1 Überblick über den Kindesschutz

1.1 Terminologie

Eine allgemeingültige Definition von „Kindesschutz“ oder „Kinderschutz“ besteht nicht. In Gesetzestexten wird der Begriff „Kindesschutz“ meist auf konkrete Einzelmaßnahmen (etwa „kindesschutzrechtliche Maßnahmen“ i. S. v. § 1696 Abs. 2 BGB und § 166 Abs. 2 FamFG) bezogen, während „Kinderschutz“ eher abstrakt als Oberbegriff für bestimmte Regelungsbereiche (etwa „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz“) oder Vorgänge („Kinderschutzverfahren“) verwendet wird. Im vorliegenden Beitrag werden mit „Kindesschutz/Kinderschutz“ staatliche Maßnahmen zur Ermittlung und Abwendung von Kindeswohlgefährdungen erfasst.

1.2 Kindesschutzrechtliche Maßnahmen nach dem BGB

Das Kindschaftsrecht des BGB differenziert zwischen „kindesschutzrechtlichen Maßnahmen“ des Familiengerichts (§ 1696 Abs. 2 BGB) und allen anderen Entscheidungen zum Sorge- und Umgangsrecht (§ 1696 Abs. 1 BGB), deren Schwerpunkt Elternkonfliktfälle bilden. Während in Elternkonfliktfällen das Familiengericht auf Antrag mindestens eines Elternteils tätig wird (Staat als Schlichter des Elternkonflikts), hat es in Kinderschutzverfahren Maßnahmen zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung von Amts wegen zu treffen (Staat als Wächter).

Kindesschutzrechtliche Maßnahmen können bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 1666 f. BGBFootnote 1 angeordnet werden.Footnote 2 Sie sind von Amts wegen wieder aufzuheben, wenn für das Wohl des Kindes keine Gefahr mehr besteht (§ 1696 Abs. 2 BGB). Diese Pflicht zur Aufhebung einer kindesschutzrechtlichen Maßnahme ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dessen Beachtung für die Maßnahme „zugleich Eingriffs- und Bestandsvoraussetzung“ ist.Footnote 3 Daher hat das Familiengericht eine länger andauernde kindesschutzrechtliche Maßnahme in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen (§ 166 Abs. 2 FamFG) und gegebenenfalls aufzuheben.Footnote 4

1.3 Kinderschutzverfahren nach dem FamFG

Das FamFG regelt die Verfahren in Kindschaftssachen als eigenen Abschnitt (§§ 151–168a FamFG). Entsprechend dem Kindschaftsrecht des BGB findet sich auch hier die Differenzierung zwischen Kinderschutzverfahren (z. B. in §§ 157, 159 Abs. 2 S. 2 und 3, 160 Abs. 1 S. 2, 162 Abs. 2 S. 1 FamFG) und sonstigen Kindschaftssachen, die überwiegend Elternkonfliktverfahren sind. Etliche Normen dieses Abschnitts gelten aber für sämtliche Kindschaftssachen. Dadurch sind die Unterschiede zwischen Kinderschutzverfahren (Amtsverfahren) und sonstigen Kindschaftssachen (Antragsverfahren) weniger sichtbar als dies wünschenswert wäre.

Im Gegensatz zum Antragsverfahren beschränkt das Amtsverfahren das Recht der Beteiligten, über den Verfahrensgegenstand zu disponieren, also Anträge zurückzunehmen, das Verfahren durch eine Einigung zu beenden oder es aus anderen Gründen für erledigt zu erklären.Footnote 5 In Kinderschutzverfahren ist das Familiengericht daher von der Einleitung bis zum Ende des Verfahrens für alle Verfahrensschritte von Amts wegen zuständig und muss alle für die Entscheidung relevanten Tatsachen umfassend ermitteln.Footnote 6

Kinderschutzverfahren werden zwar in der Regel aufgrund einer Mitteilung des Jugendamtes eingeleitet, es gibt aber auch Fälle, in denen nach Einleitung eines Elternkonfliktverfahrens eine Kindeswohlgefährdung festgestellt wird. Insbesondere kann ein Wechsel vom Elternkonflikt- zum Kinderschutzverfahren in Hochkonfliktfällen in Betracht kommen, wenn das Wohl des Kindes durch den (eskalierenden) Elternstreit gefährdet wird. Dann wandelt sich die Rolle des Familiengerichts vom Schlichter zum Wächter: Es kann eine kindesschutzrechtliche Maßnahme bis hin zum vollständigen Entzug der elterlichen Sorge anordnen (§ 1671 Abs. 4 i. V. m. §§ 1666 f. BGB), wenn kein milderes Mittel zur Abwendung der Gefährdung besteht.Footnote 7

1.4 Kindesschutz im SGB VIII – auch im Verhältnis zum BGB und FamFG

Die Anlässe einer Anrufung des Familiengerichts und die Mitwirkung des Jugendamtes in Kinderschutzverfahren werden an anderer Stelle behandelt.Footnote 8 Im vorliegenden Beitrag geht es um das Ineinandergreifen von SGB VIII, BGB und FamFG im Bereich des Kindesschutzes und um die Frage, ob dasselbe gemeint ist, wenn im Gesetz bzw. von den jeweils zuständigen Professionen von Kindeswohlgefährdung gesprochen wird.

