsum in der Familie (16,7 %), emotionale Vernachlässigung (13,4 %) und emotionale Misshandlung (12,5 %) am häufigsten genannt wurden. In Übereinstimmung mit den internationalen Forschungsbefunden waren ACEs mit langfristigen negativen Folgen für das psychosoziale Wohlbefinden verbunden, wobei insbesondere Personen mit vier oder mehr ACEs ein deutlich erhöhtes Risiko für Depressivität (Odds Ratio Grob gesprochen beschreiben Odds Ratios (OR), um wie viel größer die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Ereignisses (z. B. einer Erkrankung) in einer Gruppe im Vergleich zu einer anderen Gruppe ist. OR = 1 bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis in beiden Gruppen gleich ist. Ein OR = 7 bedeutet dann beispielsweise, dass in der Gruppe mit vier oder mehr ACEs in der Kindheit eine bestimmte Störung 7-mal wahrscheinlicher ist als in der Gruppe ohne ACEs. [OR] = 7,8), Ängste (OR = 7,1), aggressives Verhalten (OR = 10,5) und geringe Lebenszufriedenheit (OR = 5,1) aufwiesen. Einschränkend ist zu erwähnen, dass Teilnehmende im Erwachsenenalter rückblickend zu ihren Erfahrungen in der Kindheit befragt wurden. Folglich ist nicht auszuschließen, dass die Befunde Verzerrungen unterliegen, da psychisch belastete Personen möglicherweise eher negative Erfahrungen erinnern (Hardt & Rutter 2004). Allerdings werden die Befunde zunehmend auch durch Längsschnittstudien gestützt (z. B. Clarkson Freeman 2014; Hunt et al. 2017; Jimenez et al. 2016; Choi et al. 2019), die jedoch bislang nicht aus Deutschland vorliegen.

Bei Betrachtung der Vorhersagekraft unterschiedlicher Arten von ACEs für psychosoziale und gesundheitliche Beeinträchtigungen lassen sich bei Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen in der Kindheit am häufigsten ungünstige Entwicklungen beobachten, was auf die besonders schädigende Wirkung dieser Erfahrungen für die kindliche Entwicklung hinweist (Witt et al. 2019; s. a. Körperliche Misshandlung [Kap. 20], Psychische Misshandlung [Kap. 21]), Vernachlässigung als Kindeswohlgefährdung [Kap. 19]). Insbesondere wiederholte Misshandlungserfahrungen stellen einen bedeutsamen Prädiktor für Entwicklungsbeeinträchtigungen und Belastungen bis ins Erwachsenenalter dar. In einer Studie von Jonson-Reid et al. (2012) lag die Wahrscheinlichkeit für ein negatives Entwicklungsergebnis im Erwachsenenalter (wie etwa psychische Erkrankung, Suizidversuch, Delinquenz/Gewalttätigkeit oder Substanzmittelmissbrauch) bei einer begründeten Gefährdungsmeldung in der Kindheit bei 40 % und bei vier Gefährdungsmeldungen sogar bei 67 %. Darüber hinaus stellte sich auch die psychische Erkrankung eines Elternteils in vielen Studien als gewichtiger Vorhersagefaktor für die sozioemotionale Entwicklung von Kindern heraus (z. B. Witt et al. 2019), worauf im Fachtext Psychische v und Erziehungsfähigkeit [Kap. 28] vertiefend eingegangen wird.

