FormalPara Zusammenfassung

Die Laboratorien in der Schweiz erzielen eine Wertschöpfung von zwei Milliarden Schweizer Franken pro Jahr, beschäftigen rund 7700 Mitarbeitende und verursachen weniger als drei Prozent der Leistungsausgaben der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Die Labormedizin gilt nach verbreiteter Expertenmeinung als ausschlaggebend für rund 70 % aller klinischen Entscheide («70 %-Claim»). Gleichzeitig steht sie vor grossen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Siegeszug der evidenzbasierten Medizin (EBM), erhöhten regulatorischen Hürden für den Leistungsnachweis vor und nach erfolgter Zulassung, und rigorosen Überprüfungen des klinischen Nutzens und des Kosten/Nutzen-Verhältnisses labordiagnostischer Verfahren im Rahmen von Health Technology Assessments (HTAs).

Diese Entwicklung wird zwangsläufig mit erhöhten Aufwendungen für Forschung und Dokumentation einhergehen. Zur gleichen Zeit wird von der Labormedizin gefordert, dass sie auch weiterhin einen Beitrag zu einer qualitativ hochwertigen, wirksamen, zweckmässigen und wirtschaftlichen medizinischen Versorgung der Schweizer Bevölkerung leistet. Vor diesem Hintergrund trat der Verband der medizinischen Laboratorien der Schweiz (Foederatio Analyticorum Medicinalium Helveticorum, FAMH) an das Institut für Innovation & Evaluation im Gesundheitswesen (InnoValHC) heran, den von der Schweizer Labormedizin gegenwärtig generierten und künftig zu erwartenden Nutzen aus den Perspektiven von Patienten und Gesellschaft zu untersuchen.

Mit diesem Ziel wurden zunächst die Krankheitsgruppen identifiziert, die am meisten zu vorzeitiger Mortalität und Morbidität («Krankheitslast» oder «Burden of Disease») der Schweizerinnen und Schweizer beitragen. Für jeweils mindestens ein medizinisches Problem aus diesen Gruppen wurde der Nutzen labormedizinischer Leistungen im Lichte jüngerer Entwicklungen exemplarisch analysiert: Lungen-, Darm- und Brustkrebs als häufigste onkologische Erkrankungen, rheumatoide Arthritis, akuter Myokardinfarkt, depressive Gesundheitsstörungen, sowie Hepatitis C und Sepsis als wichtige Infektionskrankheiten. In allen untersuchten Fällen zeigte sich die moderne Labormedizin (beispielhaft der Einsatz prädiktiver Biomarker als Voraussetzung einer gezielten Krebstherapie, Tests auf Anti-CCP-Antikörper bzw. hochsensitives kardiales Troponin zur frühen Diagnose der rheumatoiden Arthritis bzw. des akuten Herzinfarkts, TSH-Tests und therapeutisches Drug Monitoring für eine ursachengerechte, effektive Therapie von Depressionen, und die präzise Erregerdiagnostik einschliesslich Resistenzbestimmungen im Rahmen der Infektiologie) als medizinisch wertvoll oder sogar unverzichtbar. Dabei erwiesen sich die untersuchten Tests durchweg als kosteneffektiv, mithin als «Werttreiber» mit einem attraktiven Kosten/Nutzen-Verhältnis.

Mit dem zunehmenden Einsatz innovativer molekularbiologischer und molekulargenetischer Methoden verknüpft ist die Hoffnung auf eine entscheidende Weiterentwicklung der Diagnostik auf dem Weg zu einer «Präzisionsmedizin»,Footnote 1 die nicht nur eine neue Dimension zielgerichteter Therapien verspricht, sondern auch Perspektiven für eine rationalere und damit effektivere und effizientere Steuerung der aufwendigen medizinischen Forschung und Entwicklung (F&E) eröffnet. Vor allem in den Bereichen der Krebsmedizin und der Infektiologie haben sich bereits erste, zum Teil eindrucksvolle Erfolge eingestellt, so dass mit «präzisionsmedizinischen» Ansätzen die Hoffnung verbunden wird, gegenwärtig noch vorherrschende «One Size Fits All»-Therapiestrategien künftig durch «die richtige Therapie für den richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt» ersetzen zu können. Davon verspricht man sich eine frühere Krankheitserkennung, genauere Differentialdiagnostik, zielgenauere Therapien mit verbesserter Wirksamkeit und Verträglichkeit, sowie in der Konsequenz nicht nur grösseren Nutzen für die betroffenen Personen, sondern auf der gesellschaftlichen Ebene positive Public Health-Effekte und verbesserte Kosten/Nutzen-Relationen bis hin zu Einsparungen durch Vermeidung von unnützen oder sogar schädlichen medizinischer Massnahmen. Der unübersehbare Aufschwung von Pharmakogenomik, von Companion Diagnostics und von Next Generation Sequencing-Techniken der Genomanalyse, auch in Kombination mit der Entwicklung von Flüssigbiopsien als Alternative zu wiederholten belastenden Gewebeentnahmen, befindet sich noch in einer frühen Phase des Technologielebenszyklus.

Für die fortgesetzte aktive Teilhabe der Schweizer Laboratoriumsmedizin an dieser Innovationsdynamik und für die Translation der wissenschaftlichen Fortschritte in den Versorgungsalltag («from bench to bedside») wird es ein regulatorisches Umfeld brauchen, das eine belastbare Balance findet im Spannungsfeld zwischen notwendigerweise bürokratischen Standards für den Nachweis und die Dokumentation von Nutzen und Wirtschaftlichkeit («Effizienz 1. Ordnung») und dem Ziel einer hohen Innovations- und Anpassungsfähigkeit («Effizienz 2. Ordnung»). Die Erfahrungen mit der SARS-CoV-2-Pandemie unterstreichen die Bedeutung hoher fachlicher und technischer Kompetenz, Ressourcenausstattung, Reaktionsfähigkeit und Flexibilität der Labormedizin im Sinne einer effektiven Pandemiebekämpfung und Krisenprävention.

Unter diesen Voraussetzungen dürfen von der Schweizer Laboratoriumsmedizin als einem durch Hochtechnologie geprägten Dienstleistungsbereich auch zukünftig massgebliche Beiträge erwartet werden zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung der Schweizer Bürger – und ihrer Krisenfestigkeit – ebenso wie die Übernahme einer führenden Rolle bei der Implementierung effizienter Prozesse im Rahmen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens und eine enge interdisziplinäre Kooperation im Kontext der unabdingbaren qualitätsgesicherten Prä- und Postanalytik.

