Die keineswegs unumstrittene Frage danach, was warum Gegenstand der Soziologie sein soll, ist nicht nur abhängig von thematischen Konjunkturen – wie etwa dem Interesse an Körperlichkeit oder Emotionen –, sondern ebenso von den theoretischen Grundbegrifflichkeiten des Fachs (vgl. Joas/Knöbl 2004: 13 ff.). Sozialtheoretische Prämissen und Konzepte, wie z. B. „Sinn“, „Handeln“, „Interaktion“ und „Praxis“, sind nicht nur Thema fachinterner theoretischer Diskussionen um den kognitiven Kern einer Wissenschaftsdisziplin. Insofern theoretische Grundannahmen als „Sehinstrumente“ (Lindemann 2008: 114) fungieren und damit soziologisches Wahrnehmen und Forschen erst ermöglichen, sind sie konstitutiv für die Praxis der Soziologie und somit für die Hervorbringung soziologischer Gegenstände (Blumer 1986 [1969]: 153 ff.): Welche Phänomene und Aspekte sozialen Geschehens gelangen überhaupt in den soziologischen Blick? Welche Fragen können wir an unsere Gegenstände stellen? Wie denken wir über sie nach? Wie sollen wir sie beobachtbar machen und erforschen?

Das Kapitel entfaltet vor dem Hintergrund solcher Fragen die Perspektive einer Soziologie leiblicher Praxis, die die empirische Arbeit anleitet. Der bereits in der Einleitung begründete Rückgriff auf praxistheoretische Überlegungen und den Erfahrungsbegriff des Pragmatismus soll hier gleichwohl nicht unvermittelt, ohne Bezugnahme auf die handlungstheoretische Tradition in der Soziologie, eingeführt werden. Denn ungeachtet neuerer Entwicklungen innerhalb soziologischer Handlungstheorien bietet insbesondere der Weber’sche Zugang einer verstehenden Soziologie, wie er ihn in den Soziologischen Grundbegriffen (1988 [1921]) programmatisch dargelegt hat, in seiner analytischen Bestimmtheit und seinem hohen methodologischen Reflexionsniveau nach wie vor eine produktive Reibungsfläche für theoriesystematische und begriffsstrategische Entscheidungen – nicht zuletzt, wenn es um soziologische Ansätze geht, die soziale Phänomene als sinnhaft konstituiert denken und auch entsprechende methodologische Folgerungen aus diesem Sachverhalt ziehen. Ein solcher Zugriff ermöglicht es auch, Gemeinsamkeiten zwischen Handlungs- und Praxistheorien zu markieren und damit der Tendenz vorzubeugen, Praxistheorien als radikale Antipoden zu soziologischen Handlungstheorien hochzustilisieren. Zwar kann die zuletzt genannte – oftmals auch professions- und theoriepolitisch motivierte – Strategie einerseits dabei helfen, die eigene Position zu schärfen. Sie geht aber andererseits auch mit einem vermeidbaren Verlust an analytischen Potenzialen einher.Footnote 1

In Kontrast zu Webers handlungsbegrifflicher Grundlegung der Soziologie skizziere ich in einem ersten Schritt die zentralen programmatischen Grundannahmen des hier verfolgten praxistheoretischen Zugriffs (2.1.). Diese bilden den analytischen Rahmen für die Ausarbeitung einer pragmatistisch fundierten Soziologie leiblicher Praxis. In den beiden darauffolgenden Abschnitten (2.2 und 2.3) stelle ich die grundlagentheoretische Relevanz und das Potenzial des Pragmatismus für eine Soziologie leiblicher Praxis dar: Der Pragmatismus erweist sich in seiner anti-intellektualistischen und das Handlungssubjekt dezentrierenden Grundhaltung nicht nur als kompatibel mit praxistheoretischen Ansätzen, was relevant dafür ist, beide Ansätze zusammendenken zu können. Er ermöglicht es ebenso, manche analytische Schieflage praxistheoretischer Ansätze zu vermeiden. Das zentrale Argument des vorliegenden Kapitels lautet, dass der Pragmatismus bereits in seiner grundlegenden Theorieanlage zentrale Motive dessen, was heute mitunter als Gegensatz zwischen „Praxis“ und „Handeln“ diskutiert wird, miteinander vereint – und zwar ohne in eine Richtung zu kippen. Daraus lässt sich ein breiter und differenzierter(er) Praxisbegriff gewinnen, der es erlaubt, verschiedene Verhaltensdimensionen zu berücksichtigen. Abschließend fasse ich die entwickelte theoretische Perspektive kurz zusammen (2.4) und führe auf dieser Grundlage zum Gegenstand, der Atemarbeit, hin. Ich spezifiziere die zentralen Erkenntnisinteressen und expliziere zu guter Letzt den analytischen Zugriff, der das empirische Vorgehen anleitet (2.5).

1 Vom subjektiv-sinnhaften Handeln zur Praxis

1.1 Vom Handeln zum Verhalten – eine erste Kontextualisierung

Webers programmatischer Entwurf bestimmt die (verstehende) Soziologie als eine Wissenschaft, deren Aufgabe in einer empirischen Rekonstruktion sozialen Handelns bestehe (1988 [1921]: 542, 552). Soziales Handeln definiert er als „ein solches […], welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (ebd.: 542). Zwar gibt Weber zu bedenken, dass es die Soziologie „keineswegs nur mit ‚sozialem Handeln‘ zu tun“ habe, aber dieses bilde „ihren zentralen Tatbestand“, nämlich „denjenigen, der für sie als Wissenschaft sozusagen konstitutiv“ sei (ebd.: 565; Hervorh. im Orig.). Handeln begreift Weber als einen bestimmten Modus des Verhaltens. Dieser zeichne sich dadurch aus, dass „die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn“ verbinden (ebd.: 542). Die Sinnhaftigkeit (und damit auch: die alltagsweltliche Verstehbarkeit) menschlichen Handelns wiederum ergibt sich für ihn aus dessen teleologischer Verfasstheit: Handeln sei in den Kategorien von Zwecken und Mitteln und deren Beziehung zueinander zu denken (vgl. Balog 2008: 76).Footnote 2 Derart geraten die Motive der Handelnden in den analytischen Blick (vgl. Weber 1988 [1921]: 550; Balog 2008: 77). Dies ist entscheidend für Webers Verständnis davon, was Gegenstand der Soziologie sein soll. Denn mit einer solchen Bestimmung könne Handeln von „sinnfremde[n]“ Prozessen, die lediglich als „Anlaß, Ergebnis, Förderung oder Hemmung menschlichen Handelns in Betracht“ kämen (Weber 1988 [1921]: 545; Hervorh. A.A.), unterschieden werden (vgl. auch ebd.: 551 f.).

Auf dieser theoretischen Spezifikation aufbauend verfolgt Weber eine „rationalistisch[e]“ Methode (ebd.: 545): Der idealtypisch gebildete Begriff des zweckrationalen Handelns, der sich durch eine „vollständige [bewusste; A.A.] Kontrolle über die Mittel, den Zweck, den Wert und die Folge des Handelns“ (Müller 2007: 113) auszeichnet, dient ihm als zentrales methodisches Vergleichsinstrument. Und zwar insofern, als es die „Abweichung“ des Idealtypus von der empirischen Beobachtung erlaube, „das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln […] zu verstehen“ (Weber 1988 [1921]: 544; vgl. auch 544 f., 561 sowie Müller 2007: 67). Ein solches methodologisch begründetes Vorgehen ist theoretisch folgenreich, führt es doch in Webers bekannter Handlungstypologie (vgl. Weber 1988 [1921]: 565 ff.) dazu, affektuelles und traditionales Handeln gegenüber dem zweckrationalen und wertrationalen als (irrationale) Grenzfälle des Handelns charakterisieren zu müssen: Beide, so Weber (ebd.: 565), lägen „an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ein ‚sinnhaft‘ orientiertes Handeln nennen kann“ bzw. „was bewusst ‚sinnhaft‘ orientiert ist“. Weber ordnet also – so Hans Joas (1996: 63) – seine „Handlungstypen entlang einer Rationalitätsskala“ an. Dies habe wiederum zur Folge, „daß die vom rationalen Handeln abweichenden Handlungstypen vornehmlich aus dieser Abweichung heraus, als defiziente Modi des rationalen Handelns also, kategorisiert werden“ (ebd.; Hervorh. A.A.).

Wissenschaftstheoretisch betrachtet ist es nicht möglich, solche sozialtheoretischen Grundannahmen, die konstitutiv für den Gegenstandsbereich der Soziologie sind, zu falsifizieren (vgl. etwa Kalthoff 2008; Lindemann 2008). Das sieht auch Weber so, wenn er – die Theoriegeladenheit soziologischer Operationen herausstellend – betont, dass es sich hierbei um „idealtypische[] Konstruktionen“ (1988 [1921]: 561) handelt.Footnote 3 Allerdings sieht Weber (ebd.: 561 f.) eben auch, dass

„das reale Handeln […] in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ‚gemeinten Sinns‘ [verläuft]. Der Handelnde ‚fühlt‘ ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder ‚sich klar machte‘, handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich […] wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handelns in das Bewußtsein gehoben.“

Bemerkenswert ist, dass eine solche Beobachtung Weber nun allerdings nicht dazu verleitet, seinen rationalistischen Zugriff zu verwerfen. Im Gegenteil: Er macht die Diskrepanz zwischen seiner Theorieanlage und seiner empirischen Beobachtung zu einem methodologischen Argument: „Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind“, so Weber (ebd.: 561), „je weltfremder sie also, in diesem Sinne, sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch“. Die Weltfremdheit seiner Kategorien dient Weber also als zentrale Begründung für die heuristische Produktivität seiner „beobachtungsleitenden Annahmen“ (Kalthoff 2008: 12) und damit auch: für die handlungsbegriffliche und methodologische Grundlegung seiner Soziologie.Footnote 4 Die für Weber unbestrittene Tatsache, dass (zweckrationales) Handeln „in der Realität“ immer nur ein „Grenzfall“ ist, dürfe die Soziologie nicht daran hindern, „ihre Begriffe durch Klassifikation des möglichen ‚gemeinten Sinns‘“ zu bilden, „also so, als ob das Handeln tatsächlich bewußt sinnorientiert verliefe“ (1988 [1921]: 562; Hervorh. A.A.; vgl. auch Müller 2007: 61 ff.).

Aufschlussreich ist das Weber’sche Vorgehen vor allem deswegen, weil es zu zeigen erlaubt, dass Praxistheorien genau an diesem Punkt eine alternative Strategie einschlagen. Anders als Weber und an ihn anschließende handlungstheoretische Ansätze (z. B. jener Alfred Schütz’; vgl. S. 30, Anm. 18) operieren sie nicht auf der Grundlage eines teleologischen bzw. intentionalistischen Handlungsbegriffs, der (primär) auf die Motive der Handelnden scharf stellt, sondern auf der Basis eines konzeptionell breiter angelegten Begriffs von Verhalten. Dieser ist zwar, wie angedeutet, prinzipiell auch Weber nicht fremd, aber Verhalten gerät bei ihm (begrifflich) vor allem als eine „Randbedingung sozialen Handelns“ (Loenhoff 2012a: 185) in den Blick. Praxistheorien bezweifeln demgegenüber die analytische Leistungsfähigkeit handlungsbegrifflich grundgelegter und insbesondere rationalistisch ausgerichteter Soziologien. Sie sind nicht geneigt, alles Tun am Standard einer hochspezifischen Vorstellung von Rationalität (vgl. Rehberg 1994: 634 f.; Renn 2012) und dem empirischen ‚Spezialfall‘ subjektiv-sinnhaften Handelns zu ‚messen‘ (vgl. etwa Hörning 2004a; Hirschauer 2016a: 46 ff.). Der von Weber (1988 [1921]: 562) als konstruktiv empfundene „Abstand“ des (zweckrationalen) Handlungsbegriffs „gegen die Realität“ ist den praxistheoretischen Ansätzen sozusagen zu groß.Footnote 5

Daraus lässt sich eine wichtige Folgerung ableiten: Wenngleich auch praxistheoretische Ansätze in Anbetracht der Theoriegeladenheit empirischer Beobachtungen nicht für sich beanspruchen können, ein realistischeres Bild sozialer Phänomene zeichnen zu können, so orientieren sie sich doch auf grundbegrifflicher Ebene nicht bzw. weniger an idealisierten Grenzfällen, sondern stärker, wie man mit Hans Joas (1996: 57) formulieren kann, an der „phänomenale[n] Eigenart“ praktischen Tuns. Daraus resultiert, wie ich in der Folge zeigen möchte, ein breiteres Verständnis von Sozialität, das „Praxis“ als verkörperten Vollzug denkt und die analytische Vorrangstellung eines Motive verfolgenden Subjekts – insbesondere mit dem Begriff der „Praktiken“ – relativiert.

1.2 Ein praxeologischer Bezugsrahmen

Die Begrifflichkeiten „Praxis“ und „Praktik“ implizieren einerseits ein Bündel sozialtheoretischer Grundannahmen und analytischer Akzentuierungen, die unter den Etikettierungen „Praxistheorie“, „Praxeologie“ oder „Theorien sozialer Praktiken“ zusammengeführt werden.Footnote 6 Andererseits wird die Praxis-Perspektive nur dann verständlich, wenn man auch ihre methodologischen Implikationen ernst nimmt. Ich skizziere dementsprechend in der Folge die praxistheoretische Grundausrichtung der vorliegenden Untersuchung. Damit soll zunächst verdeutlicht werden, welche Form der analytischen Gegenstandskonstruktion aus einer praxistheoretischen Perspektive folgt.

(a) Breiter, empirisch offener Verhaltensbegriff

Wie bereits angedeutet, wird in praxistheoretischen Ansätzen der primäre Fokus auf zweckrationale bzw. allgemeiner: reflexive Formen des Verhaltens – bei Weber als „Handeln“ bezeichnet – zugunsten einer Orientierung an einem umfassende(re)n Verhaltensbegriff aufgegeben. Anders ausgedrückt: Praxistheorien beginnen nicht, wie Weber, mit einem spezifischen Modus des Verhaltens, sondern sie fragen – theoretisch sensibilisiert, aber (im Idealfall) zugleich doch empirisch offen – danach, welche unterscheidbaren Formen des Verhaltens jeweils zu beobachten sind. Dies schließt den Grenzfall des (zweckrationalen) Handelns prinzipiell ebenso mit ein wie unreflektierte, ‚automatisierte‘ Routinen und kunstfertiges praktisches Tun im „Modus habitualisierter Kompetenz“, das „nicht den Umweg über die explizite Kalkulation der Situationsmerkmale und Handlungsziele nehmen muss und kann“ (Renn 2012: 171).

(b) Aufwertung der Körperlichkeit

Mit einer solchen verhaltenstheoretischen Orientierung, die nicht bei Akten subjektiver Sinnsetzung, sondern, wie noch ausführlich dargelegt werden soll, bei den nicht-reflexiven Dimensionen menschlicher Welt- und Selbsterfahrung ansetzt, rücken zugleich auch Aspekte von Sozialität, wie Körperlichkeit (vgl. z. B. Alkemeyer 2015, Bedorf 2015; Crossley 2001; Goodwin 2000, 2003a), implizite Formen des Wissens (Loenhoff 2012b, 2012c, 2015; Renn 2004), aber auch affektiv-sinnliche Dimensionen des Tuns (Prinz/Göbel 2015; Reckwitz 2015, 2016; Scheer 2012; Wetherell 2012; Wiesse 2019) verstärkt in den Blick. Diese, so die praxistheoretische Kritik, blieben in handlungstheoretischen Ansätzen in der Weber’schen Traditionslinie konzeptionell unterbelichtet oder ihnen komme bisweilen lediglich der Status von Residualkategorien zu (vgl. z. B. Bongaerts 2008; Meuser 2006: 98). Allerdings wirft die Betonung der Verkörpertheit von Sozialität auch die keineswegs unumstrittene Frage auf, wie diese theoretisch näher zu bestimmen ist. Ich komme darauf zurück.

