Im diskursanalytischen Teil der Arbeit habe ich gezeigt, dass das Atmen im Rahmen der Atemarbeit von den Anbieter*innen als eine zu erlernende Kulturtechnik begriffen wird. Als wesentlich erwies sich dabei das Argument, dass das alltägliche Atmen einer diskursiven Rekonfiguration unterzogen und derart das Wissensobjekt „Atem“ als solches erst hervorgebracht wird (4.3). Das vorliegende Kapitel nimmt das Thema der Rekonfiguration nun auf der Ebene des praktischen Vollzugs wieder auf. Im ersten Teil des Kapitels (7.1) frage ich danach, wie ein unbestimmtes, oft auch unbemerkt bleibendes alltägliches Atmen zum Atmen der Atemarbeit gemacht wird. Mein Erkenntnisinteresse lautet: Mittels welcher praktischen Operationen und Interventionen wird das Atmen derart praktisch rekonfiguriert, dass eine erlebbare „Atem“-Erfahrung daraus resultiert? Wie sich zeigen wird, stellt der Atem nicht nur ein Produkt atemtherapeutischer Praktiken dar. Er ist ebenso als zentrales Organisationsprinzip oder anders ausgedrückt: als Mittel leiblichen Erfahrens zu verstehen. Vor diesem Hintergrund gilt es zu analysieren, auf der Grundlage welcher praktischen Strategien eine atemarbeitsspezifische „Erfahrungsordnung“ (Waldenfels 2004: 118) etabliert wird, die wesentlich auf verschiedenen Formen der Erzeugung einer bewussten Wahrnehmung beruht.

Dabei wird zugleich ersichtlich, dass sich die Kultivierung des Atmens in der Atemarbeit nicht nur im Rahmen praktischer Anforderungen, sondern auch in einem normativen Raum bewegt. Deutlich wird dies daran, dass man als Klient*in die Erfahrung machen kann, ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ zu atmen. Das zweite Erkenntnisinteresse des vorliegenden Kapitels (7.2) besteht folglich darin, zu zeigen, wie in der Atemarbeit leibliche (In-)Kompetenz, im Sinne eines als normativ angemessen erachteten Tuns, produziert wird. Die Beantwortung dieser Frage ermöglicht es, die bisherigen Ausführungen – insbesondere das oben (6.3) erläuterte Verhältnis zwischen den Instruktionen und den Anschlussaktivitäten – insofern weiterzudenken und zu spezifizieren, als ich nunmehr zeige, wie die Produktion eines als ‚gelungen‘ erfahrenen Atmens oder auch ‚passender‘ Anschlussaktivitäten empirisch zum Thema gemacht werden kann. Dazu ist es notwendig, darzulegen, wie (In-)Kompetenz in einem praxeologischen Ansatz theoretisch bestimmbar ist. Dies liefert die analytischen Mittel für eine komparativ angelegte empirische Rekonstruktion der Kompetenzproduktion in der Atemarbeit.

1 Der Atem als Organisationsprinzip des Erfahrens

1.1 Vom alltäglichen Atmen zum „Atem“: Die Atemarbeit als Laboratorium des Erfahrens

Der Atem wird nicht nur diskursiv als Wissensobjekt hervorgebracht, er stellt auch ein affektiv erfahrbares ‚Objekt‘ dar, das nicht einfach selbstgegeben ist, sondern mittels verschiedener praktischer Operationen als solches erst erzeugt und von den Klient*innen erspürt werden muss (vgl. ähnlich für Kinesiologie und Reiki Grünenberg et al. 2013; Esala/Del Rosso 2011). Es geht, so kann man es mit Waldenfels (2004: 16) ausdrücken, nicht nur darum, „daß überhaupt etwas in der Erfahrung auftritt“, sondern ebenso darum, „daß gerade dieses und solches aufritt und nicht vielmehr anderes und daß es in einem bestimmten Zusammenhang auftritt“. Der Rückgriff auf den in der Wissenschaftssoziologie genutzten Begriff das Labors erweist sich als hilfreich dafür, um die Hervorbringung des Atems als ‚Objekt‘ der Erfahrung nachvollziehen zu können. Ich begreife die Atemarbeit mit Knorr Cetina entsprechend als ein Laboratorium leiblichen Erfahrens (vgl. auch Pagis 2010: 484). Wie bestimmt Knorr Cetina den Labor-Begriff?

Sie (Knorr Cetina 2002: 65; Hervorh. entfernt.) begreift Laboratorien als Kontexte, in denen eine „Herausbildung von Ordnungen“ vorangetrieben wird, „die auf einer Veränderung und Steigerung mundaner Komponenten des Alltagslebens beruhen. In Laboratorien“, so Knorr Cetina (ebd.), „werden Untersuchungsobjekte neu inszeniert, indem sie neuen zeitlichen und räumlichen Regimes unterworfen werden“. Es findet also – darauf kommt es mir hier an – nicht nur eine raumzeitliche Rekontextualisierung statt, nämlich im Falle der Atemarbeit: eine Abkopplung vom Alltagsleben und dessen Verbindlichkeiten (siehe 5.2). Es kommt auch zu einer „‚Kultivierung‘“ von Naturobjekten“ (ebd.: 47; Hervorh. A.A.) bzw. präziser: dem, was sozialweltspezifisch jeweils als „natürlich“ verstanden wird (siehe 4.3.2). ‚Objekte‘ des Alltagslebens – hier: das Atmen – werden transformiert, indem sie auf eine spezifische Art und Weise modelliert und einer bestimmten Verfahrensordnung unterworfen werden.

Der analytische Fokus dieses Kapitels liegt also darauf, dass das alltägliche Atmen in der Atemarbeit nicht so bleibt, wie es ‚normalerweise‘ ist. Dies geschieht dadurch, dass – so die diskursive Logik des Feldes – Potenziale realisiert werden sollen, die zwar im alltäglichen Atmen sozusagen angelegt sind, aber durch die eben erwähnte Modellierung erst zur Geltung gebracht werden können. Das unbestimmte und ‚unkultivierte‘ alltägliche Atmen ist eben nicht mit dem gleichzusetzen, was in der sozialen Welt der Atemarbeit als „Atem“ bezeichnet wird.Footnote 1 Im Prozess der Transformation kommt es zu einer selektiven Akzentuierung bestimmter Aspekte des alltäglichen Atmens. Zentral ist also die „Vorstellung, dass Objekte keine festen Entitäten darstellen, die entweder so, wie sie sind, genommen werden oder sich selbst überlassen bleiben müssen“ (ebd.: 45 f.). Der Laborbegriff sensibilisiert dementsprechend nicht nur dafür, dass die Modellierung als ein Prozess zu begreifen ist, indem der Atem über die Zeit hinweg praktisch entfaltet wird (vgl. hierzu auch Scheffer 2013, 2017). Er regt auch dazu an, danach zu fragen, wie mit ‚Vorhandenem‘ (der Atmung) umgegangen wird und was wie daraus in der Folge gemacht wird.

Mittels welcher praktischen Operationen, so lässt sich vor diesem Hintergrund fragen, wird das ‚normale‘, alltägliche Atmen nun praktisch so zu- und hergerichtet, dass es zum Atmen der Atemarbeit wird und derart als Vehikel des Erlebens fungieren kann? Wie und mittels welcher praktischen Prozeduren wird dem Atem eine wahrnehmbare Gestalt verliehen? Auch hierbei muss die Analyse den Blick wiederum vor allem auch auf die Instruktionen der Atemlehrer*innen richten. Sie geben den Rahmen vor, innerhalb dessen sich das Tun der Klient*innen vollzieht. Ebenso muss man aber auch sensibel dafür sein, wie die Klient*innen auf ihr eigenes Tun reagieren und welche Leibschemata sich im Laufe der Sitzung nach und nach entwickeln (können).

Ich stelle im Folgenden auf drei Formen der Rekonfiguration des alltäglichen Atmens ab. Dabei begreife ich die Hervorbringung von Atem-Erfahrungen wesentlich als ein Aufmerksamkeitsgeschehen, die soziale Welt der Atemarbeit somit als eine „Aufmerksamkeitskultur“ und ihre primäre Praktik als eine „Aufmerksamkeitstechnik“ (Waldenfels 2004: 11, 126; vgl. auch Ehrensperger 2020: 180 ff.). In einem ersten Schritt befasse ich mich mit der Frage, wie und mittels welcher Aufmerksamkeitspraktiken „der Atem“ als solcher wahrnehmbar gemacht und damit erst praktisch konstituiert wird und wie die Klient*innen an ihm interessiert gemacht werden (7.1.2). In einem zweiten Schritt beschreibe ich beispielhaft eine zentrale Prozedur des Modellierens der Atmung. Hierbei werden die Klient*innen dazu aufgefordert, das „normal[e]“ Fließen der Atmung (Manfred, ES-3) aktiv zu verändern und in diesem Sinne praktisch zu intervenieren – etwa indem sie die Atemintensität steigern (7.1.3). Und schließlich beschreibe ich eine Form der Rekonfiguration, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt: einem Loslassen (dabei handelt es sich um eine einschlägige Ethnosemantik), einer Verbindung zwischen Ein- und Ausatemprozess und einer damit einhergehenden Dynamisierung des Aufmerksamkeitsgeschehens, die wesentlich auf einer Rhythmisierung aufruht. Diese Form des rekonfigurierten Atmens erweist sich als ein basales Vehikel der Produktion von Präsenz-Erfahrungen (7.1.4).Footnote 2 All diese praktischen Operationen gehen, wie zu zeigen sein wird, mit spezifischen Formen eines affektiven Wahrnehmens einher.

1.2 Wahrnehmbar- und Interessiert-Machen: Der Atem als ‚Objekt‘ der Aufmerksamkeit

Eine der wesentlichen Instruktionen der Atemlehrer*innen besteht darin, den „Atem“ als ‚Objekt‘ der Aufmerksamkeit überhaupt erst relevant zu machen und derart die Klient*innen dazu anzuhalten, sich diesem aktiv zuzuwenden. Allerdings zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung aus der Binnenperspektive des Teilnehmers, dass die praktische Hervorbringung des Atems nicht in einem aktiv gesteuerten Wahrnehmbar-Machen aufgeht. Zwei weitere Aspekte sind hierbei relevant: (a) Die Herstellung von Aufmerksamkeit impliziert, wie ich in der Folge zeige, auch passive Anteile. Will man also das Atmen der Atemarbeit ‚verstehen‘, dann gilt es, auch diese zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass sich die Instruktionen der Atemlehrer*innen nicht in einem Aufmerksam-Machen erschöpfen. Die Atemlehrer*innen zielen (b) auch darauf, die Klient*innen für das, was sie tun und wahrnehmen, zu interessieren.

(a) Aufmerksamkeiten herstellen

Fokussiert man auf die Instruktionen der Atemlehrer*innen, dann wird deutlich, dass es sich bei diesen um gelenkte Formen der Aufmerksamkeit, um kommunikative Praktiken der „Aufmerksamkeitssteuerung“ (Waldenfels 2004: 48) handelt. Soll heißen: Das Herstellen von Aufmerksamkeit vollzieht sich zunächst nicht unwillkürlich, sondern als eine Reaktion auf die Instruktionen der Atemlehrer*innen; die Instruktionen haben Aufforderungscharakter (vgl. ebd.: 239 ff.). Sofern man prinzipiell an die Verbalisierungen anschließen kann, reagiert man zwar – im Idealfall – habituell auf das Gesagte, aber die Herstellung von Aufmerksamkeit erfolgt nichtsdestoweniger qua intentionaler Steuerung: Man versucht, die entsprechenden Aufmerksamkeitsfokusse aktiv zu setzen. Dies impliziert aber nicht nur eine intentionale Steuerung des Tuns, sondern – das ist wesentlich – ebenso eine Orientierung daran, welche Wahrnehmungsobjekte die Atemlehrer*innen sprachlich vorgeben. Was im Detail wahrgenommen werden soll, wird von den Atemlehrer*innen mehr oder weniger konkret artikuliert.