In den nächsten Abschnitten werden einleitend zunächst – angesichts der gebotenen Kürze etwas plakativ – die wesentlichen Ergebnisse und damit die Kernaussagen der vorliegenden Arbeit zusammenfassend dargestellt. Eine ausführlichere, vollständig dokumentierte und damit auch differenziertere Diskussion findet sich dann in den jeweiligen Folgekapiteln 4 und 5.

1.1 Ausgangssituation

Das Schweizer Gesundheitswesen erweist sich in internationalen Vergleichen regelmässig als besonders leistungsfähig, aber auch teuer. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen oder ökonomisch genauer, von Grenzkosten zu Grenznutzen. Davon bleibt die labormedizinische Diagnostik nicht ausgenommen, obwohl ihr Kostenanteil an den Schweizer Gesundheitsausgaben mit 2,4 %, auf die Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) bezogen mit 2,8 % berichtet wird. Dem steht nach verbreiteter Expertenmeinung gegenüber, dass mindestens 70 % aller klinischen Entscheide (Diagnosen, Spitalaufnahmen, Therapien usw.) massgeblich von Labordaten mitbestimmt werden.

Mit dem Siegeszug der evidenzbasierten Medizin (EBM), mit erhöhten regulatorischen Hürden für den Leistungsnachweis vor und nach erfolgter Zulassung, wie auch mit der zunehmenden systematischen Prüfung des klinischen Nutzens und des Kosten/Nutzen-Verhältnisses von labordiagnostischen Verfahren im Rahmen von Health Technology Assessments (HTAs), wird ein Konsensus von Experten nicht mehr als hinreichender Nutzennachweis anerkannt. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung, die zwangsläufig mit erhöhten Entwicklungs- und Dokumentationskosten einhergehen wird, steht die Laboratoriumsmedizin zunehmend unter Rechtfertigungsdruck für die von ihr verursachten Kosten.

Der Nachweis des Nutzens der labormedizinischen Diagnostik ist nicht trivial. Vorausgesetzt und in jedem Einzelfall belegt werden müssen die analytische und die klinische Validität, um auf dieser Basis den klinischen Nutzen aus der Perspektive von Patienten und Gesellschaft zu bestimmen und in einem weiteren Schritt einer Bewertung zu unterziehen, was dann gesundheitsökonomische, soziale und ethische Aspekte berührt. Der Nutzen entsteht erst im Zusammenspiel von präanalytischen, labortechnischen und postanalytischen Prozessschritten und ist abhängig von dem Wert, der erst über die adäquate Integration der Labordiagnostik in die medizinische Versorgung und in Behandlungspfade generiert wird. Es ist nicht immer einfach, den spezifischen Wertbeitrag einzelner Komponenten einer Strategie zu isolieren und daraus belastbare Aussagen zu deren Kosten/Nutzen-Verhältnis abzuleiten.

1.2 Systematische Nutzenbewertung

Health Technology Assessments (HTAs) sind eine international breit angewandte Methode für die systematische Nutzenbestimmung medizinischer Verfahren. Für Produkte setzen sie die für die Inverkehrbringung notwendige Zulassung voraus, welche sie nicht ersetzen, sondern ergänzen. Zu den wichtigsten Funktionen von HTAs zählt die zielkonforme Unterstützung von Entscheiden – das heisst im schweizerischen Kontext die Unterstützung einer den (vom Krankenversicherungsgesetz, KVG, vorgegebenen) Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit («WZW») gerecht werdenden Gesundheitsversorgung im Rahmen der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Idealerweise informieren die Ergebnisse unabhängig von Partikularinteressen durchgeführter HTAs politische Erstattungs- und Preisentscheide, helfen bei der Identifikation von Evidenzlücken und Forschungsbedarf, und unterstützen so die Gewährleistung einer effektiven und effizienten medizinischen Versorgung der Bevölkerung auf hohem Qualitätsniveau.

Abgeschlossene HTAs von Diagnostika bieten damit eine wichtige Informationsquelle für die Bewertung ihres Nutzens aus klinischer (patientenbezogener) und gesellschaftlicher (Public Health-bezogener und ökonomischer) Perspektive. Während sich Implementierung und Kodifizierung von HTAs in der Schweiz noch in einem im internationalen Vergleich eher frühen Entwicklungsstadium befinden, liegen langjährige Erfahrungen aus anderen Gesundheitssystemen vor. Eine Auswertung der HTA-Ergebnisse der Canadian Agency for Drugs and Technologies in Health (CADTH) und des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in Grossbritannien, die bereits seit 1995 bzw. seit 2005 HTAs von Diagnostika durchführen, zeigt für die Mehrzahl der bewerteten Labordiagnostika ein positives Evaluationsergebnis; bei Nichtberücksichtigung (aus unterschiedlichen Gründen noch) nicht abgeschlossener Evaluationen verbleibt nur eine kleine Zahl negativer Nutzen- und Kosten/Nutzen-Bewertungen von Diagnostika – womit Tests in HTAs bislang tendenziell besser abschneiden als Medikamente, an die traditionell strenge Anforderungen hinsichtlich der Evidenz für ihren Nutzen und ihren Wert («Value for Money») gestellt werden.

«Companion Diagnostics» stellen in diesem Zusammenhang einen Sonderfall dar, da ihr Einsatz nach den international verschärften Richtlinien (in der EU neue «In Vitro Diagnostic Regulation», IVDR) eine obligate Bedingung für die Anwendung eines bestimmten Medikaments ist und sie regelmässig als Produkte mit hohem Risiko (Klasse C in der Europäischen Union; Klasse III in den Vereinigten Staaten) strengen Zulassungs- und Überwachungskriterien unterliegen. Mit Ende des Jahres 2020 wurden von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) 44 Companion Diagnostics zugelassen, von denen sich 43 auf die zielgerichtete Therapie («Targeted Therapy») von Krebserkrankungen beziehen. Deskriptive Vergleichsanalysen der objektiven Ansprechraten von Krebserkrankungen im Spätstadium auf Basis der Zulassungsstudien bestätigen die Erwartung, dass eine gezielte Therapie unter Nutzung von Companion Diagnostics zu besseren klinischen Ergebnissen führt als herkömmliche Therapien.