(c) ‚Tieferlegung‘ des Sinnbegriffes

Vor dem Hintergrund eines breiten, verkörperten Verhaltensbegriffs machen praxistheoretische Ansätze Prozesse der Sinnkonstitution weder exklusiv am Handeln (als einem spezifischen Modus des Verhaltens) fest, noch verstehen sie diese als rein mentale Bewusstseinsakte, die auf ‚höheren‘ kognitiven Operationen beruhen. Insofern sie Prozesse der Sinnkonstitution bereits auf der Ebene des körperlichen Vollzugs situieren, lässt sich von einer theoretischen ‚Tieferlegung‘ des Sinnbegriffs sprechen. Dabei lassen sich zwei analytische Beobachtungsperspektiven unterscheiden, die in verschiedenen Ansätzen unterschiedlich stark akzentuiert werden: Draufsicht und Binnensicht (vgl. hierzu auch Antony 2017a; 2018).

Aus der Perspektive einer Draufsicht manifestieren sich Prozesse der Sinnkonstitution, erstens – und zwar unabhängig davon, ob dies von den Teilnehmer*innen intendiert ist –, in körperlichen Darstellungen bzw. anders ausgedrückt: performativ (vgl. als Überblick Volbers 2011 und weiterführend Abschnitt 2.3.2). Betont wird in einer solchen Perspektivierung „das visuell verfasste Wissen, das der Körper prozessiert: das Zeigen, die Verkörperung und ihre nicht-sprachlichen Zeichensysteme: Kleidung, Haltung, Gestik, Mimik und Blick“ (Hirschauer 2016b: 27 f.) und auch die „Hörbarkeit des Sozialen“ (ebd.: 28), die sich sprachlich oder nicht-sprachlich – man denke etwa an Klang (vgl. Ginkel 2017) – dokumentieren kann. Im Hinblick auf solche ‚expressiven‘ Formen der Sinnkonstitution kann man mit Robert Schmidt (2017b) von einem öffentlichen Sinn sprechen, der in verkörperten Interaktionen von den beteiligten Akteur*innen für andere wahrnehm- und (potenziell) verstehbar gemacht wird (vgl. auch Rawls 2003).

Sinn konstituiert sich, zweitens, aus der Perspektive der Akteur*innen betrachtet und damit: unter Einnahme einer Binnensicht nicht nur in der mentalen Imagination von Handlungskonsequenzen (so wie dies etwa in der handlungstheoretischen Tradition, beispielsweise bei Schütz, betont wird) oder in interpretativen Prozessen der Situationsdefinition (wie z. B. bei Blumer); er wird stets auch körperlich-leiblich erfahren (vgl. Antony 2017a; Böhle/Porschen 2011; Gronow 2011: 69 ff.; Ostrow 1990). Verhalten ist in einer solchen Perspektive nicht allein sinnhaft, weil ihm Handelnde unter Einnahme einer mehr oder weniger distanzierten ‚Meta-Perspektive‘ retro- oder prospektiv Sinn zuschreiben. Vielmehr ruht jegliches Verhalten bereits auf einem praktischen Verstehen auf, das seinen ‚Ort‘ im Tun selbst hat: in der praktischen Gewissheit, sich auf eine spezifische Art und Weise verhalten zu können, in der geordneten Erfahrung der Welt auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmungen oder indem wir anhand unseres Affiziertseins erspüren, was Situationen (für uns) bedeuten. In diesem Zusammenhang spreche ich von einem dem praktischen Vollzug impliziten Sinn. Gerade eine allgemein-theoretische Perspektive, die sensibel für leibliche Verhaltensdimensionen ist, hat auch solche Prozesse der Sinnkonstitution grundbegrifflich zu berücksichtigen.

(d) Praxis als Vollzugswirklichkeit

Methodologisch betrachtet geht mit der Praxis-Perspektive darüber hinaus eine – in der Soziologie paradigmatisch etwa durch Harold Garfinkel (1967) vertretene – Orientierung am sich vollziehenden Tun einher (vgl. Bergmann 2007a; Rawls 2005). Soziale Ordnung wird als situativ hergestellt betrachtet; sie ist als „practical accomplishment“ (Garfinkel 1967: 4; 33 ff.) zu verstehen. Dies impliziert die wichtige und später noch zu vertiefende Annahme, dass sich das beobachtete Vollzugsgeschehen konstitutiv sowohl von den Ex-post-Darstellungen bzw. -Verbalisierungen der Teilnehmer*innen als auch von den wissenschaftlichen Theoretisierungen unterscheidet (siehe 3.1). Hier wird auch der Unterschied zu Webers rationalistischem Vorgehen deutlich. So wurde etwa Bourdieu (vgl. 1998 [1994]: 203 ff.), ein klassischer Vertreter soziologischer Praxistheorien, nicht müde, zu betonen, dass Modelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion nicht einfach auf den Untersuchungsgegenstand projiziert werden dürfen: Der „epistemologische[] Fehler“, so Bourdieu (ebd.: 210), bestehe darin,

„alle sozialen Akteure nach dem Bilde des Wissenschaftlers zu sehen (des über seine Praktiken nachdenkenden und nicht des handelnden Wissenschaftlers) oder, genauer gesagt, die Modelle, die der Wissenschaftler konstruieren muß, um die Praktiken zu erklären, in das Bewußtsein der Akteure zu verlegen, so zu tun, als ob die Konstruktionen, die der Wissenschaftler produzieren muß, um die Praktiken zu verstehen, um hinter ihre Vernunft zu kommen, das bestimmende Prinzip dieser Praktiken wären.“

(e) Praktiken als überindividuelle Konstellationen

Schließlich wird in neueren praxistheoretischen Arbeiten betont, dass sich individuelle Aktivitäten stets in überindividuellen Konstellationen vollziehen. Dies mag für Soziolog*innen alles andere als unvertraut klingen, praxeologische Ansätze geben diesem Sachverhalt mit dem Begriff der „Praktiken“ jedoch eine spezifische Wendung – prominent etwa in den Arbeiten Theodore Schatzkis, an dem ich mich in der Folge primär orientiere.Footnote 7 Als zentral für eine Soziologie der Praktiken (Schmidt 2012) erweist sich zunächst der Bruch mit der Annahme, dass Verhalten oder Handeln etwas sei, das exklusiv einzelnen menschlichen Individuen zugerechnet werden könne. Die analytische Pointe eines praxeologischen Zugriffs besteht demgegenüber in der forschungsleitenden Annahme, dass es nie einzelne menschliche Akteure allein sind, die etwas tun. Individuelles Sich-Verhalten wird konsequent als ein „feature“ (Schatzki 2002: 135; Hervorh. A.A.) von Praktiken begriffen (siehe auch Nicolini 2009: 1404). Das bedeutet, dass individuelle Verhaltensorientierungen „are established, acquired, sustained, and transformed through the actions that compose […] practices. They cannot, therefore, be disengaged from the practices“ (Schatzki 2002: 135). Praktiken wiederum – wie z. B. Protestieren, Soziologie treiben, Auto fahren oder eben Atmen im Rahmen der Atemarbeit – werden als auf unterschiedliche menschliche sowie nicht-menschliche Entitäten distribuiert gedacht (was insbesondere dazu anregt, die oftmals als selbstverständlich erachteten materiellen Bestandteile und Infrastrukturen sozialer Aktivitäten hinreichend zu berücksichtigen). Darüber hinaus gilt: Die beteiligten Entitäten mögen zwar in räumlicher und zeitlicher Hinsicht mitunter weit entfernt sein; in diesem Sinne können Praktiken – aus einer transsituativen Perspektive betrachtet – unterschiedliche Größenordnungen aufweisen; ebenso kann ihren historischen Bedingungen nachgegangen werden. Das macht sie allerdings nicht zu Mikro- oder Makrophänomenen. Alle Träger von Praktiken werden auf der gleichen sozialontologischen Ebene angesiedelt (vgl. Nicolini 2017: 22 f.; Schatzki 2002: 146 ff.) und dementsprechend als „unvermeidlich eingeschlossen in den Vollzug sozialer Phänomene“ begriffen (Hirschauer 2004: 89). Praktiken lassen sich vor diesem Hintergrund als organisierte Aktivitäten im Sinne „kulturell geformte[r]“ und „von wiederkehrenden Mustern geprägte und damit identifizierbare Einheiten“ (Alkemeyer et al. 2015: 27) bestimmen, als, so Schatzki (2002: 100), „definite packages of entitities, relations, meanings, and positions, whose integrity derives from the organization of practices“.Footnote 8

Damit gehen drei analytisch relevante Implikationen einher, die sich unmittelbar darauf auswirken, wie aus der Perspektive einer Soziologie der Praktiken soziologische Gegenstände konstruiert und erforscht werden. Erstens wird individuelles Verhalten stets als in Praktiken situiert begriffen. Das bedeutet, dass es einerseits als ‚Produkt‘ der Teilnahme an Praktiken zu verstehen ist. Andererseits tragen die Aktivitäten einzelner Teilnehmer*innen rekursiv zur Aktualisierung, Stabilisierung und gegebenenfalls Transformation von Praktiken bei (vgl. Alkemeyer et al. 2015: 30). Daraus ergibt sich ein konsequenter analytischer Fokus auf die multiplen Verweisungszusammenhänge zwischen an Praktiken beteiligten Entitäten. Dies impliziert, zweitens, dass auch die Strukturierung individuellen Tuns durch die Partizipation an Praktiken zu erklären ist: Strukturierungseffekte ergeben sich aus den Wirkungen, die an Praktiken beteiligte Entitäten gegenseitig aufeinander ausüben (z. B. beim Zusammenspiel von Techniken und deren Benutzer*innen; pointiert am Beispiel eines hydraulischen Türschließers siehe Johnson (= Latour) 2006 [1988]). Sie sind in den Relationen zwischen diesen Entitäten und nicht im Verhältnis zwischen abstrakten Strukturen und individuellem Handeln oder Subjekt und Objekt zu verorten.Footnote 9 Das heißt auch: Für reifizierende Annahmen, die von Strukturen als solchen ausgehen, die etwa in den Köpfen, Körpern oder einem wie auch immer gearteten gesellschaftlichen ‚Außen‘ verortet werden, besteht in theoriearchitektonischer Hinsicht nicht nur keine Notwendigkeit. Ein ‚starker‘ Strukturbegriff wird vielmehr durch die Aufforderung ersetzt, die Wirkungen und Effekte beteiligter Entitäten empirisch zu identifizieren und gegenstandsbezogen zu spezifizieren (vgl. Passoth 2011; Schatzki 2002: 18 ff.). Es sind die „different components of arrangements [that] enable and constrain one another’s activities“ (Schatzki 2002: 45). Eine solche Auffassung von Praktiken impliziert, drittens, dass sich Praktiken durch eine ihnen inhärente und jeweils spezifische Normativität auszeichnen. Praktiken als typische Aktivitäten sind normativ organisiert (vgl. Barnes 2001; Rouse 2007b; Schatzki 2002: 75 f., 80 ff.). In sozialen Praktiken werden nicht nur jeweils spezifische Formen eines praktischen Könnens stillschweigend mobilisiert, im Tun angeeignet (sei es en passant oder beispielsweise durch verbale Instruktionen) oder aber explizit eingefordert, sondern ebenso ein Gefühl dafür oder ein kognitives Wissen darüber, welche Verhaltensweisen (unter spezifischen Bedingungen) passend, akzeptabel, erwünscht sind usw. Die normative Organisation von Praktiken manifestiert sich also in den empirisch identifizierbaren Kriterien, die die (Un-)Angemessenheit spezifischer Verhaltensweisen zum Gegenstand haben – etwa im Sinne eines ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, oder im Hinblick auf ein Dürfen, Sollen, Müssen usw. (vgl. hierzu auch Antony 2019 sowie 7.2). Die handlungspraktische und die normative Organisation von Praktiken sind demgemäß nicht voneinander zu trennen.Footnote 10 Dieser dritte Aspekt ermöglicht es zum einen, Praktiken als solche überhaupt erst zu identifizieren und damit von anderen Praktiken zu unterscheiden (vgl. Nicolini 2017: 22): Dass jeweils spezifische Dinge auf eine spezifische Art und Weise getan werden sollen, ist als empirischer Hinweis darauf zu sehen, dass wir es mit bestimmten Praktiken zu tun haben, die von anderen sozialen Aktivitäten analytisch abgegrenzt und auch explizit benannt werden können. Zum anderen kann die abstrakte Rede von einer Präfiguration individueller Verhaltensweisen durch Teilnahme an sozialen Praktiken in forschungspraktische Fragen überführt werden: Welche praktischen und normativen Anforderungen lassen sich jeweils identifizieren? Auf welche Art und Weise werden diese (kommunikativ) vermittelt und damit verstehbar gemacht?

1.3 Zur Erweiterungsbedürftigkeit der Praxistheorie(n)

Praxistheoretische Perspektiven haben – angefangen bei Garfinkels Plädoyer für die Hinwendung zum konkreten praktischen Vollzug, über Bourdieus Habitus-Konzept, bis hin zu neueren Theorien sozialer Praktiken, die Prozesse des Ordnens und Stabilisierens im Geflecht zwischen verkörperten Akteur*innen und Materialitäten verorten – der soziologischen Theoriediskussion zweifellos wichtige Impulse gegeben und mitunter kontroverse Diskussionen angeregt.Footnote 11 Allerdings wurden in den letzten Jahren auch vermehrt Kritiken an ihnen – auch aus den ‚eigenen Reihen‘ – geäußert. Im Wesentlichen wird für eine Erweiterung und Spezifikation des theoretischen Instrumentariums und eine Ausweitung der analytischen Fokusse plädiert. Ich möchte drei Punkte hervorheben – nicht, weil diese auf alle Ansätze, die mit dem Label „Praxistheorie“ oder „Theorien sozialer Praktiken“ etikettiert werden, gleichermaßen zuträfen, sondern weil durch das Aufwerfen solcher Fragen theoretische Problemstellungen artikuliert werden, die von systematischer Relevanz für eine Soziologie leiblicher Praxis sind.

Thomas Alkemeyer (vgl. 2017: 155 f.) hat erstens darauf hingewiesen, dass die praxistheoretischen Bemühungen, den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist (vgl. Crossley 2001: 8 ff.) hinter sich zu lassen, zu unintendierten theoretischen Nebenfolgen geführt haben. Der Dualismus drohe in die umgekehrte Richtung auszuschlagen und damit nicht überwunden, sondern unter der Hand bekräftigt zu werden (ähnlich auch Barnes 2001: 21; Bedorf 2015: 132; Brümmer 2015: 65 f.). Praxistheorien laufen damit tendenziell Gefahr, hinter das Reflexionsniveau handlungstheoretischer Ansätze zurückzufallen. Dies äußere sich etwa in der unzureichenden Thematisierung symbolisch prozessierender, „reflexiver Kompetenzen“ – Verhaltensdimensionen also, „die klassisch mit einem starken Begriff von Subjektivität verbunden sind“ (Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 26; vgl. auch Adloff/Jörke 2013). Es stelle sich die Frage, wie diese „im Rahmen des eigenen Paradigmas produktiv neu verstanden werden können“ (Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 26).

Zweitens kritisieren Alkemeyer und Co-Autor*innen den praxistheoretischen „Fokus auf die Routinehaftigkeit und Regelmäßigkeit“ (ebd.: 42; vgl. auch Brümmer 2015: 66 ff.; Brümmer/Mitchell 2014: 159 f.). Teilnehmer*innen sozialer Praktiken drohten auf „bloße Vollzugsorgane sie rekrutierender Praktiken“ (ebd.) reduziert zu werden.Footnote 12 Eine derartige Tendenz manifestiere sich etwa in einem Körper-Verständnis, das „einseitig […] das Gelingen und die Stabilität von Praktiken“ (Alkemeyer 2017: 150) betone. Körper würden entweder als beliebig formbar oder aber als „immer schon adäquat disziplinierte oder habitualisierte“ Körper thematisiert – „und damit in der Funktion, eine Praktik am Laufen zu halten und ein gegebenes kulturelles Regime zu reproduzieren“ (ebd.). Ein solcher Kritikpunkt und eine damit einhergehende Betonung der Kontingenz des praktischen Vollzugsgeschehens sensibilisiert vor allem in empirischer Hinsicht dafür, Fragen danach zu stellen, in welcher Art und Weise an Praktiken partizipiert werden kann (und soll) und wie kompetente Körper überhaupt erst zu solchen gemacht werden.