Dabei sind zunächst solche wenig spezifischen Instruktionen zu beobachten, mittels derer lediglich – das heißt, in relativ pauschaler Art und Weise – dazu aufgefordert wird, sich „dem Atem“ zuzuwenden. So weist Manfred beispielsweise darauf hin, „einfach den Atem zu spüren (-- -- -- --), wie er jetzt im Moment gerade fließt“ (ES-6). Oder er fordert dazu auf, „ganz mit der Aufmerksamkeit zum Atem [zu] gehen (-- -- --), auch spüren, wie der Atem einströmt und ausströmt“ (ES-5). Was der Atem ist bzw. sein soll, bleibt dabei relativ offen. Die Verbalisierungen sind – abgesehen von den Hinweisen auf das Fließen und das Ein- und Ausströmen des Atems – vergleichsweise unspezifisch. Das wird auch anhand meiner Anschlussaktivitäten deutlich. An die zuletzt genannte Instruktion schließe ich folgendermaßen an:

Wie auch bereits in den Sitzungen zuvor, interpretiere ich Manfreds Instruktionen so, dass ich meine Aufmerksamkeit auf jene Bereiche richte, in denen ein Luftstrom spürbar ist – also beim Atmen durch die Nase vor allem auf den Nasenbereich – und durch die mit dem Atmen verbundenen Muskelbewegungen – etwa das Heben und Senken des Brustkorbs. [ES-5]

Die Konkretion der Instruktion wird in derartigen Fällen also implizit an die Klient*innen delegiert, die entweder auf der Grundlage einschlägiger alltäglicher Wissensbestände oder (was in dem obigen Beispiel der Fall zu sein scheint – „Wie auch bereits in den Sitzungen zuvor…“) atemarbeitsspezifischer Vorerfahrungen operieren und das Gesagte sozusagen in der Praxis leiblich ‚finalisieren‘. Selbst bei völlig ahnungslosen Neulingen wird die Anschlussaktivität aber vermutlich – sollten die Instruktionen prinzipiell verstanden werden – nicht völlig beliebig ausfallen. Man wird seine Aufmerksamkeit wohl kaum auf seinen linken großen Zeh lenken, wenn man dazu aufgefordert wird, mit dieser zum Atem zu „gehen“. Deutlich wird an den Feldnotizen aber auch, dass es – aufgrund der Offenheit der Instruktionen – nicht nur eine Möglichkeit gibt, diese umzusetzen: So fokussiere ich sowohl auf den wahrnehmbaren Luftstrom als auch auf das mit dem Atmen verbundene Heben und Senken des Brustkorbs (oft ist es der Luftstrom beim Einatmen und das Senken des Brustkorbs und des Bauchraums beim Ausatmen).

Weitaus häufiger als derartige unspezifische Formen der Aufmerksamkeitssteuerung sind aber solche, in denen die Atemlehrer*innen explizite Fokussierungen benennen, an denen die Klient*innen ihr Tun ausrichten können. Hierzu zwei Beispiele:

Manfred: Dass du jetzt einfach einmal das Einströmen oder Ausströmen des Atems durch die Nasenlöcher wahrnimmst. (-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --)

Das mache ich und es klappt im Vergleich etwa zur konzentrierten Wahrnehmung der Füße und Beine bei der Hinführung recht gut. Interessanterweise unterstützt mich der wahrnehmbare Luftstrom dabei, die Aufmerksamkeit ‚halten‘ zu können. Der Luftstrom erweist sich als ein praktisches Hilfsmittel, das mir in dieser Art und Weise bei der Wahrnehmung anderer Körperteile nicht zur Verfügung steht. [ES-1]

Manfred: Dass du jetzt einfach ganz bewusst den Atem wahrnimmst, (-- -- -- -) die Atembewegung, wie sich die Brust hebt beim Einatmen und wie sie nach unten sinkt beim Ausatmen. (-- -- -- -- -- -- --) Wie sich beim Einatmen der Atemraum weitet und beim Ausatmen tief nach innen entspannt. (-- --) Und dass es so gut es geht einfach (-- --) im- dass die Aufmerksamkeit immer beim Atem bleibt, (-- -- -) und immer wieder zurückkommt, wenn sie gerade woanders sich verloren hat.

Wie bereits in der vorangegangenen Sitzung beginne ich damit, den „Atem“ vor allem dort wahrzunehmen, wo auch der Luftstrom am besten zu spüren ist – das heißt insbesondere im Bereich der Nase, aber auch im Bereich des Brustraums. Ohne dass ich sagen könnte warum und ohne dass ich dies intendieren würde, nehme ich heute aber – im Vergleich zur letzten Sitzung – auch den Bauchraum beim Einatmen viel stärker wahr. Die Wahrnehmung im Bauchbereich ist heute – viel stärker als zuletzt – in die Erfahrung des Einatems ‚integriert‘. [ES-2]

Insofern die Instruktionen Manfreds hier explizit ganz bestimmte Fokussierungen nahelegen (z. B.: „durch die Nasenlöcher“, „wie sich die Brust hebt beim Einatmen und wie sie nach unten sinkt beim Ausatmen“), wird hier die Frage danach, was der Atem ist bzw. wo dieser wahrnehmungsräumlich zu verorten ist, für mich nicht als handlungspraktisches Problem relevant. Konkreter: Anders als bei dem obigen Beispiel ist es nicht notwendig, die Instruktionen in actu zu spezifizieren. Ich schließe vielmehr mit einer aktiven Steuerung der Aufmerksamkeit habituell – und damit in unproblematischer Weise – an das Gesagte an.Footnote 3

Deutlich wird anhand der Feldnotizen aber ebenso, dass die Prozesse der Herstellung von Aufmerksamkeit sich nicht in einer aktiven Steuerung des Wahrnehmens erschöpfen: Die praktische Konstitution des Atems enthält ebenso passive Formen der Aufmerksamkeit. Diese werden in beiden Beispielen an den unwillkürlichen Anteilen des Aufmerksamkeitsgeschehens ersichtlich. So stellt sich beim ersten Beispiel die (kontinuierliche) Herstellung von Aufmerksamkeit nicht allein aufgrund einer intentionalen Regulierung – sozusagen einer gewollten Konzentration – ein. Es wird nicht nur aktiv ein bestimmter Wahrnehmungsraum von einem gerade noch unspezifischen Hintergrund abgehoben, sondern der wahrnehmbare Luftstrom erzeugt auch eine (zusätzliche) Aufmerksamkeitsbindung, die nicht mehr durch meine aktive Zuwendung allein erklärbar ist. Konkreter: Während zwar die aktive Herstellung eines bestimmten Wahrnehmungsraums eine praktische Voraussetzung dafür ist, dass der spürbare Luftstrom zum Teil des Aufmerksamkeitsgeschehens werden kann, so sind es doch die affektiven Qualitäten auf Seiten des Wahrgenommenen – der Luftstrom erzeugt eine spürbare leibliche Resonanz –, die es mit-ermöglichen, die Aufmerksamkeit stabil zu halten. Der Luftstrom ist nicht nur Gegenstand der Aufmerksamkeit, er bietet einen (zusätzlichen) An-Reiz.

Auch beim zweiten Beispiel ist es nicht ausschließlich die aktive Steuerung der Aufmerksamkeit, die den Atem als Aufmerksamkeitsobjekt konstituiert. Der sich bewegende Bauchraum drängt – „ohne dass ich sagen könnte warum und ohne dass ich dies intendieren würde“ in das Wahrnehmungsfeld und wird derart zu einem Teil der Atem-Erfahrung: Ich nehme ihn beim Einatmen wahr. Auch hier bewegt sich das Aufmerksamkeitsgeschehen im Zwischenbereich einer aktiv gesteuerten Fokussierung und passiven Anteilen des Wahrnehmens, die wesentlich auf Seiten des Wahrgenommenen festzumachen sind. Man könnte sagen, dass sich die Herstellung von Aufmerksamkeit auf aktive und passive Anteile, auf den Prozess des Wahrnehmens und das Wahrgenommene verteilt (vgl. auch Ehrensperger 2020: 175).Footnote 4

(b) Interessiert-Machen

Mitunter werden die genannten Formen passiver Aufmerksamkeit auch explizit zum Thema. Interessant ist dabei vor allem, in welcher Art und Weise dies geschieht, konkreter: wie dies inhaltlich gerahmt wird. Hierbei wird deutlich, dass die wahrnehmende Hervorbringung von Atem-Erfahrungen über die Steuerung der Aufmerksamkeit durch die Atemlehrer*innen hinausgeht und ein weiteres Element hinzutritt. So regt Manfred in meiner fünften Atemsitzung zu Folgendem an:

Manfred: So dass du auch spüren kannst, wenn du zugleich den Atem wahrnimmst, wo die Aufmerksamkeit im Körper hinwandert (-- -- -- -- --) zum Beispiel, ob sie mehr im Kopfbereich und im Brustbereich, im Bauchbereich ist (-- -- --) oder in den Extremitäten. (-- -- -- -- -- -- -- -- -- --) So dass du auch an deiner Aufmerksamkeit bemerken kannst, (-- -- --) dass du sie bewusst lenken kannst und dass sie zugleich auch von selber wandert. (-- -- --) Und beides ist gut und beides ist wertvoll. (-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --) Es ist möglich, dass du der Aufmerksamkeit eine Richtung gibst, (--) wie eine Anweisung, (-- --) und es ist möglich, dass du sie beobachtest, wo sie von selber hinläuft (-- -- --) wie ein Kind, das man auf einer Wiese freilässt. (1m07s) Einfach das (-- -- --) Interesse wecken an dieser Innenwahrnehmung. (-- -- -- -- --) Interesse immer wieder beleben. [ES-5]

In den verbalen Darstellungen werden nicht nur aktive Formen der Herstellung von Aufmerksamkeit benannt, sondern ebenso passive Anteile, die mittels passivischer Formulierungen und Vergleichen kommunizierbar gemacht werden: „Es ist möglich, dass du der Aufmerksamkeit eine Richtung gibst, […] und es ist möglich, dass du sie beobachtest, wo sie von selber hinläuft“. Die Art und Weise, wie sich das Aufmerksamkeitsgeschehen gestalten kann, so regt es Manfred an, könne selbst zum Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Beides, das Bemerken, „dass du sie bewusst lenken kannst und dass sie zugleich auch von selber wandert“, sei zum einen „wertvoll“. Entsprechend wird hier nicht nur unter praktischen, sondern auch unter normativen Gesichtspunkten darauf verwiesen, dass passive Formen der Aufmerksamkeit durchaus erwünscht sind und nicht als dem Geschehen abträglich erachtet werden. Zum anderen – und darum geht es mir hier vor allem – wird derart die Möglichkeit, entsprechende Unterschiede zwischen einer aktiven und einer passiven Aufmerksamkeit („dass du auch an deiner Aufmerksamkeit bemerken kannst…“) und dem, was dabei in den Aufmerksamkeitsfokus gelangt („wo die Aufmerksamkeit im Körper hinwandert“), als ein interessanter Gegenstand der Wahrnehmung ausgewiesen („das Interesse wecken an dieser Innenwahrnehmung“).

Ähnliche Formen des kommunikativen Interessiert-Machens finden sich in verschiedenen Abwandlungen: So etwa, wenn Manfred explizit vorschlägt, „vielleicht auch mit einer Haltung der Neugier“ für das, „was sich da alles spüren lässt“, an die Sache heranzugehen. Beispielhaft nennt er in diesem Zusammenhang das Auftauchen von „Körperempfindungen“ und „innere[] Begegnungen mit bestimmten Bereichen des Körpers“ (ES-5). Oder er verweist darauf, dass „jeder Atemzug […] auch in irgendeiner Nuance anders [ist] als der vorige. (-- -- -- -) Dass jeder Atemzug ein neues Erlebnis sein kann, (-- -- -- -) ein Er- ein neues Erleben von sich selber, von dem, was du bist“ (ES-1). In den genannten Beispielen geht es also einerseits auf der ‚Gegenstandsebene‘ darum, auf mögliche Objekte des Wahrnehmens („Innenwahrnehmung“, „Körperempfindung“, „was sich da alles spüren lässt“) und mögliche Aspekte von Wahrnehmungsobjekten („jeder Atemzug ist auch in irgendeiner Nuance anders“) aufmerksam zu machen. Es werden Vorschläge unterbreitet, was man alles wahrnehmen könnte. Andererseits werden auf der Tätigkeitsebene, mögliche Formen des Wahrnehmens selbst angesprochen („Haltung der Neugier“, „jeder Atemzug ein neues Erlebnis“) und derart kommunikativ relevant gemacht. Es geht also darum, ein Interesse an dem Wahrnehmbaren zu erzeugen und zugleich eine interessierte (und interessante) Wahrnehmung anzuregen. Die Klient*innen sollen insofern interessiert gemacht werden, als das, was sie tun – also sich dem Atmen und damit zusammenhängenden „Körperempfindungen“ zuzuwenden – enttrivialisiert und derart bedeutsam gemacht wird.