Die statistischen Daten (Abb. 1.1)Footnote 9 zeigen eine große Diskrepanz zwischen den von Jugendämtern vorgenommenen Gefährdungseinschätzungen bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (Abb. 1.1, Säule 1) und den Fällen, in denen sich der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung aufgrund der Gefährdungseinschätzung bestätigt oder zumindest konkretisiert hat (Abb. 1.1, Säule 2). Nur in einem kleinen Teil dieser Fälle kommt es schließlich zur Anordnung von kindesschutzrechtlichen Maßnahmen durch die Familiengerichte (Abb. 1.1, Säule 3).

Abb. 1.1
figure 1

Statistik zu Gefährdungseinschätzungen und kindesschutzrechtlichen Maßnahmen

Auffällig ist aber auch der starke Anstieg der Gefährdungseinschätzungen seit 2012 (die Fallzahlen haben sich fast verdoppelt) und der von den Jugendämtern angenommenen Kindeswohlgefährdungen (um fast 60 %), während die Zahl der kindesschutzrechtlichen Maßnahmen nach § 1666 BGB nur leicht zugenommen hat. Da sich zudem nur bei einem Drittel aller Gefährdungseinschätzungen des Jugendamtes der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung bestätigt (je zur Hälfte liegt eine sog. akute oder eine sog. latente Kindeswohlgefährdung vor; zu letzterer s. u. Fn. 49), hingegen bei zwei Drittel aller Fälle keine Kindeswohlgefährdung vorliegt (2020: ca. 134.000 Fälle), werden hier möglicherweise Ressourcen gebunden, die an anderer Stelle fehlen.

Trotz der Abstufungen zwischen den Säulen 1 bis 3 (Abb. 1.1) ist der Rechtsbegriff der Kindeswohlgefährdung in § 8a SGB VIII keineswegs anders zu verstehen als im BGB oder im FamFG.Footnote 10 Auch die „Verschlankung“ des Tatbestands des § 1666 Abs. 1 BGB im Jahr 2008Footnote 11 hat nicht zu einer Absenkung der Eingriffsschwelle geführt.Footnote 12 Dafür spricht nicht nur der eindeutige Gesetzgeberwille,Footnote 13 sondern auch die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung der Norm, denn die Anforderungen an einen Eingriff des Staates als Wächter in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) haben sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht geändert. Hingegen wurden seit 2005 die staatlichen Möglichkeiten zur Feststellung einer Kindeswohlgefährdung und zur Inpflichtnahme der Eltern im Vorfeld einer Kindeswohlgefährdung durch mehrere ReformenFootnote 14 erweitert (s. u. 1.3 und 1.4).

2 Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung als Rechtsbegriffe

2.1 Verfassungsfundierte Rechtsbegriffe

Die Rechtsbegriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“ sind unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben auszulegen und anzuwenden. Nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ist der Staat als Wächter zum Eingriff in das Elternrecht legitimiert, sobald die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten wird.Footnote 15 Gleichzeitig gewährt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den Eltern bis zu dieser Schwelle das Grundrecht auf eine staatsfreie Verwirklichung ihrer persönlichen Erziehungsvorstellungen.Footnote 16 Dies beruht auf der Vermutung, dass „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“.Footnote 17 Demzufolge ist es auch primär die Aufgabe der Eltern, ihr Kind vor Gefährdungen zu schützen. Nur wenn die Eltern dazu nicht bereit oder nicht in der Lage sind, sind staatliche Eingriffe in das Elternrecht zum Schutz des Kindes erlaubt.Footnote 18 Kindesschutzrechtliche Maßnahmen dürfen daher ausschließlich zur Schadensvermeidung, nicht aber zur Erziehungsoptimierung angeordnet werden.Footnote 19

Demzufolge muss das Kind ungünstige Bedingungen des Aufwachsens in seiner Familie bis zur Gefährdung seines Wohls als schicksalhaft hinnehmen und bis zu dieser Grenze darf der Staat zwar Hilfe und Förderung anbieten, nicht aber in das Elternrecht eingreifen.Footnote 20 Wapler bringt dies auf die treffende Formel: „Eltern sollen den Belangen (oder Interessen) ihres Kindes bestmöglich gerecht werden, dürfen diese Aufgabe auch nur mittelmäßig erfüllen, müssen jedoch das Kind vor Gefährdungen und Schäden schützen.“Footnote 21 Nur wenn die Eltern der letztgenannten Pflicht nicht nachkommen, muss diese Aufgabe vom Staat übernommen werden.