1.3 Vorgehensweise

Die weitere methodische Vorgehensweise für die vorliegende Ausarbeitung beruht auf strukturierten Reviews der Evidenz für den Nutzen ausgewählter labordiagnostischer Verfahren aus jenen Krankheitsbereichen bzw. Therapiegebieten, die für die grössten Anteile an der Krankheitslast der Schweizer Bevölkerung ursächlich sind. Daher wird im Folgenden der Nutzen labormedizinischer Diagnostik bei Krebserkrankungen (mit einem Schwerpunkt auf «gezielten Therapien» gegen Lungen-, Darm- und Brustkrebserkrankungen), bei muskuloskelettalen Erkrankungen (beispielhaft Diagnostik der rheumatoiden Arthritis), bei kardiovaskulären Erkrankungen (exemplarisch Troponin-Tests bei akutem Myokardinfarkt), bei psychiatrischen Erkrankungen (exemplarisch Therapeutic Drug Monitoring und TSH-Test bei depressiven Störungen) sowie bei Infektionskrankheiten (Hepatitiden und Sepsis) beleuchtet werden. Auf die Rolle der labormedizinischen Diagnostik bei neurologischen Erkrankungen wird im Kap. 5, «Zukunftspotenziale», eingegangen werden.

Die Bewertung des Nutzens orientiert sich jeweils an dem Vorschlag von Dennis G. Fryback und John R. Thornbury in Medical Decision Making (1991), die ein hierarchisches Modell skizzierten, demzufolge ein konzeptionelles Kontinuum in der Nutzengenerierung besteht – beginnend mit der technischen Qualität eines Testverfahrens («Level 1»), darauf aufbauend seiner diagnostischen Genauigkeit und Validität («Level 2»), gefolgt von diagnostischem und therapeutischem Impact («Level 3» und «Level 4»), den klinischen Outcomes oder dem patientenbezogenen Nutzen («Level 5») und schliesslich dem Nutzen aus gesellschaftlicher Sicht, einschliesslich der Kosten/Nutzen-Relation («Level 6»). Entscheidend ist dann die Stärke der Evidenz für den patientenbezogenen und gesellschaftlichen Nutzen (Levels 5 und 6).

1.4 Krebs und Krebsmedizin

Für den Bereich der Krebsmedizin (Onkologie) gilt, dass in der Schweiz – vergleichbar der Situation in anderen westlichen Ländern – die direkten Kosten für etwa sechs Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben verantwortlich und daher gemessen an der krebsbedingten Krankheitslast sehr niedrig sind. Mit einem Anteil der Krebserkrankungen an der gesamten Krankheitslast der Schweizer Bevölkerung von 17,5 % bewegt sich die Schweiz diesbezüglich im weltweiten und europäischen Umfeld in einem relativ günstigen Bereich. Mindestens seit 1990 waren sowohl die altersstandardisierte Krankheitslast als auch die realen (inflationsbereinigten) indirekten Kosten – dafür verantwortlich waren vor allem die aufgrund vorzeitiger Mortalität entstehenden Produktivitätsverluste – wegen Krebserkrankungen in der Schweiz rückläufig, was mit der deutlichen Zunahme der Überlebenschancen in diesem Zeitraum zusammenhängt.

Labormedizinische Diagnostik hat zu diesen Fortschritten in mehrfacher Weise über das gesamte Kontinuum der medizinischen Versorgung hinweg beigetragen. Tumormarker spielen in der Krebsmedizin wichtige Rollen in Früherkennung, Prävention und Therapie, sowohl hinsichtlich der Auswahl der für den individuellen Patienten bestgeeigneten Behandlungsoptionen als auch für das Monitoring des Therapieerfolgs und generell für Verlaufskontrollen.

Die grösste tumorbedingte Krankheitslast verursachen in der Schweiz (in dieser Reihenfolge) Lungen-, Darm- und Brustkrebserkrankungen. Früherkennungs- und Präventionsstrategien mittels Biomarkern sind für Lungenkrebs aktuell noch ein Forschungsthema; für Brustkrebs ist das deutlich erhöhte Erkrankungsrisiko von Trägerinnen von BRCA1- und BRCA2-Mutationen bekannt und könnte in der Zukunft zur Entwicklung von risikoadaptierten Screening-Strategien beitragen. Für die Früherkennung und Prävention von Darmkrebs haben sich Strategien unter Einbezug von modernen immunologischen Antikörper-basierten Tests auf okkultes Blut im Stuhl («immunochemical fecal occult blood test», iFOBT) als sehr wirksam und kosteneffektiv erwiesen.

Der Einsatz von Biomarkern für zielgerichtete TherapienTargeted Therapies») ist derzeit die eigentliche Domäne labormedizinischer Untersuchungen, die je nach Technik überwiegend an pathologisch, humangenetisch oder laboratoriumsmedizinisch spezialisierten Zentren durchgeführt werden. Beispiele hierfür sind:

Lungenkrebs: Im Fall nichtkleinzelliger Bronchialkarzinome, die mehr als 80 % aller bösartigen Lungentumore ausmachen, führt die Detektion von Treibermutationen (vor allem EGFR-Mutationen in etwa 17 % der Fälle und ALK-Translokationen in etwa 7 % der Fälle) zu einer zielgerichteten Therapie mit Tyrosinkinase-Inhibitoren, mit denen erhebliche Verbesserungen des progressionsfreien und Gesamtüberlebens gegenüber herkömmlicher Chemotherapie erreicht werden.

Darmkrebs: In den frühen Stadien eines kolorektalen Karzinoms (CRC) stehen operative Therapien im Vordergrund. Allerdings wird rund ein Viertel aller CRCs erst im metastasierten Spätstadium erkannt; weitere 20 % der in früheren Stadien diagnostizierten Fälle entwickeln später doch noch Metastasen. Signifikante Verbesserungen des – insgesamt immer noch unbefriedigenden – progressionsfreien und Gesamtüberlebens über die mit Standardchemotherapie erzielten Ergebnisse hinaus gelingen erst mit zielgerichteten Therapien (Anti-EGFR-Antikörper, Anti-Angiogenese-Wirkstoffe, Immun-Checkpoint-Inhibitoren), deren richtige individuelle Auswahl entscheidend vom Ergebnis molekulargenetischer Tests (vorrangig Bestimmungen des RAS- und BRAF-Mutationsstatus) abhängt.