Welche Schlüsse lassen sich aus dem Gesagten für ein erstes Verständnis der Rekonfiguration des Atmens in der Atemarbeit und damit der praktischen Hervorbringung von Atem-Erfahrungen ziehen? Erstens kann festgehalten werden, dass die Formen der verbalen Aufmerksamkeitssteuerung im Hinblick darauf, wie konkret diese ausfallen, variieren. Überdies wird keineswegs ausgeschlossen, dass Objekte in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, die man alltagsweltlich vielleicht nicht unbedingt mit dem Atmen assoziieren würde (z. B. die von Manfred angesprochenen möglichen „Körperempfindungen“, die sich einstellen können). Man kann auch sagen: Was legitimerweise Teil des Wahrnehmungsfeldes der Atemarbeit werden soll, ist nicht derart strikt geregelt, wie es vielleicht zunächst erscheinen könnte. Entscheidend ist die, um einen Ausdruck Manfreds zu gebrauchen, „Innenwahrnehmung“, ein eigenleibliches Spüren, das allerdings zentral über das Atmen vermittelt wird. Zweitens hat sich gezeigt, dass die wahrnehmende Herstellung des Atems keineswegs ausschließlich auf aktiven Formen der Aufmerksamkeit beruht. Der wahrgenommene ‚Gegenstand‘ bietet auch Anreize für passive Formen der Aufmerksamkeit, die nicht intentional gesteuert werden, sondern sich im Tun einstellen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine durch das Atmen erzeugte leibliche Resonanz (in Form des Luftstroms) dazu beiträgt, eine Aufmerksamkeitsbindung zu erzeugen, oder wenn etwa kinästhetische Empfindungen (wie der sich beim Atmen bewegende Bauchraum) ins Wahrnehmungsfeld drängen.Footnote 5 Der Prozess des Wahrnehmbar-Machens entzieht sich insofern – auch aus der Perspektive der Klient*innen betrachtet – einer vollständigen Steuerung. Drittens sind nicht nur Aufmerksamkeitssteuerungen, sondern auch solche Verbalisierungen seitens der Atemlehrer*innen festzustellen, die darauf zielen, ein Interesse an dem Wahrnehmbaren und zugleich eine interessierte Wahrnehmung auf Seiten der Klient*innen zu befördern.

1.3 Modellieren: Praktische Interventionen

Bei den im letzten Abschnitt behandelten Beispielen wird der Atem kommunikativ durchwegs als etwas dargestellt, das es ‚bloß‘ wahrzunehmen gilt; etwas, das gewissermaßen schon ‚da‘ ist und auf das man seine Aufmerksamkeit richten soll – so etwa bei der Formulierung „ganz mit der Aufmerksamkeit zum Atem gehen“ (ES-5) – oder das sich gegebenenfalls selbst bemerkbar mache. Aus der Perspektive einer Soziologie leiblicher Praxis betrachtet erweist sich das Wahrnehmen des Atems – ob nun aktiv gesteuert oder nicht – hingegen als ein aktiver und konstruktiver Prozess. Soll heißen: Erst im Prozess des Wahrnehmens erhält der Atem eine spezifische Form. Das Atmen und diesem korrespondierende affektive Verhaltensdimensionen (wie z. B. die kinästhetischen Empfindungen, die sich durch das Heben und Senken des Brustkorbs einstellen) werden durch bewusste Fokussierungen von einem unspezifischen Wahrnehmungshintergrund abgehoben. Derart wird der Atem für die Klient*innen erst erfahrungsmäßig existent. Zwar gehört zu jedem Wahrnehmbar-Machen ein Wahrnehmen und ein Wahrgenommenes, aber beides wird sozusagen erst im Tun erzeugt und bedingt sich – dem pragmatistischen Erfahrungsbegriff gemäß – gegenseitig (siehe 2.2.2).

Obwohl also selbst das Wahrnehmen des Atmens bereits als eine praktische Hervorbringung zu verstehen ist, ist es gleichwohl sinnvoll, zwischen unterschiedlichen Formen einer solchen Hervorbringung zu unterscheiden. Denn wiewohl das Prinzip das gleiche bleibt, so kann sich doch die Art und Weise unterscheiden, in der die Wahrnehmenden daran beteiligt sind, das Wahrgenommene mitzuerzeugen. Eine solche Unterscheidung ist einerseits deswegen relevant, weil es in der Atemarbeit Instruktionen gibt, die dazu anregen, nicht ‚bloß‘ wahrzunehmen, sondern darüber hinaus das Atmen durch praktische Interventionen aktiv zu modellieren. Andererseits implizieren, wie ich in der Folge zeigen möchte, derartige praktische Interventionen auch andere Typen der Herstellung einer bewussten Wahrnehmung, die man analytisch unterscheiden kann: Begleitaufmerksamkeiten und funktionale Aufmerksamkeiten.

So wurde ich in den Atemsitzungen beispielsweise wiederholt dazu aufgefordert, den „Einatem“ „tiefer“ werden zu lassen, ihn zu „weiten“ oder aber beispielsweise die Atmung „stärker“ werden zu lassen. Als wesentlich erweist sich hierbei, dass sich die geforderte Weitung – auch wenn man habituell an die Instruktion anschließen kann – nicht einfach von selbst einstellt. Sie macht ein aktives Regulieren notwendig. Dies wird anhand der folgenden Feldnotizen deutlich, in denen ich meine Anschlussaktivität beschreibe, die auf Manfreds Instruktion folgt, „die Atmung stärker werden“ zu lassen (ES-7).

Ich habe bisher schon recht tief eingeatmet – ohne allerdings, dass es mir große Anstrengung bereitet hätte und ohne auch, dass ich mich allzu stark auf die Regulierung der Atmung konzentriert hätte. Die Aufforderung, die Atmung „stärker werden“ zu lassen, interpretiere ich praktisch – das heißt, ohne darüber nachzudenken – im Sinne einer Vergrößerung des einzuatmenden Luftvolumens. Das setzt voraus, dass ich einen bewusst-intentionalen Akt ‚setze‘. Ich bemerke und spüre: Es reicht hier nicht aus, die Atmung bloß geschehen zu lassen; sie muss aktiv gesteuert werden. Das ist immer auch mit einer gewissen Anstrengung verbunden und bisweilen sogar etwas unbequem. [ES-7]

Der Atem wird hier also nicht nur durch eine Fokussierung der Wahrnehmung erzeugt, sondern das, was man wahrnimmt, wird erst durch eine praktische Intervention meinerseits mit hervorgebracht. Dies wird zum einen daran deutlich, dass die Aktivität, das Atemvolumen zu vergrößern und derart die Atmung zu intensivieren, selbst mit „einer gewissen Anstrengung verbunden“ ist. Das heißt, das Tun wird unmittelbar von bestimmten Gefühlen (im weitesten Sinne) begleitet. Diese heben es von einem ‚bloßen Geschehenlassen‘ des Atmens – das heißt, ohne aktives Zutun – spürbar affektiv ab: Man tut nicht nur etwas, das aktive Tun fühlt sich auch auf eine bestimmte Art und Weise an (vgl. Dewey 1897).Footnote 6 Insofern eine aktive Modifikation leiblicher Verhaltensschemata von jeweils spezifischen leiblichen Resonanzen – gleichsam als ‚Nebenprodukt‘ des veränderten Tuns – begleitet wird und diese in den Wahrnehmungsfokus treten können, lässt sich in diesem Zusammenhang von einer passiven Begleitaufmerksamkeit sprechen. Zum anderen wird in den Feldnotizen bereits ansatzweise deutlich, dass die aktive Steuerung des Atmens ebenso in funktionaler Hinsicht der Aufmerksamkeit bedarf. Dies unterscheidet sie von einer nicht-intentionalen Steuerung, denn: Bevor („bisher“) ich an die Instruktion angeschlossen habe, habe ich mich nicht „allzu stark auf die Regulierung der Atmung konzentriert“, jetzt aber setze „ich einen bewusst-intentionalen Akt“. Um gewisse Dinge überhaupt praktisch realisieren zu können, bedarf es einer aktiven Hin- und Zuwendung, einer funktionalen Aufmerksamkeit, die sich von einem bloßen Fokussieren auf etwas unterscheidet.

Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang zwischen einer aktiven Steuerung des Atmens und einer funktionalen Aufmerksamkeit, wenn zweitere temporär verloren geht. So halte ich bei der Aufforderung, „mit [der] Aufmerksamkeit ganz auf den Atem“ zu gehen und die Atmung „über den normalen Fluss hinaus“ (ES-7) zu intensivieren, Folgendes fest:

Ich versuche zwar, mich auf mein Atmen zu konzentrieren, doch ich gleite immer wieder in Gedanken ab. Sobald ich feststelle, dass ich den Aufmerksamkeitsfokus verloren habe, bemerke ich auch, dass auch die „Intensivierung“ des Atmens verloren gegangen ist. Das hängt damit zusammen, dass man nicht ‚einfach so‘ intensiver (und womöglich auch ein bisschen schneller) atmen kann, sondern dies muss aktiv geleistet werden. [ES-7]

Ersichtlich wird hier, dass der Verlust der Aufmerksamkeit gleichzeitig auch mit dem ‚Verlust‘ einer intensivierten Atmung einhergeht. Die Aufmerksamkeit erweist sich also insofern als funktional, als sie eine praktische Voraussetzung für eine aktiv gesteuerte Modellierung des Atemgeschehens ist. Sie unterscheidet sich damit auch von den im vorangehenden Abschnitt behandelten aktiven Formen der Herstellung von Aufmerksamkeit: Nicht das Herstellen eines bewussten Wahrnehmungsfokus selbst wird hier zu praktischen Aufgabe. Die funktionale Aufmerksamkeit steht vielmehr im Dienste einer praktischen Intervention, insofern sie diese erst (mit-)ermöglicht. Sie ist, etwas zugespitzt formuliert, nicht das Ziel, sondern ein Mittel, um das Ziel zu erreichen. Insofern also auch die funktionale Aufmerksamkeit selbst nicht im engeren Sinne als intendiert, sondern vielmehr gleichsam als eine praktische notwendige Bedingung der Bewältigung einer bestimmten Aufgabe zu verstehen ist, kann sie als ein (Sub-)Typus der passiven Aufmerksamkeit aufgefasst werden.

Nun lässt sich wiederum fragen: Was kann man anhand derartiger praktischer Interventionen darüber erfahren, wie ein alltägliches Atmen in der Atemarbeit rekonfiguriert wird? Und was bedeutet dies für das individuelle Erleben von Atem-Erfahrungen? Zwei Aspekte sind hier relevant: Erstens zeigt sich ganz generell, dass eine aktive Modellierung des Atmens auch die Art und Weise verändert, wie die Situation von mir erfahren wird. Nicht nur führt die Aufforderung, praktisch zu intervenieren (etwa tiefer oder schneller zu atmen), dazu, dass die eigene Aktivität selbst präsent wird (was sich etwa in einer gefühlten Anstrengung manifestieren kann). Man erfährt sich selbst als aktiv agierend. Es wird vielmehr ebenso deutlich, dass die aktiv-intentionale Steuerung des Atmens selbst gewisser Aufmerksamkeitsressourcen bedarf, um als solche realisiert werden zu können. Sie vollzieht sich nicht gleichsam nebenher, sondern bedarf der Hinwendung, um kontinuierlich aufrecht erhalten werden zu können. Die etablierten Leibschemata ändern sich also zum einen, weil für die Steigerung des Atemvolumens aktiv motorische Gewohnheiten mobilisiert werden müssen und man erst derart ein (neues) Objekt der Aufmerksamkeit praktisch im Tun konstituiert. Zum anderen wird gleichzeitig die Aufmerksamkeit – und damit: die Art und Weise, wie und was man wahrnimmt – re-organisiert: Es werden nicht aktiv neue eigenleibliche Wahrnehmungsobjekte im Tun erzeugt, sondern die Erzeugung selbst verlangt eine Form der praktischen Hinwendung zum Tun, was wiederum – dem Telos der Atemarbeit entsprechend – zur Herstellung eines Erfahrens des und im Hier und Jetzt beiträgt. Wie verhält sich hierbei, zweitens, das alltägliche Atmen zum rekonfigurierten Atmen, also dem Atem? Während man im Falle des ‚bloßen‘ Wahrnehmens eine relativ unbeteiligte Beobachtungssituation einnimmt und der Atem vor allem als Gegenstand der Aufmerksamkeit erscheint, der weitgehend ‚unangetastet‘ bleibt, so zeichnen sich die praktischen Interventionen durch ein zusätzliches Engagement auf Seiten der Klient*innen aus: Man hat es mit einer aktiven Mit-Hervorbringung des Beobachteten zu tun. Durch die Intensivierung des Atmens erhält dieses eine akzentuiertere Form. Die kultivierten Leibschemata des Atems bauen in diesem Sinne auf die ‚unkultivierten‘ Leibschemata des Atmens auf und betonen deren Form, ohne diese allerdings grundlegend zu verändern. Sie werden gleichsam gesteigert.

1.4 Loslassen, Verbinden, Dynamisieren: Präsentisches Erfahren

Obwohl in der sozialen Welt der Atemarbeit vermutlich bereits die Tatsache, dass sich eine aktive Modellierung des Atmens anders anfühlt als ein ‚normales Fließenlassen‘, als eine interessante, wertvolle Beobachtung gelten kann, scheinen derartige praktische Interventionen keinen Selbstzweck darzustellen. Sie treten oftmals in Zusammenhang mit der bereits erwähnten Instruktion auf, die Ausatmung zu „entspannen“, beim Ausatmen „loszulassen“ oder sich „fallen zu lassen“. Was hat es mit derlei Verbalisierungen, die offensichtlich die passiven Momente des Erfahrens ansprechen, auf sich? Inwieweit sind sie daran beteiligt, bestimmte Formen des Erlebens zu produzieren? Und wie hängen die Intensivierung und die ‚Passivierung‘ des Atmens miteinander zusammen?