Entsprechende verfassungsrechtliche Wertungen ergeben sich aber auch aus den Grundrechten des Kindes: Dieses hat einerseits ein Recht auf Schutz „vor den Eltern“ bei kindeswohlgefährdenden Verletzungen der freien Entfaltung der Persönlichkeit oder der körperlichen und seelischen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG)Footnote 22 sowie andererseits ein Recht auf Achtung seines Interesses „an den Eltern“, d. h. ein Recht auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG).Footnote 23 Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern verlangt zudem eine erhöhte Eingriffsschwelle (Art. 6 Abs. 3 GG) und darf nur ultima ratio sein (§ 1666a Abs. 1 BGB).

2.2 Funktionen des Kindeswohls im einfachen Recht

Mit dem Rechtsbegriff „Kindeswohl“ sind unterschiedliche Funktionen verbunden:

  1. (1)

    Kindeswohl als Entscheidungsmaßstab in Elternkonfliktverfahren: Das Familiengericht weist in diesen Fällen einer Elternrechtsposition den Vorrang vor der anderen zuFootnote 24 und hat dabei diejenige Entscheidung zu treffen, „die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht“ (§ 1697a BGB).

  2. (2)

    Gefährdung des Kindeswohls als Eingriffslegitimation in das Elternrecht in Kinderschutzverfahren: Das Familiengericht hat bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 BGB diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur Verhinderung einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls geeignet und erforderlich sind.Footnote 25

  3. (3)

    Kindeswohl als Leitmaxime in allen Kindschaftssachen: Das Familiengericht hat das Kindeswohl als verfahrensleitendes PrinzipFootnote 26 der Ausgestaltung des Verfahrens zugrunde zu legen.Footnote 27

2.3 Operationalisierung der Rechtsbegriffe im konkreten Fall

Die größte Herausforderung für Rechtsanwender*innen liegt jedoch darin, dass die Bestimmung des Kindeswohls bzw. der Kindeswohlgefährdung zum einen auf eine Beurteilung im konkreten Einzelfall ausgelegt ist, d. h. sich auf das individuelle Wohl eines bestimmten Kindes bezieht,Footnote 28 und zum anderen das Ergebnis eines komplexen Vorgangs der Ermittlung, Klärung und Bewertung des jeweiligen Sachverhalts ist. Die Offenheit der Rechtsbegriffe „Kindeswohl“ bzw. „Kindeswohlgefährdung“ bietet einerseits Chancen, weil neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder eine Veränderung gesellschaftlicher Anschauungen berücksichtigt werden können, andererseits birgt die Unbestimmtheit aber auch RisikenFootnote 29 – insbesondere im Hinblick auf Vorverständnisse und Wertanschauungen der jeweils zur Entscheidung berufenen Personen, gegebenenfalls aber auch aufgrund deren mangelnder (interdisziplinärer) Qualifikation.

Zur Konkretisierung der Rechtsbegriffe können zwar anerkannte Kriterien wie etwa die Bindungen des Kindes oder der Kindeswille sowie die Gewährleistung der unverzichtbaren Mindestbedingungen eines gedeihlichen Aufwachsens herangezogen werden. Gleichzeitig können aber Unsicherheiten bei der Operationalisierung der Rechtsbegriffe im konkreten Einzelfall bestehen. Dies gilt im Übrigen auch für die Beantwortung der Fragen, ob im konkreten Fall die Eltern bereit und in der Lage sind, eine bestehende Gefahr abzuwenden, und welche konkreten staatlichen Maßnahmen bei der Abwehr einer Kindeswohlgefährdung helfen können.Footnote 30

Der Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen kommt das Familiengericht in Kinderschutzverfahren regelmäßig unter Heranziehung außerrechtlicher Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften nach. Allerdings darf das Gericht die Sachkunde anderer Disziplinen (Sachverständigengutachten, Stellungnahme des Jugendamtes) nicht einfach ungeprüft übernehmen, sondern muss diese eigenständig einordnen und rechtlich würdigen.Footnote 31 Da das Familiengericht für die Gesamtbeurteilung verantwortlich ist, darf es von den Einschätzungen anderer Fachdisziplinen abweichen, muss dies dann aber eingehend begründen.Footnote 32 Die Herausforderungen bei der Würdigung von Sachverständigengutachten und Stellungnahmen des Jugendamtes zeigen, wie wichtig der interdisziplinäre Dialog ist. Die Vermittlung von Grundkenntnissen in den für Kindschaftssachen relevanten Tatsachenwissenschaften sollte deshalb Teil der juristischen AusbildungFootnote 33 (ebenso wie die Kriminologie im Strafrecht), jedenfalls aber der richterlichen Fortbildung, sein. Ausdrücklich zu begrüßen ist es daher, dass § 23b Abs. 3 S. 3 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) seit 2022 fachspezifische Qualifikationsanforderungen für Familienrichter*innen verlangt, die neben den notwendigen Kenntnissen im Familien- und Familienverfahrensrecht sowie dem Kinder- und Jugendhilferecht auch Grundkenntnisse der Entwicklungspsychologie des Kindes und der Kommunikation mit Kindern umfassen sollen.