Andere ACEs haben für sich allein genommen hingegen eine eher schwache Vorhersagekraft. Kinder, deren Eltern sich getrennt haben, weisen beispielsweise im Vergleich zu Gleichaltrigen im Schnitt zwar in verschiedenen Entwicklungsbereichen Nachteile auf (Swartz-den Hollander 2017; Amato 2001), die Unterschiede sind jedoch eher gering und bei den meisten Kindern kommt es nach einer gewissen Zeit wieder zu einer Stabilisierung und einem Rückgang von Auffälligkeiten (Schmidt-Denter 2001). Langfristig negative Verläufe zeigen sich hingegen vermehrt bei Trennungskindern, die von zusätzlichen chronischen Belastungen im Familiensystem betroffen sind, wie Armut (Clarke-Stewart et al. 2000), oder bei denen sich die mit einem Trennungsereignis verbundenen Elternkonflikte auf hohem Niveau zu einer chronischen Belastung entwickeln (van Dijk et al. 2020; Lamela et al. 2016; Harold & Sellers 2018). Auch hier zeigt sich folglich, dass negative Entwicklungen v. a. mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten, wenn Kinder durch viele ACEs belastet sind oder mehrere ACEs mit ungünstigen chronischen Bedingungen gekoppelt sind. Von einer solchen Kumulation von Belastungsfaktoren ist zwar im Gegensatz zum Vorliegen einzelner ACEs nur eine kleine Minderheit von Kindern betroffen, allerdings ist es wichtig zu wissen, dass solche Anhäufungen von ACEs nicht rein zufällig auftreten, sondern Belastungsfaktoren sich auch wechselseitig bedingen (Felitti et al. 1998; Dong et al. 2004). Beispielsweise geht ein hohes Ausmaß an Partnerschaftsgewalt mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit von Elterntrennungen und Kindesmisshandlung einher und begünstigt psychische Erkrankungen auf der Elternebene. Das überzufällig häufige Vorkommen einer Anhäufung mehrerer ACEs wird auch als eine Form des „Matthäus-Effekts“ „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“ Mt 25,29 LUT bezeichnet, wonach Belastungen (bei ausbleibender Hilfe) weitere Belastungen nach sich ziehen (Giovanelli et al. 2020).

3 Vermittlungswege zwischen ACEs und kindlicher Entwicklung

3.1 Neuropsychologische Erklärungsansätze

Prozesse, durch die sich ACEs kurz- und langfristig auf die Entwicklung auswirken, sind komplex und bisher nur ansatzweise verstanden. Ob und in welcher Weise sich ACEs genau auf die Entwicklung von Kindern auswirken, hängt vom Zusammenspiel zahlreicher individueller und Umweltfaktoren ab. Dies ist der Grund, warum in Kinderschutzverfahren häufig nur eingeschätzt werden kann, ob bei einer Fortsetzung der Gefährdung bei der Mehrzahl betroffener Kinder eine erhebliche Schädigung zu erwarten ist und grob, welche Bereiche (körperliches, seelisches oder geistiges Wohl) vermutlich tangiert sein werden, eine genauere Vorhersage bestimmter Entwicklungsergebnisse aber nicht möglich ist. Es liegen allerdings mittlerweile aus dem Bereich der Neuropsychologie Erklärungsansätze dazu vor, wie sich ACEs innerorganismisch überhaupt langfristig auf die Entwicklung von Kindern auswirken können. Abb. 12.1 gibt einen Überblick über mögliche Konsequenzen von ACEs für die Entwicklung von Kindern über den Lebensverlauf.

Abb. 12.1
figure 1

Folgen von ACEs

Insbesondere in der frühen Kindheit besteht demnach eine hohe Vulnerabilität (Verletzlichkeit) gegenüber negativen Erfahrungen, da sich der kindliche Organismus grundlegend im Aufbau befindet und beispielsweise die Entwicklung der Gehirnstrukturen und die Vernetzung der Nervenbahnen stark erfahrungsabhängig sind. Für eine gesunde Entwicklung ist es notwendig, dass Kinder in unterschiedliche Entwicklungsphasen bestimmte Erfahrungen machen, man spricht hier auch von der „erwartbaren Umwelt“ (für einen Überblick siehe Nelson & Gabard-Durnam 2020). Werden jedoch grundlegende Bedürfnisse von Kindern nach Anregung und Förderung nicht gedeckt und bleiben dadurch wesentliche Erfahrungen in den für einen bestimmten Entwicklungsbereich sensiblen Phasen aus, wirkt sich dies negativ auf die Ausbildung der entsprechenden kognitiven Strukturen und Vernetzungen aus und trägt dadurch zu Entwicklungsdefiziten bei, die später nur noch in begrenztem Umfang durch positive Fürsorgebedingungen oder Förderung veränderbar sind (Knudsen 2004; Nelson & Gabard-Durnam 2020). Chronisch anhaltende Belastungs- bzw. Deprivationserfahrungen, wie bei Kindesvernachlässigung, erscheinen in diesem Zusammenhang besonders schädlich, da die Entwicklung von neurophysiologischen Strukturen und damit verbundenen Fähigkeiten (z. B. die Sprachentwicklung) meist in aufeinander aufbauenden Kaskaden verläuft, sodass Defizite sich im Verlauf immer weiter verstärken (Nelson & Gabard-Durnam 2020). Die genannten Prozesse betreffen aufgrund von Unterschieden in Vorerfahrungen und der biologischen bzw. genetischen Ausstattung nicht jedes Kind gleich stark. Bei der stärksten möglichen Intervention, einer Fremdunterbringung, zeigen viele Adoptiv- und Pflegekinder erstaunliche positive Veränderungen. Als Gruppe betrachtet weisen die Kinder im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne belastende Vorerfahrungen aber dennoch weiterhin Nachteile auf, insbesondere wenn der Wechsel in die Pflege- oder Adopitvfamilien erst jenseits des zweiten Lebensjahres stattfand (van Ijzendoorn & Juffer 2006; Jacobsen et al. 2013; Rutter et al. 2007).

