1 Einleitung

Gute Kinderschutzverfahren zeichnen sich dadurch aus, dass die Kinder und Jugendlichen, um die es hierbei geht, aktiv beteiligt werden, eine Stimme bekommen und angehört werden. Für eine kindgerechte Gestaltung dieser Beteiligung sowie die Einordnung der Äußerungen der Kinder und Jugendlichen ist eine grundlegende Kenntnis der Entwicklung bestimmter kognitiver und emotionaler Bereiche sowie Fähigkeiten, welche Einfluss auf die Gesprächsfähigkeit von Kindern haben, essenziell.

Im vorliegenden Text werden u. a. orientiert an Niehaus, Volbert und Fegert (2017) entwicklungspsychologische Grundlagen dargestellt, in welchem Entwicklungsalter Kinder welche Kompetenzen aufweisen, und Empfehlungen für die Gestaltung von Gesprächen mit Kindern abgeleitet. Für eine detailliertere Darstellung des Themas der kindgerechten Befragung in Gerichtsverfahren sei auf Niehaus, Volbert und Fegert (2017) verwiesen.

2 Entwicklungspsychologische Grundlagen

Die Entwicklung eines Kindes ist ein langer, komplexer Prozess, der bereits pränatal beginnt und sowohl durch genetische als auch durch Umweltfaktoren beeinflusst wird. Wichtig bei der Einschätzung der Fähigkeiten von Kindern ist die Berücksichtigung des individuellen Entwicklungsstands, also des Entwicklungsalters anstatt des chronologischen Alters. Dies hat den Grund, dass der Entwicklungsverlauf per se mit sehr großen interindividuellen Varianzen einhergeht und zudem Kinder, die von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung betroffen sind, häufiger Entwicklungsverzögerungen oder -defizite aufweisen (z. B. McDonald et al. 2013; Sylvestre et al. 2016).

Im Folgenden werden diejenigen Bereiche und entsprechenden Entwicklungsstufen überblicksartig dargestellt, welche die Gesprächsfähigkeiten von Kindern zu Themen und Fragen, die im Kontext eines Kinderschutzverfahrens auftreten, maßgeblich beeinflussen.

2.1 Sprechen und Verstehen

Bei der Betrachtung der Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten ist das Verstehen von Sprache sowie die eigene Produktion von Sprache zu unterscheiden. Für beide Prozesse spielen Wortschatz und Kenntnis der Grammatik, für letztere zusätzlich Artikulation, eine wichtige Rolle. Abb. 10.1 gibt eine grobe Übersicht über relevante Entwicklungsschritte hinsichtlich des Sprechens.

Abb. 10.1
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Übersicht über die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten

Nachdem Kinder mit etwa zwölf Monaten das erste Wort sprechen, folgen ab ca. anderthalb Jahren die sogenannte „Wortschatzexplosion“ mit einer deutlichen und raschen Zunahme des Vokabulars sowie ab zwei Jahren erste einfache Satzkonstruktionen und die sogenannte „Grammatikexplosion“. Drei- bis vierjährige Kinder haben die Grundlagen der Grammatik und des Vokabulars ihrer Muttersprache soweit verinnerlicht, dass sie Sätze mit Nebensätzen bilden können. Schwierigere Satzkonstruktionen sind in diesem Alter teils noch fehlerhaft. Farbwörter und Pronomen werden verwendet und die Kinder können bis zehn zählen. Die Artikulation wird bis auf gegebenenfalls Zischlaute oder schwierige Konsonantenverbindungen (z. B. ‚dr‘ oder ‚kl‘) immer klarer und verständlicher. Mit etwa vier bis sechs Jahren werden alle Laute korrekt gebildet und die Grammatik weitgehend beherrscht. Eigene Gedankengänge können auch mittels der Verwendung abstrakterer Begriffe sowie verschiedener Zeiten und der Pluralform ausgedrückt werden. Geschichten werden hinsichtlich der Aspekte ‚Wer hat wo was getan?‘ nacherzählt. Die zeitliche Einordnung oder Häufigkeit von Handlungen sowie die Vorgehensweise oder Motive der Handelnden werden in diesem Alter noch kaum oder wenig genau beschrieben. Fragen nach Motiven der handelnden Personen sind somit bei Kindern in diesem Alter unsinnig und regen eher zu Konfabulationen an, da die Fähigkeit solche Perspektiven einzunehmen und zu verstehen, noch nicht ausgebildet ist (siehe unten Abschn. 10.2.5 Perspektiven Wechseln). Etwa bis zum siebten Lebensjahr wird die Häufigkeit von Ereignissen in die Kategorien nie, ein- bis dreimal oder häufiger eingeordnet. Ältere Kinder können eine differenziertere Häufigkeitsschätzung vornehmen.