2.4 Sekundäre Kindeswohlgefährdung

Der Staat kann nicht nur durch notwendige, aber unterlassene Maßnahmen zu einer Verschlechterung der Situation des Kindes beitragen, sondern auch dann, wenn die falschen kindesschutzrechtlichen Maßnahmen ergriffen werden. Im Gegensatz zur primären Kindeswohlgefährdung durch die Eltern oder andere Bezugspersonen des Kindes gehen sekundäre Kindeswohlgefährdungen von professionellen Akteuren im Kinderschutzverfahren aus.Footnote 34

Eine sekundäre Kindeswohlgefährdung lässt sich vermeiden, wenn vor der Anordnung einer konkreten Kindesschutzmaßnahme der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Denn eine kindesschutzrechtliche Maßnahme ist „ungeeignet, wenn sie in anderen Belangen des Kindeswohls wiederum eine Gefährdungslage schafft und deswegen in der Gesamtbetrachtung zu keiner Verbesserung der Situation des gefährdeten Kindes führt“.Footnote 35 Sie ist hingegen geeignet, wenn sie erstens die konkret bestehende Gefährdung für das Kind beendet und zweitens nicht mit genauso schweren (anderen) Kindeswohlbeeinträchtigungen verbunden ist. So dürfen z. B. die Folgen der Fremdunterbringung für das betroffene Kind nicht gravierender sein als das Verbleiben des Kindes in der Herkunftsfamilie.Footnote 36 Oder anders ausgedrückt: Bei jeder Kindesschutzintervention muss „ein Vorteil für betroffene Kinder durch die Intervention übrig bleiben“.Footnote 37

3 Stufenmodell zum Kindesschutz

Im Familienrecht wird zwischen positivem und negativem Kindeswohlstandard unterschieden.Footnote 38 Beide Standards bilden Fixpunkte, die von der bestmöglichen Verwirklichung des Kindeswohls (positiver Standard) bis hin zur Kindeswohlgefährdung (negativer Standard) reichen. Im Kinder- und Jugendhilferecht wird teilweise mit einem Ampelmodell gearbeitet, wobei im gelben Bereich eine Situation vorliegen soll, bei der das Angebot von Hilfen zur Erziehung noch ausreichend ist, während im roten Bereich eine kindesschutzrechtliche Maßnahme nötig ist.Footnote 39 So eingängig das Bild der Ampel ist (daher wurden diese Farben auch in Abb. 1.2 übernommen), so stellt es doch eine Verkürzung der Rechtslage dar. Denn es sind sechs Stufen zu unterscheiden, wobei nur die Stufen 3 bis 6 dem Bereich des Kindesschutzes i. S. v. staatlichen Maßnahmen zur Ermittlung und Abwendung von Kindeswohlgefährdungen zuzuordnen sind (Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG).

Abb. 1.2
figure 2

Stufenmodell zum Kindesschutz

Stufe 1

Das Kindeswohl dient bei Entscheidungen in Elternkonfliktverfahren als Entscheidungsmaßstab, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 1697a BGB). Diese Stufe beginnt beim positiven Kindeswohlmaßstab und endet unmittelbar vor der Kindeswohlgefährdungsschwelle. Der Staat wird hier als Schlichter tätig und darf in dieser Funktion eine Entscheidung zugunsten eines Elternteils treffen, die das Elternrecht des anderen Elternteils einschränkt.Footnote 40 Dabei ist hinzunehmen, dass die Entscheidung des Gerichts als „relativ beste Lösungfür das Kind im Einzelfall sogar kurz vor Erreichen der Kindeswohlgefährdungsschwelle einzuordnen sein kann.Footnote 41 Wird diese Schwelle jedoch überschritten (Stufe 5), dann wird aus dem Elternkonfliktverfahren ein Kinderschutzverfahren und das Gericht wechselt vom Schlichter- ins Wächteramt (s. o. 1.1.3).

Stufe 2

Die Nichtgewährleistung des Kindeswohls liegt bei einer erzieherischen Mangellage unterhalb der Kindeswohlgefährdungsschwelle vor und begründet einen Anspruch gegen den Staat auf Hilfe zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII). Hilfen zur Erziehung stellen keinen Eingriff, sondern eine Leistung des Staates dar. Allerdings erlangt der Staat im Rahmen der Gewährung von Hilfen häufig weitere Informationen über die Situation des Kindes, die gegebenenfalls zu gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung führen können (Stufe 3). Zu betonen ist allerdings, dass auch hier ein Stufenverhältnis vorliegt, denn nicht jede Nichtgewährleistung des Kindeswohls begründet bereits gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung – ganz im Gegenteil: Staatliche Hilfen sollten möglichst früh angeboten werden, während für die „Gefahrerforschung“ auf der Stufe 3 ein begründeter Anfangsverdacht für eine Gefährdung vorliegen muss.Footnote 42