Neben einem Mangel an notwendigen Erfahrungen (Deprivation) kann zudem eine erhöhte Stressbelastung, wie bei Kindesmisshandlung, sexuellem Missbrauch, Miterleben von Partnerschaftsgewalt und chronischen Elternkonflikten, erhebliche Folgen für die kindliche Entwicklung haben, wobei Störungen der Funktionsweise des physiologischen Stressregulationssystems hierbei eine wesentliche Rolle spielen (McEwen 2008). Grundsätzlich stellt die Ausschüttung von „Stresshormonen“ wie Cortisol in beängstigenden oder belastenden Situationen eine normale Reaktion dar, die der Aktivierung des Körpers dient, um auf eine wahrgenommene Gefahr reagieren zu können. Dabei wird die Hormonausschüttung durch eine negative Feedbackschleife zwischen Gehirn und Nebennierenrinde reguliert, sodass im Normalfall nach Ende/Bewältigung/Neubewertung der „Gefahrenlage“ die Hormonkonzentration wieder auf das Ausgangsniveau absinkt. Im Falle von chronischem Stresserleben bzw. Belastungserfahrungen, welche die Regulationsfähigkeiten eines Kindes deutlich übersteigen, können hohe Konzentrationen von Cortisol sich jedoch mitunter schädigend auf die Hirnentwicklung auswirken, was mit Defiziten in den Fähigkeiten zur Selbstkontrolle eigener Gefühle und des Verhaltens verbunden ist sowie geistige Fähigkeiten, wie Gedächtnis und Aufmerksamkeit (exekutiven Funktionen), betrifft (McLaughlin & Sheridan 2016; Teicher et al. 2003; Zalewski et al. 2012). Zudem kann es zu anhaltenden Fehlfunktionen des Stresshormonsystems (chronische Über- oder Unteraktivierung) kommen, was die Bewältigungsmechanismen von Kindern im Umgang mit weiteren Belastungsfaktoren mindern und sie anfällig für die Entwicklung psychischer Erkrankungen machen kann (Bernard et al. 2015b; Young et al. 2019).

Darstellung der Konsequenzen von ACEs (Adverse Childhood Experience) für die Entwicklung von Kindern über den Lebenslauf. ACEs, die in der frühen Kindheit während sensibler Phasen auftreten, welche für die Entwicklung geistiger und psychosozialer Fähigkeiten von Relevanz sind (z. B. Sprache, Bindung, Stressregulation, Aufmerksamkeit), stehen in Wechselwirkung mit der genetischen Ausstattung des Kindes. Dies führt im Laufe der Entwicklung zu Veränderungen auf biologischer und Verhaltensebene, welche im Zusammenspiel zur Entstehung einer Vielzahl von Problemen beitragen können, die auch noch im Erwachsenenalter sichtbar sein können. Adaptiert von Nelson und Gabard-Durnam (2020).

3.2 Fürsorge und Elternverhalten als wichtige (veränderbare) vermittelnde Faktoren

Einige ACEs sind mit abweichendem Elternverhalten identisch (z. B. Kindesvernachlässigung, Misshandlung), andere ACEs betreffen zunächst einmal vorrangig einen oder beide Elternteile selbst (z. B. psychische Erkrankung eines Elternteils, Partnerschaftsgewalt). Zudem kann es dazu kommen, dass nach ACEs andere Erwachsene (z. B. Groß- oder Pflegeeltern) zeitweise oder dauerhaft die Fürsorge für ein Kind übernehmen. In all diesen Konstellationen stellt sich die Frage, welche Rolle die alltäglichen Erziehungs- und Fürsorgeerfahrungen für die Entwicklung von Kindern spielen, die von ACEs betroffen sind. Insbesondere stellt sich die Frage, (a) welche (zusätzliche) Rolle Fürsorge und Elternverhalten im Kontext von ACEs spielen, die bereits für sich genommen fehlgeleitetes Elternverhalten (z. B. Misshandlung) umfassen, (b) ob Fürsorge und Elternverhalten die Wirkungen mancher ACEs erklären kann, die vorrangig die Eltern(-teile) selbst betreffen, und (c) inwieweit negative Folgen von ACEs durch nachfolgende positive Fürsorge aufgefangen werden können.