(a) Loslassen

Wiewohl die oben beispielhaft genannten Instruktionen zumeist sprachlich nicht weiter spezifiziert werden, war es mir in den allermeisten Fällen möglich, habituell im Modus impliziten Wissens an diese anzuschließen. Das heißt, ich konnte ‚passende‘ Leibschemata mobilisieren, ohne dass mir diese Operation völlig transparent gewesen wäre (siehe 6.3): Dabei versuche ich nicht nur den Körper beim Ausatmen schwer werden zu lassen, indem ich die Muskeln entspanne und um damit zusammenhängend auch ein entsprechendes Schweregefühl zu erspüren. Ebenso versuche ich, „möglichst ohne intentionales Zutun den Ausatem langsam ausströmen zu lassen – das heißt, ohne Kraftaufwand und ohne Anstrengung“ (ES-5). Eine andere Möglichkeit „loszulassen“, die ich erst relativ spät – in meiner sechsten Atemsitzung – ‚entdeckt‘ habe, besteht darin, den Luftstrom nicht lediglich ausströmen zu lassen, sondern den Brustkorb gewissermaßen sacken zu lassen:

Man kann den „Ausatem“ auch „geschehen lassen“, indem man ihn nicht bloß ausströmen lässt, sondern dadurch, dass man den Brustkorb sozusagen ‚fallen‘ lässt, indem man zu einem bestimmten Zeitpunkt die Brust- bzw. Rippenmuskulatur plötzlich entspannt: Wenn der Peak beim Einatmen erreicht ist – das heißt, wenn man das Gefühl hat, der Brustkorb ist voll mit Luft – lässt man den Brustkorb nach unten sacken. [ES-6]

Man ist es dann nicht selbst, der hier agiert, sondern es ist der fallende Brustkorb, der das Gefühl eines „Geschehenlassens“, eine gefühlte Passivität erzeugt. Insofern man sich am oben erwähnten Peak als aktiv-intentionale Steuerungsinstanz zurückzieht, ist es, so beschreibe ich es in einer anderen Passage des Feldprotokolls, „der Brustkorb von sich aus“ (ES-6) – und nicht ein intentional agierender Akteur –, der hier etwas tut: „Es macht einen gefühlten Unterschied, ob ich die Luft herauspresse, um eine größere Geschwindigkeit des Ausatemvorgangs zu gewährleisten und die Atemintensität derart hoch halten zu können, oder ob es der fallende Brustkorb ist, der ‚die Arbeit erledigt‘“ (ES-6). Man leitet das Tun also zwar aktiv-steuernd ein – so muss man etwa den genauen, idealen Zeitpunkt bestimmen (was wiederum Aufmerksamkeit funktional voraussetzt) –, aber in der Folge nicht mehr an. Man gibt gewissermaßen lediglich den Anstoß. In diesem Sinne arbeitet man aktiv daran, ein passives Tun zu erwirken. Man wird zum fühlenden Beobachter des eigenen Tuns, für das man – im Falle des Gelingens – allerdings nicht mehr (vollumfänglich) praktisch verantwortlich zeichnet.

(b) Verbinden

Obwohl zwar generell zu konstatieren ist, dass den Klient*innen vergleichsweise viele Spielräume im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des praktischen Tuns eingeräumt werden (siehe weiterführend 7.2.3), so ist doch in allen von mir beobachteten Einzelsitzungen festzustellen, dass die praktischen Interventionen (die Intensivierung des Einatmens) einerseits und der Versuch, ein passives Tun (im Sinne eines „Loslassens“ oder „Fallenlassens“) zu erwirken andererseits, von den Atemlehrer*innen nicht als zwei getrennte Aktivitäten verstanden werden. Vielmehr wird wiederholt dazu angeregt, „Ein- und Ausatem zu einem Kreis [zu] verbinden“: „Du verbindest auch das Einatmen mit dem Ausatmen und das Ausatmen mit dem Einatmen, sodass eins ins andere übergeht. Sodass das Bild entstehen kann von einem Atemkreis.“ (ES-2) Die beiden bisher von mir (aus darstellungstechnischen Gründen) getrennt behandelten Leibschemata werden hier also – auf der Ebene der sprachlichen Instruktionen – zusammengeführt. Was bedeutet dies in praktischer Hinsicht?

Einerseits regen solche Instruktionen dazu an, die „eigenen [Einatem-]Impulse“ (ES-3) als auch die Versuche, das Ausatmen passiv geschehen zu lassen, zu beobachten, das heißt, „genau bei den Übergängen hinzuspüren“ (ES4). Die Umsetzung der Aufforderung, Ein- und Ausatem zu verbinden bedarf also der funktionalen Aufmerksamkeit. Es kann gar nicht gelingen, wenn man nicht fokussiert ‚bei der Sache‘ ist. „Die Beobachtung der Übergänge zwischen dem Ein- und dem Ausatemvorgang“, so halte ich in den Feldnotizen fest, „entfaltet deswegen eine gewisse Dramatik, weil vor allem der Versuch, die eigene intentionale Steuerung beim Ausatmen zu überwinden und dem Atmen ‚freien Lauf‘ zu lassen, eine stete Quelle des Scheiterns“ darstellt (ES-3). Damit hängt andererseits eng zusammen, ob der Übergang zwischen dem Ein- und Ausatmen als „kontinuierlicher Fluss und nicht als zwei diskrete und unverbundene Vorgänge des Ein- und Ausatmens“ (ES-1) wahrgenommen werden kann. Es geht darum, durch die subtile Regulierung des Atmens, die sowohl aktive als auch passive Momente impliziert, einen „Gesamtprozess“ zu etablieren, den man als „rund“ und „homogen, in sich stimmig“ (ES-1), „flüssig“ (ES-6) und eben nicht als „abgehackt oder diskontinuierlich“ (ES-4) erfährt.Footnote 7

(c) Dynamisieren

Sofern dies gelingt, stehen die Zeichen gut dafür, dass sich nach und nach – durch stetige Wiederholungen – eine Dynamisierung des Tuns einstellt, die wesentlich von einer Rhythmisierung (vgl. Staack 2017) getragen wird. Eine solche kann durch ein dezentes Mitbewegen, aber auch durch subtile Haltungsänderungen befördert werden. So hatte ich etwa in meiner ersten Atemsitzung

das Gefühl – das war also keine bewusst intendierte Entscheidung, sondern eher eine Intuition, der ich nachgegangen bin –, dass es helfen könnte, den Prozess durch sachte Körperbewegungen zu unterstützen. Ich strecke meinen Oberkörper beim Einatmen, mache ihn lang und drücke meine Schultern ein wenig nach hinten. Außerdem bewege ich meinen Kopf im Rhythmus des Ein- und Ausatemprozesses ein wenig mit: Beim Ausatmen lasse ich ihn ein wenig zur Seite kippen und beim Einatmen bringe ich ihn wieder in die mittige Position zurück. Beides hat mir dabei geholfen, das Ein- und Ausatmen als kontinuierlichen ‚Fluss‘ wahrzunehmen und weniger als zwei diskrete und unverbundene Vorgänge. Ich hatte außerdem das Gefühl, dass es helfen könnte, die Beine anzuwinkeln. Ich bin überrascht davon, dass bereits ein vergleichsweise geringes ‚Mithelfen‘ mit dem Körper und die Veränderung der Liegeposition so viel zu einer Verbesserung eines als kreisförmig empfundenen Atmens beitragen können. Ich erlebe den Gesamtprozess dadurch als wesentlich runder und homogener. [ES-1]

Aber es ist nicht nur mein Körper, der durch entsprechende Neuausrichtungen und sanfte Bewegungen eine Rhythmisierung unterstützt. Auch das Aufmerksamkeitsfeld expandiert und wird dynamischer. Das Aufmerksamkeitsgeschehen wird in die Rhythmik des Atemgeschehens integriert.Footnote 8 Konkreter: Der Aufmerksamkeitsfokus beschränkt sich nun nicht mehr – wie zu Beginn der Atemsitzung – ausschließlich auf den Mund-, Nasen-, Brust- und Bauchbereich. Er ‚wandert‘ vielmehr synchron zum etablierten Atemrhythmus ‚durch meinen Körper‘: beim Einatmen aus dem Bauch kommend, über den Brustbereich, über die Schultern und beim Ausatmen über den Rückenbereich, Richtung Nierengegend, beim Einatemvorgang wieder aus dem Bauch kommend, über den Brustbereich und so weiter – was gleichsam eine gefühlte Sogwirkung erzeugt. Es ist freilich nicht – wie es manche Formulierungen der Atemlehrer*innen, nimmt man sie wörtlich, nahelegen – der Atem, der in irgendwelche Körperbereiche „fließt“ (AS).Footnote 9 Aber: Es ist eine mögliche Verkörperung der Rede vom sich bewegenden Atem. Es ist die Etablierung, man könnte fast sagen: die praktische Er-Findung eines ‚passenden‘ Leibschemas, das sich erstens durch ein an die Atembewegung gekoppeltes Aufmerksamkeitsgeschehen auszeichnet, das selbst in Bewegung gerät, und zweitens die damit zusammenhängende Erfahrung, dass immer mehr Entitäten – insofern sie als Teil des Atmens wahrgenommen werden – an dem beteiligt sind, was im Feld als „Atem“ bezeichnet wird.

Eine solche Dynamisierung kann dazu führen, dass man ‚sich selbst‘ immer umfassender affektiv ergriffen fühlt:

Ich kam zu diesem Zeitpunkt in der Sitzung an einen Punkt, an dem ich gemerkt habe, dass insbesondere der Ausatemaspekt dieses Atemflusses an einer spezifischen Qualität gewinnt. Mir gelang es, in Manfreds Worten gesprochen, immer besser „loszulassen“ und den „Ausatem“ autonom, ohne aktives Zutun durch den Rückenbereich fließen zu lassen. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich hatte das Gefühl, dass vom „Ausatem“ immer mehr andere körperliche Prozesse und Regionen ergriffen wurden (so z. B. das Auf-die-Seite-‚fallen‘-Lassen des Kopfes) und sich die Intensität steigerte – wobei es sehr schwierig ist, in Worte zu fassen, was man unter Intensität genau verstehen kann. Man hat immer weniger das Gefühl, dass man selbst derjenige ist, der hier steuert, sondern dass man sozusagen bewegt wird. Die Handlungskontrolle löst sich zunehmend. Das hat in einem gewissen Sinne auch etwas Lustvolles und Anregendes und zugleich auch etwas Beängstigendes. [ES-1]

Das Atmen nimmt hier gewissermaßen einen progressiven Verlauf. Es wird expansiver und intensiver. Man wird förmlich an ein erfahrbares Hier und Jetzt gebunden. Präsenz in einem ‚starken‘ Sinne – das heißt, nicht nur im Hinblick auf die faktische Herstellung eines Hier und Jetzt, sondern auch unter Berücksichtigung der implizierten Erlebnisqualitäten – kann dann heißen: Man ist voll und ganz ‚bei der Sache‘, aber zugleich immer weniger derjenige, der das Geschehen aktiv-intentional steuert. Die beschriebene Erfahrung ist nicht nur dynamisch, sondern insofern auch holistisch (in einem theoretischen Sinne), als nicht mehr (relativ) diskrete Leibschemata und Wahrnehmungen aufeinander folgen oder nebeneinander stehen, sondern in einem gewissen Sinne eine als ganzheitlich erfahrene Bewegung etabliert werden kann (die entsprechend in den Feldnotizen immer wieder auch in ästhetischen Kriterien von mir beschrieben wird), in der alle beteiligten ‚Komponenten‘ sozusagen zusammenpassen und sich nichts, wie ich es an einer Stelle ausdrücke, „spießt“ (ES-5).

Solcherlei Erfahrungen, wie die hier beschriebene, sind mögliche Erfahrungen, die man in der Atemarbeit machen kann. Sie sind theoretisch instruktiv; und zwar insofern, als sie es erlauben, vor Augen zu führen, wie unter ganz bestimmten Bedingungen ein alltägliches Atmen Schritt für Schritt in eine Atem-Erfahrung transformiert wird und zugleich doch der Konnex zum ‚Ausgangsobjekt‘ stets erhalten bleibt. Im Atmen angelegte Leibschemata werden wahrgenommen, akzentuiert, miteinander verbunden etc., bis daraus schließlich neue Leibschemata entstehen können, vermittels derer eine spezifische Form des Selbst-Erlebens möglich wird. Genau in diesem Sinne ist „der Atem“ nicht nur Produkt, sondern Organisationsprinzip atemarbeitsspezifischen Erfahrens. Erwähnt werden muss schließlich, dass in der Atemarbeit keineswegs immer alles so gut funktioniert wie beim obigen Beispiel. Das Beispiel stellt – zumindest in meiner Praxis – eher den Ausnahme- als den Normalfall dar. Dass die Dinge gelingen können oder auch nicht, wirft nun die bisher offen gebliebene Frage auf, wie in der Atemarbeit eigentlich darüber befunden wird, ob das eine oder das andere der Fall ist, wie also die Herstellung von (In-)Kompetenz in der Atemarbeit organisiert ist.

