Kinderschutzmaßnahmen und Kinderschutzverfahren haben das Ziel, Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung zu beenden, somit also deren negative Auswirkungen zu reduzieren, Kinder und Jugendliche in sicheren, förderlichen Umgebungen aufwachsen zu lassen und dabei das Wohl und die positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund zu stellen. Um diese Ziele erreichen zu können, ist einerseits das Wissen um die potenziellen negativen Auswirkungen von Kindesmisshandlung essenziell (s. a. Wie verstehen Kinder Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch [➔ Kap. 18]), andererseits jedoch auch das Wissen um Faktoren, die eine positive und gelingende Entwicklung befördern und dazu beitragen können, Kindern trotz belastender Erfahrungen Teilhabe zu ermöglichen.

Der folgende Text beschreibt zunächst die Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sowie das Konzept und die Bedeutung der Entwicklungsaufgaben. Die Begriffe der Teilhabe sowie der Resilienz werden erläutert und in den Kontext von Kindesmisshandlung, -missbrauch und Vernachlässigung gestellt. Abschließend wird empirisches Wissen über Entwicklungsverläufe nach Misshandlung mit und ohne Intervention überblicksartig dargestellt.

1 Grundbedürfnisse von Kindern

Bei der Definition und Auslegung des Kindeswohl-Begriffs (s. a. Kindesschutz im BGB, FamFG und SGB VIII [➔ Kap. 1]) spielen die Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eine basale Rolle. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist die Grundvoraussetzung für eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Schmidtchen (1989) stellt, angelehnt an die Bedürfnispyramide nach Maslow und unterfüttert durch entwicklungspsychologische Erkenntnisse, die kindlichen Grundbedürfnisse wie folgt dar (s. Abb. 11.1):

Abb. 11.1
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Grundbedürfnisse von Kindern nach Schmidtchen (1989, S. 106)

Die Darstellung der aufeinander aufbauenden Bedürfnisse in Form einer Pyramide symbolisiert, dass erst dann, wenn die Bedürfnisse einer Stufe zu einem Mindestmaß befriedigt sind, sich auf der darüber liegenden Stufe Interessen entwickeln und die Befriedigung dieser Bedürfnisse angestrebt wird.

Physiologische Bedürfnisse

Bedürfnis nach gesunder und ausreichender Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Schlaf sowie einem entwicklungsangemessenen Schlaf-Wach-Rhythmus, Kleidung, Wohnraum, Körperpflege, Bewegung, etc.

Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit

Bedürfnis nach Schutz vor Gefahren an Leib und Seele – darunter auch Gewalt –, Schutz vor Krankheiten, vor materiellen Unsicherheiten, etc.

Bedürfnis nach einfühlendem Verständnis und sozialer Bindung

Bedürfnis nach einer sicheren Bindung zu Bezugspersonen, nach Empathie und dialogischer Kommunikation, Geborgenheit, sicherer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (Familie, Gleichaltrigengruppe, …), etc.

Bedürfnis nach seelischer und körperlicher Wertschätzung

Bedürfnis nach bedingungsloser Anerkennung als wertvoller Mensch, nach Anerkennung als eigenständige und einzigartige Person, nach körperlicher und seelischer Zärtlichkeit, Lob und positivem Zuspruch, etc.

Bedürfnis nach Anregung, Spiel und Leistung

Bedürfnis nach Förderung des natürlichen Neugierverhaltens, nach entwicklungsangemessenen Anregungen und Anforderungen, nach Unterstützung beim Erleben und Erforschen der Umwelt, etc.

Bedürfnis nach Selbstverwirklichung

Bedürfnis nach Entwicklung eines Selbstkonzepts, nach eigenständiger Durchsetzung von Bedürfnissen und Zielen, Bewusstseinsentwicklung, Unterstützung bei der Entwicklung und Ausbildung von Kreativität, nach Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensängsten und -krisen, etc.

Ziegenhain und Fegert (2014) hatten die Basisbedürfnisse für eine gelingende Entwicklung von Kindern den Artikeln der UN-Kinderrechtskonvention zugeordnet, um deutlich zu machen, dass es sich hier um weltweit anerkannte Rechte und zentrale Prinzipien handelt (Tab. 11.1).