Grundsätzlich ist ein Zusammenhang zwischen der Qualität des Elternverhaltens und Erlebens- und Verhaltensproblemen von Kindern gut belegt (Pinquart 2017a, b). Zudem hat sich herausgestellt, dass neben genetischen Anteilen (v. a. bei psychischen Erkrankungen) und direkten Auswirkungen von Belastungen auf das Kind (z. B. Traumatisierung aufgrund von Misshandlung oder miterlebter Partnerschaftsgewalt) die Qualität des Elternverhaltens einen zentralen vermittelnden Faktor darstellt, durch den sich ACEs auf die Entwicklung von Kindern auswirken. Wilson und Durbin (2010) stellten in einer Meta-Analyse fest, dass Familien mit dokumentierten Vorfällen von physischer Misshandlung und Vernachlässigung auch außerhalb solcher Situationen während Eltern-Kind-Interaktionen mehr aversives (z. B. Drohen, Abwertung, Ausdruck negativer Gefühle) und weniger positives (z. B. Ausdruck von Zuneigung und positiver Gefühle, Unterstützung) sowie involviertes (z. B. Zeigen von Interesse am Kind, Eingehen auf Fragen des Kindes) Elternverhalten zeigen als andere Eltern. Entsprechend sind Eltern-Kind-Beziehungen beim Vorliegen von Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen häufig belasteter und von weniger emotionaler Sicherheit geprägt. Kinder mit Misshandlungserfahrungen weisen beispielsweise vermehrt desorganisierte Bindungsbeziehungen zu ihren Bezugspersonen auf (Cyr et al. 2010), was wiederum mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Erlebens- und Verhaltensproblemen assoziiert ist (Fearon et al. 2010; Groh et al. 2012). Zudem trat in einer aktuellen Untersuchung der Zusammenhang zwischen Misshandlungserfahrungen und Defiziten in der Emotionsregulation von Kindern im Vorschulalter vor allen dann zu Tage, wenn in Beobachtungen Einschränkungen in der Feinfühligkeit der Mütter sichtbar wurden (Speidel et al. 2020). Entsprechend scheinen ACEs in Form von Gefährdungserfahrungen auch durch überdauernde Einschränkungen elterlicher Fürsorgefähigkeiten zu wirken.

Hinsichtlich ACEs auf Seiten der Eltern berichteten beispielsweise Dhondt et al. (2019) in einer Längsschnittstudie, dass Eltern-Kind-Konflikte den Zusammenhang zwischen ACEs, wie dem Tod eines Elternteils, elterlicher psychischer Erkrankung oder Elterntrennung, in der frühen Kindheit und Psychopathologie im Jugendalter vermittelten. In einer anderen Studie mit sozioökonomisch benachteiligten Familien zeigten Mütter, die von Partnerschaftsgewalt betroffen waren, vermehrt harsches Elternverhalten, was wiederum mit erhöhtem externalisierendem Problemverhalten der Kinder einherging (Zarling et al. 2013). Insgesamt hat sich in verschiedenen Studien übereinstimmend herausgestellt, dass das Vorliegen von ACEs mit mehr harschem Elternverhalten, mehr Eltern-Kind-Konflikten, geringer emotionaler Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung oder geringeren Fürsorgekompetenzen verbunden war, wobei die Einschränkungen in der Qualität des Elternverhaltens wiederum die festgestellten Belastungen bei den Kindern, wie Erlebens- und Verhaltensprobleme, zu einem bedeutsamen Anteil erklären konnte (vgl. Übersichtsarbeit von Scully et al. 2020).