2 Normativität unter der Haut: Zur Produktion leiblicher (In-)Kompetenz

2.1 (In-)Kompetenz – praxeologisch betrachtet

Insofern die Atemlehrer*innen mit ihren Instruktionen das Tun der Klient*innen anleiten, vermitteln sie kommunikativ nicht nur praktische, sondern auch normative Anforderungen: In ihren verbalen Instruktionen geht es nicht nur darum, dass man bestimmte Dinge auf eine bestimmte Art und Weise macht, sondern auch machen soll. Aus der Perspektive der Klient*innen betrachtet zeigt sich dies nicht zuletzt darin, dass die Hervorbringung von Atem-Erfahrungen nicht wenige Gelegenheiten des Scheiterns in sich birgt. So treten beispielsweise Gedanken auf und absorbieren Aufmerksamkeitsressourcen, man gleitet mit dem Aufmerksamkeitsfokus ab, das „Loslassen“ fällt schwer, weil man zu bemüht agiert usw. Derartige Situationen kann man als Teilnehmer*in allerdings überhaupt erst als ein Scheitern erfahren, weil das eigene Tun den Instruktionen der Atemlehrer*innen – von Fall zu Fall – nicht gerecht wird. Verallgemeinert gesprochen: Die normative Organisation unterschiedlicher Aktivitäten manifestiert sich in jenen praktischen Kriterien, die die (Un-)Angemessenheit spezifischer Verhaltensweisen zum Gegenstand haben.

In soziologischer Hinsicht wirft dies die Frage auf, was es heißt, kompetent an einer Praktik zu partizipieren – mehr noch: wie (In-)Kompetenz als solche in verschiedenen Praktiken hergestellt wird. Eine kompetenztheoretische Perspektive in einer Soziologie leiblicher Praxis eröffnet die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen überindividuell organisierten Praktiken einerseits und dem individuellen Erleben der Teilnehmer*innen andererseits hinsichtlich seiner normativen Ausgestaltung zu beleuchten. Zugleich geht damit aber freilich auch die Anforderung einher, explizit zu machen, was unter Kompetenz überhaupt zu verstehen ist. Im Folgenden schlage ich – im Einklang mit der grundlegenden analytischen Ausrichtung der Arbeit – eine praxistheoretische Perspektivierung von (In-)Kompetenz vor.

Die Frage des kompetenten Agierens erweist sich in praxistheoretischen Ansätzen insofern als zentral, als skilled bodies (Schatzki 2001: 3) als „Träger sozialer Praktiken“ (Hirschauer 2016b: 26) begriffen werden. Praxistheorien operieren, wie bereits erwähnt, mit der Annahme, dass es insbesondere körperlich befähigte Akteur*innen sind, die den gelingenden Vollzug von Praktiken (mit-)ermöglichen (vgl. Alkemeyer 2017: 150). Ähnlich wie für die Produktion von Körperlichkeit gilt dabei analog auch für Kompetenz: Praxistheorien unterstellen nicht nur körperliche Kompetenz, um soziale Ordnung erklären zu können. Sie geben auch ein analytisches Instrumentarium dafür an die Hand, um die Herstellung von Kompetenz zum Gegenstand empirischer Forschung machen zu können.

Zunächst sind es vor allem jene Ansätze, welche die performativen Dimensionen von Praktiken stark machen, die über kompetenztheoretisches Potential verfügen. Diese erlauben es, in einem ersten Schritt, eine Gleichsetzung zwischen körperlichen Fertigkeiten einerseits und Kompetenzen andererseits zu vermeiden. Denn wie im Abschnitt 2.3.2 gezeigt, verfügt jedes Tun über eine „öffentliche[] Schauseite“ (Hirschauer 2016a: 57). Praktische Vollzüge weisen, so die zentrale Annahme, eine kommunikative Dimension auf (vgl. Hirschauer 2004: 76 ff., 2016a: 55 ff.), und zwar unabhängig davon, ob dies von den Teilnehmer*innen intendiert ist. Auf die Herstellung von Kompetenz bezogen bedeutet dies: Damit Kompetenz überhaupt wahrgenommen werden kann, muss sie sich im Tun dokumentieren (vgl. Rawls 2003; vgl. auch Pfadenhauer 2003: 103 ff.). „Körper“, so Schmidt (2017a: 342; Hervorh. A.A.) explizit, „stellen dar, prozessieren Zeichen und demonstrieren praktikenspezifische Kompetenz oder Inkompetenz“ (vgl. auch Barnes 2001: 26; Reckwitz 2003: 290; Rouse 2007b: 48). Ganz im Sinne Harold Garfinkels (1967: 4) lässt sich Kompetenz also in einer ersten Annäherung als eine handlungspraktische Leistung, als ein „practical accomplishment“ verstehen: Das Tun der Teilnehmer*innen wird auf eine spezifische Weise accountable gemacht.

Mit dem Verweis auf das Wahrnehmbarmachen von Verhaltensweisen allein ist der Kompetenzbegriff allerdings nicht hinreichend bestimmt. Dies wird deutlich, wenn man sich die zentrale kompetenztheoretische Pointe praxistheoretischer Ansätze vor Augen führt: Teilnehmer*innen von Praktiken zeigen in ihrem Tun nicht nur an, was sie tun und folglich, um welche Praktik(en) es sich jeweils handelt. Sie zeigen überdies auch nicht nur an, wie sie etwas tun. In ihrem Tun wird vielmehr immer auch mit-dokumentiert, ob es den jeweiligen praktikenspezifischen Angemessenheitskriterien entspricht oder nicht – ob also etwas beispielsweise ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ausgeführt wird (vgl. Schindler 2011: 168). Eine solche Feststellung impliziert, dass sich das Verhalten der Teilnehmer*innen als inkompetent erweisen könnte: Situationen des Scheiterns und Misslingens, Fehlversuche und interaktive Übertretungen begrenzen damit stets den Horizont kompetenten Tuns. Von (In-)Kompetenz kann in diesem Sinne erst dann gesprochen werden, wenn etwas auf eine bestimmte Weise gemacht werden soll (oder muss) (vgl. etwa Barnes 2001; Rouse 2007b; Schatzki 2002: 75 f., 80 ff.).

Neben der Produktion und dem Wahrnehmbar-Machen spezifischer Formen des Tuns sowie der (empirisch zu beantwortenden) Frage danach, unter welchen Bedingungen diese als angemessen gelten können, erweist sich aber noch ein dritter Aspekt für ein Verständnis der praktischen Herstellung von (In-)Kompetenz als relevant: (In-)Kompetenz ist stets auch Ergebnis von Bewertungsprozessen (vgl. als Überblick Krüger und Reinhart 2016): Das jeweilige Tun wird von dafür zuständigen bzw. autorisierten Teilnehmer*innen im Hinblick auf seine Angemessenheit beurteilt (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2017: 289; Knoblauch 2010: 251). Es wird entweder implizit oder explizit darüber befunden, ob ein (in-)kompetentes Verhalten vorliegt.

Eine praxeologisch informierte Soziologie der Kompetenz fokussiert somit auf drei zentrale Fragen: 1.) Wie wird ein bestimmtes Tun von den Teilnehmer*innen erkenn- bzw. – allgemeiner gesprochen – erfahrbar gemacht? 2.) Welche Kompetenzkriterien können identifiziert werden und wie werden diese für die und von den Teilnehmer*innen verstehbar gemacht? Und 3.) Wie sind Prozesse des Bewertens organisiert? Nimmt man eine solche analytische Perspektive ein, dann lassen sich Prozesse der Herstellung von Kompetenz als ein Bestandteil der normativen Infrastruktur von Praktiken verstehen. Konkreter: Insofern sie die (Un-)Angemessenheit spezifischer Verhaltensweisen zum Gegenstand haben, lassen sie sich als eine Form normierender Meta-Praktiken bestimmen (ohne damit behaupten zu wollen, dass sich die Normativität sozialer Praktiken in Prozessen der Kompetenzproduktion erschöpft). Normativität ist somit nicht einfach als Explanans sozialer Praktiken zu verstehen. Sie ist vielmehr als soziologisch erklärungsbedürftiger Aspekt aufzufassen, der erst im praktischen Vollzug auf eine spezifische Weise organisiert und wirksam gemacht wird.

2.2 Praktiken des Kompetent-Werdens in Sport und Kunst – eine Vergleichsfolie

Das Kommunizieren von Kompetenzkriterien und Praktiken des Bewertens

Gerade weil sich die Praktik der Atemarbeit als vergleichsweise kommunikationsarm erweist und sie somit die praxeologische Annahme einer grundsätzlichen Performativität und – wie bisweilen konstatiert wird – Öffentlichkeit sozialer Praktiken (siehe Abschn. 2.1.3) vor Herausforderungen stellt, ist es analytisch produktiv, danach zu fragen, wie Kompetenzkriterien bei gut erforschten ‚expressive(re)n‘ Praktikentypen kommuniziert und verstehbar gemacht werden und wie Praktiken des Bewertens organisiert sein können. Dies lässt sich insbesondere anhand körper- und sportsoziologischer Studien veranschaulichen, welche die Vermittlung und den Erwerb eines praktischen Körperwissens zum Gegenstand haben.Footnote 10 Ein solches Vorgehen ermöglicht in der Folge eine komparative Perspektivierung der Atemarbeit, die es wiederum erlaubt, deren Spezifika (besser) in den Blick zu bekommen.

In sportlichen und künstlerischen Tätigkeitsfeldern (z. B. in der Kampfkunst, bei der Sportakrobatik oder etwa im Ballett) zeigt sich zunächst, dass die Vermittlung standardisierter Bewegungstechniken oftmals „im Grenzbereich dessen“ liegt, „was sich intellektuell sagen und begreifen lässt“ (Wacquant 2010 [2001]: 62). Zu beobachten ist zwar, dass die Lehrenden Kompetenzkriterien meist durch sprachliche Instruktionen vermitteln, doch sie stoßen immer wieder an die „Grenzen der Verbalisierbarkeit“ (Schindler 2011: 65; vgl. auch Alkemeyer/Michaeler 2013: 229). Die Lehrenden sehen sich demgemäß der Herausforderung gegenüber, die Grenzen sprachlicher Kommunikation zu überwinden: Die verbalen Instruktionen werden entweder durch andere Formen der Wissensvermittlung komplementiert oder verschiedene Formen des Kommunizierens kommen alternierend zum Einsatz (vgl. die Fallbeispiele in Brümmer 2015 und Schindler 2011).

Hierbei spielen insbesondere visuelle und somatische Formen der Wissensvermittlung eine bedeutende Rolle (vgl. zu dieser Unterscheidung ebd.). Im Falle der visuellen Kommunikation sind Demonstrationen gebräuchlich: Die ‚richtigen‘ Arten und Weisen, sich zu bewegen, werden von den Lehrenden oder fortgeschrittenen Lernenden vorgezeigt. Die Noviz*innen werden temporär zu Zuschauenden (vgl. ebd.: 89 ff.). Bei somatischen Formen der Wissensvermittlung wiederum werden die Körper der Lernenden beispielsweise durch Berührungen ‚modelliert‘ (vgl. Brümmer/Mitchell 2014: 166, 173 ff.) oder aber die entsprechenden Bewegungstechniken sollen – im Sinne eines learning by doing – in der körperlichen ‚Konfrontation‘ mit anderen kompetenteren Körpern gleichsam hervorgerufen werden (vgl. Wacquant 2010 [2001]: 90 ff.).

In didaktischen Situationen der Vermittlung praktischen Wissens, in denen Noviz*innen auf Expert*innen (oder fortgeschrittene Lernende) treffen, wird also versucht, die Normativität der jeweiligen Praktik offenzulegen. Man hat es mit Prozessen des praktischen Wissenstransfers zu tun: Es werden kommunikativ auf verschiedene Weise praktische Anforderungen expliziert. Kompetent-Werden setzt folglich das Verstehen der jeweils geltenden Kompetenzkriterien voraus. Nur dadurch ist es möglich, eine „sicht- oder spürbare Orientierung“ zu gewinnen, „an der […] sich [die Lernenden] ‚abarbeiten‘ und ihre Bewegungen ausrichten“ können (Alkemeyer/Michaeler 2013: 224).