Brustkrebs: Auch bei Brustkrebs stehen im frühen Stadium zunächst operative Verfahren im Vordergrund. Bei invasiver Pathologie dagegen haben sich bereits seit den 1970er-Jahren zielgerichtet wirksame Medikamente bewährt; Antiöstrogene wie Tamoxifen und Aromataseinhibitoren (die die Östrogenbiosynthese hemmen) für postmenopausale Frauen führen zu deutlich besseren Überlebenschancen, wenn die Malignome Hormonrezeptor-positiv («endokrin sensitiv») sind. Etwa zwei Drittel aller Mammakarzinome sind sowohl Östrogen- als auch Progesteronrezeptor-positiv. Dann senkt eine adjuvante endokrine Therapie die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs um relativ rund 40 % und die Mortalität um zirka 30 %.

Die Einführung von Trastuzumab als erstem monoklonalen Anti-HER2-Antikörper für die Therapie des fortgeschrittenen HER2-positiven Mammakarzinoms (in der Schweiz 1999) markiert einen epochalen Durchbruch, denn erstmals wurde eine zielgerichtete Therapie gemeinsam mit einem diagnostischen Test («Companion Diagnostic») entwickelt und zugelassen. Von paradigmatischer Bedeutung für Forschung & Entwicklung neuer zielgerichteter Therapien ist der Umstand, dass die Phase III-Studien von Trastuzumab ohne eine testgeleitete «Enrichment Strategy» mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert wäre. Heute profitieren Patientinnen mit aggressiven HER2-positiven Brustkrebserkrankungen von der Verfügbarkeit wirksamer therapeutischer Optionen sowohl im adjuvanten Setting als auch im fortgeschrittenen metastasierten Stadium, deren effizienter Einsatz ohne eine – in der Regel in pathologischen Labors stattfindende – vorherige qualitätsgesicherte Bestimmung des HER2-Status nicht denkbar wäre.

Zahlreiche gesundheitsökonomische Evaluationen der Biomarker-informierten zielgerichteten Krebstherapien liegen vor und zeigen eine grosse Übereinstimmung in dem Befund, dass die Kosteneffektivität der neuen Behandlungsstrategien stark von den Therapiekosten als entscheidendem Kostentreiber beeinflusst wird, während die diagnostischen Tests als Werttreiber wirken: sie schaffen zu einem Bruchteil der Kosten der Therapie grossen Nutzen durch das Auffinden der Patienten, die von einer zielgerichteten Therapie profitieren, und umgekehrt durch den Ausschluss nicht geeigneter Patienten, mithin der Vermeidung von sinnlosen Kosten und Nebenwirkungen («Überversorgung»).

1.5 «Rheumatische» Erkrankungen

Muskuloskelettale Erkrankungen oder «rheumatische Erkrankungen» gehen – nur übertroffen von bösartigen Tumoren – mit der zweithöchsten Krankheitslast aller Krankheitsarten oder mehr als 15 % der gesamten krankheitsbedingten Verluste an Lebenszeit und Lebensqualität in der Schweiz einher. Sie verursachen sehr hohe Kosten für das Gesundheitswesen und zusammen mit den Kosten aufgrund verlorener Arbeitsproduktivität sind sie die aus volkswirtschaftlicher Perspektive teuerste Erkrankungsgruppe in der Schweiz.

Alleine für die rheumatoide Arthritis muss in der Schweiz von 70.000 Betroffenen ausgegangen werden; Frauen sind drei Mal häufiger betroffen als Männer. Durchschnittlich fallen pro Patient jährliche direkte Kosten von über 15.063 CHF für Medikamente sowie stationäre und ambulante medizinische Versorgung an. Die direkten medizinischen Kosten wurden für das Jahr 2011 mit 791 Mio. CHF beziffert; die indirekten Kosten werden auf weitere 1534 Mio. CHF geschätzt.

Die Kosten der Labordiagnostik machen davon nur einen sehr kleinen Teil aus. Dem steht gegenüber, dass neuere serologische Tests – im konkreten Fall die Ergänzung der üblichen Untersuchungen um ACCP-Antikörper-Tests – eine sehr viel genauere und vor allem frühere Diagnose und damit eine wirksamere Therapie ermöglichen. Ihr Einsatz ist nach allen gängigen Massstäben kosteneffektiv, wenn nicht sogar insgesamt kostensparend und erfüllt daher im Rahmen der Diagnostik und Differentialdiagnostik der rheumatoiden Arthritis sämtliche Nutzenkriterien nach Fryback/Thornbury. Bei der rheumatoiden Arthritis erweist sich moderne Labordiagnostik abermals eindeutig als Wert-, nicht Kostentreiber.

1.6 Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Akuter Myokardinfarkt

Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ischämische Herzerkrankungen einschliesslich der akut lebensbedrohlichen Myokardinfarkte zählen zu den wichtigsten Ursachen von Morbidität und Mortalität in der Schweiz. Eine erfolgreiche Behandlung erfordert insbesondere eine schnelle und zuverlässige diagnostische Abklärung des Leitsymptoms «Brustschmerz». Sind keine typischen Veränderungen im Elektrokardiogramm (EKG) nachweisbar, gelingt die frühe Diagnose nur labormedizinisch.

Die Labordiagnostik hat hierzu erhebliche Fortschritte beigetragen. Heute übliche hochselektive Troponin-Tests beruhen auf dem Nachweis herzmuskelspezifischer Proteine im Blut und stellen den wichtigsten Laborparameter für die Diagnose einer Schädigung des Herzmuskelgewebes dar. Sie erlauben eine ausserordentlich schnelle Diagnostik (die als «1-Stunden-Algorithmus» Eingang in aktuelle klinische Leitlinien gefunden hat), was für die rasche Behandlung von Patienten mit Herzinfarkten ohne typische EKG-Veränderungen («NSTEMIs») von entscheidender Bedeutung ist. Auch der schnelle Ausschluss eines Herzinfarkts nach Auftreten typischer Symptome («Rule-Out») ist von klinischem Nutzen, weil er Überversorgung und Kosten vermeiden hilft. Das Kosten/Nutzen-Verhältnis respektive die Kosteneffektivität moderner hochsensitiver Troponin-Tests gilt als gut belegt; ihr Einsatz verkürzt die durchschnittliche Verweildauer in Notaufnahmen und stationär im Spital.