Tab.  11.1 Basisbedürfnisse für gelingende Entwicklung von Kindern und UN-Kinderrechtskonvention

2 Entwicklungsaufgaben

Entwicklungsaufgaben sind Herausforderungen, die in einem bestimmten Lebensalter an eine Person gestellt werden (vgl. Havighurst 1972), wie etwa die temporäre Trennung von den Eltern für Kinder im Kindergartenalter oder der Aufbau von interpersoneller Bindung. Es kann zwischen biologisch determinierten Aufgaben, wie etwa dem Laufenlernen, sowie eher soziokulturell verursachten Aufgaben, wie beispielsweise der Übernahme der Geschlechterrolle, unterschieden werden.

Um die Entwicklungsaufgaben zu meistern, mit denen Kinder in verschiedenen Lebens- und Entwicklungsstadien konfrontiert werden, sind Kompetenzen und Anpassungsleistungen nötig. Eine förderliche Umgebung, in der die kindlichen Grundbedürfnisse befriedigt und genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, ist hierfür essenziell. Das erfolgreiche Bewältigen von Entwicklungsaufgaben geht mit einem Zugewinn an Kompetenzen und Fertigkeiten einher und erleichtert wiederum die Anpassung an weitere, kommende Anforderungen (Havighurst 1972).

Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben ist die Grundlage für eine positive Entwicklung sowie die psychische Gesundheit von Kindern.

Insofern sind so genannte „Transitionsphasen“, also Phasen des Übergangs, wie die ersten Wochen in der Kinderbetreuung, der Beginn des Schulbesuchs, der Wechsel in die weiterführende Schule und die Phase der ‚Emerging Adulthood‘, sprich des häufig nicht ganz unproblematischen Überganges vom Jugendalter ins junge Erwachsenenalter, besonders zu beachten. Hier müssen teilweise bisher stabile Settings noch einmal hinterfragt werden, und es entsteht evtl. neuer Unterstützungsbedarf oder ein Anpassungsbedarf. Gleichwohl ist jeder dieser Übergänge prinzipiell mit einem Zuwachs von Autonomie beim Kind verbunden und setzt deshalb eine stärkere Selbstlenkungsfähigkeit und Selbstbestimmungsspielräume voraus. Dies ist auch gerade für Kinder aus Trennungsfamilien etc. wichtig zu berücksichtigen, da festgelegte Besuchsarrangements im Grundschulalter zum Beispiel gut funktioniert haben, im späteren Jugendlichenalter als ein absolut einengendes Korsett erlebt werden können, wo die meisten anderen Jugendlichen ihre Freizeit weder mit dem einen noch dem anderen Elternteil oder beiden Eltern zubringen. Begleiteter Umgang, der häufig zur Aufrechterhaltung des Umgangs in evtl. für das Kind sonst gefährlichen Situationen angeordnet wird, kann zur Entspannung beitragen. Wenn er längerfristig notwendig ist, kann dieses Setting des begleiteten Umgangs selbst zu einer deutlichen Belastung für das Kind werden.

Scheitern Kinder an Entwicklungsaufgaben, verursacht dies Komplikationen. Es kommt zur Verzögerung weiterer Entwicklungsschritte sowie gegebenenfalls Fehlanpassungen im Entwicklungsverlauf, die potenziell zu psychischen Störungen führen. Misshandlungs- Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen können, direkt oder indirekt über ihre Folgeerscheinungen, Kinder am Bewältigen von Entwicklungsaufgaben hindern und somit die positive Entwicklung und einen normalen Entwicklungsverlauf stören. Im Fokus steht im Kontext von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung vor allen Dingen die sozioemotionale Entwicklung, welche bei misshandelten, missbrauchten und vernachlässigten Kindern erheblich beeinträchtigt sein kann, was sich gegebenenfalls in einer verminderten Bindungsfähigkeit oder Interaktionsschwierigkeiten zeigt.

Es ist zu berücksichtigen, dass es Entwicklungsaufgaben gibt, die zeitkritisch sind. Das bedeutet, dass sie in einem bestimmten Zeitfenster vollständig gemeistert werden müssen und nicht nachgeholt werden können, wenn sich das Zeitfenster geschlossen hat. Dies ist vor allem bei Entwicklungsaufgaben der Fall, die unter anderem von biologischen Faktoren bedingt werden, wie etwa bei der Entwicklung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Andere Entwicklungsaufgaben sind zwar etwas weniger zeitkritisch und können unter Umständen auch verzögert abgeschlossen oder (zumindest teilweise) nachgeholt werden (was dann z. B. im Rahmen einer Psychotherapie oder unterstützt durch andere Hilfsmaßnahmen erfolgen kann), dennoch ergeben sich auch hier, wie bereits erwähnt, erhebliche Schwierigkeiten und Komplikationen durch eine Verzögerung, und je früher interveniert wird, um ein Bearbeiten der Entwicklungsaufgabe und gegebenenfalls ein Nachholen zu ermöglichen, desto besser die Prognose für die weitere Entwicklung des Kindes.