Auf der anderen Seite konnte positives Elternverhalten in einigen Studien auch als wichtiger Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung im Kontext von ACEs und strukturellen Belastungen identifiziert werden. In einer Studie von Fagan (2020) konnte beispielsweise aggressives Verhalten von Zwölfjährigen durch das Vorliegen mindestens einer Gefährdungsmeldung wegen Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch im Laufe der ersten zehn Lebensjahre vorhergesagt werden, wobei der Zusammenhang allerdings durch das Vorliegen einer nachfolgend positiven Eltern-Kind-Beziehung trotz der früheren Gefährdung abgepuffert werden konnte. In einer anderen Studie zeigten Kindern trotz sozioökonomischer Deprivation eine positive psychosoziale Anpassung und kognitive Entwicklung, wenn ihre Mütter ein hohes Maß an emotionaler Wärme (positiver Affekt, Akzeptanz des Kindes, Unterstützung) zeigten (Kim-Cohen et al. 2004). Des Weiteren konnten bei Pflege- und Adoptivkindern positive Effekte emotionaler Fürsorge nach frühen Belastungserfahrungen festgestellt werden. In einer Längsschnittstudie mit Kindern, die aus Pflegeverhältnissen adoptiert worden waren, zeigte sich, dass Kinder mit drei oder mehr ACEs in der Vorgeschichte drei Jahre nach Adoption ein deutlich höheres Ausmaß an internalisierenden und externalisierenden Verhaltensproblemen zeigten als Kinder aus der Allgemeinbevölkerung (Anthony et al. 2019). Dieser Zusammenhang ergab sich allerdings nur, wenn die Eltern-Kind-Interaktion von eher wenig emotionaler Wärme geprägt war, während ein hohes Maß an emotionaler Wärme die Folgen multipler ACEs für die Entwicklung der Kinder abpuffern konnte. Eine vergleichbare Wirkung von positivem Elternverhalten als Schutzfaktor bezüglich Verhaltensproblemen wurde auch in einer Studie von Kriebel und Wentzel (2011) berichtet, wobei die am stärksten durch negative Vorerfahrungen belasteten Kinder am meisten von positiver Fürsorge profitieren konnten. Emotional warmes, feinfühliges und förderliches Elternverhalten schützt Kinder somit nicht nur vor Belastungserfahrungen, sondern stärkt auch die Resilienz der Kinder im Umgang mit Belastungen. Die positive Wirkung kann sich dabei auf unterschiedliche Weise entfalten, z. B. über ein Gefühl der emotionalen Sicherheit in der Bindungsbeziehung zu den Eltern, bessere Fähigkeiten in der Emotions- und Stressregulation, ein positiveres Selbstkonzept und gesteigerte Problemlösefähigkeiten der Kinder.

Die vorliegenden Befunde weisen folglich auf eine zentrale Rolle der Qualität des Elternverhaltens für die Entwicklung von Kindern mit frühen Belastungserfahrungen hin. Einerseits erfahren Kinder, die beispielsweise von Armut, Gewalt oder psychischen Erkrankungen in ihrer Familie betroffen sind, häufiger auch ein geringes Ausmaß an Feinfühligkeit, Förderung und positiver Unterstützung als andere Kinder, was das Risiko für negative Entwicklungen bei diesen Kindern zusätzlich erhöht. Andererseits kann positives Elternverhalten Kinder in einem bedeutsamen Ausmaß in ihrer Resilienz stärken und sie bei der Bewältigung von belastenden Erfahrungen unterstützen. Eine Förderung der elterlichen Kompetenzen erscheint dementsprechend als wichtiger Ansatzpunkt, um die Entwicklungschancen von Kindern mit ACEs zu verbessern.

4 Interventionen beim Vorliegen von ACEs

Gerichten kommt in Kinderschutzverfahren nach § 157 FamFG bzw. § 1666 BGB die Aufgabe zu, mit den Eltern und, soweit möglich, auch mit dem Kind zu erörtern, wie einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann. Maßnahmen können sich dabei direkt an ein Kind richten mit dem Ziel, Erlebens- und Verhaltensprobleme oder Entwicklungs- und Förderdefizite zu beheben (z. B. Logopädie, Training sozialer Kompetenzen, psychotherapeutische Angebote). Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil im Kind Schädigungsprozesse weiterlaufen können, auch wenn es nicht weiter zu Gefährdung kommt (z. B. wenn Verhaltensauffälligkeiten eine Eigendynamik entwickeln).