Auch wenn das Verstehen von Sprache dem Sprechen vorausgeht, sollte dennoch im Gespräch mit Kindern darauf geachtet werden, dass einfache, kurze Sätze gebildet werden und Fremdwörter sowie abstrakte Überbegriffe vermieden werden. Wortspiele oder abstrakte Metaphern verstehen Kinder erst ab etwa zehn Jahren.

Zu berücksichtigen ist, dass gerade sprachliche Fähigkeiten stark von einer fördernden Umgebung abhängen, bei Kindern, die wenig Förderung erfahren haben, gegebenenfalls vernachlässigt oder misshandelt wurden, also eher davon auszugehen ist, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten hinter denen ihrer Altersgruppe liegen. Um einen Eindruck über das Sprachvermögen, sprachliche Auffälligkeiten, Dialekt etc. zu gewinnen, bietet es sich an, sich z. B. bei kleineren Kindern durch das gemeinsame Anschauen eines Bilderbuchs oder später durch ein Gespräch über das bisher im Tagesverlauf Erlebte einen Überblick zu verschaffen.

2.2 Gefühle Wahrnehmen und Ausdrücken

Emotionen beeinflussen Wahrnehmung, Erleben und Verhalten von Geburt an. Betrachtet man die emotionale Entwicklung von Kindern, ist es sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen dem Ausdruck und der Wahrnehmung der eigenen Emotionen, dem Verständnis von Emotionen bei sich selbst und anderen Personen sowie der Fähigkeit zur Emotionsregulation zu unterscheiden (Abb. 10.2).

Abb. 10.2
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Übersicht über die emotionale Entwicklung in der Kindheit

Im ersten Lebensjahr empfinden Säuglinge und Babys grundlegende Emotionen (Freude, Angst, Trauer, Ärger) und drücken diese mimisch sowie auf Verhaltensebene aus. Diese grundlegenden Emotionen können sie auch bereits bei anderen Personen nachempfinden und nachahmen. Im Laufe des zweiten Lebensjahres kommt mit der Entwicklung des Selbstkonzepts die Empfindung komplexerer, auf das Selbst bezogene Emotionen, wie Stolz, Neid, Scham und Schuld, hinzu. Das Wissen der Kinder über die Ursachen der verschiedenen Emotionen vergrößert sich, sprachliche Gefühlsäußerungen beginnen sich zu entwickeln und auch das Repertoire an Emotionsregulationsstrategien (z. B. Kuscheltier an sich drücken, Daumen lutschen) wächst.

Bereits mit drei Jahren können Kinder ihre Mimik willentlich kontrollieren und ihre eigentlichen Gefühle vor anderen verbergen oder auch vortäuschen, andere Gefühle als die tatsächlichen zu haben (Petermann & Wiedebusch 2003). Mit vier bis fünf Jahren verfeinert sich der sprachliche Emotionsausdruck, die Kinder beziehen sich häufiger auf eigene Emotionen, aber auch auf die der anderen. Sie erkennen, dass es regulierend wirken kann, beispielsweise mit der Mutter oder anderen Bezugspersonen über Emotionen zu sprechen, sich bei Ärger und Frust zu bewegen etc. Mit sechs Jahren ist der Gefühlsausdruck facettenreich und kann kontrolliert werden. Die Kinder beginnen, Schamgefühl, bezogen auf sexuelle Handlungen und Nacktheit, zu entwickeln. Vor dem sechsten Lebensjahr ist dies sehr selten der Fall.