1.7 Psychiatrische Erkrankungen

Psychische und psychiatrische Störungen betreffen einen erheblichen Teil der Schweizer Bevölkerung mindestens einmal im Leben. Sie sind eine führende Ursache der Krankheitslast in der Schweiz, primär aufgrund der mit ihnen verbundenen Morbidität (nicht Mortalität). Angesichts der lückenhaften Datenlage lassen sich die von ihnen verursachten Kosten – je nach verwendeter Quelle – nur näherungsweise mit einer Grössenordnung von drei bis vier Prozent des Schweizer Bruttoinlandsprodukts – oder mindestens 15 bis 21 Mrd. CHF pro Jahr – angeben. Davon entfallen einer Studie des European Brain Council (EBC) zufolge 37 % auf direkte medizinische Kosten, 13 % auf direkte nicht-medizinische Kosten (zum Beispiel für Sozialdienste und «informelle» Betreuungsleistungen) sowie 50 % auf Produktivitätsverluste durch Krankheit und vorzeitige Pensionierungen.

Depressionen unterschiedlicher Schweregrade zählen zu den am häufigsten diagnostizierten psychiatrischen Störungen. Sie gehen für die Betroffenen mit erheblichen Lebensqualitätsverlusten, mit substanziellen medizinischen Kosten und aus volkswirtschaftlicher Sicht darüber hinaus mit massiven Produktivitätsverlusten einher. Aus der EBC-Studie lassen sich Schätzungen extrahieren, nach denen sich die durchschnittlichen Kosten pro Fall einer schweren Depression auf 3775 € (in Kaufkraftparitäten für 2010) im Jahr belaufen, überwiegend verursacht durch Arbeitsausfall, was sich angesichts der hohen Prävalenz depressiver Störungen neben den humanitären Konsequenzen auf einen volkswirtschaftlichen Schaden von mehr als 1,7 Mrd. CHF im Jahr 2010 summiert haben soll.

Grundsätzlich müssen bei psychiatrischen Störungen mögliche somatische und hier vor allem endokrine Ursachen ausgeschlossen werden. So wurde früh beschrieben, dass eine mittels Labordiagnostik einfach zu erkennende Hypothyreose bei rund einem Viertel der Fälle «therapieresistenter» Depressionen vorliegt, gegenüber zwei Prozent der Patienten, die auf eine adäquate Therapie ansprachen. Umgekehrt gelten Depressionen als die häufigste neuropsychiatrische Folge von Schilddrüsenfunktionsstörungen. Unbeschadet der Tatsache, dass bei der Diagnostik depressiver Erkrankungen das klinische Bild im Vordergrund steht, und auch wenn insgesamt nur ein kleiner Prozentsatz der Patienten mit affektiven Störungen an einer manifesten Schilddrüsenunterfunktion leidet, bietet ein TSH-Test doch eine effektive und kostengünstige Möglichkeit, die betroffenen Patienten frühzeitig zu identifizieren und einer ursachengerechten Therapie zuzuführen. Die Überprüfung der Datenlage zum Nutzen des TSH-Tests steht hier stellvertretend für die zahlreichen Tests, die zum Ausschluss somatischer Ursachen einer psychiatrischen Störung durchgeführt werden müssen.

Das «Therapeutische Drug-Monitoring (TDM)» ist ein klinisch wichtiges Einsatzgebiet der Labordiagnostik über die Psychiatrie hinaus. Für die Therapie mit Arzneimitteln mit einem engen therapeutischen Index (Narrow Therapeutic Index, NTI) ist TDM obligat. Auch bei anderen Arzneimitteln, bei Antidepressiva und in weiteren Indikationen und Therapiegebieten, profitiert der Erfolg vielfach von einer personalisierten Dosistitration, um bestmögliche Wirksamkeit mit der Vermeidung von Nebenwirkungen oder sogar Toxizitäten zu verbinden. Die hohen Kosten, die von unsachgemässer Einnahme (bis hin zu Nichteinnahme im Fall von fehlender «Adhärenz») von Medikamenten verursacht werden, begründen die Vermutung, dass das klinische und gesundheitsökonomische Nutzenpotenzial des TDM noch nicht näherungsweise ausgeschöpft ist.

1.8 Infektiologie und Infektionskrankheiten

Infektionskrankheiten sind weltweit eine der wichtigsten Ursachen von Morbidität, Mortalität und Krankheitslast. Ihre wirkungsvolle, zielgerichtete Bekämpfung ist nicht vorstellbar ohne eine leistungsfähige labormedizinische Diagnostik. Der Nutzen der Laboratoriumsmedizin wird deutlich anhand ihrer Beiträge zur Bewältigung der Herausforderungen, welche mit den Zielen der Elimination der Hepatitis C und der Reduktion der Sepsis-bedingten Mortalität verknüpft sind, einschliesslich des Umgangs mit den Problemen vermeidbarer nosokomialer Infektionen und Antibiotikaresistenzen.

Die zentrale Stellung der Labordiagnostik und hier vor allem der Mikrobiologie ist nicht auf die Identifikation der eine Infektion verursachenden Keime beschränkt, sondern umfasst die Prüfung der Erreger auf ihre Empfindlichkeit bzw. Resistenz gegen Medikamente, in bestimmten Situationen einschliesslich einer Bestimmung des der Resistenz zugrunde liegenden Mechanismus. Laboranalysen erlauben patientenbezogen eine schnelle und präzise Erreger-Diagnostik, die zielsichere Auswahl geeigneter Medikamente und die Vermeidung unnötiger und schädlicher Verordnungen. Auf Public Health-Ebene liefern sie unverzichtbare epidemiologische Informationen über die Ausbreitung von Erregern und Resistenzmechanismen, ohne die eine Konzeption effizienter Präventions- und Kontrollprogramme nicht möglich wäre.

Auf Hepatitis C bezogen ist die Diagnostik einschliesslich der Geno-Typisierung der Viren der unverzichtbare Bestandteil einer Erfolgsgeschichte, die heute nicht nur eine effektive Therapie fast aller Infizierter möglich macht, sondern auch das von der WHO ausgerufene Ziel einer weltweiten Elimination der Infektion realistisch erscheinen lässt. In nahezu allen Fällen reagiert die – überwiegend attraktive – Kosteneffektivität von Strategien zum Screening, zur Elimination der Virus und zur Diagnose und Behandlung infizierter Patienten nicht sensitiv auf die vergleichsweise niedrigen Kosten der Labordiagnostik.