Stufe 3

Bei Vorliegen gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung ist eine Gefährdungseinschätzung nach § 8a Abs. 1 S. 1 und 2 SGB VIII vorzunehmen. Das Jugendamt muss zunächst bewerten, ob die bekanntgewordenen Anhaltspunkte so gewichtig sind, dass eine Gefährdungseinschätzung im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte durchzuführen ist.Footnote 43 Zur Operationalisierung der „gewichtigen Anhaltspunkte“ für eine Kindeswohlgefährdung haben sich in der Praxis unterschiedliche Vorgehensweisen etabliert.Footnote 44

Besteht ein begründeter Anfangsverdacht für eine Kindeswohlgefährdung, dann ist das Jugendamt zur Informationsbeschaffung befugt. Diese „Gefahrerforschung“ ist durch das staatliche Wächteramt (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) gedeckt, solange bei Eingriffen in Grundrechte der Eltern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird.Footnote 45 Die Einbeziehung und Mitwirkung der Eltern nach § 8a Abs. 1 S. 2 SGB VIII dient aber nicht nur der Klärung des Sachverhalts, sondern häufig auch dem Aufbau einer Hilfebeziehung. Bestätigt sich der Verdacht nicht, dann ist das Verfahren zu beenden.

Stufe 4

Ist nach Durchführung der Gefährdungseinschätzung die Einleitungsschwelle des § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII erreicht, kann das Jugendamt beim Familiengericht ein Kinderschutzverfahren anregen (sog. Gefährdungsmitteilung). Zu beachten ist, dass das Jugendamt auch bei Erreichen der Einleitungsschwelle eigenverantwortlich beurteilen muss, ob ein Tätigwerden des Familiengerichts erforderlich ist (§ 8a Abs. 2 S. 1 Hs. 1 SGB VIII) oder ob (zunächst) Hilfen nach dem SGB VIII zur Abwendung der Gefährdung zu gewähren sind (§ 8a Abs. 1 S. 3 SGB VIII). Kommt das Jugendamt zu dem Ergebnis, dass die Gefährdung durch Hilfen abgewendet werden kann, wird der staatliche Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ohne Einschaltung des Familiengerichts erfüllt.Footnote 46

Kommt es hingegen zu einer Anrufung des Familiengerichts, dann können der Gefährdungsmitteilung aus Sicht des Jugendamtes drei verschiedene Konstellationen zugrunde liegen:

  1. (1)

    Der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung hat sich bestätigt (akute Kindeswohlgefährdung) und das Jugendamt hält ein Tätigwerden des Familiengerichts zur Abwendung der Gefahr für erforderlich (§ 8a Abs. 2 S. 1 Hs. 1 SGB VIII).

  2. (2)

    Es liegt nur eine sog. mögliche Kindeswohlgefährdung in der Grauzone im unmittelbaren Vorfeld der Kindeswohlgefährdung vor,Footnote 47 es ist aber zu erwarten, dass das Kindeswohl gefährdet wird, wenn die Eltern keine Hilfen annehmen. Hier kann das Jugendamt das Familiengericht anrufen, wenn es die Durchführung eines Erörterungsgesprächs im familiengerichtlichen Verfahren (§ 157 Abs. 1 FamFG) für erforderlich hält (§ 8a Abs. 2 S. 1 Hs. 1 SGB VIII), damit die Eltern künftig besser mit dem Jugendamt kooperieren und Hilfen zur Erziehung annehmen (s. u. 1.4).

  3. (3)

    Es liegt ein bloßer Verdachtsfall vor, bei dem eine Kindeswohlgefährdung vermutet wird,Footnote 48 die aber mangels Mitwirkung der Eltern an der Abschätzung des Gefährdungsrisikos nicht konkretisiert werden kann (§ 8a Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB VIII). Bei Vorliegen einer solchen latenten KindeswohlgefährdungFootnote 49 ist aus der Sicht des Jugendamtes offen, ob die Eingriffsschwelle des § 1666 BGB erreicht ist. Diese Frage soll daher im familiengerichtlichen Verfahren im Wege der Amtsermittlung (§ 26 FamFG) geklärt werden.

Stufe 5

Ruft das Jugendamt das Familiengericht an, so entscheidet dieses eigenverantwortlich, ob ein Kinderschutzverfahren einzuleiten ist (s. u. 1.4). Bestätigt sich im Verfahren das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung (§ 1666 Abs. 1 BGB), hat das Gericht unverzüglich den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen (§ 157 Abs. 3 FamFG). Da die Anordnung einer kindesschutzrechtlichen Maßnahme einen Eingriff in das Elternrecht darstellt, ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dies bedeutet, dass das zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung erforderliche Maß bezogen auf den Eingriff in das Elternrecht nur das Interventionsminimum darstellen darf: Es gilt der Vorrang unterstützender vor eingreifenden Maßnahmen sowie der Vorrang vorübergehender vor dauerhaften Maßnahmen.Footnote 50 Vorrangige Maßnahmen vor einer (teilweisen) Sorgerechtsentziehung nach § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB werden dabei als „niedrigschwellige familiengerichtliche Maßnahmen“ (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1–5 BGB) bezeichnet;Footnote 51 diese sind nicht mit der „niedrigschwelligen Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen“ i. S. d. § 36a Abs. 2 S. 1 SGB VIII identisch. Zu beachten ist schließlich, dass sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf die Rechtsfolgenseite der §§ 1666 f. BGB bezieht und erst dann zum Einsatz kommt, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Kindeswohlgefährdung vorliegen.Footnote 52 Auch die Anordnung niedrigschwelliger Maßnahmen nach § 1666 Abs. 3 Nr. 1–5 BGB setzt somit die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB voraus.Footnote 53