Drittens gilt es, das praxistheoretische Postulat der ‚Öffentlichkeit‘ sozialer Praktiken (vgl. Barnes 2001: 25; Rouse 2007a: 644; Schmidt 2012: 45 f., 226 ff.; 2017; Schmidt/Volbers 2011) kritisch zu hinterfragen. Was hat es damit auf sich? Dieses wendet sich gegen handlungstheoretische Annahmen über die vermeintliche Relevanz ‚innerer‘, im Individuum zu verortender Prozesse (z. B. mentale Operationen). Praktiken seien demgegenüber über ihre „performative[] Dimension“ (Schmidt 2012: 45) zu erschließen (vgl. auch Antony 2017a: 339 ff.): Sozial relevant, so die zentrale praxeologische Prämisse, ist das, was von den Teilnehmer*innen kommunikativ accountable, also erkenn- und verstehbar, gemacht wird (vgl. Bergmann 2007a: 125 f.; Meyer 2019). Allerdings resultiert aus einem solchen Plädoyer, primär oder gar exklusiv auf der Basis einer Draufsicht auf körperliche Darstellungen und Aufführungen, kurz: auf die „präsentatorische Seite“ des Tuns (Schmidt 2017a: 342) abzustellen, bisweilen eine Ausblendung all jener Aspekte sozialer Phänomene, die dem Alltagsverständnis nach oftmals dem ‚Innenleben‘ der Handelnden zugerechnet werden. Das heißt, die analytische Akzentverschiebung von einem vermeintlich handlungsrelevanten ‚Innen‘ zu einem das Soziale konstituierenden ‚Außen‘ mündet nicht in eine Auflösung, sondern tendenziell in eine Umkehrung der kritisierten Vereinseitigungen. Dies geht dann beispielsweise auch auf Kosten der Berücksichtigung affektiv-sinnlicher Erfahrungsqualitäten – jene Verhaltensdimensionen also, die den erfahrenden und erfahrenen Körper, für den im Deutschen oftmals der Begriff des Leibes verwendet wird, betreffen. Vor diesem Hintergrund wird zunehmend dafür votiert, praxistheoretische Fassungen von Körperlichkeit um leibtheoretische Perspektiven zu ergänzen (vgl. Alkemeyer 2017: 151 ff.; Alkemeyer/Michaeler 2013: 229 ff.; Bedorf 2015: 145 f.).Footnote 13 Dies verspreche, so Alkemeyer (2017: 151 f.), „die aus der Draufsicht […] resultierende Verdinglichung des Körpers brechen zu helfen und im Gegenzug jene Leiblichkeit der Erfahrung zu berücksichtigen, welche die Orientierung des Handelns in Praktiken vorreflexiv fundiert“.

Vor dem Hintergrund der vorgebrachten Kritikpunkte ergeben sich im Hinblick auf die theoretische Zielsetzung der vorliegenden Studie, eine Soziologie leiblicher Praxis zu skizzieren, zwei Problemstellungen, die einer Lösung zugeführt werden müssen: (a) die theoretische Erfassung leiblicher Verhaltensdimensionen und (b) die Frage danach, wie nicht-reflexive und reflexive Verhaltensdimensionen einerseits gleichermaßen berücksichtigt und andererseits theoretisch (und in der Folge: empirisch) zusammengedacht werden können. Ich gehe kurz auf beide Punkte ein:

(a) Derzeit scheint es tendenziell – sieht man von den oben genannten Ausnahmen ab – (noch) so zu sein, dass praxistheoretisch orientierte Autor*innen einen gewissen Abstand zu leibtheoretischen bzw. -phänomenologischen Ansätzen wahren. So schreibt Schmidt (2017a: 340) in einem aktuellen Beitrag zur „Praxistheorie“ im Handbuch Körpersoziologie (Gugutzer/Klein/Meuser 2017) etwa:

„In Abgrenzung zu phänomenologischen Leibphilosophien interessieren sich Praxeologien nicht für das Wahrnehmen und Erleben ‚des Körpers‘ oder die Eigenlogik und Widerständigkeit ‚des Leibes‘. Sie grenzen sich von solchen anthropologisierenden und abstrakten Setzungen ab und fokussieren stattdessen die Beteiligungen von Körpern und Körperbewegungen an praktischen Vollzügen.“

Nun ist zwar Schmidts Vorbehalten zuzustimmen, wonach darauf geachtet werden sollte, dass Körperlichkeit nicht auf klar abgegrenzte bzw. isolierte Einheiten (biologische Organismen) verkürzt und auch anthropologistische Kurzschlüsse, die den Leib in der Sphäre der Natur verorten, vermieden werden sollten. Doch sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Dies ist deswegen wichtig, weil sich Teilnehmer*innen von Praktiken nicht ausschließlich in der Rolle der Darsteller*innen oder des Publikums befinden. Sie sind vielmehr selbst – in unterschiedlicher Art und Weise – affektiv-sinnlich in das soziale Geschehen involviert. Leibliche Verhaltensdimensionen lassen sich folglich, wie noch gezeigt werden soll, – und zwar durchaus im Sinne Schmidts (2017a: 341) – als Aspekte „praktikenspezifische[r] Kompetenz- und Aktivitätsmodi […] sozialisierter Körper“ verstehen. Derart können heuristisch unfruchtbare Dualismen zwischen Innen und Außen und zwischen methodischer Binnensicht und Draufsicht sowohl auf theoretischer als auch auf forschungspraktischer Ebene unterlaufen werden.

(b) Gleiches gilt andererseits für die bisweilen zu beobachtende theoretische Frontstellung zwischen der Betonung reflexiver und nicht-reflexiver Verhaltensdimensionen (vgl. hierzu auch Pettenkofer 2017). Die praxistheoretische Kritik an intellektualistischen Handlungsmodellen und die damit einhergehende Betonung der nicht-reflexiven Fundierung jeglichen Verhaltens sind zweifellos berechtigt. Dies gilt alleine schon deswegen, weil reflexive Dimensionen sozialer Praktiken stets funktional auf nicht-reflektierbare Situationsaspekte angewiesen bleiben (siehe 2.2.1). Diese lassen sich praktisch nicht suspendieren (vgl. bereits Ryle 2009 [1946]). Doch diese Einsicht sollte nicht analytisch blind dafür machen, dass unter jeweils empirisch zu spezifizierenden Bedingungen reflexive Aspekte von Praktiken mehr oder weniger dominant sein können, die Ausführung spezifischer Praktiken also mehr oder weniger der Reflexivität bedarf – zum Beispiel dann, wenn widerstreitende körperliche Dispositionen eine bewusste Entscheidung für eine Handlungsoption notwendig machen.

Im Hinblick auf die beiden genannten Aspekte erweisen sich folglich theoretische Modelle als hilfreich, die bereits auf grundlagentheoretischer Ebene verschiedene Verhaltensdimensionen und -modi zu erfassen im Stande sind. Der klassische amerikanische Pragmatismus John Deweys bietet hierfür mit seinem breit angelegten verhaltenstheoretischen Zugriff und insbesondere dem Begriff der Erfahrung produktive konzeptionelle Ressourcen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, was die pragmatistische Perspektive in konzeptioneller Hinsicht zu einer Soziologie leiblicher Praxis beitragen kann.

2 Praxis als Erfahrung: Konturen eines pragmatistischen Verhaltensbegriffs

Man könnte mit Strübing (2007b: 128) auch von einem „erweiterten Handlungsbegriff“ sprechen. Für die für diese Studie anschlussfähige sozialtheoretische und soziologische Rezeption von Deweys Pragmatismus vgl. z. B. Adloff 2013; Adloff/Jörke 2013; Bogusz 2009; Colapietro 1999; Crossley 2013; Dietz/Nungesser/Pettenkofer 2017a; Emirbayer 2005; Gronow 2011; Gross 2009; Hörning 2004a; Joas 1996, 1999; Kilpinen 2009a, b; Loenhoff 2012c; Nungesser 2021; Ostrow 1990, Pettenkofer 2012; Rammert 2007; Renn 2006; Rochberg-Halton 1986; Schäfer 2012; Shalin 1986, 2007; Shilling 2017; 2018; Silver 2011; Strübing 2005, 2007b; Volbers 2015.

Beim Pragmatismus handelt es sich um eine aus den USA stammende philosophische Denkrichtung, deren Rezeption in der Soziologie vor allem mit dem Namen George Herbert Mead verbunden ist, der bekanntlich als einflussreicher Wegbereiter des Symbolischen Interaktionismus gilt (Blumer 1986 [1969]; Joas 1999: 23–65; Joas/Knöbl 2004: 183–219; Nungesser/Pettenkofer 2018; Nungesser/Wöhrle 2013; Strübing 2018). Neben Charles Sanders Peirce und William James gilt John Dewey als einer der Hauptvertreter des Pragmatismus (siehe zum allgemeinen Überblick Nagl 1998; Schubert et al. 2010). Seine Beiträge zur Philosophie sind vielfältig und – im Vergleich zu den Veröffentlichungen Meads – höchst umfangreich (vgl. Neubert 2004). Was Dewey einerseits für die Soziologie im Allgemeinen, in der er bisher lediglich am Rande rezipiert wurde, und für eine Soziologie leiblicher Praxis im Besonderen relevant macht, ist die Tatsache, dass er mit seiner am Erfahrungsbegriff orientierten Philosophie beabsichtigt, erlebte Alltagswirklichkeiten zum Maßstab einer theoretischen Betrachtung menschlichen Verhaltens zu machen.Footnote 14 Das bedeutet: Eine Theoretisierung menschlichen Verhaltens muss zwar notwendig abstrakt ausfallen; in einem gewissen Sinne entfernt sie sich damit notwendig von konkret erfahrenen Wirklichkeiten. Gleichwohl dürfe sie den Bezug zu den vielfältigen Arten und Weisen des Erfahrens – was immer auch leibliche Aspekte miteinschließt – nicht verfehlen.

Vor dem Hintergrund der hier verfolgten Zielsetzung, einen theoretischen Beitrag zu einer Soziologie leiblicher Praxis zu leisten, erweisen sich zunächst vor allem die Parallelen zu soziologischen Praxistheorien als relevant.Footnote 15 Über die Explikation der grundlegenden Gemeinsamkeiten in der Theorieanlage kann somit einerseits die Anschlussfähigkeit des Pragmatismus für das soziologische Denken demonstriert werden. Andererseits erlaubt es der Dewey’sche Pragmatismus aber auch, den oben genannten praxeologischen Engführungen theoretisch zu begegnen (vgl. auch Dietz/Nungesser/Pettenkofer 2017b). Als zentral erweist sich hierbei die explizit anti-reduktionistische Ausrichtung der Dewey’schen Philosophie (vgl. Johnson 2010: 123 ff.): Dewey beharrt „auf der Notwendigkeit, die Handlung [action; A.A.] in ihrer integrierten Ganzheit [zu] betrachten“ (Dewey 2003a [1928]: 298; vgl. auch 2007 [1925]: 26).Footnote 16 Das heißt, er wendet sich gegen theoretische Modelle, die eine Erklärung des Verhaltens auf einzelne Faktoren (z. B. Akteur*innen oder Umwelten, Subjekt oder Objekt), bestimmte Verhaltensmodi (z. B. reflexives Handeln oder Routinen) oder bestimmte Verhaltensdimensionen (z. B. mentale oder körperliche Prozesse) reduzieren oder diese unzulässig primär setzen. Zugleich betont er aber auch, dass dies „keineswegs die Notwendigkeit“ ausschließt, „zwischen [unterschiedlichen; A.A.] Beschaffenheiten des Verhaltens [behavior; A.A.]“ (Dewey 2003a [1928]: 298) theoretisch zu differenzieren.

Um in der Folge verdeutlichen zu können, was Dewey unter Verhalten versteht, in welcher Art und Weise sein Erfahrungskonzept an den (praxis-)soziologischen Diskurs anschlussfähig ist und dazu beitragen kann, eine Soziologie leiblicher Praxis zu informieren, möchte ich zuerst aufzeigen, welche negativen Bestimmungen bzw. Absetzbewegungen Dewey vornimmt, um seinen eigenen Zugriff zu konturieren. Es geht also zunächst darum, was Erfahrung bzw. Verhalten im Dewey’schen Sinne nicht ist. Hier ist zum einen auf die anti-intellektualistische Anlage des Erfahrungsbegriffs hinzuweisen. Zum anderen treibt Dewey eine gemäßigte Dezentrierung des Subjekts voran: Erfahrungen und Prozesse der Sinnkonstitution sind nicht per se als etwas Subjektives zu verstehen oder etwa im Handlungssubjekt zu verorten. Sie sind vielmehr in den praktischen Verweisungszusammenhängen, die Akteur*innen zu konkreten Umwelten unterhalten, zu lokalisieren.

2.1 Anti-Intellektualismus: Die nicht-reflexive Fundierung allen Verhaltens

Ein zentrales Problem unterschiedlicher philosophischer Strömungen seiner Zeit sieht Dewey darin, dass diese sich zu „weit von den Tatsachen der empirischen Situation entfernt“ (Dewey 2004a [1917]: 165) hätten. Das diagnostizierte Problem besteht für ihn – wie er nicht ganz unpolemisch und pauschal formuliert – in einem „Versinken der neueren Philosophie in Erkenntnistheorie“ (ebd.). In systematischer Hinsicht bedeutet dies, dass Dewey sich strikt gegen die Auffassung wendet, „jede Erfahrung müsse ein Zur-Kenntnis-Nehmen“ (ebd.: 180; Hervorh. A.A.) bzw. „alles Erfahren eine Form der Erkenntnis“ (2007 [1925]: 37: Hervorh. A.A.) sein. Darunter versteht er Formen der Verhaltenssteuerung, die auf bewussten Zwecksetzungen und damit: auf der Verfolgung von Motiven beruhen. Er formuliert damit bereits früh eine Kritik an intellektualistischen und rationalistischen Deutungen menschlichen Verhaltens, die sich auch für soziologische Ansätze unterschiedlicher Provenienz als relevant und für Praxistheorien als gleichsam konstitutiv erweist.Footnote 17 Augenscheinlich wird diese Parallele beispielsweise, wenn man sich vor Augen führt, wie Pierre Bourdieu (1998 [1994]: 144) seinen praxistheoretischen Ansatz begründet:

„Soziale Akteure, die den Sinn für das Spiel besitzen und die Unzahl der praktischen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata inkorporiert haben, die als Instrumente der Konstruktion der Realität fungieren […], in der sie sich bewegen, brauchen die Ziele ihrer Praxis nicht als Zwecke zu setzen. Sie stehen nicht wie Subjekte vor einem Objekt (oder gar einem Problem), das durch einen Akt der intellektuellen Erkenntnis zu einem solchen gemacht worden wäre; sie sind wie man so sagt, ganz bei der Sache […]: Sie sind präsent für das, was zu kommen hat, zu tun ist, was ihre Sache (griechisch pragma) ist, ein unmittelbares Korrelat der Praxis (praxis), das keine gedankliche Setzung, kein planvoll ins Auge gefaßtes Mögliches ist, sondern etwas, das angelegt ist in der Gegenwart des Spiels.“

Eine Reduktion menschlichen Verhaltens auf Symbolgebrauch bzw. ‚höhere‘ kognitive Operationen, auf reflexive Formen des Tuns also, erscheint sowohl für Dewey als auch für soziologische Praxistheorien nicht nur höchst einseitig, sondern auch sachlich nicht gerechtfertigt (vgl. Dewey 1998 [1929]: 220, 291 ff.; 2007 [1925]: 36 ff.). Intellektualistische Zugriffe erweisen sich – und sei es, wenn sie wie bei Weber bloß idealtypisch ansetzen – aus zweierlei Gründen als problematisch.