Sepsis wurde aus methodischen Gründen der Krankheitsstatistiken lange verkannt als (Mit-) Ursache von rund 20 % aller weltweiten Todesfälle. In der Schweiz muss bei stationär behandelten Patienten mit einer Sepsis von einer 30-Tage-Mortalität von rund 25 % ausgegangen werden, was in etwa dem europäischen Durchschnitt entspricht. Die Fallkosten für jeden intensivmedizinisch versorgten Patienten betrugen bereits vor 20 Jahren mehr als 40.000 CHF, wovon weniger als 15 % auf Laborleistungen einschliesslich mikrobiologischer Untersuchungen entfielen.

Dabei kommt der modernen Labormedizin eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Sepsis-bedingten Mortalität zu, sowohl in der Prävention vermeidbarer Health Care-assoziierter Infektionen (HAIs) als auch für den rationalen Einsatz antimikrobieller Wirkstoffe, um der Entstehung und Verbreitung resistenter Erreger vorzubeugen, schliesslich dem Screening von stationär aufgenommenen Patienten auf Infektionen oder Kolonisation mit prävalenten multiresistenten Erregern (wie zum Beispiel Methizillin-resistentem Staphylococcus aureus, MRSA) mit Hilfe molekularbiologischer Verfahren. Für die Diagnostik der Sepsis und ihre adäquate antimikrobielle Therapie stehen neben traditionellen Verfahren wie der immer noch entscheidenden Nutzung von Blutkulturen zur Erreger- und Resistenzbestimmung, durchaus auch Procalcitonin-Tests und zunehmend komplexe Techniken zum schnellen Erregernachweis aus Vollblut zur Verfügung.

Zahlreiche gesundheitsökonomische Evaluationen unterstreichen die unverzichtbare Rolle der Labormedizin für den Erfolg der Therapie der Sepsis und des septischen Schocks. Sie belegen für labormedizinische Verfahren über weite Anwendungsbereiche hinweg nicht nur ein gutes Kosten/Nutzen-Verhältnis, sondern sogar eine kostensenkende Wirkung bei gleichzeitig verbesserten Outcomes für die betroffenen Patienten.

1.9 Laboratoriumsmedizin als «Werttreiber»

Insgesamt lässt die Analyse des Nutzens labordiagnostischer Verfahren ein klares Muster erkennen. Der patientenbezogene («klinische») Nutzen bei leitliniengerechter Anwendung steht ausser Zweifel. Zugleich ist die Labordiagnostik in grosser Regelmässigkeit nur für einen kleinen Teil der direkten Kosten der medizinischen Versorgung verantwortlich. Auch aus gesellschaftlicher Public Health- und (gesundheits-) ökonomischer Perspektive ist der Nutzen der evaluierten labormedizinischen Verfahren gut belegt; ihr Einsatz erweist sich fast immer als kosteneffektiv, nicht selten sogar als kostensenkend. Die moderne Laboratoriumsmedizin stellt damit einen wichtigen Werttreiber im Schweizer Gesundheitswesen dar.

1.10 Zukunftspotenziale der Labormedizin

Die Zukunftspotenziale der Laboratoriumsmedizin sind enorm und ihre Ausschöpfung verspricht wesentliche Beiträge zum medizinischen Fortschritt und einer verbesserten Gesundheitsversorgung der Schweizer Bevölkerung. Die Entwicklung der Präzisionsmedizin steht noch am Anfang und ist geprägt von der zunehmenden Verfügbarkeit verlässlicher diagnostischer Informationen mit prognostischem und prädiktivem Wert.

1.10.1 Biopharmazeutische Forschung & Entwicklung (F&E)

Neues F&E-Paradigma. Die mithilfe von Biomarkern selektiv auf definierte molekulare onkogene Mechanismen gerichteten neuen Therapieansätze haben mit der zunehmenden Individualisierung einerseits zu teils spektakulären Therapieerfolgen geführt, andererseits aber zugleich immer kleinere Patientengruppen zur Folge. Im Extremfall werden Patienten – wie schon heute bei den ersten zugelassenen «tumoragnostischen» Indikationen der Fall (Beispiele sind der Immun-Checkpoint-Inhibitor Pembrolizumab und die TRK-Inhibitoren Larotrectinib und Entrectinib) – nur noch aufgrund (in diesen Fällen derzeit in histopathologischen Labors diagnostizierter) molekularer Defekte mit einem bestimmten Wirkstoff (oder einer Wirkstoffkombination) behandelt, ohne Rücksicht auf die genaue Tumorart und -lokalisation, wie bislang noch ganz überwiegend üblich.

Effektivere und effizientere F&E. Es verstärken sich die Hinweise darauf, dass molekular gezielt wirksame Therapien («Targeted Therapies») in der klinischen Forschung und Entwicklung (F&E) deutlich höhere Erfolgsraten aufweisen als nicht gezielt wirksame antineoplastische Substanzen, deren klinische Entwicklung in bis zu 97 % der Fälle scheitert. Dafür ausschlaggebend sind eine besser informierte Selektion von präklinischen Wirkstoffkandidaten für die weitere F&E, rationalere Entwicklungsstrategien durch besseres Verständnis der Wirkmechanismen, schnellere Entwicklung wegen kleinerer Fallzahlen für den Wirksamkeitsnachweis und mögliche Stratifizierung ex ante oder gegebenenfalls auch post hoc.

Mit dem verringerten Risiko des Scheiterns (technisch: niedrigeren «Attrition Rates») verbindet sich nicht nur die Hoffnung auf geringere Risiken für Studienpatienten, sondern auch die Erwartung einer höheren Produktivität der biopharmazeutischen Forschung, nachdem der durchschnittliche F&E-Aufwand für ein neues Medikament über ein halbes Jahrhundert hinweg stetig anstieg und mittlerweile sehr deutlich in den Milliarden-CHF-Bereich vorrückte. Der zunehmende Einsatz prädiktiver Biomarker hat einen noch nicht abgeschlossenen Prozess angestossen, der zu innovativen Designs für klinische Studien und zu effizienteren F&E-Strategien führen wird. Dafür stehen neue Konzepte wie «Patient Enrichment», «Basket Trials», «Umbrella Trials» und adaptive «Platform Trials», deren Anwendung sich seit Mitte der 2010er-Jahre vervielfacht hat – mit sehr ermutigenden Ergebnissen.