Stufe 6

Eine gesteigerte Form kindesschutzrechtlicher Maßnahmen stellen solche dar, die – wie die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts oder der gesamten elterlichen Sorge – zu einer Trennung des Kindes von den Eltern führen (Art. 6 Abs. 3 GG).Footnote 54 Diese Maßnahmen setzen nach der Rechtsprechung des BVerfG eine nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls voraus, sodass hier eine erhöhte Eingriffsschwelle besteht.Footnote 55 Zudem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders strikt anzuwenden:Footnote 56 Eine Trennung des Kindes von den Eltern darf daher immer nur ultima ratio sein (§ 1666a Abs. 1 BGB) und „die Folgen einer Fremdunterbringung für das Kind [dürfen] nicht gravierender sein […] als die Folgen eines Verbleibs in der Herkunftsfamilie“.Footnote 57

Diese Grundsätze gelten auch für eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2b SGB VIII,Footnote 58 wobei dann zusätzlich eine „dringende Gefahr“ vorliegen muss.Footnote 59 Die Inobhutnahme muss erforderlich sein, d. h. es dürfen keine milderen Maßnahmen zur Verfügung stehen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Zu diesen gehört auch die Einholung einer familiengerichtlichen Eilentscheidung, sodass eine Inobhutnahme nur dann zulässig ist, wenn „die Gefahr für das Kindeswohl so akut ist, dass eine Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann“.Footnote 60 In der Praxis wird diese Voraussetzung jedoch nicht immer hinreichend befolgt.Footnote 61 Zu beachten ist schließlich, dass es sich bei der Inobhutnahme um eine vorläufige Maßnahme im Sinne einer kurzfristigen Krisenintervention handelt.Footnote 62

Fazit zum Stufenmodell (Abb. 1.2)

Angesichts fließender Übergänge zwischen den einzelnen Stufen, den Schwierigkeiten bei der Bestimmung der jeweiligen Gefährdungssituation und den damit verbundenen Unsicherheiten verbietet sich in der Praxis eine zu schematische Anwendung des vorliegenden Stufenmodells. Es versteht sich vielmehr als theoretisches Konzept zur Förderung eines Dialogs zwischen den Disziplinen. Gefährdungssituationen im Vorfeld der Kindeswohlgefährdungsschwelle sehen auf den jeweiligen Stufen unterschiedliche Maßnahmen (Angebot von Hilfen, Gefährdungseinschätzung, Gefährdungsmitteilung, Einleitung eines Kinderschutzverfahrens, Durchführung eines Erörterungsgesprächs, Hinwirken auf die Annahme von Hilfen) vor, während kindesschutzrechtliche Maßnahmen nach den §§ 1666 f. BGB aufgrund der notwendigen Überschreitung der Kindeswohlgefährdungsschwelle erst ganz am Ende sich häufig dynamisch entwickelnder Gefährdungssituationen stehen.

4 Kinderschutzverfahren und Kindesschutz im Vorfeld der Eingriffsschwelle

Wie oben (1.3, Stufe 4) dargestellt, sind aus der Perspektive des Jugendamtes bei einer Gefährdungsmitteilung nach § 8a Abs. 2 S. 1 SGB VIII drei verschiedene Konstellationen zu unterscheiden: Neben Fällen, in denen sich der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung erhärtet hat (akute Kindeswohlgefährdung), kann es auch sein, dass das Jugendamt bei Annahme einer möglichen Kindeswohlgefährdung nur ein Erörterungsgespräch nach § 157 Abs. 1 FamFG anstrebt, damit das Familiengericht auf die Eltern einwirkt, oder bei Vorliegen einer vermuteten (latenten) Kindeswohlgefährdung die familiengerichtliche Amtsermittlung (§ 26 FamFG) zur weiteren Sachaufklärung nutzen möchte.Footnote 63