Erstens setzen sie einen spezifischen Verhaltensmodus primär und nehmen damit eine empirisch unzulässige Übergeneralisierung vor. Im Gegensatz dazu ist für die Pragmatisten Reflexivität nicht für menschliches Verhalten insgesamt konstitutiv. Reflexivität trete nur unter spezifischen Bedingungen auf. Dewey geht es folglich nicht darum, die Existenz und praktische Bedeutsamkeit reflexiver Verhaltensmodi zu negieren oder diese geringzuschätzen. Vielmehr zielt der Pragmatismus darauf, „reflexiven Operationen“ (Dewey 1998 [1929]: 258) einen theoretisch angemessenen Platz zuzuweisen: Diese erweisen sich, so ein pragmatistisches Kernargument, als handlungspraktisch relevant für die Bewältigung von Handlungsproblemen. Die theoretische Konsequenz daraus ist, dass der Pragmatismus menschliches Verhalten als ein Wechselspiel zwischen habitualisierten Verhaltensmustern und reflexiven Prozessen des Problemlösens denkt (siehe Abschnitt 2.3.3). Aufgrund dieser zentralen, auf den Gründungsvater des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce, zurückgehenden Weichenstellung (vgl. Peirce 1991 [1877]), ist er entsprechend bemüht, sowohl reflexive als auch nicht-reflexive Verhaltensdimensionen theoretisch zu bestimmen.

Dies führt zum zweiten Aspekt: Intellektualistische Ansätze verkennen oder unterschätzen, dass jegliches Verhalten stets auf einem körperlichen, impliziten (Hintergrund-)Wissen aufruht (vgl. hierzu auch Polanyi 1983 [1966] und Ryle 2009 [1946] sowie Renn 2004; Loenhoff 2012b, 2015). „Gemeinsamer Nenner anticartesianischer Handlungs- und Sozialtheorien“ ist dementsprechend „die These, dass der Körper als Fundament von Handlungsorientierungen jeder expliziten Repräsentationsbeziehung, Proposition oder Regelformulierung zugrundeliegt“ (Loenhoff 2010: 62). Zugleich fungiert – wie etwa auch in der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys (vgl. 1974 [1945]: 170) – das leibliche Zur-Welt-Sein als praktisch unhintergehbares Medium der Sinnkonstitution: „Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ‚Vorstellungen‘ nehmen oder sich einer ‚objektivierenden‘ oder ‚Symbol-Funktion‘ unterordnen zu müssen“ (vgl. auch ebd.: 174ff; Jung 2013; Loenhoff 2012a). Vorreflexives, körperliches bzw. leibliches Verstehen meint dann ein praktisches Sich-auf-etwas-Verstehen im Sinne eines Könnens bzw. eben nicht allein ein sprachlich begründbares Wissen, sondern stets auch ein Er-Fühlen von Bedeutung (Dewey 2007 [1925]: 248 ff.).

Ein solcher theoretischer Zugriff ermöglicht es, reflexive Prozesse selbst als ein praktisches, verkörpertes Tun zu begreifen. Das heißt, Reflexivität wird nicht als abgekoppelt von nicht-reflexiven Verhaltensdimensionen – wie körperlichen Gewohnheiten, sinnlichen Wahrnehmungen und Formen des Affiziert-Seins – verstanden. Vielmehr stehen nicht-reflexive Verhaltensdimensionen in einer funktionalen Beziehung zu reflexiven Operationen (vgl. Johnson 2010). Dewey (2003b [1930]: 99) spricht in diesem Zusammenhang von einer während des Denkens (oder auch des Sprechens) zwar nicht reflexiv einholbaren und damit implizit bleibenden, aber gleichwohl erfahr- bzw. spürbaren „qualitativen Bestimmtheit“, die jegliche Situation auszeichnet (vgl. Shusterman 2000). Diese reguliere „die Angemessenheit oder Relevanz und Bedeutung“ der Symbolverwendung im Reflexionsprozess und lenke damit „die Auswahl und Verwerfung und Art und Weise der Nutzbarmachung aller expliziten Termini“ (ebd.):

„Diese Qualität befähigt uns, anhaltend über ein Problem nachzudenken, ohne ständig innezuhalten und zu fragen, worüber wir eigentlich nachdenken. Wir nehmen sie nicht als solche wahr, sondern nur als Hintergrund, als roten Faden und Anhaltspunkt in dem, woran wir explizit denken. […] Wenn wir diese durchgängige qualitative Einheit in psychologischer Sprache bezeichnen, sagen wir, dass sie eher gefühlt als gedacht wird.“ (ebd.: 99f.)

Eine solche „unmittelbare Steuerungsqualität“ (Shusterman 2000: 91) beruht auf sozial vermittelten, körperlichen bzw. leiblichen „Wahrnehmungs- und Klassifikationsgewohnheiten“ (ebd.: 95; vgl. auch Kestenbaum 1977; Ostrow 1990). Würde man versuchen, so das zentrale Argument, diese Steuerungsqualität in den Reflexionsprozess selbst zu verlegen, würde dies unweigerlich in einen infiniten Regress führen. Symbolvermitteltes Verhalten würde seinen praktischen Halt in der Welt, etwas „woran es sich festbeißen oder in das es sich hineinwühlen könnte“ (Dewey 2007 [1925]: 95), verlieren. Verkörpertes Verhalten auf der einen und Denken bzw. Sprechen (als spezifische Formen des Verhaltens) auf der anderen Seite, nicht-symbolische und symbolische Operationen sind für Dewey in diesem Sinne keine Gegensätze, sondern lediglich analytisch unterscheidbare Aspekte der Verhaltenskoordination, die im praktischen Vollzug auf vielfältige Art und Weise zusammenhängen.

2.2 Dezentrierung des Subjekts: Erfahrungen als Interaktion zwischen Akteur*innen und Umwelten

Ebenso entschieden wie gegen intellektualistische Engführungen spricht Dewey sich dagegen aus, Verhalten als ein rein subjektives Vermögen zu verstehen, das gleichsam in den Handelnden zu verorten sei bzw. diesen exklusiv zugeschrieben werden könne. Die Betonung der körperlich-leiblichen Fundierung allen Tuns und Deweys Subjektivismus-Kritik gehen hier unmittelbar Hand in Hand: „Kein Organismus ist so isoliert, dass er ohne die Umwelt, in der er lebt, verstanden werden kann. Sensorische Rezeptoren und muskuläre Effektoren, das Auge und die Hand, haben ihr Dasein wie ihre Bedeutung aufgrund der Verknüpfungen mit einer äußeren Umwelt“ (2003c [1930]: 247; Hervorh. A.A.). Verhalten ist dementsprechend, so das zentrale Argument, als „eine kontinuierliche [nicht auf menschliche Teilnehmer*innen zu beschränkende; A.A.] Interaktion“ aufzufassen, „in der sowohl Umweltfaktoren wie organische Faktoren eingeschlossen sind“ (Dewey 2003a [1928]: 304; vgl. 2004a [1917]: 170 f.; 2004b [1939]: 376 ff.):

„Erstens wird das Verhalten nicht als etwas angesehen, das im Nervensystem oder unter der Haut eines Organismus, sondern das immer, direkt oder indirekt, in Interaktion mit Umweltweltbedingungen stattfindet, entweder ganz offen oder durch eine Anzahl von intervenierenden Verbindungsgliedern hindurch auf eine Distanz. Zweitens sind andere, ebenfalls akkulturierte Menschen, sogar räumlich und zeitlich weit entfernte Personen, aufgrund dessen, was sie getan haben, um die direkte Umwelt zu dem zu machen, was sie ist, an der Interaktion beteiligt. […] Denn mögen auch entfernte Bedingungen nicht in persona propria anwesend sein, so sind sie doch durch ihre Wirkungen anwesend; und diese Wirkungen geben der Forschung brauchbare Anhaltspunkte und Indizien zur Erkenntnis des unendlich Entfernten an die Hand.“ (ebd: 404)

Verhalten ist aus pragmatistischer Perspektive dementsprechend nicht als ein subjektives, einzelnen Handelnden zuschreibbares Vermögen zu begreifen. Vielmehr ist es der fortlaufende Prozess der praktischen Relationierung zwischen Akteur*innen und ihren Umwelten, der in den Blick gerät.Footnote 18 Das macht Dewey auch in der Art und Weise deutlich, wie er den Begriff des Praktischen bestimmt. Der Begriff „practical“ zeige an, „that the organism is interacting with events and objects which surround it“ (Dewey 1987 [1934]: 61).

Dies impliziert einen weiteren zentralen Aspekt, der sich in ähnlicher Form beispielsweise auch in ethnomethodologischen, praxeologischen oder Akteur-Netzwerk-theoretischen Ansätzen findet und auch die Art und Weise beeinflusst, wie und als was Handlungssubjekte in der empirischen Forschung betrachtet werden: Akteur*innen und Umwelten bzw. Objekte jedweder Art werden dem Prozess der Relationierung nicht vorgängig gedacht. Sie gehen, anders ausgedrückt, nicht als präexistente Entitäten in diese ein. Vielmehr denkt Dewey die Interaktion zwischen Akteur*innen und Umwelt als ein ko-konstitutives Verhältnis, in dem sich beide im praktischen Vollzug wechsel- und gleichzeitig hervorbringen und bestimmen (vgl. Kestenbaum 1977).Footnote 19 Es sind also nicht bloß die Verbindungen zwischen beteiligten Entitäten, die in den Blick rücken, sondern insbesondere auch die Frage danach, was diese Verbindungen jeweils sowohl mit den beteiligten Akteur*innen als auch mit den Umwelten ‚machen‘. Handlungsrelevante Umwelten können dabei Menschen, Dinge oder andere Entitäten sein (vgl. auch Gronow 2011: 48). Doch immer gilt: Erfahrungen können aus der Perspektive der wissenschaftlichen Beobachter*innen nicht exklusiv einzelnen Akteur*innen zugerechnet werden. Deweys analytischer Bezugs- und Ausgangspunkt sind vielmehr Situationen, in denen Akteur*innen und Umwelten in praktischen Beziehungen zueinander stehen (vgl. aus leibphänomenologischer Perspektive auch Waldenfels 2000: 86).Footnote 20

Ähnlich wie aus praxistheoretischer Perspektive, die mit dem Begriff der Praktiken analytisch auf das „Zusammenspiel von Dingen, Artefakten und Körpern“ (Alkemeyer/Buschmann 2017: 271; vgl. auch Hirschauer 2004; Schatzki 2002: 18 ff.) abstellt, lässt sich pragmatistisch informiert folglich danach fragen, wie spezifisch disponierte und leiblich erfahrende Akteur*innen in relationalen Konfigurationen hervorgebracht werden und sie diese Konfigurationen rekursiv mit-hervorbringen und erfahren. Damit Situationen allerdings sinnhaft erfahren werden können, darauf macht der Dewey’sche Pragmatismus ebenso aufmerksam, bedarf es immer noch Sich-Verhaltender, die theoretisch „als ein Faktor innerhalb der Erfahrung“ (Dewey 2004b [1939]: 378; Hervorh. A.A.) mitgedacht werden müssen. Der „Witz der Erfahrung“ (2004a [1917]: 154) besteht für Dewey, so lässt sich formulieren, in einer gemäßigten Dezentrierung des Subjekts (vgl. auch Strübing 2017: 63 ff.): Das Subjekt wird nicht theoretisch abgeschafft. Vielmehr wird betont, dass es in verschiedenerlei Art und Weise mit der Welt bzw. anderen Entitäten in Beziehung steht. Es ist „nicht isoliert oder bindungslos, sondern durch und durch mit den Bewegungen der Dinge verknüpft“ (ebd.).

2.3 Zwischenfazit

Der pragmatistische Erfahrungsbegriff erlaubt es, den cartesianischen Dualismus zwischen Geist und Körper konsequent zu unterlaufen und gleichzeitig die (nicht nur) bei Weber dominante hierarchische Gegenüberstellung zwischen Handeln und Verhalten bzw. zwischen (Zweck-)Rationalität und affektuellem und traditionalem Verhalten hinter sich zu lassen (vgl. Emirbayer 2005). Er animiert zu einem anti-reduktionistischen Denken in analytischen Differenzen. Das heißt, dass zwar verschiedene Verhaltensmodi und -dimensionen unterschieden, aber nicht verabsolutiert oder einseitig betont werden. Der Dewey’sche Pragmatismus regt entsprechend dazu an, empirisch auf die funktionalen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Verhaltensmodi und -dimensionen abzustellen.

Darüber hinaus setzt Dewey konsequent bei der „Interaktionseinheit“ (Jung 2011: 26) von Akteur*innen und Umwelten an. Er bereitet so auf grundbegrifflicher Ebene ein basales Konzept verteilten Verhaltens vor. Ein derartiger Zugriff ermöglicht auch eine nicht-substantialistische Konzeption von Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit: Beim Körper oder Leib handelt es sich nicht – wie derartige Substantivierungen und der common sense mitunter suggerieren – um eine abgeschlossene, von der Haut begrenzte Entität, ein materielles (wenn auch lebendiges) Ding unter anderen Dingen (vgl. auch Bentley 1941). Körperlichkeit kann pragmatistisch betrachtet vielmehr als eine handlungspraktisch unhintergehbare Dimension der Relationierung zwischen Akteur*innen und ihren jeweiligen Umwelten begriffen werden. Dies gilt es in der Folge auszubuchstabieren und auf den Begriff der Leiblichkeit anzuwenden.

3 Erfahrungen als integrierte Ganzheiten: Dimensionen einer pragmatistischen Soziologie leiblicher Praxis

3.1 Ge- und erlebte Praxis: Leibliche Verhaltensdimensionen

Weil Dewey mit seinem Erfahrungsbegriff explizit (auch) nach den nicht-reflexiven Fundamenten allen Verhaltens fragt, nimmt er auch die Leiblichkeit allen Tuns prominent in den Blick. Im Anschluss an Dewey lässt sich dementsprechend ein Vorschlag formulieren, was Leiblichkeit theoretisch auszeichnet: Sie ist als basales Medium nicht-reflexiver Welt- und Selbsterfahrung zu denken. Die Rede von leiblichen Dimensionen des Verhaltens erscheint mir also (auch wenn Dewey als englischsprachiger Autor den Begriff nicht verwendet) insofern gerechtfertigt und angemessen, als der menschliche Körper – ähnlich wie bei leibphänomenologischen oder philosophisch-anthropologischen Ansätzen (vgl. Fischer 2021; Jäger 2014; Lindemann 2017) – zunächst nicht vorrangig als gegenständlicher Körper oder als Kommunikation ermöglichender Zeichenträger in den Blick gerät. Deweys Interesse gilt der lived experience, der ge- und erlebten Erfahrung.Footnote 21 Die Frage danach, wie ein solcherart verstandenes Erfahren analytisch gefasst werden kann, stellt Maß und Richtschnur Deweys theoretischer Bemühungen dar.

Im Anschluss an Dewey – ohne ihm begrifflich allerdings in allen Details zu folgen – schlage ich in der Folge eine analytische Differenzierung zwischen drei Grundmomenten leiblicher Praxis vor: habituelle, affektive und sinnliche Verhaltensdimensionen. Damit wird es, wie zu zeigen sein wird, möglich, leibliche Verhaltensdimensionen theoretisch in einer Art und Weise zu spezifizieren, die den konkreten Erfahrungsqualitäten, aus der individuellen Binnenperspektive der Erfahrenden betrachtet, angemessen ist. Danach zeige ich, wie eine solche Betrachtungsweise praxistheoretisch weitergedacht werden kann.