2.3 Erinnern und Wiedergeben

Beschäftigt man sich mit der Funktionsweise des Gedächtnisses und der Wiedergabe von Erinnerungen, sind drei verschiedene Prozesse zu unterscheiden: Zunächst die Verarbeitung des Erlebten, die bestimmt, in welcher Art und Weise, mit welcher Detailgenauigkeit Ereignisse abgespeichert werden. Der zweite Prozess ist die Speicherung im Kurzzeitgedächtnis und gegebenenfalls der Übergang ins Langzeitgedächtnis. Der finale Vorgang umfasst den Abruf der gespeicherten Erinnerungen. Beeinflusst werden alle drei Prozesse unter anderem von der Gedächtnisspanne, der Aufmerksamkeitsleistung, der Menge des Vorwissens, in welches das Erlebte eingeordnet werden kann, sowie vom Ausmaß der Strategienutzung (z. B. Sortieren und Clustern von Informationen). Da all diese genannten Faktoren im Laufe des Kindes- und Jugendalters zunehmen bzw. sich verbessern, steigert sich auch die Gedächtnisleistung von Kindern mit zunehmendem Alter (Abb. 10.3).

Abb. 10.3
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Übersicht über die Entwicklung des Gedächtnisses und des Abrufs von Erinnerungen

Kinder unter zwei Jahren erzählen von gegenwärtigen Ereignissen. Subjektiv sehr bedeutsame Erlebnisse können bereits für eine kurze Zeit in Erinnerung behalten werden, jedoch nicht ins Langzeitgedächtnis überführt werden. Dies ist im Allgemeinen frühestens ab dem vollendeten zweiten Lebensjahr möglich. Im Alter zwischen zwei und drei Jahren beginnt sich langsam die Fähigkeit zu entwickeln, zu spezifischen Erlebnissen im Nachhinein Angaben zu machen. Ohne direkte Hinweisreize und Fragen wird jedoch noch kaum berichtet, was sich grundlegend erst ab dem Alter von etwa vier Jahren ändert. Kinder mit drei bis dreieinhalb Jahren können Erinnerungen an vergangene Ereignisse bereits relativ zusammenhängend darstellen, die Berichte sind jedoch häufig noch unvollständig (Volbert 2014). Zwischen drei und fünf Jahren können bedeutsame Erlebnisse für mehrere Wochen oder auch Monate erinnert werden, ab ca. sechs Jahren wird Bedeutsames überwiegend ins Langzeitgedächtnis überführt und kann langfristig behalten sowie wiedergegeben werden (Volbert 2014). Eine korrekte chronologische Einordnung von Ereignissen gelingt teilweise und mit Hilfe ab dem neunten Lebensjahr, eine deutliche Zunahme an Sicherheit bezüglich zeitlicher Abfolgen findet mit etwa zehn Jahren statt (Orbach & Lamb 2007). Junge Kinder verwechseln zeitliche Signalwörter wie gestern, heute oder morgen noch häufig, was zu Missverständnissen in Bezug auf ihre Aussagen und Schilderungen führen kann.

2.4 Fantasie und Wirklichkeit Unterscheiden

Für die Einordnung von Berichten von Kindern sowie für die Gestaltung von Gesprächen ist es notwendig, ihre Fähigkeit, Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden und zu berücksichtigen (Abb. 10.4).