Aus der Sicht des Familiengerichts bedeutet hingegen jede Gefährdungsmitteilung des Jugendamtes eine Anregung (§ 24 FamFG) zur Einleitung eines Kinderschutzverfahrens nach den §§ 1666 f. BGB. Das Gericht stellt daraufhin Vorermittlungen an und entscheidet dann eigenverantwortlich, ob ein Kinderschutzverfahren durchzuführen ist.Footnote 64 Kommt das Gericht aufgrund einer eigenen RisikoeinschätzungFootnote 65 zu dem Ergebnis, dass eine Kindeswohlgefährdung offensichtlich nicht vorliegt, so ist die Einstellung des Verfahrens in den Akten zu vermerken und dem Jugendamt nach § 24 Abs. 2 FamFG mitzuteilen.Footnote 66

Im Regelfall wird das Familiengericht aber ein Kinderschutzverfahren einleiten und zeitnah (§ 155 Abs. 2 S. 2 FamFG) einen Erörterungstermin nach § 157 Abs. 1 FamFG ansetzen. Zu diesem Zeitpunkt ist häufig noch offen, ob eine Kindeswohlgefährdung tatsächlich vorliegt. Kindesschutzrechtliche Maßnahmen nach den §§ 1666 f. BGB kann das Gericht aber nur dann anordnen, wenn nach Ermittlung aller erheblichen Tatsachen feststeht, dass die Kindeswohlgefährdungsschwelle überschritten ist.Footnote 67 Kommt das Familiengericht hingegen zu dem Ergebnis, dass sich eine Gefährdung des Kindeswohls nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen lässt und somit die Eingriffsschwelle des § 1666 Abs. 1 BGB noch nicht erreicht ist, dann darf es keine kindesschutzrechtliche Maßnahme anordnen.Footnote 68

Das FamFG gewährt aber dem Familiengericht im unmittelbaren Vorfeld einer Kindeswohlgefährdung die Möglichkeit, auf die Eltern einzuwirken:Footnote 69 Das Familiengericht kann das Erörterungsgespräch nach § 157 Abs. 1 FamFG nämlich auch dazu nutzen, die Eltern zu motivieren, freiwillig Hilfen des Jugendamtes anzunehmen, um eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden.Footnote 70 Es kann zudem darauf hinweisen, dass in einem angemessenen Zeitabstand eine Überprüfung der Situation des Kindes erfolgen wird (§ 166 Abs. 3 FamFG), wobei für den Fall, dass dann die Kindeswohlgefährdungsschwelle erreicht ist, kindesschutzrechtliche Maßnahmen nach den §§ 1666 f. BGB angeordnet werden können.

Übersicht

BT-Drucks. 16/6815, S. 15 (Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls):

„Gerade wenn das Gericht im Hinblick auf Zusagen der Eltern das Verfahren ohne konkrete Maßnahme abgeschlossen hat oder aber die Schwelle der Kindeswohlgefährdung noch nicht erreicht ist, eine Verschlechterung der Kindeswohlsituation aber nicht auszuschließen ist, soll im Interesse des Kindes eine nochmalige Befassung des Gerichts mit dem Fall gewährleistet werden. Dadurch kann der Gefahr vorgebeugt werden, dass Eltern nach einem für sie folgenlosen Gerichtsverfahren nicht mehr mit dem Jugendamt kooperieren und ihrem Kind damit notwendige Hilfe vorenthalten.“

Im Zusammenspiel mit § 8a Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB VIII hat der in den §§ 157 Abs. 1, 166 Abs. 3 FamFG enthaltene, in Fällen einer möglichen Kindeswohlgefährdung der Eingriffsschwelle des § 1666 Abs. 1 BGB vorgelagerte Kindesschutz folgende Bedeutung:Footnote 71 Zunächst dürfte bereits der Hinweis des Jugendamtes auf die Möglichkeit der Anrufung des Familiengerichts einen gewissen Druck auf die Eltern ausüben, an der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken (1. Schritt). Verweigern die Eltern die Mitwirkung und kommt es zu einem familiengerichtlichen Verfahren, dann kann im Rahmen des Erörterungsgesprächs nach § 157 Abs. 1 FamFG auf die Eltern eingewirkt werden, Hilfen des Jugendamtes anzunehmen (2. Schritt), auch wenn diese (mangels Kindeswohlgefährdung) nicht angeordnet werden können.Footnote 72 Zudem kann das Familiengericht an dem Fall „dranbleiben“ und nach § 166 Abs. 3 FamFG die Situation des Kindes nochmals überprüfen (3. Schritt).

Staatlicher Kindesschutz und Inpflichtnahme der Eltern unterhalb der Kindeswohlgefährdungsschwelle

  1. 1.

    Schritt (Jugendamt): Gefährdungseinschätzung unter Mitwirkung der Eltern nach § 8a Abs. 1 S. 2 SGB VIII

    • keine/unzureichende Mitwirkung der Eltern bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos kann zur Anrufung des Familiengerichts führen (§ 8a Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB VIII)

  2. 2.

    Schritt (Familiengericht): Erörterung der möglichen Kindeswohlgefährdung mit den Eltern nach § 157 Abs. 1 FamFG

    • Einwirken des Familiengerichts auf die Eltern, mit dem Jugendamt zu kooperieren; Hinweis auf die Folgen der Nichtannahme von Hilfen

  3. 3.