Studien dieser Richtung zeigen auch, dass das Tun der Noviz*innen von Momenten des Scheiterns durchzogen ist: Fehler und misslungene Versuche werden entweder von den Lernenden selbst bemerkt oder diese werden von den Lehrenden darauf aufmerksam gemacht: Prozesse des Kompetent-Werdens sind immer auch an Praktiken des Bewertens gebunden. Als zentral erweist sich hierbei die Tatsache, dass die Noviz*innen kontinuierlich und unvermeidlich qua körperlicher Darstellungen ihren „eigenen Wissensstand“ (Schindler 2011: 143) zur Schau stellen: Die Offensichtlichkeit ihres Tuns ermöglicht es den Lehrenden, die Angemessenheit ihrer Bewegungen entweder zu bestätigen oder aber im Bedarfsfall korrigierend einzuschreiten (vgl. auch Brümmer 2015). Dies kann beispielsweise während des Tuns geschehen – etwa dann, wenn Lehrer*innen das Üben mit verbalen Instruktionen oder korrigierenden Berührungen begleiten (vgl. z. B. Alkemeyer/Michaeler 2013: 222 f.; Brümmer/Mitchell 2014: 173 ff.). Oder das Üben wird unterbrochen und nicht nur die Lehrenden, sondern auch die Lernenden begeben sich in eine ‚distanzierte‘ Beobachtungsposition, um das Vorgezeigte retrospektiv zu thematisieren (vgl. Brümmer 2015: 169 ff.). Im Zuge kontinuierlicher Bewertungen erhalten die Lernenden nach und nach selbst praktische Kriterien an die Hand, um in der Folge auch mittels Selbstbeobachtungen und -korrekturen ihr Tun modifizieren zu können.

Kompetenzproduktion jenseits des Kommunizierbaren?

Versucht man vor dem Hintergrund des Gesagten zu generalisieren und idealtypisch zuzuspitzen, dann lässt sich nochmals betonen, dass im Rahmen verschiedener Praktiken spezifische Körper mit spezifischen Fähigkeiten hervorgebracht werden sollen. Bei sportlichen und künstlerischen Praktiken geschieht dies in explizit didaktischen Settings und oftmals in hochgradig kodifizierter Form. Die in normativer Hinsicht geforderten Verhaltensweisen korrespondieren dabei dem Telos der jeweiligen Praktik (vgl. Schatzki 2002: 80 f.). So werden etwa beim Ballett spezifische Bewegungstechniken kultiviert, die es erlauben, ein virtuoses tänzerisches Können expressiv zur Schau zu stellen (Müller 2015, 2017), um letztlich einem Publikum ästhetische Erfahrungen zu bescheren. Beim Volleyball werden verschiedene Verhaltensrepertoires (z. B. Zuspieltechniken) eingeübt (vgl. Alkemeyer/Michaeler 2013: 221 ff.), die in sportlichen Wettkämpfen entscheidend sein können usw.

Wichtig ist hierbei, dass die Vermittlung und Hervorbringung eines als angemessen erachteten Verhaltens auch mit jeweils spezifischen Formen der Kompetenzproduktion einhergehen. Man kann hierbei zwischen dem Gegenstand und der Organisation der Kompetenzproduktion unterscheiden: also danach, was als Kompetenz jeweils hervorgebracht wird, und danach, wie sich dieser Prozess vollzieht. Im Bereich des Sports und der Kunst lässt sich im Hinblick auf die beispielhaft behandelten Studien feststellen, dass die Herstellung kompetenter Körper primär auf die „kommunikative Seite“ des Tuns (Hirschauer 2016a: 55) abstellt: Praktiken der Kompetenzproduktion setzen bei visuellen und/oder auditiven Objektivationen (vgl. Berger und Luckmann 2007 [1966]: 36 ff.) an, die ko-präsenten Beobachter*innen – etwa Trainer*innen – zugänglich sind. So werden etwa sichtbare körperliche Darstellungen, (zu-)gespielte Bälle oder am Klavier produzierte Melodien zu Objekten der Bewertung und Korrektur. Als Gegenstand der Kompetenzproduktion erweist sich hier also der kommunizierte Wissensstand der Teilnehmer*innen, der sich in unterschiedlicher Weise und unter Umständen materiell vermittelt dokumentiert (vgl. auch Hirschauer 2016a: 55 ff.). Damit geht mit den genannten Beispielen auch eine spezifische Organisation der Kompetenzproduktion einher, die sich durch asymmetrische Expert*innen-Lai*innen-Beziehungen auszeichnet (vgl. beispielhaft Alkemeyer/Michaeler 2013: 227 f.): Es sind die Lehrenden, denen die Deutungsmacht im Hinblick auf die Bestimmung von Kompetenzkriterien und die Beurteilung der Angemessenheit des Tuns zukommt. Sie sind es, die – immer wieder und so lange, bis die ‚Resultate‘ von ihnen als angemessen erachtet werden – korrigierend eingreifen.

Gerade für eine Soziologie leiblicher Praxis ist es vor diesem Hintergrund allerdings wesentlich, darauf zu verweisen, dass Teilnehmer*innen von Praktiken nicht bloß die Rollen der Darsteller*innen und des (urteilenden) Publikums bekleiden. Sie sind vielmehr immer auch affektiv-sinnlich im sozialen Geschehen engagiert (vgl. im Hinblick auf die behandelten Studien z. B. Müller 2015, 2017; Schindler 2011: 143; Wacquant 2010 [2001]: 95). Im Falle der Atemarbeit besteht, wie gezeigt, die primäre Zielsetzung darin, ‚sich‘ zu spüren. Sie gibt dementsprechend Anlass zur Frage, wie Formen der Kompetenzproduktion organisiert sind, deren Gegenstand selbst nicht (mehr) im Medium des Kommunikativen und des – körperlich-performativ – Kommunizierbaren operiert.

2.3 Zur Logik der Kompetenzproduktion in der Atemarbeit

Ich bestimme hierzu die normative Organisation der Atemarbeit komparativ unter Rückgriff auf die dargestellten sportlichen und künstlerischen Praktiken. Zwei wesentliche Aspekte sind hervorzuheben: (a) eine Individualisierung der Kompetenzproduktion, die sich darin manifestiert, dass die Klient*innen in letzter Konsequenz selbst für die praktische Ausgestaltung der Herstellung eines kompetenten Verhaltens verantwortlich zeichnen (müssen) und (b) die non-direktive und anti-autoritäre Art und Weise des Instruierens, die dazu führt, dass den Klient*innen verstärkt individuelle Gestaltungsspielräume eingeräumt und in einem gewissen Sinne sozusagen auch aufgenötigt werden.

(a) Individualisierung der Kompetenzproduktion

Obwohl die Atemlehrer*innen das Tun der Klient*innen sprachlich anleiten, ist festzustellen, dass viele Dinge, die man machen soll, zwar explizit benannt, aber nicht näher sprachlich oder auch durch Berührungen, die gelegentlich zu beobachten sind, spezifiziert werden (können). Es wird zwar kommuniziert, was die Klient*innen tun sollen, aber nur in den seltensten Fällen wird genauer verdeutlicht (oder kann verdeutlicht werden), wie die Dinge konkret umgesetzt werden sollen. Die entsprechenden sprachlichen Hinweise bleiben oft vage oder sind in hohem Maße metaphorisch. Ich möchte dies in der Folge insbesondere anhand des Beispiels des „Loslassens“ bzw. des „Geschehenlassens“ darstellen, ein Thema, das ich auch bereits im vorangegangenen Abschnitt behandelt habe. So werden beispielsweise Aufforderungen, sich zu „entspannen“ oder aber (die Muskeln) beim Ausatmen „loszulassen“, zwar oftmals auch mittels ergänzender oder alternativer Begrifflichkeiten (z. B. die Rede von „Spannungen abfließen“ zu lassen oder „ohne jeden Druck“ auszuatmen) umschrieben, aber insgesamt bleibt auf der sprachlichen Ebene relativ offen, wie sich eine Verkörperung der genannten symbolischen Inhalte im Detail anfühlen soll. Zwar korrespondieren, wie bereits gezeigt, den verbalen Instruktionen der Atemlehrer*innen im Idealfall zuhandene Leibschemata, die eine Übersetzung im Modus impliziten Wissens ermöglichen (siehe 6.3). In diesem Fall besteht also ohnehin keinerlei zusätzlicher Explikationsbedarf. Man ‚weiß‘, was zu tun ist.

Allerdings besteht ein handlungspraktisches Problem für die Klient*innen nicht nur im Anschließen an die Instruktionen. Es stellt sich ebenso die praktische Herausforderung, während des Tuns zu bestimmen, unter welchen Bedingungen eine Anschlussaktivität und die Ausgestaltung von Folgeaktivitäten ‚passend‘, ‚richtig‘ oder ‚gelungen‘ sind – ob man also (in-)kompetent agiert. Dass es sich dabei nicht lediglich um ein theoretisches, sondern auch um ein für die Klient*innen praktisch relevantes Problem handelt, wird daran ersichtlich, dass sich in den Atemsitzungen eine Vielzahl an Situationen ereignen, in denen ich mein Tun hinsichtlich seiner (Un-)Angemessenheit bewerte. Immer wieder ist ein praktisches Scheitern zu beobachten. In anderen Fällen kommt es aber auch zu Erfahrungen des Gelingens und Funktionierens. Hierzu ein Beispiel aus der Atemschule:

Lisa: Und beim Ausatmen (-- --) alle Spannungen und Blockaden, die jetzt möglich sind, dass sie gelöst werden, mit rausfließt, (-- -- --) sodass du vielleicht beim nächsten Mal Einatmen noch ein Stück weit tiefer einatmen kannst.

Die Rede von der Lösung von Spannungen und Blockaden hat mir dabei geholfen, mich beim Ausatemvorgang gut – vielleicht sogar etwas besser – ‚fallenlassen‘ zu können und die Muskeln zu entspannen. Zwar ist mir dies vorher schon ganz gut gelungen, aber manchmal erweist es sich als hilfreich, wenn es sprachlich in Erinnerung gerufen und man so nochmals darauf aufmerksam gemacht wird. Es ist dann nicht nur so, dass es gegebenenfalls besser gelingt, sondern man nimmt das Gelingen – das Entspannen der Muskeln – auch wahr. [AS]

Man kann, das wird an den Feldnotizen ersichtlich, nicht nur anschließen oder eben nicht, man nimmt erfolgreiche, insbesondere aber nicht-erfolgreiche Anschlüsse und Folgeaktivitäten auch als solche wahr. Das heißt, nicht der Anschluss selbst wird zum Problem, sondern – sekundär bzw. zusätzlich – die Frage danach, ob es gelingt, ein Fallenlassen ‚richtig‘ zu verkörpern: Man nimmt eine evaluative Meta-Perspektive auf das eigene Tun ein. Diese praktische ‚Suche‘ nach als gelungen erfahrenen Anschlussaktivitäten wird in dem folgenden Beispiel greifbar:

Manfred: Schau, probier=s einmal aus (ja). (-- -- -- --) (Schau mal) was passiert. (-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --) Auch zu spüren ja das Volumen, das der Körper zulässt. (-- -- -- -- -- -- -) Auch wenn jetzt ( ) mehr Kraft notwendig ist, du kannst auch umso mehr entspannen nachher. ( ) Ausatmen ist ohne jeden Druck. Das passiert einfach (-- -- -- -) wenn die Aktivität des Einatmens, (-- -- -) ah ja, aufhört. (-- --) Genau. (-- -- -- -- -) ( ) einfach ein Fallenlassen. Ich lass mich tief nach innen fallen.

Manfreds Rede von einfach „Loslassen“ hat meinem Ausatemvorgang insofern eine Art zusätzliche Wahrnehmungsqualität verliehen, als sich für mich während des Tuns die Frage gestellt hat, inwiefern ein „Fallenlassen“ gelingen kann – ohne dass ich die Frage tatsächlich an mich gerichtet hätte, es war eher der Versuch einer praktischen Antizipation des Gefühls des Fallenlassens. Ich hatte in der Sitzung den Eindruck, dass man dies sehr wohl spüren kann (auch wenn es sehr schwer bzw. kaum in Worte zu fassen ist). Der springende Punkt ist hier, dass man es vor allem spürt, wenn es nicht gelingt. Manfreds Instruktionen haben jedenfalls in diesem Moment der Sitzung dazu beigetragen, mich mehr auf diesen Aspekt des Ausatemvorgangs fokussieren zu können. Immer wieder hatte ich aber auch das Gefühl, dass ein völliges Geschehenlassen des Ausatemvorgangs nicht gelungen ist bzw. gerade – im Moment – nicht gelingt. Man findet sich dann sozusagen damit ab und hofft, dass es beim nächsten Mal (wieder besser) klappt. [ES-1]

Hier zeigt sich, dass in den Instruktionen entsprechende Kompetenzkriterien zwar in unterschiedlichen Variationen mitkommuniziert werden, diese aber letztlich doch einigermaßen vage bzw. implizit bleiben („Ausatmen ist ohne jeden Druck. Das passiert einfach“, „einfach ein Fallenlassen. Ich lass mich tief nach innen fallen“). Will ich also ‚im Spiel‘ bleiben, so bin ich nicht nur dazu aufgefordert, die Instruktionen in meine Praxis zu übersetzen und derart eine Anschlussaktivität zu generieren. In kompetenztheoretischer Hinsicht ist vor allem die Frage relevant, in welcher Art und Weise ich darüber befinde, wann und ob meine Aktivitäten ‚passend‘ oder eben ‚gelungen‘ sind. Mangels ‚objektiver‘ Kriterien bin ich erstens gleichsam dazu gezwungen, fühlend und quasi-experimentell für mich selbst zu spezifizieren, was überhaupt als kompetente Praxis gelten kann („der Versuch einer praktischen Antizipation des Gefühls des Fallenlassens“). Zweitens – und buchstäblich im selben Atemzug – muss ich erspürend bewerten, ob das, was ich tue, den praxisimmanent etablierten Kompetenzkriterien entspricht.