1.10.2 Entwicklungen mit hohem Nutzenpotenzial

Das Potenzial der Pharmakogenomik ist bei Weitem nicht ausgeschöpft angesichts der sehr hohen Folgekosten fehlerhafter Arzneimitteltherapien (die alleine für das Gesundheitssystem in den USA auf mehr als 500 Mrd. USD pro Jahr geschätzt werden). Immer mehr neue Arzneimittel werden mit pharmakogenetischen Hinweisen zugelassen. Aktuell wird in der europäischen «Preemptive Pharmacogenomic Testing for Prevention of Adverse Drug Reactions» («PREPARE-») Studie ein Panel von mehr als 40 Genvariationen auf den Nutzen und die Kosten/Nutzen-Relation einer Implementierung in der klinischen Routineversorgung überprüft.

Krebsmedizin. Liegt bei einem Bronchialkarzinom keine Treibermutation vor, dann empfehlen die NSCLC-Leitlinien schon heute eine erweiterte molekulargenetische Analyse. Zielgerichtete Therapieansätze gegen die verschiedenen onkogenen Signalwege bei NSCLC sind Gegenstand intensiver F&E-Aktivitäten; die vermehrt auch den klinischen Nutzen in frühen Stadien der Erkrankung bei kurativer Intention untersuchen. Eine vergleichbare F&E-Dynamik zeigt sich bei kolorektalen Karzinomen und beim Mammakarzinom, wobei die Entwicklung stark von der Suche nach neuen prognostischen und vor allem für das Therapieansprechen prädiktiven Biomarkern geprägt wird.

Die Einführung von Next Generation Sequencing (NGS)-Techniken markiert den Übergang vom Paradigma der Paarung «ein Biomarker/ein Wirkstoff» hin zu massiv-paralleler Hochdurchsatz-Sequenzierung mit weitgehender Automatisierung, Beschleunigung und Kostensenkung des molekulargenetischen Analyseprozesses, so dass ein komplettes menschliches Genom innert weniger Stunden sequenziert werden kann. An der Schwelle zur breiten Anwendung in der klinischen Routineversorgung stehen die auf unterschiedlichen technologischen Plattformen kommerziell erhältlichen Multi-Gen-Panel-Sequenzierungen, die eine gezielte Untersuchung derjenigen Gene erlauben, deren prognostische oder prädiktive Relevanz aufgrund der (Verdachts-) Diagnose angenommen wird. Umfassendere Sequenzierungen («Whole Exome Sequencing» aller kodierenden Genombereiche und erst recht Vollsequenzierungen, «Whole Genome Sequencing») sind im Wesentlichen noch Forschungsthemen.

FlüssigbiopsienLiquid Biopsies») sind eine vielversprechende Alternative zu belastenden und deshalb oft gar nicht möglichen wiederholten Gewebeentnahmen. Sie werden in Kombination mit NGS-Techniken vermehrt für die Erstcharakterisierung und für die Verlaufskontrolle von Tumorerkrankungen eingesetzt. Das Monitoring des Therapieansprechens ermöglicht die frühe Erkennung von Mutationen und erlaubt somit zielgerichtete Therapieanpassungen. Sowohl die Analyse zellfreier zirkulierender Tumor-DNA («circulating tumor DNA», ctDNA) als auch von zirkulierenden Tumorzellen («circulating tumor cells», CTCs) hat sich bereits als sehr nützlich erwiesen, um den Erfolg operativer Massnahmen und das Risiko von Rückfällen zu bewerten, die bestgeeignete gezielte Therapie auszuwählen und den Erfolg einer systemischen Therapie zu überwachen.

Auch ausserhalb der Onkologie zeigt sich das eindrucksvolle Innovations- und Nutzenpotenzial der Laboratoriumsmedizin. Zum Beispiel ist die Entwicklung der Frühdiagnostik der Alzheimer-Demenz der Entwicklung therapeutischer Optionen weit vorausgeeilt. Der Einsatz prognostischer Biomarker unterstützt mangels nachhaltiger klinischer Konsequenzen vor allem die klinische F&E durch die Ermöglichung effizienter Enrichment-Studiendesigns. Forschungsschwerpunkte bei rheumatoider Arthritis bestehen in der Suche nach neuen Biomarkern für die Frühdiagnose und möglichen Zielstrukturen für neue therapeutische Ansätze; daneben wird an der kontinuierlichen Verbesserung der Antikörper-basierten Marker gegen citrullinierte Proteine gearbeitet. Die Frühdiagnose des akuten Myokardinfarkts wiederum dürfte schon in naher Zukunft von verlässlichen patientennahen hochsensitiven kardialen Troponin «Point-of-Care»-Tests profitieren.

Schliesslich gehört die Infektiologie neben der Onkologie zu den Bereichen, die am meisten Vorteile aus den neuen molekulardiagnostischen Techniken ziehen, insbesondere im Rahmen der Erregeridentifizierung und der -resistenztestung bei übertragbaren Krankheiten. Für die schnelle diagnostische Abklärung von Blutstrominfektionen und Sepsis besteht weiterhin Forschungsbedarf, um innert der kritischen ersten Stunde eine zielgerichtete Antibiose einleiten zu können. Ein aktuelles Beispiel für die Bedeutung der modernen Labordiagnostik bietet die COVID-19-Pandemie, deren effektive Bekämpfung ohne diese schlechterdings nicht vorstellbar wäre; diese Krise hat seit Beginn des Jahres 2020 den Stellenwert der Labordiagnostik einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt.

1.10.3 Kosten/Nutzen-Verhältnis der «Präzisionsmedizin»

Konventionelle gesundheitsökonomische Kosten/Nutzen-Analysen beruhen in ihrem Kern auf der Bestimmung von inkrementalen Kosteneffektivitäts-Relationen («Incremental Cost Effectiveness Ratios», ICERs). Als zentrales Effektivitäts-Kriterium gelten qualitätsadjustierte Lebensjahre («Quality-Adjusted Life Years», QALYs), welche – risikogewichtet und anhand individueller Präferenzen bewertet – Lebensqualität und Lebenserwartung in einem Mass integrieren und damit – so definierte – Gesundheitsgewinne indikationsübergreifend vergleichbar machen.