Abb. 10.4
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Übersicht über die Entwicklung der Fähigkeit, Wirklichkeit und Fantasie zu unterscheiden

Kinder können bereits mit drei Jahren auf Nachfrage Fantasie-Objekte von realen Objekten unterscheiden. Jedoch besteht bis etwa zu einem Alter von sieben Jahren eine gewisse Unsicherheit, ob Fantasie und Realität sich vermischen oder ineinander umwandeln könnten.

Aus diesem Grund ist es wichtig, vor oder während eines Gesprächs im Rahmen eines Kinderschutzverfahrens das Kind nicht durch Erwähnen von Fantasiegestalten, hypothetischen Fragestellungen und Situationen (z. B. „Stell dir mal vor, wir könnten eine Zeitreise machen …“) etc. dazu anzuregen, auf die Ebene der Fantasie zu wechseln. Kinder könnten sich hierdurch sozusagen aufgefordert fühlen, Dinge auszuschmücken oder zu erfinden, wie sie es spielerisch ja häufig machen. Es ist hingegen sinnvoll, dem Kind am Anfang des Gesprächs deutlich zu sagen, dass es wichtig ist, dass es im Gespräch die Wahrheit sagt.

2.5 Perspektiven Wechseln und wissentlich Täuschen

Um jemanden wissentlich zu täuschen, indem Erlebnisse oder bestimmte Aspekte davon verschwiegen oder verleugnet bzw. Dinge hinzuerfunden werden, sind Fähigkeiten notwendig, die von der kognitiven Entwicklung abhängig sind. Hierzu gehören unter anderem die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, das Verständnis, dass nicht alle Menschen dasselbe Wissen haben, sich in andere hineinversetzen und ihre Annahmen antizipieren zu können, sowie die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und somit auch einigermaßen logisch zusammenhängende Ereignisse und Situationen zu erfinden (Abb. 10.5).

Abb. 10.5
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Übersicht über die Entwicklung der Fähigkeiten der Perspektivübernahme und der wissentlichen Täuschung

Mit frühestens drei bis vier Jahren beginnen Kinder eine sogenannte „Theory of Mind“ zu entwickeln, also ein Verständnis für verschiedene Bewusstseinsvorgänge, wie Gedanken, Meinungen, Erwartungen, Absichten, Ideen oder Gefühle bei sich und auch bei anderen. Sie beginnen dann auch, diese Vorgänge zu antizipieren, Einflüsse auf Bewusstseinsvorgänge zu verstehen und ihr eigenes Verhalten sowie das ihres Gegenübers dementsprechend einzuordnen. Damit einher geht auch die Erkenntnis, dass unterschiedliche Personen verschiedene, gegebenenfalls von der Realität abweichende subjektive Annahmen über dieselbe Sache haben können (vgl. Mitchell 1997). Dies ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass Kinder verstehen, dass sie bei einem Gesprächspartner absichtlich durch falsche Angaben eine falsche Annahme erzeugen können (Sodian 1991). Weiterhin können Kinder auf Basis dieses Entwicklungsschrittes dann mit ungefähr vier Jahren auch verstehen, was Geheimnisse sind. Erst mit ca. sieben oder acht Jahren sind Kinder in der Lage, Lügen plausibel klingen zu lassen bzw. weitere Teile ihrer Berichte so anzupassen, dass das mit dem verschwiegenen oder erfundenen Aspekt zusammenpasst.