Bei der Planung von Schutzmaßnahmen, Hilfen und Interventionen für betroffene Kinder ist es daher essenziell, den aktuellen Entwicklungsstand zu erheben und zu berücksichtigen, um die Kinder dabei zu unterstützen, noch nicht bewältigte und weitere anstehende Entwicklungsaufgaben zu meistern sowie bereits entstandene Komplikationen zu lindern. Das kindliche Zeitempfinden und kritische Zeitfenster für Entwicklungsaufgaben dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden.

3 Teilhabe und Resilienz nach Kindesmisshandlung

Das Konzept der gesellschaftlichen Teilhabe umfasst eine aktive und selbstbestimmte Gestaltung des eigenen gesellschaftlichen Lebens. Für Kinder und Jugendliche stellen Familie, die Gruppe der Gleichaltrigen und soziales Umfeld, aber auch Schule bzw. Ausbildung, die zentralen Lebensbereiche dar. Kindern und Jugendlichen ist natürlich, abhängig von Alter und Entwicklungsstand, eine vollständige Selbstbestimmung noch nicht möglich. Die Vorbereitung darauf sowie das schrittweise Ermöglichen eines altersangemessenen und zunehmend autonomen Lebensstils sind Teil des Erziehungsauftrags. Autonomieentwicklung stellt eine Entwicklungsaufgabe (siehe oben) dar, welche sich schrittweise über die gesamte Kindheit und Jugend zieht.

Teilhabebeeinträchtigungen können alle oben genannten Lebensbereiche betreffen, sich auf einzelne, mehrere oder alle Bereiche erstrecken. Dabei können die Beeinträchtigungen struktureller Natur sein, also beispielsweise durch Armut begründet, oder auch individuelle Ursachen haben, wie eine körperliche oder psychische Erkrankung. Kindesmisshandlung kann direkt zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen, indem beispielsweise durch Vernachlässigung oder auch psychische Misshandlung die Teilhabe an Bildung zu wenig unterstützt, erschwert oder gar verwehrt wird. Weiterhin können indirekt durch die potenziellen psychischen und/oder physischen Folgeerscheinungen weitere Teilhabebeeinträchtigungen entstehen. Zudem ist zu bedenken, dass Kindesmisshandlung selten isoliert auftritt, sondern häufig mit weiteren belastenden Kindheitserlebnissen oder psychosozialen Schwierigkeiten vergesellschaftet ist. Das Ziel, die Teilhabe betroffener Kinder und Jugendlicher zu erhalten und zu erweitern, steht also einem komplexen Zusammenspiel von Faktoren gegenüber, welche die Beeinträchtigungen bedingen können. Dennoch ist es in jedem Fall lohnenswert, möglich und essenziell, die Teilhabe der betroffenen Kinder und Jugendlichen durch verschiedenste Maßnahmen zu verbessern. Gerade bei sogenannten „Skandalfällen“ sexuellen Missbrauchs wird in den Medien häufig vermittelt, das Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen sei durch den Missbrauch zerstört und somit vorbei. Die Metapher des sexuellen Missbrauchs als „Seelenmord“ befördert diese Vorstellung. Dem ist jedoch sehr deutlich zu widersprechen. Es gibt beispielsweise gut untersuchte und wirksame Psychotherapien, mithilfe derer man auch schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche bei der Verarbeitung des Erlebten unterstützen und mit ihnen daran arbeiten kann, im Alltag gut zurechtzukommen (Morina et al. 2016).

Betroffene Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Teilhabe und somit auf Maßnahmen, die ihre Bedürfnisse berücksichtigen und darauf abzielen, ihre Teilhabe zu erhalten und zu erweitern.

Ein Konstrukt, welches hierbei eine wichtige Rolle spielt, ist das der Resilienz. Dies meint eine Widerstandsfähigkeit, die es Menschen ermöglicht, sich an schwierige, dysfunktionale, belastende oder auch einfach wenig förderliche Ereignisse und Situationen anzupassen, das Funktionsniveau trotz der Belastung in einzelnen oder auch allen Lebensbereichen aufrechtzuerhalten und somit weiter Teilhabe zu erleben. Forschungsergebnisse zeigen, dass ein substanzieller Anteil von Kindern und Jugendlichen, zwischen 20 und 50 % (Ayer et al. 2011; Domhardt et al. 2015; DuMont et al. 2007; McGloin & Widom 2001), nach Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung resilient ist, also weitgehend keine klinisch relevanten Folgeerscheinungen entwickelt und eine gute Anpassung zeigt. Interessant sind Ergebnisse, die Hinweise darauf geben, welche protektiven Faktoren die Resilienz beeinflussen oder verstärken.