Habituelle Verhaltensdimensionen (Gewohnheiten)

Ebenso wie Merleau-Ponty (1974 [1945]: 130) den Leib als ein praktisches „Vermögen [eines] bestimmten Tuns“ begreift und dabei die gewohnheitsmäßige Fundierung allen Verhaltens (das er mit dem Begriff des Körperschemas fasst) betont (vgl. ebd. 116, 166 ff., 172 ff., 182 ff.), weist auch Dewey auf die Notwendigkeit hin, praktisches Tun als in Verhaltensgewohnheiten (habits) fundiert zu denken (vgl. auch Crossley 2013). In prinzipieller Übereinstimmung mit praxistheoretischen Ansätzen, welche die Bedeutung impliziten Wissens, körperlicher Dispositionen sowie einer praktischen Könnerschaft hervorheben (z. B. das Hantieren mit Dingen, spezifische Formen des Bewegens etc.), zielt er mit seinem habit-Begriff auf sozial distribuierte Formen des „know how“ (Dewey 1988 [1922]: 125).Footnote 22 Gewohnheiten sind nicht-reflexive Verhaltenstendenzen bzw. -bereitschaften oder ‚offen‘ gezeigte Verhaltensweisen. Sie bezeichnen sozial präfigurierte Formen praktischen Tuns, die nicht den Umweg über explizite Zwecksetzungen – etwa im Sinne des Schütz’schen (2010 [1953]: 350 ff.) Handlungsentwurfs modo futuri exacti – nehmen müssen. Dewey (1988 [1922]: 32) bestimmt sie als körperlich fundierte

„acquired predisposition[s] to ways or modes of response, not to particular acts except as, under special conditions, these express a way of behaving. Habit means special sensitiveness or accessibility to certain classes of stimuli, standing predilections and aversions, rather than bare recurrence of specific acts.“

Allerdings ist hierbei, was sich bereits im obigen Zitat andeutet, zwischen Gewohnheiten und Verhaltensroutinen im engeren Sinne zu unterscheiden: Spezifische Gewohnheiten führen in der pragmatistischen Lesart nicht per se zu identischen Formen des Verhaltens (vgl. Kilpinen 2009a: 114 ff.). Im Unterschied zu einem Verständnis von Routinen im Sinne vorbewusster, ‚automatisierter‘ körperlicher (Bewegungs-)Schemata bezeichnet Deweys Gewohnheitsbegriff eine „Kompetenz, sich einer unbestimmten Anzahl von zukünftigen Situationen zu öffnen und dabei erwartbar Ähnliches, wenn auch nicht völlig Identisches hervorzubringen“ (Hörning 2004a: 34). Gewohnheiten erlauben es folglich potenziell auch, das Verhalten in Anbetracht auftretender Kontingenzen flexibel anzupassen oder etwa spontan auf situative Umstände zu reagieren (vgl. Dewey 1988 [1922]: 69 ff.). Routinen im engeren Sinne sind damit ein empirischer Typus von Gewohnheiten (vgl. ebd.: 50 f., 121).

Vor dem Hintergrund des relationalen Erfahrungsbegriffs Deweys ist das theoretische Konzept der Gewohnheiten nun allerdings nicht allein als eine Reaktion auf intellektualistisch und mentalistisch enggeführte Handlungstheorien zu verstehen. Gewohnheiten operieren nicht nur im Medium nichtreflexiver bzw. vorreflexiver praktischer Welterfahrung und -aneignung. Sie sind darüber hinaus nicht exklusiv in den Körpern der Handelnden zu verorten. Vielmehr beruhen sie, wie Dewey betont, auf einer „cooperation of organism and environment“ (Dewey 1988 [1922]: 15; Hervorh. A.A.). In diesem Sinne sind Gewohnheiten „ways of using and incorporating the environment“ – „the latter“, so Dewey (ebd.; Hervorh. A.A), „has its say as surely as the former“. Folgt man einer solchen Auffassung, dann ist habituelles Verhalten weder als ein individueller noch als ein isolierter Akt zu verstehen, der von kognitiven Operationen oder situativen Umständen einfach ausgelöst wird. Es handelt sich vielmehr um eine Form bzw. eine Dimension der praktischen Relationierung zwischen Akteur*innen und Umwelten, die im Umgang mit anderen Akteur*innen und/oder Dingen mimetisch eingeübt oder mitunter auch explizit vermittelt wird. Gewohnheiten schließen damit die Wirkungen, die Handelnde, Dinge etc. gegenseitig aufeinander ausüben, stets mit ein. „We“, so Dewey (ebd.: 16) plastisch, „should laugh at any one who said that he was master of stone working, but that the art was cooped up within himself and in no wise dependent upon support from objects and assistance from tools“. Die Arten und Weisen, aktiv auf die Welt einzuwirken bzw. ihr gegenüber spezifische Haltungen (attitudes) einzunehmen, bringen spezifische Welten damit immer zugleich mit hervor.

Affektiv-sinnliche Verhaltensdimensionen

Verhalten impliziert für Dewey allerdings nicht nur eine aktiv-dispositionale Komponente, die sich etwa im gekonnten Gebrauch des Körpers dokumentiert. Für eine theoretische Fassung der Leiblichkeit des Verhaltens ist vielmehr ebenso von Relevanz, dass sich praktisches Tun auch durch gefühlte Verhaltensdimensionen auszeichnet.Footnote 23 Der Dewey’sche Erfahrungsbegriff, so James Ostrow (1990: 3), „denotes that we not only orient to the environment through conduct and consciousness; we also undergo it and are taken or repelled by it with varying degrees of intensity“. Wissenssoziologisch gesprochen impliziert Verhalten aus pragmatistischer Perspektive also nicht nur ein „Wissen des Körpers“, das uns befähigt, spezifische Aktivitäten motorisch auszuführen, sondern ebenso ein „Wissen durch den Körper“ (Böhle/Porschen 2011: 57): Verhalten ist nicht allein als ein ausführendes Können zu verstehen, sondern es zeichnet sich stets auch durch nicht-reflexive Erlebens- und Wahrnehmungsqualitäten aus.

Wie lassen sich vor diesem Hintergrund unterschiedliche Formen des Fühlens theoretisch fassen? Auch wenn Dewey selbst keine systematische Unterscheidung vornimmt, so lässt sich doch idealtypisch zwischen Selbst- und Umwelt-wahrnehmung differenzieren. Eine solche Unterscheidung ermöglicht es, differenziert aber zugleich doch hinlänglich offen, danach zu fragen, welche leiblichen Verhaltensdimensionen bei der Ausführung verschiedener Aktivitäten mobilisiert und ausgebildet werden (sollen) und wie diese zusammenhängen.

Der Selbstwahrnehmung können all jene Formen des Affiziert-Seins zugeordnet werden, die sich in einer bewusst gefühlten leiblichen Resonanz manifestieren (vgl. Fuchs 2013: 20 f.; Fuchs/Koch 2014). Dabei lege ich, Dewey folgend, einen breiten Begriff von Affektivität zugrunde, der keineswegs auf diskrete Emotionen (wie z. B. Wut oder Angst) zu beschränken ist. Affektivität im hier verstandenen Sinne umfasst vielmehr die unterschiedlichsten Ausprägungen eigenleiblichen Spürens: angefangen bei verschiedenen Formen interozeptiver Wahrnehmung (z. B. das Bewegungsgefühl oder gefühlte Handlungsimpulse und -bereitschaften) über diffuse Stimmungen und Befindlichkeiten (wie z. B. Heiterkeit oder Langeweile), Zustände intensiver körperlicher Erregung (wie z. B. eine erhöhte Atem- oder Pulsfrequenz) bis hin zu gefühlten Emotionen, für die die Alltagssprache zumeist auch spezifische sprachliche Konzepte und Narrative bereithält (vgl. Fuchs 2013; Illouz 2011).Footnote 24 Die Umweltwahrnehmung hingegen umfasst alle denkbaren Formen sinnlichen Wahrnehmens (vgl. Prinz/Göbel 2015). Im westlichen Kontext ist (alltagsweltlich) nach wie vor das Modell der fünf Sinne dominant: Hören, Riechen, Schmecken, Sehen und Tasten (vgl. Howes 2011).Footnote 25 So gilt es etwa im Rahmen verschiedener Praktiken – zum Beispiel in unterschiedlichen Berufsfeldern – spezifische Seh- und Hörfertigkeiten zu erwerben, die eine kompetente Partizipation an und die Ausführung bestimmter Aktivitäten erst ermöglichen (vgl. z. B. Fleck (1983a [1935]); Ginkel 2017; Knorr Cetina 1988: 96 ff., 2001: 138 ff.).

Ich möchte drei Aspekte hervorheben, die sich für ein pragmatistisches Verständnis affektiv-sinnlicher Verhaltensdimensionen als relevant erweisen.

(a) Wichtig ist, dass empirisch betrachtet in vielen Fällen von ‚Mischformen‘ oder komplexen rekursiven Bedingungsverhältnissen zwischen affektiven und sinnlichen Aspekten des Erfahrens auszugehen ist. Auch Merleau-Ponty (1974 [1945]: 241) hält fest: „Die äußere Wahrnehmung und die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander, weil sie nur zwei Seiten ein und desselben Aktes sind“. So kann etwa ein spezifisches materielles oder klangliches Arrangement – also zum Beispiel Architekturen und Musik – dazu führen, dass ich mich „ergriffen“ oder „berührt“ fühle. Oder ich werde aufgrund situativer Umstände in eine bestimmte „Stimmung“ versetzt. Die wahrgenommene Situation erhält ihren Sinn erst dadurch, dass ich auf eine spezifische Art und Weise ‚angesprochen‘ werde und damit leiblich – und ohne dies im engeren Sinne zu intendieren – darauf ‚antworte‘ (vgl. Waldenfels 2000: 370 ff. sowie Silver 2011: 210 ff.). In die umgekehrte Richtung gedacht lässt sich zeigen, dass unterschiedliche Formen des Affiziert-Seins die Art und Weise prägen, wie wir Situationen sinnlich wahrnehmen, etwa indem sie Situationen eine spezifische Valenz oder Tönung verleihen oder bestimmte Verhaltensweisen nahelegen (vgl. Fuchs 2013, Thibaud 2011).Footnote 26 Die Akteur*innen selbst werden nur in Ausnahmefällen, etwa wenn es zu Handlungsproblemen kommt, (reflexiv) zwischen Selbst- und Umweltwahrnehmung unterscheiden. Sie erfahren Situationen zumeist „in einer unanalysierten Totalität“ (Dewey 2007 [1925]: 25) – das heißt, ohne dass sie zwischen einem Subjekt und einem Objekt der Erfahrung differenzieren würden (vgl. auch Mead 1987a [1910]: 214 ff. sowie Jung 2013: 36; Renn 2006: 17 und am Beispiel urbaner Atmosphären Thibaud 2011).

(b) Wie für habituelle Verhaltensdimensionen gilt auch für Affektivität und Sinnlichkeit, dass ihnen gleichermaßen ein ko-konstitutiver Akteur*innen-Umwelt-Bezug gemein ist. Anders ausgedrückt: Neben habituellen sind affektive und sinnliche Verhaltensdimensionen Aspekte unserer nicht-reflexiven, leiblichen Selbst- und Welterfahrung, die theoretisch nicht exklusiv einem körperlichen „Innen“ zugerechnet werden können (vgl. Antony 2017a sowie Fuchs 2013; Scheer 2012). Veranschaulichen lässt sich dies anhand emotionaler Erfahrungen, die alltagsweltlich gemeinhin mit einem „inneren“ Erleben assoziiert werden (vgl. McCarthy 2002; Zink 2013). So verweist etwa Jan Slaby (2008: 438) darauf, dass sich Emotionen zwar notwendig auch durch ein „emotional self-consciousness“, einen leiblichen Selbstbezug also, auszeichnen. Ihnen ist aber eine „peculiar double structure“ eigen: Sie geben nicht bloß Auskunft darüber, „what is going on with ourselves“, sondern ebenso in Bezug auf die Frage, „what is significant out in the world“: „Something affects you, and thereby you feel affected by it“ (ebd.; vgl. auch Dewey 2003b [1930]: 100; Downing 2000: 256 f.). „Wir fühlen“, so auch Frank Adloff (2013: 105; Hervorh. A.A.), „unsere Beteiligung an der Welt; es geht um Dinge, mit denen wir zu tun haben, in denen wir aufgehen oder in denen wir angesprochen sind“.

(c) Ein solches affektives oder sinnliches Erfahren ist allerdings nicht selbstgegeben. Es setzt ein Mindestmaß an bewusster Wahrnehmung voraus (Downing 2000: 254, 257). Die Folgerung hieraus ist soziologisch alles andere als trivial, denn diese Feststellung impliziert, dass affektiv-sinnlich erfahrbare Leib-Umwelt-Bezüge stets eng an die praktikenspezifische Organisation von Aufmerksamkeit gebunden sind (vgl. Dewey 2007 [1925]: 296 ff.; Csordas 1993; Waldenfels 2004: 102 ff.). Verdeutlichen lässt sich dies dadurch, dass der habituell agierende Leib bei vielen alltäglichen Verrichtungen und Formen sinnlichen Wahrnehmens oftmals im Wahrnehmungshorizont verbleibt (Dewey 2007 [1925]: 295; Mead 1987a [1910]: 214 ff. Merleau-Ponty 1974 [1945]: 91 f. sowie Adloff 2013: 113 ff.; Crossley 2007: 82 ff.). Er dient in diesen Fällen zwar als primordiales Vehikel der Welterfahrung (Merleau-Ponty 1974 [1945]: 168, 175 f.), doch der wahrnehmende Leib tritt im Unterschied zum sinnlich Wahrgenommenen in den Hintergrund (vgl. Polanyi 1967). Verhalten, vor allem gewohnheitsmäßiges Tun, ermöglicht zwar Bewusstsein, bedarf aber – solange alles funktioniert – keiner bewussten Fokussierung auf die ausgeführten Tätigkeiten selbst. Im Falle verschiedener Formen des Affiziert-Seins hingegen wird etwa die Aufmerksamkeit mittels spezieller Techniken entweder auf den Leib gelenkt – zum Beispiel beim Meditieren (Pagis 2009) – oder aber dieser macht sich – etwa beim Auftreten von Emotionen, körperlichen Erregungszuständen oder bei Anstrengungen und Fehltritten – gleichsam selbst bemerkbar und zieht unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich (vgl. Dewey 1897; Fuchs 2013). Daraus folgt wiederum, dass die Differenz zwischen Affektivität und Sinnlichkeit, zwischen leiblicher Selbst- und Umweltwahrnehmung auf verschiedenen Formen der Herstellung von Aufmerksamkeit – eben einer „attention to and with the body“ (Csordas 1993: 139) – beruht, deren jeweilige Ausprägungen für die Art und Weisen, wie wir Situationen erfahren, konstitutiv sind. In empirischer Hinsicht gewinnt folglich die Frage danach, welche Formen bewussten Wahrnehmens unter welchen Bedingungen zu beobachten sind und wie diese jeweils praktisch hergestellt werden (sollen), an Bedeutung.

Leibliche Praxis: Praktiken und Leibschemata

Was lässt sich mit einer solchen pragmatistischen Bestimmung von Leiblichkeit nun in analytischer Hinsicht für eine Soziologie leiblicher Praxis gewinnen? Zunächst ist festzuhalten, dass mit dem pragmatistischen Erfahrungsbegriff ein theoretisches Sehinstrument vorliegt, das es erlaubt, leibliche Praxis verhaltenstheoretisch zu fassen und analytisch auszudifferenzieren: Habitualität, Affektivität und Sinnlichkeit sind – das ist die zentrale Pointe eines pragmatistischen Zugriffs – als „different aspects and phases of a continuous, though varied, interaction of self and environment“ (1987 [1934]: 252; Hervorh. A.A.) zu verstehen. Leiblichkeit fungiert damit als basales nicht-reflexives Medium allen Verhaltens. Zugleich ist diese nicht exklusiv in einem handelnden Subjekt zu verorten, sondern als Resultat spezifischer Arten und Weisen des praktischen Beteiligtseins an Situationen zu verstehen. Handlungspraktisch betrachtet können die idealtypisch unterschiedenen leiblichen Verhaltensdimensionen, das soll hier nochmals betont werden, nicht getrennt voneinander gedacht werden (vgl. auch Merleau-Ponty 1974 [1945]: 182 ff., 247 ff.). Dewey (1987 [1934]: 103 f.) verdeutlicht dies an Beispielen zur sinnlichen Wahrnehmung:

„To know what to look for and how to see it is an affair of readiness on the part of motor equipment. A skilled surgeon is the one who appreciates the artistry of another surgeon’s performance; he follows it sympathetically, though not overtly, in his own body. The one who knows something about the relation of movements of the piano-player to the production of music from the piano will hear something the mere layman does not perceive – just as the expert performer ‚fingers‘ music while engaged in reading a score.“

Das heißt: Praktische Relationen, die Akteur*innen zu Umwelten etablieren, sind dementsprechend immer vor dem Hintergrund eines komplexen Zusammenspiels zwischen habituellen, affektiven und sinnlichen Verhaltensdimensionen zu interpretieren (vgl. auch Thibaud 2011). Dies macht theoretisch sensibel für die Frage danach, wie bestimmte Formen von Leiblichkeit jeweils praktisch erzeugt werden. Leiblichkeit im hier verstandenen Sinne meint dann habituell-affektiv-sinnliche Verhaltensschemata, die ein nicht-reflexiver Hintergrund allen praktischen Tuns sind, der allerdings je nach Situation teilweise bewusst (gemacht) oder auch sprachlich thematisiert werden kann – z. B. wenn wir, wie man sagt, „über unsere Gefühle sprechen“ (vgl. Illouz 2011: 369 ff.).