Bei der Einordnung von Berichten jüngerer Kinder sollte also berücksichtigt werden, ob sie entsprechend ihrer Entwicklung überhaupt in der Lage sind, wissentlich und absichtlich zu täuschen. Weiterhin ist generell zu überlegen, was das Motiv eines Kindes sein könnte, zu täuschen. Grundsätzlich mögliche Motive dafür, dass Kinder lügen oder die Wahrheit erzählen, sind Strafen zu umgehen, ein Spiel oder Geheimnis aufrechtzuerhalten, ein Versprechen einzuhalten, persönliche Vorteile zu erlangen oder Beschämung zu verhindern (z. B. Ceci et al. 1990). Dabei ist zu beachten, dass der Einfluss der Motive kontextabhängig ist, es z. B. einen Einfluss hat, wer im Rahmen eines Spiels das Kind dazu auffordert, zu lügen. Ist dies eine nahestehende, vertraute Person, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind lügt höher, als wenn es sich um eine eher unbekannte Person handelt (Tate et al. 1992). Natürlich hängt die Wahrscheinlichkeit für das Verhalten des Kindes auch immer von der Stärke oder Valenz der Konsequenzen, also etwa der zu vermeidenden Strafe oder des zu erlangenden persönlichen Vorteils, ab. Lügen zu sexuellen Handlungen setzen ein Wissen über solche Handlungen voraus. Bei älteren Grundschülern und Schülern der Sekundarstufe sollte deshalb exploriert werden, ob sie Zugang zu pornografischen Videos hatten. Eine EU-weite Erhebung der Jahre 2013/2014 ergab, dass 28 % der 9- bis 16-Jährigen innerhalb des vorangegangenen Jahres mit sexuellen Inhalten (online und offline) konfrontiert worden war (Mascheroni & Cuman 2014). Das Betrachten solcher Filme ermöglicht aber noch nicht die erlebnisähnliche Schilderung von Gefühlsinhalten etc.

Am schwierigsten sind Falschaussagen zu erkennen, wenn Kinder, die zwar eine konkrete Missbrauchserfahrung hatten, jedoch eine andere Person als wahre/wahren Täter*in beschuldigen, z. B. einen neuen Partner der Mutter, mit dem Ziel, diesen zu „vertreiben“. Hier kann es dann zu intendierten Lügen mit detaillierten Aussagen kommen, die zahlreiche sogenannte Realkennzeichen von erlebnisbasierten Aussagen enthalten. Zu den Realkennzeichen gehören unter anderem die unstrukturierte Darstellung mit möglichen raum-zeitlichen Verknüpfungen und Sprüngen, während erfundene Geschichten weniger flexibel meist in einer narrativen Abfolge geschildert werden. Weiterhin wird als Realkennzeichen gewertet, wenn Gespräche wiedergegeben, Interaktionen sowie eigene psychische Vorgänge oder psychische Vorgänge weiterer beteiligter Personen geschildert werden können. Kinder, die Missbrauch erlebt haben und in ihrer Schilderung lediglich die missbrauchende Person „austauschen“, sind sehr viel besser in der Lage, ihre Falschaussagen plausibel und erlebnisbasiert erscheinen zu lassen als Kinder, die ein Ereignis komplett erfinden.

3 Suggestibilität

Suggestibilität meint das Ausmaß, in dem Informationsverarbeitung, Speicherung, Abruf und das Berichten von Geschehnissen durch kognitive und soziale Faktoren beeinflusst werden können (Ceci & Bruck 1993). Vor allem im Zusammenhang mit kindlichen Aussagen zu sexuellem Missbrauch wurde viel über die Suggestibilität von Kindern und die Möglichkeit des Erzeugens „falscher Erinnerungen“ (false memory) diskutiert. Die große Sorge ist hier, dass Kinder von Erwachsenen so stark beeinflussbar sind, dass sie Geschehnisse bejahen und berichten, die so nicht stattgefunden haben, und diese im Verlauf dann auch selbst für wahr halten. Ein systematisches Review konnte zeigen, dass die Suggestibilität für falsche Erinnerungen an Kindheitsereignisse geringer ist als angenommen wurde (Brewin & Andrews 2017). Die Autor*innen führten hierzu unter anderem an, dass das Generieren falscher Erinnerungen in Experimenten sehr aufwändig ist und beispielsweise manipulierte Beweise wie bearbeitete Fotos oder gezielte Falschaussagen der Eltern benutzt wurden, um die falschen Erinnerungen zu festigen, was in dieser Weise in einer Befragungssituation oder einer Psychotherapie nicht genutzt und angewendet wird. Weiterhin konnte bisher das Erzeugen von Erinnerungen an einzelne Ereignisse, nicht jedoch an wiederholte Vorfälle, die über einen längeren Zeitraum stattfinden, wie es bei sexuellem Missbrauch und anderen Formen von Kindesmisshandlung sehr häufig der Fall ist, gezeigt werden.