Diese «Logik der Kosteneffektivität» hat seit den frühen 1990er-Jahren – beginnend in Australien und Kanada – vorwiegend in einigen angelsächsisch geprägten und nordeuropäischen Ländern Eingang gefunden in die Evaluation medizinischer Massnahmen im Rahmen von Health Technology Assessments (HTAs), die mindestens anfangs ganz überwiegend neuen Medikamenten galten, denen aber zunehmend auch Labordiagnostika unterzogen werden. Dabei sind einige Besonderheiten zu berücksichtigen.

Medizinische Evaluation und Zulassungsbedingungen. Weltweit findet derzeit ein Prozess hin zu strengerer Regulierung und höheren Evidenzanforderungen an die Zulassung von Medizinprodukten und Diagnostika statt, der für labordiagnostische Produkte und Verfahren in Abhängigkeit von ihrer Risikoeinstufung einen deutlich erhöhten Aufwand mit sich bringt hinsichtlich der Einbeziehung sogenannter «Benannter Stellen» vor Markteinführung, der notwendigen technischen Dokumentation und ihrer kontinuierlichen Fortschreibung, unter Einschluss von Informationen über die wissenschaftliche Validität, die Analyseleistung und vor allem die klinische Leistung.

Die Einführung der neuen Bewertungsstandards ist noch nicht abgeschlossen und wird einer belastbaren Balance bedürfen zwischen den berechtigten Ansprüchen auf Evidenzbasierung einerseits, sowie dem damit verknüpften bürokratischen Aufwand, und andererseits teilweise gegenläufigen Entwicklungen, im Kontext neuer effizienter Studiendesigns unter bestimmten Bedingungen schnelleren Zugang zu gezielten Therapien zu ermöglichen.

Gesundheitsökonomische Evaluation. Labordiagnostische Massnahmen schnitten bisher in den ihnen geltenden, insgesamt seltenen formalen gesundheitsökonomischen Analysen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gut oder sehr gut ab. Auf die Zukunftspotenziale der Schweizer Laboratoriumsmedizin bezogen lässt sich naturgemäss noch keine abschliessende Aussage treffen, doch lassen sich einige wesentliche Aspekte benennen.

«Effizienz» ist per definitionem immer ein sekundäres oder instrumentelles Ziel. Die Prämisse der «Logik der Kosteneffektivität», es sei die (formal einzige) primäre Aufgabe der OKP, die «produzierte» Gesundheit unabhängig von der Verteilung der Gesundheitsgewinne zu maximieren, ist normativ problematisch und deskriptiv unzutreffend.

Für die notwendigen Schwellenwerte der Kosteneffektivität gibt es trotz jahrzehntelanger Forschung keine belastbare wissenschaftliche Basis. Das zentrale Effizienzmass der «Logik der Kosteneffektivität», die inkrementale Kosteneffektivität-Relation («Incremental Cost Effectiveness Ratio», ICER), kann aufgrund seiner Konstruktion einen möglichen Einfluss der Seltenheit oder der Kostenfolgen einer Intervention nicht abbilden, weil sich die jeweilige Grösse der Patientenpopulation sowohl im Zähler als auch im Nenner des «ICER»-Quotienten befindet und deshalb herauskürzt.

Herkömmliche Kosten/Nutzen-Analysen (und ebenso Kosteneffektivitäts-Analysen als die in der angewandten Gesundheitsökonomie dominante Variante) bestimmen «statische Effizienz», also die optimale Allokation eines in Grösse und Zusammensetzung als konstant angenommenen Ressourcenpools, während sich in der Realität nicht nur relative Preise, sondern auch verfügbare Technologien in ständigen Anpassungs- und Veränderungsprozessen befinden. Daraus folgt, dass sich die Effizienz von Technologien regelmässig im Zeitverlauf ändert.

Die «dynamische Effizienz» beschreibt die Flexibilität, Anpassungen vorzunehmen; sie ist umso besser, je geringer die Umstellungskosten ausfallen. Statische und dynamische Effizienz können nicht gleichzeitig optimiert werden; als Folge von Eingriffen mit dem Ziel der Steigerung «statischer Effizienz» können im Gegenteil Innovationsbehinderungen entstehen. Deshalb gilt es grundsätzlich, unnötige Überregulierung und Bürokratisierung zu vermeiden. Die Organisationstheorie kennt in Analogie hierzu die Unterscheidung zwischen Effizienz 1. Ordnung und (Anpassungs-) Effizienz 2. Ordnung.

Für die Evaluationsmethoden relevant ist zudem der Umstand, dass qualitätsgesicherte Diagnostik ihren Nutzen erst im Zusammenspiel mit den resultierenden Konsequenzen, zum Beispiel Folgeinterventionen wie gezielten Präventionsmassnahmen oder Therapien, entfaltet. Die Bestimmung des Wertbeitrags der einzelnen Komponenten von komplexen medizinischen Strategien («Therapeutic Pathways») ist nicht immer ohne Weiteres möglich.

Allen Limitationen der Datenlage zum Trotz unterstützen die vorliegenden Schätzungen die Erwartung, dass die von labormedizinischen Innovationen geprägte Entwicklung hin zu einer «Präzisionsmedizin» nicht nur aus einer klinischen, patientenbezogenen Perspektive, sondern auch aus gesellschaftlicher und ökonomischer Sicht ausserordentlich vielversprechend ist und deshalb ein förderndes regulatorisches Umfeld verdient.

1.10.4 Zukunft der Laboratoriumsmedizin

Unter dieser Voraussetzung lassen sich Erwartungen an die Schweizer Labormedizin formulieren hinsichtlich ihrer aktiven Rolle in Forschung & Entwicklung (F&E) und der Generierung von Innovationen, ihrer massgeblichen Beteiligung an der Translation wissenschaftlicher Fortschritte in eine auch zukünftig qualitativ hervorragende medizinische Versorgung der Schweizer Bürger, einschliesslich ihrer Krisenfestigkeit («Crisis and Pandemic Preparedness»), ihrer Übernahme einer führenden Funktion bei der Implementierung effizienter Strukturen und Prozesse im Rahmen der digitalen Transformation des Schweizer Gesundheitswesens, einer engen konstruktiven Kooperation mit Ärzten und medizinischem Personal im Kontext der Prä- und Postanalytik, und im Ergebnis all dessen einem nachhaltigen Beitrag zur Wertschöpfung der Schweizer Gesellschaft und Gesundheitswirtschaft als ein durch Hochtechnologie geprägter Dienstleistungsbereich.