Wichtig ist nun in weiterer Folge die Frage danach, wie sich eine solche verhaltenstheoretische Perspektive für eine Soziologie leiblicher Praxis nutzbar machen lässt. Die Antwort darauf liegt in der Verbindung der bereits skizzierten praxeologischen Theorieperspektive mit der soeben vorgeschlagenen pragmatistischen Konzeption von Leiblichkeit. Interpretiert man Letztere aus der Perspektive einer Theorie sozialer Praktiken, so ergibt sich ein zentraler analytischer Zugriffspunkt, der zugleich die grundlegende analytische Stoßrichtung der vorliegenden Arbeit darstellt: das empirisch zu bestimmende Verhältnis zwischen organisierten Aktivitäten (Praktiken), an denen Akteur*innen (ob willentlich oder nicht) partizipieren, einerseits und diesen korrespondierenden Leibschemata andererseits. Praktiken sind so betrachtet historisch und kulturell kontingente ‚Rahmenbedingungen‘ dafür, wie wir uns leiblich vermittelt zur Welt verhalten und die Welt an uns erfahren können. Bestimmte Praktiken bedürfen in normativer Hinsicht spezifischer Leibschemata, die es uns ermöglichen, zu kompetenten Teilnehmer*innen zu werden. Auf grundlegender verhaltenstheoretischer Ebene sind es also nicht zuvorderst Prozesse subjektiver Sinnkonstitution oder die Motive, die Akteur*innen verfolgen, die ein soziologisches Verständnis des verkörperten praktischen Vollzugsgeschehens ermöglichen. Es sind spezifisch disponierte, fühlende und gefühlte Körper, die in Anbetracht der jeweiligen Anforderungen unterschiedlicher Praktiken in den analytischen Blick geraten.

Das heißt: Die Art und Weise, wie wir Dinge sinnlich wahrnehmen, welche Gefühle in uns aufkommen, welche Schmerzen wir zu erleiden haben, wie wir damit umgehen usw. ist nicht unabhängig von den typischen Vollzugsformen des Sozialen zu denken. Eine solche Feststellung gilt keineswegs nur für gesellschaftliche Sonderbereiche wie zum Beispiel dem Sport, der Sexualität oder der Kunst. Auch unser alltägliches Leben macht spezifische Leibschemata erforderlich (vgl. z. B. Lindemann 1992, 1994 am Beispiel der Re-Produktion der Geschlechterdifferenz). Diese äußern sich in der praktischen Gewissheit, sich auf gewisse Dinge zu verstehen (Habitualität) und handlungspraktisch relevante Umwelten (Sinnlichkeit) und sich selbst (Affektivität) auf eine spezifische Art und Weise im Tun zu erleben. In empirischer Hinsicht ist vor diesem Hintergrund danach zu fragen, auf welche Art und Weise leibliche Verhaltensdimensionen jeweils angesprochen, geformt, ausgebildet werden etc., um spezifische Formen der Verhaltenskoordination – sei es nun individuell oder kollektiv – zu ermöglichen, auf Dauer zu stellen oder zu modifizieren.

3.2 Kommunizierende Körper: Performative Verhaltensdimensionen

Eine Soziologie leiblicher Praxis kann sich allerdings nicht darauf beschränken, exklusiv eine theoretische Binnensicht einzunehmen, die bei den affektiv-sinnlichen Verhaltensdimensionen, beim individuellen Fühlen, ansetzt. Verhalten zeichnet sich stets auch durch eine „performative Dimension“ (Schmidt 2012: 45; vgl. auch Volbers 2011), eine „öffentliche[] Schauseite“ (Hirschauer 2016a: 57) aus, die aus einer analytischen Draufsicht in den Blick genommen werden kann. Während sich bei Dewey hierzu im Großen und Ganzen eher nur verstreute Hinweise finden, haben der in der Soziologie weitaus einflussreichere Pragmatist George Herbert Mead (1987a [1910]: 218 ff., 1987b [1910]: 227 ff.; 1987c [1912]: 233 ff.) und in der Folge etwa Autor*innen wie Erving Goffman (2007 [1959]) und Harold Garfinkel (1967) die zentrale Bedeutung kommunikativer Aspekte des Tuns für ein Verständnis von Sozialität herausgestellt. An diese Traditionslinien (und andere mehr) anschließend betonen auch unterschiedliche praxistheoretische Ansätze (vgl. z. B. Goodwin 2003a; Hirschauer 2004: 76 ff., 2016a: 55 ff.; Meyer 2019; Schmidt 2012: 45 ff., 60; Streeck/Mehus 2005) und ebenso wissenssoziologische Zugänge (Knoblauch 2005: 100 ff.; 2016; Raab/Soeffner 2005) die Bedeutung des Körpers als „Kommunikationsmedium“ (Hirschauer 2004: 78; vgl. auch Knoblauch 2005: 100 ff.).

Im Tun der Teilnehmer*innen, so die zentrale Einsicht, steckt nicht nur eine „stumme Kompetenz der praktischen Durchführung – ein eingekörpertes Wissen, sondern auch ein vorgezeigtes Wissen: performed knowledge“ (Hirschauer 2016b: 29). Praxis geht diesem Verständnis nach nicht in der Bewältigung sozialer Situationen auf der Grundlage impliziten Wissens auf. Ihr kommt auch eine kommunikative Funktion zu: „Im Vollzug sozialer Praktiken wird meist vor einem alltäglichen Publikum kompetent agiert und vor und mit anderen intelligibel etwas getan“. Es wird nicht nur aus-, sondern immer auch vor- und „aufgeführt, dargestellt und gezeigt“ (Schmidt 2012: 45). Sinn wird, ethnomethodologisch gesprochen, von den Teilnehmer*innen ‚öffentlich‘ accountable gemacht (vgl. Garfinkel 1967: 1, 33 f.; Meyer 2019; Rawls 2003): „The activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs“, so Garfinkel (1967: 1), „are identical with members’ procedures for making those settings ‚account-able‘. When I speak of accountable […] I mean observable-and-reportable, i.e. available to members as situated practices of looking-and-telling.“

Was ist unter diesen performativen Dimensionen praktischen Tuns zu verstehen? Einerseits ist freilich das Sprechen selbst eine Form des kommunikativen Gebrauchs des Körpers. Andererseits geraten aus einer solchen Perspektive „basale körperliche Formen der Kommunikation“ (Knoblauch 2005: 100) in den Blick – etwa Zeige- oder Demonstrationspraktiken (vgl. Goodwin 2003a; Schindler 2011) – bis hin zu komplexen Formen multimodaler Interaktion, bei der unterschiedliche semiotische Ressourcen (z. B. Sprechen und Zeigen) miteinander verschränkt sind (vgl. Brümmer 2015; Goodwin 2003b). Es sind somit, wissenssoziologisch gesprochen, vielfältige visuelle und/oder auditive „Objektivationen“ (Berger/Luckmann 2007 [1966]: 36 ff.) und damit die „Expressivität“ (Knoblauch 2016: 53) praktischen Tuns, die eine Soziologie leiblicher Praxis neben leiblichen Verhaltensdimensionen zu berücksichtigen hat. Bei der Teilnahme an unterschiedlichen Praktiken sind jeweils spezifische „performative Repertoires“ (vgl. Ginkel 2017: 125) gefragt; die kommunikativen Dimensionen des Tuns werden (nicht notwendig im engeren Sinne intendiert) für andere wahrnehm- und (potenziell) verstehbar gemacht. Besonders deutlich wird dies etwa bei künstlerischen Aktivitäten wie zum Beispiel dem Ballett, das die Hervorbringung hochspezifischer, kodifizierter körperlicher Darstellungen bezweckt (vgl. Müller 2015). Aber auch unterschiedliche alltägliche Praktiken vollziehen sich primär auf der Grundlage gewohnheitsmäßig zur Schau gestellten Wissens; sie beruhen auf dem „kontinuierlichen Gebrauch von Darstellungsrepertoires“ (so Hirschauer 1994: 674 im Hinblick auf die Hervorbringung von Geschlechtszugehörigkeit).

Gleichwohl gilt es, aus der hier vertretenen pragmatistischen Perspektive Tendenzen vorzubeugen, nicht-kommunikativen Dimensionen sozialer Praktiken lediglich eine sekundäre Bedeutung zuzusprechen oder Sozialität gar mit Kommunikation bzw. Kommunizierbarkeit gleichzusetzen. Derartige Engführungen zeigen sich vor allem dort, wo Sozialität an Situationen festgemacht wird, die theoretisch eine (wie auch immer geartete) Wahrnehmbarkeit durch andere voraussetzen. Auf das praxistheoretische Postulat der ‚Öffentlichkeit‘ sozialer Praktiken, das eine starke Affinität zur Ethnomethodologie und zum eben erwähnten accountability-Theorem aufweist, wurde in diesem Zusammenhang bereits kritisch eingegangen (siehe 2.1.3; vgl. auch Bergmann/Quasthoff 2010: 22 ff.). Aber nicht nur bei soziologischen Praxistheorien, auch bei anderen Autor*innen lassen sich derlei Beschränkungen identifizieren: So heißt es bei Hubert Knoblauch (2016: 56; Hervorh. A.A.) aus wissenssoziologischer Perspektive etwa: „Wissen ist sozial nur dann existent, wenn es kommuniziert werden kann; um aber kommuniziert werden zu können, muss es wenigstens so objektiviert werden, dass es Teil einer gemeinsamen Umwelt werden kann“.

Demgegenüber plädiere ich in diesem Buch dafür, im Tun erfahrbares, aber nicht notwendigerweise kommuniziertes bzw. kommunizierbares ‚Wissen‘ als eine konstitutive Dimension von Sozialität anzuerkennen – und zwar insofern als auch leibliche Verhaltensschemata nicht in einem vorsozialen Raum zu verorten sind. Denn: Auch diese sind stets Bestandteil normativ organisierter Aktivitäten (Praktiken), die ihre Geschichte, ihre Konventionen und gegebenenfalls auch ihre expliziten Regeln haben. Verhalten, auch leibliches, ist immer situiert und relationiert und in diesem Sinne immer schon sozial. Dieses Kriterium trifft auch dann noch zu, wenn es sich um ‚einsame‘ Aktivitäten handelt, die nicht interaktiv organisiert sind. Leibliche Verhaltensdimensionen sind dem kommunikativen Geschehen demgemäß nicht theoretisch nachzuordnen, bloß weil diese nicht im selben Sinne als objektiviert und damit als für andere beobachtbar zu begreifen sind, wie dies bei den performativen Dimensionen unseres Tuns der Fall ist. Daraus folgt nun aber, wie zu Beginn dieses Abschnitts bereits angedeutet, im Umkehrschluss eben auch keine analytische Privilegierung leiblicher Verhaltensdimensionen. Hier eröffnen sich vielmehr Beobachtungspotenziale für eine Soziologie leiblicher Praxis, und zwar insofern diese einerseits im Stande ist, leibliche und kommunikative Verhaltensdimensionen gleichermaßen empirisch zu berücksichtigen und andererseits auch das (Nicht-)Zusammenspiel zwischen leiblichen und kommunikativen Aspekten des Tuns explizit zum Thema zu machen. Dass sich ein solcher multi-dimensionaler Zugriff von Verhalten für ein Verständnis verschiedener Praktiken als wesentlich erweisen kann, lässt sich anhand zweier empirischer Sachverhalte exemplarisch demonstrieren.

Erstens zeigt sich insbesondere bei bewegungsarmen oder ‚ausdrucksschwachen‘ Praktiken nicht nur (indirekt) die Bedeutung leiblicher Verhaltensdimensionen, sondern auch, dass sich die kommunikativen Anteile des Tuns bei bestimmten Aktivitäten als praktisch relativ irrelevant erweisen können. So wird zum Beispiel beim Meditieren das visuell und auditiv Gezeigte mitunter auf ein absolutes Minimum reduziert (vgl. Boldt 2020; Pagis 2009, 2010). Aus einer forschungspraktischen Draufsicht, die auf kommunizierende Körper abstellt, wird zwar (noch) erkennbar, um welche Praktik es sich handelt. Aber es kann nicht mehr beobachtet werden, wie sich diese aus der Perspektive der Teilnehmer*innen in concreto vollzieht – wie etwa beim unerwünschten Auftreten von Gedanken vorgegangen oder mit durch langes Sitzen verursachten Schmerzen umgegangen wird (siehe weiterführend 6.2). Ein kommunikationstheoretischer Zugriff – wie er radikal etwa in der Soziologie von Garfinkel vertreten wird – greift hier zu kurz.Footnote 27

Zweitens ist hierbei insbesondere an Fälle zu denken, in denen es zu Diskrepanzen zwischen individuell Erfahrenem und dem, was körperlich zur Darstellung gebracht wird, kommt. Diese beschränken sich keineswegs auf Aktivitäten des Bluffens, Täuschens usw., bei denen die ‚eigentlichen‘ Absichten gleichsam verschleiert werden. Sie äußeren sich beispielsweise auch in (den keineswegs raren) Situationen, in denen es zu Dissonanzen zwischen Gefühlen und Gefühlsdarstellungen kommt. Die Bearbeitung derartiger Dissonanzen erweist sich etwa in bestimmten Berufsfeldern, zum Beispiel im Dienstleistungsbereich, als unabdingbar (vgl. klassisch Hochschild 2006 [1983]: 99 ff.). Tanja Kubes (2014: 120) thematisiert in ihrer (Auto-)Ethnographie beispielsweise die Schwierigkeiten von Messen-Hostessen, auch dann zu lächeln, wenn ihnen gar nicht danach zumute ist: „Jede_r kennt wahrscheinlich das Gefühl eines künstlich hervorgebrachten kurzen Lächelns. Diese Aktion widerstrebt einem im Normalfall, da das Lächeln hier nicht mit einer positiven Emotion verbunden ist, sondern kurzzeitig bewusst erzeugt wird und nicht mit der gefühlten Emotion übereinstimmt“. Offensichtlich wird hier: Die Differenz zwischen gefühlten und gezeigten Emotionen wird von der Hostess als handlungspraktisch relevant erfahren (Widerstreben) und das Problem muss in der Folge bewältigt werden. Solche Situationen können theoretisch nur dann verstanden werden, wenn das Zusammenspiel leiblicher und kommunikativer Verhaltensdimensionen in den Blick genommen wird.

Es lässt sich festhalten: Leibliche Verhaltensdimensionen sind, obwohl sie das Kommunizierte und Kommunizierbare überschreiten, nicht vom kommunikativen Geschehen zu separieren. Wichtig ist die daraus resultierende Konsequenz für die empirische Arbeit: Notwendig wird eine Verhältnisbestimmung zwischen nicht-kommunikativen und kommunikativen Anteilen sozialer Praktiken. Damit lässt sich eine analytische Sensibilität für etwaige Übergänge, Schnittstellen, Grenzbereiche und (Nicht-)Passungsverhältnisse zwischen den beiden Dimensionen erzeugen und auch danach fragen, was jeweils wie auf welche Art und Weise praktisch relevant gemacht wird (vgl. Schink 2017: 298 f. am Beispiel von Yoga). Hier deutet sich überdies auch bereits eine zentrale methodologische Konsequenz einer Theorieperspektive an, die Leiblichkeit und Kommunikation gleichermaßen berücksichtigt: Will eine Soziologie leiblicher Praxis im Stande sein, derartige Sachverhalte auch forschungspraktisch zu fassen, dann kann sie gerade von einer Kombination von Binnensicht und Draufsicht profitieren (vgl. Müller 2015: 275 ff.).Footnote 28 Beide Perspektivierungen – die Berücksichtigung leiblicher auf der einen und performativer Verhaltensdimensionen auf der anderen Seite – können durch eine komplementäre Nutzung somit auch analytische Korrektive füreinander darstellen, die es erlauben, vereinseitigenden Zugriffen vorzubeugen (vgl. hierzu unter method(olog)ischen Gesichtspunkten 3.4.1).