    Schritt (Familiengericht): Überprüfung nach § 166 Abs. 3 FamFG

    • Kontrolle, ob sich die Situation des Kindes verschlechtert hat

Da die §§ 157 Abs. 1, 166 Abs. 3 FamFG dem Familiengericht die Möglichkeit eröffnen, auch schon vor Erreichen der Eingriffsschwelle des § 1666 Abs. 1 BGB auf die Eltern einzuwirken und die Kindessituation zu überprüfen,Footnote 73 sind im Kinderschutzverfahren drei verschiedene Konstellationen und Vorgehensweisen zu unterscheiden (s. Abb. 1.3):

  1. (1)

    Kommt das Familiengericht nach umfassender Sachverhaltsaufklärung zu dem Ergebnis, dass noch nicht einmal eine mögliche Kindeswohlgefährdung vorliegt, dann hat es das Verfahren einzustellen. Die „Sollvorschrift“ des § 166 Abs. 3 FamFG findet keine Anwendung.Footnote 74

  2. (2)

    Kommt das Familiengericht hingegen zu dem Ergebnis, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, dann kann es entweder eine kindesschutzrechtliche Maßnahme anordnen oder von einer solchen Maßnahme absehen, wenn es zu der Überzeugung gelangt, dass die Eltern bereit und in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Im zweiten Fall findet die „Sollvorschrift“ des § 166 Abs. 3 FamFG Anwendung.

  3. (3)

    Kommt das Familiengericht schließlich zu dem Ergebnis, dass zwar noch keine Kindeswohlgefährdung, jedoch eine mögliche Kindeswohlgefährdung im unmittelbaren Vorfeld der Eingriffsschwelle vorliegt, dann darf es zwar keine kindesschutzrechtliche Maßnahme anordnen, kann aber dennoch im Rahmen des Erörterungsgesprächs nach § 157 Abs. 1 FamFG auf die Eltern einwirken, Hilfe anzunehmen, und nach angemessener Zeit (in der Regel nach drei Monaten) die Situation des Kindes überprüfen (§ 166 Abs. 3 FamFG). Stellt sich bei der Überprüfung dann heraus, dass sich die Kindessituation nicht verändert (also weder verbessert noch verschlechtert) hat, dann sollte – bei einer verfassungskonformen Auslegung der „Sollvorschrift“ des § 166 Abs. 3 FamFG – keine weitere gerichtliche Überprüfung mehr stattfinden.Footnote 75 Da der Staat hier im Vorfeld der Kindeswohlgefährdung agiert, ist trotz der abgeschwächten Einwirkungsmöglichkeiten auf die Eltern eine restriktive Anwendung der §§ 157 Abs. 1, 166 Abs. 3 FamFG geboten, um eine dauerhafte „mitlaufende“ staatliche Erziehungskontrolle zu verhindernFootnote 76 – zumal das Jugendamt bei einer späteren Verschlechterung der Situation des Kindes jederzeit erneut die Einleitung eines Kinderschutzverfahrens anregen kann.

Abb. 1.3
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Vorgehensweisen in Kinderschutzverfahren bei (möglicher) Kindeswohlgefährdung

Praxishinweis

Die Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, ist im Kinderschutzverfahren durch Ermittlung der erheblichen Tatsachen zu klären. Das Gericht darf sich nicht damit zufriedengeben, dass eine Kindeswohlgefährdung möglicherweise vorliegt, und deshalb von Ermittlungen absehen. Steht nach Abschluss der Ermittlungen fest, dass die Eingriffsschwelle des § 1666 Abs. 1 BGB noch nicht erreicht ist, aber eine weitere Verschlechterung der Kindessituation zu erwarten ist, wenn die Eltern keine Hilfe annehmen, dann ist das unter 1.4 (3) beschriebene Vorgehen zulässig. Zu beachten ist allerdings, dass aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben dieses Vorgehen auf Ausnahmefälle im unmittelbaren Vorfeld einer Kindeswohlgefährdung zu beschränken ist.

5 Fazit

Die einschlägigen Normen des BGB, FamFG und SGB VIII beinhalten einen aufeinander abgestimmten staatlichen Kindesschutz mit abgestuften Handlungsmöglichkeiten. Im Zentrum stehen dabei die unbestimmten Rechtsbegriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“. Die Konkretisierung dieser und weiterer Begriffe auf den einzelnen Stufen des Kindesschutzes (von „gewichtigen Anhaltspunkten“ für eine Kindeswohlgefährdung bis hin zu einer „nachhaltigen Gefährdung“ des Kindeswohls) und die Operationalisierung der abstrakten Voraussetzungen der jeweiligen Normen im konkreten Einzelfall können Rechtsanwender*innen vor erhebliche Herausforderungen stellen. Zu deren Bewältigung und zur Effektivierung des Schutzes von Kindern kann eine interdisziplinär ausgerichtete Qualifizierung der beteiligten Professionen maßgeblich beitragen.