Die Atemarbeit ist zwar keine Praktik, die gänzlich ohne kommunizierte normative Orientierungen auskommt; sie beruht wesentlich auf verbalen Instruktionen. Doch gerade weil die Atemarbeit an der Schnittstelle zwischen Sprache und dem eigenleiblichen Spüren operiert, werden die Klient*innen implizit dazu angehalten, sowohl die entsprechenden Anschlussaktivitäten als auch die korrespondierenden Kompetenzkriterien in situ praktisch zu konkretisieren. Es bleibt – eben weil es sich um eine Übersetzung handelt – eine Lücke, die sozusagen praktisch gefüllt werden muss. Anders als bei den oben dargestellten Beispielen aus dem Bereich des Sports und der Kunst findet die Kompetenzproduktion in letzter Konsequenz nicht im Medium einer Expert*innen-Lai*innen-Kommunikation statt, in der die Trainier*innen oder Lehrer*innen das letzte Wort haben. Die Klient*innen können sich letztlich, wollen sie als kompetente Atemarbeit-Teilnehmer*innen agieren, nur an ihren individuellen eigenleiblichen Wahrnehmungen orientieren. Eine letzte externe personale Bewertungsinstanz ist nicht gegeben. Die Frage nach den leiblichen Korrelaten eines als ‚richtig‘ erachteten Fühlens kann offenbar nicht an andere delegiert werden. Man ist auf sich selbst verwiesen. Die Kompetenzproduktion wird individualisiert.

Dies wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, welche Kompetenzkriterien letztlich von mir in Anschlag gebracht werden:

Gelungen ist der Ausatemvorgang dann, wenn man das Gefühl hat, dass er ohne das eigene aktive Zutun vonstattengeht. Misslungen ist er, wenn man das Gefühl hat, dass man etwas aktiv dazu tut. Der springende Punkt ist hierbei allerdings, dass man ein Nicht-Zutun – nämlich Passivität – nicht oder kaum direkt (das heißt im engeren Sinne intentional) ansteuern kann. Man muss es gewissermaßen indirekt erwirken, in dem man dem Wie des Ausatemvorganges keine Aufmerksamkeit schenkt, sondern sich lediglich auf die spürbaren Effekte des Ausatmens konzentriert. [ES-1]

Zwar sind Gefühle des Aktiv-Seins schwer in Worte zu fassen, doch ist es – auf der Grundlage meiner ethnographischen Erfahrung – völlig unzweifelhaft, dass man den Unterschied zwischen Aktivität und Passivität (ein – in der Sprache des Feldes – „Geschehenlassen“) spürt (vgl. auch Dewey 1897 sowie am Beispiel der Achtsamkeitsmeditation Ehrensperger 2020: 175). So besteht, wie in den Feldnotizen angesprochen, eine praktische Strategie etwa darin, nicht auf das ausführende Tun selbst zu fokussieren, sondern die Aufmerksamkeit auf die Effekte des Tuns zu lenken. Dies impliziert, dass man „den Atem in seiner ‚Autonomie‘ und vor allem ohne gesonderte Kraftanstrengung wahrzunehmen und ihn entsprechend ‚von sich aus‘ fließen zu lassen versucht“ (ES-1). Ein zentrales praktisches Kriterium dafür, ob dies gelingt, ist entsprechend das Ausbleiben von Gefühlen der Anstrengung bzw. des Kraftaufwands. Dewey (ebd.: 44; Hervorh. A.A.) spricht hier treffend von einem „sense of effort“. Demgemäß werden jene Situationen, in denen ich eine „Anstrengung“ verspüre oder etwa „aktiv“ ausatme, unwillkürlich von mir als ein Scheitern wahrgenommen.

Die Praktik der Atemarbeit ist derart gebaut, dass sie solcherlei Aspekte des affektiven Erfahrens und eine damit einhergehende Bewertung des eigenen Tuns (zumindest implizit) kommunikativ relevant macht; implizit deswegen, weil weder (umfänglich) artikuliert wird, welche Kompetenzkriterien gelten, noch operieren die Atemlehrer*innen mit explizit normativen Begrifflichkeiten wie beispielsweise „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „schlecht“ (siehe auch (b)). Unabhängig davon erlaubt es eine kompetenztheoretisch informierte Soziologie leiblicher Praxis, eine analytische Sensibilität dafür zu entwickeln, wie jeweils bestimmt wird, ob man das, was man macht, auch angemessen macht. Kompetenz wird in der Atemarbeit von den Klient*innen nicht – im Medium des Kommunikativen – demonstriert, sondern individuell er-spürt.Footnote 11 Dass dies so ist, ist selbst als ein ‚Effekt‘ der (engagierten) Teilnahme an einer überindividuell organisierten Praktik zu verstehen.

(b) Non-Direktivität und Anti-Autorität

Befördert wird eine derartige Individualisierung der Kompetenzproduktion zusätzlich durch ein weiteres Charakteristikum der normativen Organisation der Atemarbeit, das bereits angeklungen ist, aber bisher nicht näher erläutert wurde: Die Instruktionen und damit das Nahelegen bestimmter Verhaltensweisen durch die Atemlehrer*innen fallen prinzipiell nicht sonderlich direktiv und interventionsorientiert, sondern zurückhaltend aus: Die Atemlehrer*innen sagen zwar, was zu tun ist, oder sie unterbreiten Vorschläge, aber bei einem etwaigen Nicht-Befolgen, einer ‚falschen‘ Interpretation des Gesagten oder einem Nicht-Verstehen der Instruktionen auf Seiten der Klient*innen schreiten sie nicht per se und schon gar nicht explizit korrigierend ein. Deutlich wird dies bei einer Nachfrage im Nachgespräch zu meiner zweiten Atemsitzung, in der eine gewisse Orientierungslosigkeit meinerseits offenbar wird und ich mich erkundige, wie eine bestimmte Instruktion Manfreds gemeint gewesen sei.Footnote 12 Es geht hier also um das Verstehbar-Machen von Kompetenzkriterien:

Ich: […] soll ich eigentlich schon zu Beginn relativ also bewusst auch äh stark und viel einatmen oder also, letztes Mal bin ich einfach nur, hab ich einfach nur generell auch beim Einatem passieren lassen sozusagen (Manfred: Ja). Und das war eher so ein langsames, eine langsamere Geschichte, aber ich war mir im Nachhinein auch dann nicht mehr ganz sicher, ob das aber eigentlich erwünscht ist oder ob deine Anweisungen darauf gezielt haben, dass ich ein bisschen (T: mhm) mehr einatmen soll. [ES-2]

Manfred macht in seiner Antwort zum einen deutlich, wie die Instruktionen in der vorangegangenen Sitzung gemeint waren – er spezifiziert also ex post und auf Nachfrage die Kompetenzkriterien –, und legt zum anderen ein generelles Verfahrensprinzip offen:

Manfred: Die Anweisung hat schon irgendwie die Anregung geben wollen, also so wie so eine Motivation und ich hab a- aber gemerkt, dass das, ahm, einfach nicht angekommen ist gewisserweise und habs einfach sein lassen und äh, weil quasi das Hauptprinzip ist schon, oder ist vordringlich zu schauen, was entwickelt sich von selber. Weil jede Intervention von außen, vor allem dann, wenn man=s immer wieder wiederholt, kann dann auch wie eine ah Manipulation empfunden werden, kann dann zweierlei auslösen. Der eine sagt, jetzt muss ich unbedingt und und setzt sich quasi unter Stress, der andere sagt, nein, jetzt erst recht nicht. [ES-2]

Bei Manfreds Rede von „Anregung“ und „Motivation“Footnote 13 wird deutlich, dass die In-struktionen offenkundig weniger darauf zielen, die Klient*innen unbedingt zu einem ganz bestimmten Verhalten zu veranlassen. Es geht vielmehr darum, sozusagen eine Gelegenheitsstruktur zu schaffen, die man als Klient*in aufgreifen kann. Anders ausgedrückt: Die Instruktionen haben in normativer Hinsicht keinen allzu hohen Verbindlichkeitsgrad. Explizit wird dies auch in der Erläuterung eines „Hauptprinzip[s]“ der Atemarbeit, wie es Manfred nennt: Es geht weniger darum, eine spezifische Form des Verhaltens einzufordern („habs einfach sein lassen“), sondern den Klient*innen die Möglichkeit zu geben, dass sich die Dinge „von selber“ entwickeln. Ein allzu direktives oder beharrliches Vorgehen könne einer solchen Entwicklung, so Manfred, hinderlich sein oder diese gar unterminieren, indem es – dem Telos der Atemarbeit entgegenlaufend – zu „Stress“ führen oder aber als „Manipulation“ empfunden werden könne.

Verglichen beispielsweise mit Trainingssituationen im Sport, in denen so lange an Bewegungen gearbeitet wird, bis diese von den Trainer*innen als angemessen erachtet werden, erscheint die normative Organisation der Atemarbeit anti-autoritär. Die Atemlehrer*innen in den von mir beobachteten Einzelsitzungen und der Atemschule agieren im Vergleich dazu dementsprechend nur in einem sehr eingeschränkten Sinne als Expert*innen, die Kraft der ihnen zugestandenen Deutungsmacht darüber befinden, was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Es sind folglich nicht die Atemlehrer*innen, die explizit über die (Un-)Angemessenheit des Tuns der Klient*innen befinden. Sie beanspruchen zwar Gestaltungsautorität für sich, indem sie die Sitzungen grundlegend dirigieren und das Tun der Klient*innen freilich auch anleiten. Aber sie schaffen kommunikativ weniger eine Muss- oder Soll-, sondern vielmehr eine Kann-Situation. Solch eine praktische Zurückhaltung erhöht den individuellen Gestaltungsspielraum der Klient*innen.

In praktischer Hinsicht empirisch prägnant äußert sich dies insbesondere anhand zweier Aspekte. Zum einen ziehen sich die Atemlehrer*innen, wie bereits im Abschnitt zur Interaktionsordnung der Atemarbeit (6.2) erwähnt, nach und nach kommunikativ über einen längeren Zeitraum fast vollständig zurück. Sie lassen dem Tun der Klient*innen freien Lauf. Sie geben keine Anweisungen mehr, sondern werden in kommunikativer Hinsicht zu passiven Beobachter*innen, die allerdings – das sollte nicht unerwähnt bleiben – jederzeit (zumindest in den Einzelsitzungen) auch von den Klient*innen adressiert und derart als aktiv steuernde oder zumindest unterstützende Instanz reaktiviert werden können (so etwa, wenn man Schwierigkeiten kommuniziert und die Atemlehrer*innen daraufhin Vorschläge unterbreiten, wie mit diesen praktisch umgegangen werden kann). Wichtig ist hier: Die größeren Gestaltungsspielräume werden allerdings nicht nur offeriert, sondern in einem gewissen Sinne durch den Rückzug der Atemlehrer*innen den Klient*innen förmlich ‚aufgenötigt‘. Man ist in einem gewissen Sinne für sich selbst verantwortlich.Footnote 14

Zum anderen werden die Instruktionen oftmals in Form von Vorschlägen kommuniziert (und sind damit streng genommen nur bedingt als Instruktionen im eigentlichen Sinne zu verstehen). So äußert sich Manfred – höchst passiv – etwa folgendermaßen:

Manfred: Wenn das Bedürfnis entsteht auch den Mund mitzunehmen beim Atmen, gib dem einfach nach. (-- -- -- -) Vielleicht noch mehr Luft einströmen mag, weil sich das gerade gut anfühlt, (-- --) (wenn) das auch durch den Mund (passieren mag). [ES-1]

Man begegnet hier also abermals – ähnlich wie bei den obigen Ausführungen (Punkt (a)) als auch bei der Frage, ob man auf gestellte Fragen während der Phase des eigentlichen Atmens überhaupt antworten soll (siehe 6.2) – einer kommunikativ nahegelegten Individualisierung der normativen Organisation der Atemarbeit, die einerseits durch den Vorschlagscharakter von Manfreds Äußerung und andererseits durch das kommunikative Relevantmachen individueller Empfindungen und der Betonung von Verhaltensspielräumen („weil sich das gerade gut anfühlt“, „wann das […] passieren mag“) aktiv befördert wird. Entsprechend folge ich zwar in der Sitzung Manfreds Vorschlag, entscheide mich dann aber nichtsdestoweniger – weil „mir dies angenehmer erscheint“ – zur Nasenatmung zurückzukehren.