3.3 Symbolbasierte Wissenspraktiken: Reflexive Verhaltensdimensionen

Was für kommunikative Verhaltensdimensionen gilt, gilt ganz ähnlich auch für die reflexiven Anteile des Tuns: Eine anti-intellektualistisch begründete Theorie des Verhaltens, die entschieden die nicht-reflexive Fundierung allen Tuns offenzulegen versucht, legt keineswegs eine exklusive Beschränkung auf leiblich-körperliche Dimensionen nahe. Die theoretische und empirische Herausforderung besteht vielmehr darin, „das für jeden praktischen Weltbezug charakteristische Zusammenspiel von Körper und Sprache, intuitivem und diskursivem Erkennen, Routine und Reflexion herauszuarbeiten, anstatt Körper, Materialität, Sinnlichkeit und Praxis schlicht als fundierende Instanzen gegen Geist, Denken und Sprache zu setzen“ (Alkemeyer 2015: 472; Hervorh. A.A.). Mit seiner Betonung des Wechselspiels zwischen nicht-reflexiven und reflexiven Verhaltensdimensionen steht der Pragmatismus – im positiven Sinne gedacht – von vorneherein zwischen den Stühlen von verkörperter Praxis und planendem Handeln. Noch konkreter: Er entzieht sich theoretisch dem Dualismus zwischen Geist und Körper und erlaubt es stattdessen, empirisch nach dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten von Verhalten zu fragen. Genau hier liegt auch ein wesentliches Potenzial des Pragmatismus, praxistheoretische Perspektiven auf grundlagentheoretischer Ebene zu ergänzen (vgl. auch Pettenkofer 2017; Strübing 2017). Zwei zentrale Argumente sind hierbei von Bedeutung:

Erstens begreift Dewey, wie bereits im Abschnitt zur pragmatistischen Intellektualismuskritik dargestellt, reflexive Operationen selbst als eine problemlösende Praxis, die stets funktional auf leibliche Verhaltensdimensionen angewiesen bleibt: Beim Auftreten widerstreitender Handlungstendenzen oder bei Unterbrechungen des gewohnheitsmäßigen Tuns stoßen leibliche Erfahrungen reflexive Prozesse nicht nur an (ob und über welche Dinge man nachdenkt, kann selbst kein exklusives Resultat des Nachdenkens sein). Sie geben ihnen – als impliziter „Hintergrund“ allen Erfahrens (Dewey 2003b [1930]: 116) – stets auch eine Richtung vor, insofern sie den ‚Raum‘ dessen, was sagbar und denkmöglich ist, präfigurieren. Leibliche Verhaltensschemata werden in diesem Sinne in problematischen Situationen, die einen reflexiven Weltzugang notwendig machen, um bewältigt werden zu können, nicht außer Kraft gesetzt. Sie stellen vielmehr einen praktischen Erfahrungsschatz dafür bereit, auf den im problemlösenden Handeln zurückgegriffen werden kann. So sensibilisieren etwa vorhandene Wahrnehmungsgewohnheiten dafür, auf welche Aspekte in ‚kritischen‘ Situationen zu achten ist, oder ein Gespür für die Situation gibt Auskunft darüber, wie ein Problem zu bestimmen ist und in der Folge gelöst werden könnte.

Zweitens erlauben es Praktiken der Symbolverwendung, wie etwa das Sprechen oder interpretative Problemlösungsprozesse, aber auch, das leibliche Erfahren im Hier und Jetzt partiell zu transzendieren. Handlungspraktisch betrachtet liegt die „Aufmerksamkeit“ dann (temporär) „nicht bei den Erlebnisqualitäten als solchen, sondern bei den Möglichkeiten des Handelns und Artikulierens, die sich aus ihnen ergeben“ (Jung 2013: 42; Hervorh. A.A.; vgl. auch Pettenkofer 2017: 148 ff.). Reflexives Tun zeichnet sich also dadurch aus, dass es am „Übergang[] vom Konkreten zum Abstrakten“ (Dewey 1998 [1929]: 155) operiert, ohne die Verbindungslinien zwischen beiden Formen der Selbst- und Welterfahrung zu durchtrennen. Wie kann nun Reflexivität analytisch gefasst werden?

Symbolizität als die „conditio sine qua non von Reflexivität“ (Jung 2013: 47) ermöglicht eine spezifische Form menschlicher Verhaltenskoordination und Sinnkonstitution, die sich durch zwei zentrale Charakteristika auszeichnet: 1.) durch eine partielle Distanzierung von der nicht-reflexiven, unproblematisierten Selbst- und Welterfahrung und 2.) durch Prozesse des Übersetzens auf der Grundlage verschiedener symbolischer Ressourcen, wie etwa der Sprache (Dewey 1998: 135 ff., 2003b [1930]: 102 ff.; Mead 1987d: 45 f.; vgl. auch Renn 2004). Beides hängt unmittelbar miteinander zusammen: Man abstrahiert insofern von nicht-reflexiven Erfahrungen (Distanzierung), als ein Ausschnitt dieser in Symbole (z. B. Propositionen) transformiert wird (Übersetzung).Footnote 29

Ich möchte diesen abstrakten Sachverhalt kurz an einem Beispiel veranschaulichen: So werden etwa emotionale Erfahrungen, wenn man über sie spricht, nicht mehr nur ‚direkt‘ erfahren, sondern in einer neuen Situation zu Objekten einer (mehr oder minder) handlungsentlasteten Ex-post-Thematisierung. Man nimmt der emotionalen Episode gegenüber nachträglich sozusagen eine analytische Haltung ein – etwa um das Auftreten der Gefühlsregung besser zu verstehen und einordnen oder diese in Zukunft besser kontrollieren zu können.Footnote 30 Das nachträgliche Sprechen über Emotionen impliziert darüber hinaus eine selektive Transformation des Gegenstands der reflexiven Bezugnahme (vgl. Renn 2004: 234, 248): So gibt es zwar verschiedene, aber nicht beliebig viele Arten und Weisen, die emotionale Episode begrifflich zu fassen und damit: zu artikulieren. Man bedient sich an einem historisch und kulturell zuhandenen symbolischen Wissensvorrat. Wichtig ist hierbei: Sofern das Geschehene in symbolisches Wissen übersetzt wird – etwa in Form einer narrativen Erklärung –, vollzieht es einen medialen „Formwechsel“ (ebd.: 248). Es ist dann nicht mehr nur allein der Leib, der als Medium der emotionalen Erfahrung fungiert, sondern die Episode wird mittels der symbolischen Ressourcen der Sprache als neue Erfahrung hervorgebracht und (gegebenenfalls) für andere kommunikativ ‚zugänglich‘ gemacht. Die Erfahrung, die Gegenstand der Reflexion ist, und die reflektierte Erfahrung als Produkt der Reflexion sind nicht identisch, stehen aber in einem Verweisungszusammenhang zueinander (vgl. auch Mead 1987d: 45).

Auf der Ebene individueller Verhaltenskoordination und Sinnkonstitution begreift der Pragmatismus, wie bereits angedeutet, Reflexivität als einen zielgerichteten Prozess der Bewältigung von Handlungsproblemen: „Reflexion erscheint als der beherrschende Zug einer Situation, wenn irgendetwas nicht stimmt, wenn irgendein Problem besteht, das auf einem aktiven Widerspruch, einem Gefühl der Unstimmigkeit, einem Konflikt unter den Faktoren einer vorangehenden […] Erfahrung beruht“, wenn also, „eine Spannungssituation besteht“ (Dewey 2004c [1916]: 100). Dabei bestimmt Dewey Reflexivität als eine intermediäre und instrumentelle Form des Verhaltens (vgl. ebd.: 108). Intermediär ist sie deswegen, weil sie – im Gelingensfalle – zu einem Abschluss kommt und „eine problematische Situation in eine entproblematisierte“ (Dewey 1998 [1929]: 243) übergeht: Man kann wieder weiterhandeln oder die hypothetische Lösung zumindest experimentell erproben. Reflexive Intentionalität ist damit kein immerzu operativer Mechanismus menschlicher Erfahrung schlechthin. Sie stellt vielmehr eine spezifische zeitliche Phase der Verhaltenskoordination dar, deren Auftreten durch problematische Situationen ermöglicht und zugleich notwendig wird. Instrumentell ist sie, weil Reflexion unmittelbar der Bewältigung von Handlungsproblemen auf der Grundlage bewusster Zwecksetzungen dient (also dem, was man in handlungstheoretischen Ansätzen gemeinhin als subjektive Sinnsetzung bezeichnet). Sie ist darauf gerichtet, die problematische Situation zu bestimmen und diese einer Problemlösung zuzuführen. Der „Zweck“, so Dewey (1998 [1929]: 226), einer solchen symbolischen und damit „indirekten Form der Reaktion“ auf das Problematische besteht „darin, die Natur des Problems zu lokalisieren und sich eine Vorstellung zu bilden, wie man damit fertig werden könnte – so daß Handlungen mit Blick auf eine beabsichtigte Lösung gesteuert werden können“.

Allerdings ist Reflexivität, darauf wurde insbesondere im Rahmen praxistheoretischer Ansätze hingewiesen (vgl. etwa Schmidt 2017c), nicht auf individuelles oder kommunikatives Reflektieren (etwa im therapeutischen Zwiegespräch) zu beschränken. Auch wenn im klassischen Pragmatismus bisweilen noch eine „individuumszentrierte Sprache“ dominiert (Strübing 2017: 63), ist ihm ein solcher Zugang in theoriesystematischer Hinsicht keineswegs fremd. Zwei Argumente sind hierbei anzusprechen: Erstens verortet der Pragmatismus selbst individuelle Akte reflexiver Sinnkonstitution nicht in den Gehirnen oder den Köpfen der Reflektierenden. Er lokalisiert reflexives Tun vielmehr in der – oftmals prekären – ko-konstitutiven Beziehung zwischen einem akkulturierten menschlichen Organismus und seiner Umwelt: „Der Ort des Geistes liegt nicht im Individuum. Geistige Prozesse sind Fragmente des komplexen Verhaltens des Individuums in und gegenüber seiner Umwelt. Die Objekte und ihre Inhalte liegen für die Reflexionsprozesse ebensosehr in der Umwelt wie für die unmittelbaren [leiblichen; A.A.] Erfahrungsprozesse.“ (Mead 1987e: 104). Zweitens ist „reflektiertes Denken“ nicht nur deswegen „ein soziales Unternehmen“ (Mead 1987d: 49), weil es, wie Mead herausgearbeitet hat, Formen einer „primären Sozialität“ in phylo- und ontogenetischer Hinsicht zur Voraussetzung hat (vgl. als Überblick Joas 2000 [1989]: 91 ff.). Vielmehr hat bereits der klassische Pragmatismus insbesondere am paradigmatischen Fall der experimentellen, naturwissenschaftlichen Erkenntnispraxis immer wieder vorgeführt, dass sowohl die Anlässe des Reflektierens als auch dessen symbolische und materielle Ressourcen nur aus der praktischen Teilhabe der Akteur*innen an spezifischen sozialen Welten verstanden werden können (vgl. hierzu vor allem – ganz ähnlich argumentierend – Fleck 1980 [1935], 1983a [1935], b [1936]). Praxistheoretisch gesprochen: Durch die Partizipation an Praktiken entstehen nicht nur (gemeinsame) Handlungsprobleme, die Reflexionsprozesse in Gang setzen. Durch die Teilnahme an Praktiken werden auch erst die materiellen und symbolischen Mittel dafür bereitgestellt, um Probleme als solche überhaupt erst zu identifizieren und zu definieren (z. B. durch die Formulierung einer wissenschaftlichen Fragestellung) und diese in der lösen zu können (z. B. durch das Erstellen theoriegeleiteter Hypothesen, das Entwerfen dazu passender Experimentalanordnungen, die Nutzung materieller Infrastrukturen wie Laboratorien und technischer Apparaturen).

Für eine pragmatistisch fundierte Soziologie leiblicher Praxis bedeutet dies einerseits, dass sie zwar – wie Theorien sozialer Praktiken – Abstand nimmt von der Vorstellung von in Handlungssubjekten verorteten Prozessen der Reflexion und Sinnkonstitution. Im Mittelpunkt steht stets die Relation zwischen Akteur*innen und Umwelten. Das ermöglicht es, „Reflexivität […] nicht allein als Ergebnis je individueller Leistungen und erst recht nicht als stabile Eigenschaft von Individuen zu begreifen“ (Pettenkofer 2017: 144). Reflektierende sind stets leiblich-praktisch situiert und insofern „Reflexivität immer erst durch irritierende Situationen in Gang kommt“, ist auch der „reflektierende Akteur“ als „Situationseffekt“ zu verstehen (ebd.: 120). Andererseits heißt dies im Umkehrschluss aber eben nicht, wie dies der Tendenz nach in praxistheoretischen Ansätzen zu beobachten ist, dass man aufgrund einschlägiger theoretischer Vorannahmen (Stichwort: Dezentrierung des Subjekts) gänzlich darauf verzichten sollte, ‚individualisierte‘ Formen des Reflektierens (etwa das Nachdenken darüber, wie ein Handlungsproblem bestimmt und bewältigt werden kann) konzeptionell und empirisch zu berücksichtigen. Vielmehr kann daraus der Schluss gezogen werden, dass reflexive Intentionalität, die in symbolbasierten ‚höheren‘ kognitiven Operationen zum Ausdruck kommt, eben nicht die einzige denkbare Form von Reflexivität ist. Eine breiter angelegte Konzeption von Reflexivität erlaubt es vielmehr, diese als einen Aspekt sozialer Aktivitäten aufzufassen, der in empirischer Hinsicht unterschiedlich ausgeprägt sein kann, aber gleichwohl stets auf dem zentralen ‚Grundprinzip‘, der Symbolizität, beruht.

Ich schlage deswegen gemäß dem hier entwickelten pragmatistisch informierten und zugleich praxistheoretisch sensibilisierten Verständnis vor, all jene Aktivitäten als reflexive Wissenspraktiken zu verstehen, die wesentlich auf symbolvermittelten Distanzierungs- und Übersetzungsprozessen beruhen. Insofern solche Praktiken wiederum in verschiedenerlei Art und Weise auf unterschiedliche Entitäten verteilt sein können, kann Reflexivität somit auch in unterschiedlichen empirischen Ausprägungen auftreten, die auf einem Kontinuum angeordnet werden können: Auf dem einen Pol sind jene reflexiven Praktiken zu lokalisieren, in denen die Zielsetzungen einzelner Handelnder unmittelbar handlungspraktisch relevant werden; auf dem anderen Pol jene, die über individuelle Zwecksetzungen und lokal beschränkte Interaktionen hinausgehen und in diesem Sinne raumzeitlich stärker verteilt sind.Footnote 31 Idealtypisch unterscheide ich zwischen vier Ausprägungen (freilich sind auch Mischformen denkbar):

  1. (a)

    Reflexive Intentionalität in Form individueller Problemlösungsaktivitäten (etwa bei Entscheidungsprozessen, die auf bewussten Zwecksetzungen beruhen; siehe oben)

  2. (b)

    Kommunikatives Reflektieren in Interaktionen zwischen zwei oder mehr Akteur*innen (z. B. in Gesprächen; vgl. etwa Knorr Cetina 1988: 93 ff.)

  3. (c)

    Reflexive Arrangements, bei denen Prozesse des Reflektierens auf verschiedene menschliche sowie nicht-menschliche Entitäten (etwa in Form von Techniken) verteilt sind und die sich als raumzeitlich verteilte Wissenspraktiken rekonstruieren lassen (vgl. Schmidt 2017c)

  4. (d)

    Diskurse, die mittels verschiedener medialer Trägermedien zirkulieren und die sich als von individuellen Intentionen weitgehend abgelöste symbolische Wissensbestände verstehen lassen (siehe weiterführend 3.4.2).