Dennoch ist es bei Gesprächen mit oder Befragungen von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig, darauf zu achten, keine Suggestivfragen zu stellen und nicht durch Verhalten einen Befragungsdruck im Sinne einer suggerierten Erwartung aufzubauen. Gerade junge Kinder tendieren dazu, Dinge zu bejahen, wenn sie eine Frage nicht richtig verstanden haben oder die Antwort nicht wissen. Durch suggestiv gestellte Fragen würde sich hier also die Wahrscheinlichkeit für falsch positive Angaben erhöhen. Es verunsichert Kinder, wenn dieselbe Frage mehrfach gestellt wird. Sie befürchten, beim ersten Mal nicht richtig geantwortet zu haben und verändern ihre Angabe. Das Insistieren und Nachhaken zum selben Thema sollte aus diesem Grund also unterlassen werden. Schulkinder haben in der Regel in der Schule gelernt, dass es die schlechteste Strategie ist, Lehrer*innen nicht zu antworten, wenn man die richtige Antwort auf eine Frage nicht weiß. Vielmehr versuchen Schüler*innen, wie auch andere Personen in Prüfungssituationen, zunächst einmal durch irgendeine Antwort den Gesprächsfluss aufrechtzuerhalten und sich nicht die Blöße zu geben, eingestehen zu müssen, keine Antwort parat zu haben. Dann wird versucht, aufgrund der Reaktionen des Gegenübers zu erahnen, was gemeint sein könnte bzw. was die Befragenden zu hören wünschen. Diese bewährten Alltagsstrategien müssen bei einem Gespräch oder einer Befragung von Kindern im rechtlichen Kontext im Rahmen einer ersten Aufklärung zum Gespräch bewusst und dezidiert außer Kraft gesetzt werden. Es muss den Kindern erläutert werden, dass dies keine Examenssituation ist und dass es unbedingt wichtig ist, mitzuteilen, wenn man etwas nicht mehr weiß bzw. nicht mehr genau weiß oder momentan nicht erinnert. Sonst wird sich das Autoritätsgefälle spätestens bei Kindern ab dem Schulalter schon dahingehend suggestiv auswirken, dass entsprechende Antworten produziert werden, um die erwachsenen Befragenden nicht zu enttäuschen.

4 Fazit

Die Gesprächsfähigkeit von Kindern hängt von vielen verschiedenen Bereichen ab, deren Entwicklung unterschiedlich, teils in komplexer Abhängigkeit voneinander sowie von den Anlagen des Kindes, aber auch seinem Umfeld und seinen Erfahrungen abhängt. Es ist also nicht möglich, präzise vorherzusagen, in welchem konkreten Alter ein Kind was genau kann. Dennoch geben die hier dargestellten entwicklungspsychologischen Grundlagen und die erwähnten Altersangaben Orientierung bei der Einschätzung der Fähigkeit von Kindern, bei Überlegungen für die Gestaltung von Gesprächen sowie bei der Einschätzung und Einordnung der Antworten und Aussagen der Kinder.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bereits sehr junge Kinder Möglichkeiten und Fähigkeiten haben, Angaben zu machen, und dass es sich somit lohnt und wichtig ist, auch bereits junge Kinder im Rahmen von Kinderschutzverfahren auf kindgerechte Art und Weise und ihrem Entwicklungsstand entsprechend anzuhören und zu Wort kommen zu lassen.