Die wichtigsten Strategien stellen allerdings Interventionen bei den Eltern dar, um (erneuten) Gefährdungsmomenten vorzubeugen. Ansatzpunkte für Interventionen sind dabei zum einen die Reduktion von elterlichen Belastungen, die sich auf die Erziehungskompetenzen der Eltern auswirken. Beispielsweise können die Einleitung einer Behandlung wegen einer psychischen oder Suchterkrankung, Unterstützung im Umgang mit finanziellen Problemlagen oder aber der Schutz vor Partnerschaftsgewalt notwendige Schritte sein. Zum anderen ist es aufgrund der zentralen Rolle von Fürsorge in den meisten Gefährdungsfällen sinnvoll, auch direkt die Qualität des Elternverhaltens zu fördern, wobei hier eine Vermittlung besonderer Kompetenzen im Umgang mit bereits entstanden Bindungs-, Verhaltens- oder Entwicklungsauffälligkeiten wichtig sein kann.

In Deutschland erhalten belastete Familien meist eher unspezifische Unterstützungsangebote (z. B. Erziehungsberatung, sozialpädagogische Familienhilfe), wobei Beratungsziele, Vorgehensweisen, Beratungselemente, Dauer und Intensität der Hilfen stark variieren. Bislang fehlt es an wissenschaftlichen Befunden dazu, inwieweit und unter welchen Bedingungen Eltern-Kind-Beziehungen hierdurch tatsächlich gestärkt, Entwicklungsrisiken bei den Kindern reduziert und v. a. (erneute) Gefährdungen von Kindern durch entsprechende Maßnahmen verhindert werden können. Standardisierte und in ihrer Wirksamkeit überprüfte Programme kommen in Deutschland bislang noch selten zum Einsatz.

Gerade bei Familien mit jungen Kindern liegt der Fokus wissenschaftlich überprüfter Programme v. a. auf der Förderung der Feinfühligkeit der Eltern mit dem Ziel eines sicheren Bindungsaufbaus. Beispiele sind die Entwicklungspsychologische Beratung (Ziegenhain 2006), STEEP (Suess et al. 2016b) oder das ABC-Programm (Dozier & Bernard 2019). Die Wirksamkeit dieser Programme wurde an Stichproben von hochbelasteten Familien untersucht, wobei positive – wenn auch teilweise nur kurzfristige – Effekte der Trainings auf die Feinfühligkeit und die Bindungsentwicklung der Kinder festgestellt werden konnten (z. B. Suess et al. 2016a; Zwönitzer et al. 2015; Dozier & Bernard 2017). Für das ABC-Programm konnten zudem auch positive Effekte auf die Stressregulationsfähigkeiten der Kinder auf physiologischer Ebene festgestellt werden (Bernard et al. 2015a). Der Einsatz entsprechender bindungsorientierter Programme, die zumindest im Zuständigkeitsbereich mancher Familiengerichte vorhanden sind, erscheint somit bei belasteten Familien hilfreich, indem über die Förderung der positiven Eltern-Kind-Beziehungen und der Stressbewältigungsmechanismen der Kinder die Widerstandsfähigkeit von Kindern gestärkt wird, sodass sich ACEs weniger auf ihre Entwicklung auswirken (vgl. Marie-Mitchell & Kostolansky 2019).

5 Fazit

Belastende Erfahrungen in der Kindheit können über verschiedene und komplexe Vermittlungswege nachhaltige Folgen für die Entwicklung von Kindern bis ins Erwachsenenalter haben, wobei insbesondere die Kumulation von Risiken sowie die Konfrontation mit Belastungen über einen längeren Zeitraum mit vermehrten Schädigungen verbunden ist. Da Belastungsfaktoren sich oft gegenseitig bedingen, ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass Kinder in Kinderschutzverfahren von multiplen Belastungen in ihren Familien betroffen sind. Um diese Kinder in belasteten Familiensystemen erfolgreich zu schützen, ist es wichtig, an den richtigen Stellen anzusetzen. Eine wichtige Strategie stellen Maßnahmen zur Unterstützung der elterlichen Feinfühligkeit und Erziehungskompetenzen dar, wodurch die Folgen von ACEs auf die Kinder abgemildert und ihre Resilienz gestärkt werden kann. Die Wirkung dieser Maßnahmen hat allerdings auch ihre Grenzen, sodass es in hochbelasteten Familien für einen erfolgreichen Kinderschutz ebenso notwendig ist, an den Risikobedingungen (z. B. psychische Erkrankung, häusliche Gewalt, finanzielle Notlagen) selbst anzusetzen und dort geeignete Hilfen zu vermitteln, wofür es in der Regel eines gut vernetzten Helfersystems bedarf.