Ich versuche Ts Vorschlag zu beherzigen, kehre aber nach wenigen Versuchen wieder zur reinen Nasenatmung zurück, weil mir dies angenehmer erscheint. Zu dem Zeitpunkt habe ich kein Bedürfnis, mehr Luft beim Einatemvorgang aufzunehmen. [ES-1]

Empirisch zeigt sich eine derartige Individualisierung der normativen Organisation der Atemarbeit auch darin, dass ich während der Sitzungen bisweilen eigeninitiative Entscheidungen hinsichtlich der Ausgestaltung der Sitzung treffe. So steht meine vierte Atemsitzung etwa ganz im Zeichen eines beschleunigten Atmens:

T: Ja und, vielleicht noch, dass du ausprobierst einfach noch schneller zu atmen (-- -- -- -- -- -- -- --) ja, einfach einmal spüren, Volumen, bleibt ungefähr gleich (--) nur, jetzt die, Atemzüge, schneller wechseln zwischen Einatmen und Ausatmen. (1m 49s) Und der Einatem verbindet sich mit dem Ausatem der Ausatem zum Einatem so dass das wie so ein, Kreislauf geht. (-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --) Du bleibst einfach, Beobachter dessen was sich dabei vielleicht im Körper verändert (-- --) spürbar wird. [ES-4]

Nachdem ich in der Sitzung versuche, die Atemintensität über einen längeren Zeitraum kontinuierlich hochzuhalten (was durchaus auch mit einer gewissen Anstrengung verbunden ist), entscheide ich, ohne dass Manfred etwa eine Beendigung angeregt oder eine neue Instruktion vorgenommen hätte – das heißt gänzlich eigenständig –, „die Phase des beschleunigten Atmens“, wie ich in den Feldnotizen formuliere (ES-4), „langsam ausklingen zu lassen“. Wenngleich derartige Situationen in meinen Feldprotokollen nicht oft vorkommen, so sind sie doch als ein klares empirisches Indiz dafür zu werten, dass die non-direktive, anti-autoritäre Ausgestaltung der Atemarbeit letztlich auch von mir so verstanden wurde und diese entsprechend bei mir angekommen ist. Pointiert und aus der Klient*innenperspektive gesprochen: Man hat nicht per se das Gefühl, etwas falsch zu machen, wenn man etwas tut, das nicht in Einklang mit den Instruktionen oder Vorschlägen steht oder man sich nicht in jeglicher Hinsicht strikt an diesen orientiert. Das kommunikative Zurücknehmen der Atemlehrer*innen, die Kommunikation der Instruktionen in Form von Vorschlägen sowie das damit verbundene kommunikative Relevantmachen individueller Empfindungen ‚ermutigen‘ die Klient*innen dazu, sich nicht nur an der normativen Ausgestaltung der Praktik zu beteiligen, sondern sie tragen wesentlich zu einer Individualisierung dieser bei.

Trotz dieser spezifischen Ausprägung der normativen Organisation der Atemarbeit muss allerdings betont werden, dass stets ein grundlegendes Engagement auf Seiten der Klient*innen praktisch vorausgesetzt werden muss, da andernfalls die Instruktionen ins Leere zu laufen drohen und die Atemarbeit praktisch ad absurdum geführt würde. Soll heißen: Würde man sich gar nicht oder nicht hinreichend engagiert an die Instruktionen halten, käme gar nicht erst eine Aktivität zustande, die den Namen „Atemarbeit“ oder „Atemtherapie“ verdienen würde (was allein in Anbetracht des vergleichsweise hohen Preises von 90 Euro, die ich pro Einzelsitzung bezahlt habe, für viele Klient*innen vermutlich keine Option darstellt). Überdies gilt: Wäre eine solches Engagement nicht gegeben, dann könnte es auch gar nicht zu Situationen kommen, die von den Klient*innen als ein praktisches Scheitern interpretiert werden. Scheitern setzt eine grundlegende Orientierung an den kommunizierten Vorgaben voraus.

3 Fazit

Im ersten Teil des Kapitels habe ich gezeigt, dass die Praktik der Atemarbeit auf einer Rekonfiguration des alltäglichen Atmens beruht und wesentlich als eine Aufmerksamkeitstechnik zu begreifen ist. Die Klient*innen werden allerdings nicht bloß für das Atmen interessiert und es wird nicht lediglich bewusst gemacht. Sie tragen vielmehr in verschiedenerlei Hinsicht auch aktiv dazu bei, den „Atem“ als Aufmerksamkeitsobjekt mit hervorzubringen. So werden sie etwa dazu aufgefordert, praktisch zu intervenieren, indem sie das Atmen aktiv modellieren (zum Beispiel im Falle einer Intensivierung der Atmung). Sie werden (etwa im Falle des „Loslassens“) dazu angeregt, passive Modi des Erfahrens zu generieren, oder ihnen wird nahegelegt, Leibschemata miteinander zu kombinieren (im Falle des Verbindens von Ein- und Ausatemprozess). Das alltägliche Atmen wird nicht nur verändert, sondern es wird auf eine bestimmte Art und Weise akzentuiert, intensiviert, erweitert usw. und derart – auf der Grundlage einer Aneignung und Mobilisierung spezifischer Leibschemata – erst in eine erlebbare Atem-Erfahrung transformiert. Hier zeigt sich deutlich: Das, was man gemeinhin „Leib“ nennt, ist keine selbstgegebene Entität, die man in der soziologischen Analyse einfach voraussetzen kann. Leiblichkeit ist vielmehr als ein aktiver Prozess der Formierung verschiedener Formen von ge- und erlebter Körperlichkeit in Anbetracht situativer praktischer und normativer Anforderungen zu verstehen. Dieser Prozess der Verleiblichung beruht immer auf konkreten sozialwelt- und praktikenspezifischen Strategien und Beteiligungsformaten – im Sinne differenter Ausprägungen leiblichen Zur-Welt-Seins –, die sich etwa in Formen eines praktischen Engagements, Graden der Aktivität/Passivität, der Intensität usw. empirisch manifestieren.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch auf das Wirken und Ineinandergreifen verschiedener Formen der Herstellung von Aufmerksamkeit zu verweisen, die bei der Atemarbeit beobachtet werden können. Das in der Atemarbeit kultivierte selbstbezogene Erleben beruht wesentlich auf einer „Umorganisation des Erfahrungsfelds“ (Waldenfels 2004: 103; Hervorh. entfernt): Zunächst wird ein grundlegendes Wahrnehmungsfeld etabliert, um das im Alltag oft unbemerkt bleibende Atmen von einem undifferenzierten Wahrnehmungshintergrund abzuheben. Es sind die Aufmerksamkeitssteuerungen der Atemlehrer*innen, die die Klient*innen zu einer aktiven Form der Herstellung von Aufmerksamkeit anhalten. Ein solches Wahrnehmbar-Machen des Atmens beruht auf einer intentionalen Steuerungsleistung seitens der Klient*innen. Dieses Wahrnehmungsfeld schafft zugleich den Raum dafür, für Dinge empfänglich zu werden, die sich nicht einer intendierten Form der Aufmerksamkeitsfokussierung verdanken, sondern sich gleichsam selbst bemerkbar machen: passive Formen der Aufmerksamkeit. So stellt der wahrgenommene Luftstrom etwa einen Anreiz dar, der die Aufmerksamkeit bindet. Oder der sich beim Atmen bewegende Bauch wird Teil der Atem-Erfahrung, insofern er ins Wahrnehmungsfeld drängt. Das aktive Modellieren des Atmens, der Versuch, passive Modi des Tuns zu erwirken, aber ebenso die Verbindung zwischen Ein- und Ausatem bedürfen darüber hinaus allesamt einer funktionalen Aufmerksamkeit (ein Subtypus der passiven Aufmerksamkeit), die sich als notwendige praktische Voraussetzung dafür erweist, die genannten Tätigkeiten realisieren zu können. Zugleich werden diese Aktivitäten stets auch von entsprechenden Gefühlen (etwa kinästhetischen Empfindungen) begleitet. Es macht – gefühlt – einen Unterschied, ob man die Dinge ‚laufen lässt‘ oder ob man aktiv interveniert. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer Begleitaufmerksamkeit, die unserem Tun stets eine spezifische affektive Färbung verleiht und sich beispielsweise in dem Gefühl der Anstrengung, einem sense of effort, manifestiert. Schließlich habe ich am Beispiel einer gelungenen präsentischen Atem-Erfahrung, die wesentlich auf einer Rhythmisierung des Tuns aufruht, gezeigt, dass das Wahrnehmungsgeschehen sich als ein expandierender und hochdynamischer Prozess erweisen kann – etwa dann, wenn die Aufmerksamkeit ‚durch den Körper‘ wandert und förmlich eine Sogwirkung entfaltet. Hier zeigt sich, dass Praktiken wie die Atemarbeit vielfältige Lerngelegenheiten für eine Soziologie leiblicher Praxis bieten und empirische Einzelfallanalysen Anregungen für die Theorieentwicklung geben können.

Insofern die Atemarbeit bestimmte Formen leiblicher Erfahrungen ermöglicht, die sich etwa – insbesondere im Falle präsentischer Erlebnisse – in Gefühlen eines affektiven Involviert-Seins, einem gefühlten Kontrollverlust oder einem als intensiv erlebten Hier und Jetzt äußern kann, erweist sich „der Atem“ nicht bloß als ein Produkt eines ko-produktiven Herstellungsprozesses. Er stellt zugleich auch ein Organisationsprinzip des Erfahrens dar, das es den Klient*innen ermöglicht, sich auf eine spezifische Art und Weise selbst zu erleben. „Der Atem“ fungiert als Instrument des Machens von Erfahrungen. Die Atemarbeit ist dabei eine Praktik, in der ein „attending ‚with‘ the body“ und ein „attending ‚to‘ the body“ (Csordas 1993: 138) förmlich miteinander verschmelzen.

Die atemarbeitsspezifische Erfahrungsordnung bildet schließlich auch den Rahmen dafür, in welcher Art und Weise darüber befunden wird, ob man kompetent agiert oder nicht. Insofern sich das Etablieren von Kompetenzkriterien und Praktiken des Bewertens in letzter Konsequenz nicht im Medium der Expert*innen-Lai*innen-Kommunikation vollzieht, sondern die Klient*innen – wollen sie ‚erfolgreich‘ sein – letztlich zu leiblichen Expert*innen ihrer selbst werden müssen, wirkt die Atemarbeit individualisierend. Es sind die Klient*innen, die – im vorgegebenen Rahmen der verbalen Instruktionen – sowohl Kompetenzkriterien generieren bzw. spezifizieren als auch fühlend darüber befinden, ob das, was sie tun, diesen Kompetenzkriterien entspricht: Atemlehrer*innen geben in diesem Sinne ihre Zuständigkeit (vgl. Pfadenhauer 2010) im Hinblick auf das Verstehbarmachen von Kompetenzkriterien partiell und im Hinblick auf die Praktiken des Bewertens ganz auf.

Dies liegt einerseits ganz wesentlich darin begründet, dass die Klient*innen jene praktischen ‚Lücken‘ zu füllen haben, die an den Schnittstellen zwischen den verbalen Instruktionen und den leiblichen Anschlussaktivitäten entstehen und eine Orientierung am eigenen, affektiv erfahrbaren Tun praktisch notwendig wird. Die leibliche Praxis der Klient*innen wird zur Trägerin spürbarer (In-)Kompetenz-Erfahrungen. Normativität geht im wahrsten Sinne des Wortes (auch) unter die Haut. Andererseits entsteht durch die non-direktive und anti-autoritäre Kommunikation (kommunikatives Zurücknehmen, Vorschlagscharakter der Instruktionen, kommunikatives Relevant-Machen individueller Empfindungen) ein ‚Raum‘, der eine Individualisierung der Kompetenzproduktion zusätzlich befördert. Pointiert formuliert, lässt sich sagen, dass in der Atemarbeit ein Kontext generiert wird, der die Klient*innen mit der handlungspraktischen Frage, ob sie das, was sie machen, auch ‚richtig‘ machen, in letzter Instanz alleine lässt. Es ist dementsprechend nicht nur das leibliche Tun der Klient*innen, auf das sich diese sozusagen verlassen müssen. Es sind auch unausweichlich sie selbst, die dafür Sorge zu tragen haben, dass es in einer angemessenen Art und Weise weitergeht. Im Rahmen der Atemarbeit kompetent zu sein, heißt primär, sich im Tun nicht nur als kompetent zu erfahren, sondern sich in einem gewissen Sinne selbst kompetent zu machen. Mit Blick auf die Organisation der Kompetenzproduktion fungieren die Atemlehrer*innen dementsprechend nicht mehr als Expert*innen im engeren Sinne, die darüber befinden, was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Vielmehr können sie – dazu trägt auch die Möglichkeit bei, sie zu jedem Zeitpunkt konsultieren zu können – als Unterstützer*innen verstanden werden, die den Klient*innen (im Idealfall) dabei helfen, sich selbst zu befähigen.