Protektive Faktoren sind Merkmale von Personen, Ereignissen, Situationen oder Umständen, welche die negativen Auswirkungen vorhandener Risiken abschwächen oder aufheben. Folgeerscheinungen, wie bestimmte Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten, sowie ungünstige Verläufe werden durch diese Schutzfaktoren weniger wahrscheinlich (Masten & Reed 2002). Ziel der Forschung zu protektiven Faktoren und Resilienz ist es, Faktoren zu erkennen, die bei betroffenen Kindern und Jugendlichen nach Erfahrungen von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung dennoch einen trotzdem positiven Entwicklungspfad fördern.

Für die Planung von Maßnahmen, Hilfen und Interventionen sind diejenigen Faktoren besonders wichtig, auf die tatsächlich Einfluss genommen werden kann, z. B. mithilfe von psychosozialen Interventionen oder Therapien.

Der bislang am besten belegte Schutzfaktor nach belastenden Ereignissen ist die Unterstützung betroffener Kinder durch das soziale Umfeld (Afifi & MacMillan 2011; Domhardt et al. 2015). Das Fördern und Verstärken positiver Beziehungen oder das Anbieten alternativer Beziehungsangebote sollte deshalb ein Schwerpunkt von Hilfen sein. Auch auf Ebene der Eltern konnte gezeigt werden, dass soziale Unterstützung, sei es in der Partnerschaft, innerhalb der Familie und/oder im sozialen Umfeld, die Risiken dafür, die eigenen Kinder zu misshandeln oder zu vernachlässigen, absenkt. Mögliche Gründe für die Reduktion sind, dass durch die soziale Unterstützung Stress vermindert, Erziehungskompetenzen vermittelt und positives Elternverhalten gestärkt werden können (Osofsky & Thompson 2000; Maguire-Jack & Negash 2016).

Doch Resilienz wird durch verschiedene protektive Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen beeinflusst bzw. gefördert (vgl. Witt et al. 2013). Auf der Ebene des betroffenen Kindes sind hier beispielsweise ein positiver Selbstwert sowie funktionierende Problemlösefertigkeiten zu nennen. Als weiterer protektiver Faktor auf der Ebene der Familie stellte sich ein hoher sozioökonomischer Status heraus. Auf der Ebene der Gesellschaft scheinen etwa professionelle Unterstützung der Betroffenen sowie allgemeingültige Normen, wie etwa die gesellschaftliche Beurteilung von Kindesmissbrauch als etwas Negatives und Verbotenes, für das Täter*innen bestraft werden, Einfluss auf die Resilienz betroffener Kinder zu haben.

4 Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen nach belastenden Erfahrungen

Die empirischen Wissenschaften beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema der Auswirkungen belastender Erfahrungen auf die weitere Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Informationsquellen stellen hierbei unter anderem retrospektive Studien dar, in denen Erwachsene auf Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend sowie ihre psychische Gesundheit im Verlauf zurückblicken, aber auch ihre aktuelle Situation erhoben wird. Eine weitere, aufwändigere aber methodisch wertvollere Möglichkeit sind prospektive Längsschnittstudien, in denen Kinder und Jugendliche über ihre Kindheit und Jugend hinweg begleitet und immer wieder Daten zu ihren Erfahrungen, ihrem Befinden, Präventionsmaßnahmen und Interventionen etc. erhoben werden. Ein Beispiel für eine solche Studie ist die Mannheimer Risikokinderstudie, in der eine Geburtskohorte von knapp 400 Kindern mit biologischen und psychosozialen Risiken über ihre gesamte Kindheit und Jugend hinweg bis ins junge Erwachsenenalter hinein hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit begleitet wurde (Esser & Schmidt 2017). Zudem liefern Interventionsstudien, in denen die Wirksamkeit von psychotherapeutischen, pädagogischen oder psychosozialen Maßnahmen nach belastenden Erfahrungen evaluiert wird, Informationen über den Entwicklungsverlauf betroffener Kinder und Jugendlicher.

Insgesamt zeigt sich über viele Untersuchungen hinweg, dass Betroffene von Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung eine vulnerable Gruppe darstellen. Retrospektive Studien zeigen teils hochbelastete Personengruppen im mittleren bis höheren Erwachsenenalter mit multiplen psychischen, körperlichen und psychosozialen Folgeerscheinungen, die berichten, im Verlauf ihres Lebens wenig Unterstützung oder professionelle Hilfe gefunden zu haben. Beispiele hierfür sind inzwischen erwachsene Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs, die sich nach dem sogenannten Missbrauchsskandal 2010 an die telefonische Anlaufstelle der ersten Unabhängigen Beauftragten Fr. Dr. Bergmann wandten und dort von psychischen Störungen, psychosozialen Schwierigkeiten und einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität in Folge des erlebten Missbrauchs berichteten (vgl. Fegert et al. 2013). Eine andere Studie mit inzwischen erwachsenen Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs in Irland ergab eine Prävalenz für psychische Störungen von über 80 % in einer Stichprobe von etwa knapp 150 Personen, was deutlich über der Prävalenz psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung liegt (Carr et al. 2010). Dieser Dokumentation der negativen Auswirkungen auf die Entwicklung und die dadurch stark eingeschränkte Teilhabe bei Personen, die großteils wenig Unterstützung oder professionelle Hilfe erhalten haben, stehen zahlreiche Befunde aus den ca. letzten beiden Jahrzehnten gegenüber, die zeigen, dass traumatisierte Kinder und Jugendliche nach Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung sehr gut von spezifischen Traumatherapien profitieren können (z. B. Morina et al. 2016), die negativen Auswirkungen gemildert und die Teilhabe deutlich verbessert werden. Wichtig ist hierbei, auf evidenzbasierte Verfahren zurückzugreifen, die spezifisch an die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen angepasst sind, etwa wie die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie nach Cohen et al. (2009), welche einen sehr engen Einbezug einer nicht-misshandelnden erwachsenen Bezugsperson über den gesamten Verlauf der Psychotherapie hinweg sowie die Aktivierung von Ressourcen vorsieht. Weiterhin ist zu beachten, dass hierbei der Primat der Sicherheit gilt: Sicherheit vor Psychotherapie. Vordringliches Ziel ist also immer, die Kinder zu schützen, Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung zu beenden, den Kindern ein sicheres Lebensumfeld zu bieten. Erst dann ist eine psychotherapeutische Bearbeitung der erlebten Belastungen möglich und auch inhaltlich sinnvoll.

5 Fazit

Eine gesunde, positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen kann in einer sicheren und förderlichen Umgebung gelingen, in der die kindlichen Grundbedürfnisse befriedigt und genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Kinder und Jugendliche erlangen dann Schritt für Schritt Kompetenzen und Fertigkeiten, meistern anstehende Entwicklungsaufgaben und entwickeln sich zu eigenständigen und psychisch gesunden Persönlichkeiten, die am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Trotz Schwierigkeiten, Komplikationen und Belastungen können aufgrund von Resilienz und den resilienzfördernden protektiven Faktoren, wie etwa der sozialen Unterstützung, dennoch eine positive Entwicklung und Teilhabe erfolgen. Starke Belastungen, wie chronische Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung sie darstellen, können jedoch in vielen Fällen die Resilienz der betroffenen Kinder und Jugendlichen übersteigen, oder betreffen vielmehr sehr häufig Kinder und Jugendliche, die hinsichtlich ihrer Grundvoraussetzungen und ihrer Umgebung bereits weniger protektive Faktoren als vielmehr multiple Risikofaktoren aufweisen. Bei diesen Kindern und Jugendlichen sind negative Auswirkungen und Teilhabebeeinträchtigungen dann sehr wahrscheinlich. Doch alle betroffenen Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf Teilhabe, und kein Kind darf aufgegeben werden oder als „zerstört“ und „verloren“ angesehen werden. Im Rahmen von Kinderschutzverfahren sowie sich anschließenden Hilfeplanungen müssen unter Berücksichtigung der individuellen Situation des jeweiligen Kindes zunächst der Schutz sichergestellt und dann anschließende angemessene und passgenaue Interventionen sowie Unterstützungsmaßnahmen (z. B. psychotherapeutisch, pädagogisch oder psychosozial) zur Verfügung gestellt werden, die eine positive Entwicklung und Teilhabe trotz der belastenden Erfahrungen ermöglichen.