Inwieweit (und ob) sich die oben vorgeschlagene Differenzierung für eine Soziologie leiblicher Praxis als analytisch produktiv erweist, hängt nun zum einen von der Frage danach ab, welche Formen von Reflexivität sich für den untersuchten Gegenstand jeweils als relevant erweisen. Zum anderen hängt diese freilich immer auch vom analytischen Erkenntnisinteresse ab. So kann eine Soziologie leiblicher Praxis etwa danach fragen, welche Bedeutung reflexive Prozesse der Sinnkonstitution bei der Ausübung spezifischer Praktiken spielen, in welcher Art und Weise diese kultiviert oder gegebenenfalls auch unterdrückt werden sollen (a). So geht es bei der Atemarbeit etwa darum, „Gedanken“ außen vor zu lassen. Eine entsprechend reflexivitätssensible Soziologie leiblicher Praxis kann aber auch eine Perspektive einnehmen, die danach fragt, wie das Machen leiblicher Erfahrungen in Kommunikationssituationen durch die Verwendung sprachlicher Ressourcen angeleitet oder etwa nachträglich thematisiert wird (b). Im Falle der Atemarbeit sind es beispielsweise die sprachlichen Instruktionen der Atemlehrer*innen, die das Tun der Klient*innen wesentlich informieren. Schließlich kann aber, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch danach gefragt werden, wie sich unterschiedliche soziale Welten in Form von Diskursen ‚repräsentieren‘ und legitimieren (d). So bieten Atemlehrer*innen, wie noch zu zeigen sein wird, ihre Dienste etwa im Internet an und versuchen derart Konsument*innen zu mobilisieren. Diese diskursiven Selbst-Repräsentationen beruhen wesentlich auf symbolischen Wissensbeständen.

4 Zusammenfassung: Eine doppelte Perspektivierung des Machens leiblicher Erfahrungen

Der Pragmatismus erweist sich für eine Soziologie leiblicher Praxis als anschlussfähig und produktiv, weil er die körperliche, präsymbolische Verankerung in der Welt konsequent zum Ausgangspunkt einer Theorie des Verhaltens macht. Im Anschluss insbesondere an John Dewey habe ich unter Rückgriff auf den pragmatistischen Erfahrungsbegriff ein Verständnis von Leiblichkeit skizziert, das habituell-affektiv-sinnliche Verhaltensschemata als basales Fundament all unseres Tuns und Erlebens und von Prozessen der Sinnkonstitution begreift. Das analytische Potenzial, das der Pragmatismus für eine Soziologie leiblicher Praxis bereithält, beschränkt sich allerdings nicht allein auf die Thematisierung nicht-reflexiver Selbst- und Welterfahrung. Er gibt mit seiner breit angelegten Verhaltenstheorie darüber hinaus konzeptionelle Ressourcen dafür an die Hand, ein differenziertes Praxis-Verständnis zu entwickeln, das auf der analytischen Unterscheidung zwischen leiblichen, performativen und reflexiven Verhaltensdimensionen beruht. Diese Unterscheidung ist deswegen theoretisch relevant, weil Leiblichkeit erstens das Kommunikative und Kommunizierbare überschreitet und, zweitens, reflexive Formen der Verhaltenskoordination, im Unterschied zu ‚rein‘ leiblichen, aufgrund ihrer Symbolizität qualitativ anders geartete Selbst- und Weltverhältnisse konstituieren. Zwar ruhen auch symbolisch vermittelte Formen von Verhalten auf einem leiblichen Fundament auf, aber dieses wird zugleich – insofern Reflexivität im hier verstandenen Sinne einen abstrakten Weltzugang etabliert – partiell transzendiert (siehe die oben diskutierte Unterscheidung zwischen ‚unmittelbar‘ erlebten und ex post thematisierten Emotionen).

Die idealtypische Unterscheidung zwischen leiblichen, performativen und reflexiven Verhaltensdimensionen verspricht nun aber nicht allein eine theoretische Komplexitätssteigerung um ihrer selbst willen. Sie birgt vor allem heuristische Potenziale: Insofern der Pragmatismus sowohl die analytischen Stärken praxistheoretischer Ansätze – vor allem die Betonung der Verkörpertheit von Verhalten – als auch die Stärken handlungstheoretischer Ansätze – insbesondere die Betonung symbolisch vermittelter, interpretativer Weltzugänge – gleichermaßen zu erfassen im Stande ist, regt er dazu an, jeweils gegenstandsspezifisch danach zu fragen, wie leibliche, performative und reflexive Verhaltensdimensionen beim Vollzug verschiedener Aktivitäten ineinandergreifen. Leiblichkeit, so die grundlegende Stoßrichtung der hier vorgeschlagenen pragmatistisch fundierten Soziologie leiblicher Praxis, ist nicht separiert vom kommunikativen und symbolischen Geschehen zu denken. Es sind vielmehr die komplexen Wechselverhältnisse zwischen diesen verschiedenen Aspekten unseres Zur-Welt-Seins, die es in den Blick zu nehmen gilt, wenn wir uns aus soziologischer Perspektive – vor allem empirisch – mit dem Thema der Leiblichkeit befassen (Abb. 2.1).

Abb. 2.1
figure 1

Dimensionen verkörperten Verhaltens

In pragmatistischer Hinsicht ist verkörpertes Verhalten in seinen unterschiedlichen Ausprägungen nun allerdings nicht als ein individueller oder rein subjektiver Akt zu verstehen. Verhalten wird theoretisch vielmehr in den praktischen Verweisungszusammenhängen lokalisiert, die Akteur*innen zu konkreten Umwelten etablieren. Es sind damit nicht allein die verkörperten Subjekte und deren Erleben, die hier analytisch in den Blick gerückt werden, sondern ebenso die Situationen, in denen diese jeweils praktisch engagiert sind.Footnote 32 Sich-Verhaltende sind stets leiblich situiert und entsprechend – je nachdem, was sie tun – habituell, affektiv und sinnlich mit verschiedenen heterogenen Situationsbestandteilen (materiellen Dingen, Mit-Interagierenden, mental imaginierten Objekten, diskursiven Elementen etc.) praktisch verbunden (vgl. auch Hennion 2010). Der Pragmatismus nimmt also die Binnenperspektive der Erfahrenden ernst, indem er danach fragt, wie sich Situationen aus der Perspektive der Akteur*innen anfühlen, wie sie die Welt sensomotorisch erschließen usw. Aber: Individuelles Erleben und Prozesse der Sinnkonstitution werden immer zugleich auch als Resultate einer tätigen Auseinandersetzung mit den jeweiligen verhaltensrelevanten Umwelten begriffen.

Einem solchen theoretischen Zugriff liegt auf methodologischer Ebene (implizit) eine Kombination von analytischer Binnensicht und Draufsicht zugrunde: Situationen werden im Hier und Jetzt erfahren, aber, um erfahren werden zu können, müssen diese diskursiv und soziomateriell – als ‚Rahmenbedingungen‘ des Erfahrens – selbst erst hervorgebracht werden. Daraus resultiert eine doppelte Perspektivierung des Machens von Erfahrungen: zum einen im Sinne eines individuellen Durchmachens und Erlebens, zum anderen im Hinblick auf die soziomaterielle Produktion von Erfahrungssituationen (z. B. im Rahmen institutionalisierter Interaktionsordnungen mit ihren jeweils eigenen materiellen Infrastrukturen, auf der Grundlage alltäglicher Ritualisierungen etc.). Ein praxistheoretischer Zugriff erlaubt es, diese grundlegende Theorieperspektive konsequent in ein soziologisches Forschungsprogramm zu übersetzen. Verhaltensrelevante Umwelten bzw. Situationen lassen sich praxistheoretisch nämlich als Praktiken, im Sinne kulturell geformter Aktivitäten mit ihrer jeweils spezifischen Organisation und ihren eigenen normativen Anforderungen, begreifen. Die Hervorbringung und Re-Aktualisierung bestimmter Formen von ge- und erlebter Körperlichkeit und Verhalten im Allgemeinen vollzieht sich, so betrachtet, stets vor dem Hintergrund der Partizipation an überindividuellen sozialen Konstellationen, die individuelles Verhalten präfigurieren. Eine praxeologische Analytik dient somit dazu, „to surface the practical concerns which govern and affect all participants, and it is a way to appreciate that from the perspective of the members, practice unfolds in terms of an often pre-verbally experienced and yet collectively upheld sense ‚of what needs to be done‘“ (Nicolini 2009: 1404).

Dies impliziert auch: Das, was man alltagsweltlich gemeinhin als „Körper“ bezeichnet, ist aus pragmatistischer und praxistheoretischer Perspektive nicht als selbstgegebene und von der Umwelt klar abgrenzbare Entität zu begreifen. Man geht empirisch nicht von sozialen Aktivitäten gleichsam vorausgehenden, also sozusagen „prä-praktischen“ Körpern aus (Alkemeyer 2017: 157). Vielmehr wird danach gefragt, wie und welche ge- und erlebten Körper im Rahmen spezifischer Praktiken unter Beteiligung verschiedener Entitäten hervorgebracht oder diese auf spezifische Arten und Weisen befähigt werden (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2017; Mol/Law 2004).Footnote 33 Individuelles leibliches Spüren und überindividuelle Konstellationen sind somit nicht als getrennte Sphären, sondern vielmehr als analytisch unterscheidbare Momente des Sozialen zu begreifen, die empirisch hinsichtlich ihres Zusammenspiels beleuchtet werden können. In der empirischen Forschung ist dann auch gegenstandsspezifisch danach zu fragen, wie sich verschiedene Formen der Mobilisierung, Aneignung, Kultivierung, Veränderung, Re-Aktualisierung und Bewertung leiblicher Verhaltensschemata im Zuge der Teilnahme an verschiedenen Praktiken jeweils im Detail vollziehen.

Wie eine solche doppelte Perspektive des Machens von (leiblichen) Erfahrungen nun in der konkreten empirischen Arbeit spezifiziert werden kann und welches schrittweise analytische Vorgehen sich dazu eignet, die empirische Analyse anzuleiten, möchte ich in der Folge anhand der Praktik der Atemarbeit erläutern.

5 Gegenstand, Erkenntnisinteressen, analytischer Zugriff: Die Atemarbeit als Praktik der Präsenzproduktion

Die Atemarbeit bzw. Atemtherapie lässt sich grob zwischen psycho- oder körpertherapeutischen Ansätzen einerseits und spirituell orientierten Körpertechniken andererseits verorten. Ihr zentrales Telos besteht, pointiert gesprochen, in der Produktion leiblicher Präsenz-Erfahrungen (vgl. Gumbrecht 2004): Zwar spielt bisweilen auch in der Atemarbeit die sprachliche Thematisierung des Selbst eine Rolle (zu einer Soziologie der Selbstthematisierung vgl. Hahn 1987; Bohn/Hahn 1999; Willems 1999). Ihr geht es allerdings nicht primär darum, die „Klient*innen“ dazu anzuhalten, über sich zu sprechen oder nachzudenken. Es geht vielmehr darum, sich im Tun auf eine spezifische Art und Weise affektiv-sinnlich zu erleben. Ähnlich wie beispielsweise gegenwärtig populäre Achtsamkeitspraktiken (vgl. Nehring/Ernst 2013) kann sie als eines jener „Therapie“- und „Selbsterfahrungs“-Angebote verstanden werden, die den „Körper […] immer stärker in den Mittelpunkt einer Umgestaltung von Selbstverhältnissen“ rücken (Eitler 2012: 230).

Eine solche Somatisierung des Selbst (Eitler 2011a) erklärt sich aus dem Anspruch, den Menschen „ganzheitlich“ zu betrachten, indem psychologische, physiologische und spirituelle Perspektiven miteinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. Höllinger/Tripold 2012). Wie einer einschlägigen im Feld zirkulierenden Buchpublikation zu entnehmen ist, speist sich das Angebot der Atemarbeit darüber hinaus aus einer kulturkritischen Perspektive: Etwas zugespitzt formuliert wird dem „westlichen“ Menschen ein Mangel an „innere[r] Einheit“ (Ehrmann 2004: 19) attestiert. Wie ein Atemtherapeut in einem Gespräch (I-2)Footnote 34 erklärt, ziele die Atemarbeit auf der Grundlage eines „nach innen gerichteten Spüren[s]“ auf eine „Schulung“ der körperlichen „Sensibilität“, was wiederum „Stressabbau“ und „Entspannung“ ermögliche. Neben Aspekten, die auf ein gesteigertes psychisches und körperliches Wohlbefinden sowie gesundheitsfördernde Effekte zielen, wird bisweilen auch das Erleben eines „authentischen“ bzw. „wirklichen“ Selbst in Aussicht gestellt (vgl. hierzu auch McCarthy 2002). Seinen Körper bewusst wahrzunehmen, bedeutet im Rahmen ganzheitlicher Angebote mehr als das Ablaufen physiologischer Prozesse. Ihm komme das Potenzial der „Selbstentdeckung“ und „Selbstheilung“ zu (Eitler 2011a: 167 f.).

Die soziale Welt der Atemarbeit operiert also, wie noch genauer zu zeigen sein wird, einerseits auf der Grundlage eines spezifischen Verständnisses von Körperlichkeit und andererseits mittels einer Artikulation gesellschaftlicher und insbesondere individueller Problemlagen, zu deren Bewältigung die dazu ‚passenden‘ Methoden als Dienstleistung angeboten werden. Das bedeutet: Um überhaupt soziologisch verstehen zu können, was Atemarbeit ‚ist‘ bzw. sein soll, was sie ‚will‘ und warum sie das tut, was sie tut, ist es zunächst notwendig, die sozialweltspezifischen „diskursiven Selbstrepräsentationen“ (Amann/Hirschauer 1997: 14) empirisch zu rekonstruieren.

Mein erstes primäres Erkenntnisinteresse richtet sich demnach auf die Frage, wie das Atmen im Rahmen der Atemarbeit (das sich offensichtlich vom ‚normalen‘ Atmen im Alltag unterscheidet) diskursiv bedeutungsvoll und bedeutsam gemacht wird. Der hier gewählte Zugriff beruht auf einer analytischen Perspektive, die danach fragt, wie die Praktik der Atemarbeit gegenüber Außenstehenden präsentiert wird. Hierbei fokussiere ich insbesondere auf die Website eines einschlägigen Vereins, der auch eine Atemlehrer*innen-Ausbildung anbietet, und die Homepages von Anbieter*innen. Ergänzend nutze ich Gespräche, die ich mit Vereinsmitgliedern geführt habe. Ich frage zum einen danach, in welcher Art und Weise in der sozialen Welt der Atemarbeit diskursive Wissens- und Informationsarbeit betrieben wird: Wie legitimieren die Anbieter*innen ihr Tun und welche Zuständigkeiten beanspruchen sie für sich? Wie ist die Wissensdomäne der Atemarbeit beschaffen? Durch welche sozialweltspezifischen epistemischen Logiken zeichnet sich „der Atem“ aus? Zum anderen fokussiere ich darauf, mittels welcher diskursiven Strategien Atemlehrer*innen bzw. -therapeut*innen „Klient*innen“ zu mobilisieren versuchen: Wie stellen die Anbieter*innen sich selbst und die Praktik der Atemarbeit dar? Wie werden potenzielle Klient*innen angesprochen und interessiert gemacht?

Ein solcher diskursanalytischer Zugriff ermöglicht es, einen empirisch fundierten und fallbasierten Beitrag zur Frage zu leisten, auf der Grundlage welcher diskursiven Strategien die Produktion spezifischer leiblicher Erfahrungen gesellschaftlich relevant gemacht wird (vgl. z. B. auch Duttweiler 2004; Gugutzer 2016; McCarthy 2002; Neckel 2005, 2014; Zink 2013). Wie und für wen werden in der sozialen Welt der Atemarbeit spezifische „Erfahrungsangebot[e]“ (Waldenfels 2004: 67) gemacht? Das Vorgehen reflektiert damit die Tatsache, dass das Interesse an und das Bedürfnis nach präsentischen Erfahrungen immer auch spezifischen historischen und kulturellen Bedingungen geschuldet ist, die in sozialweltspezifischen Diskursen zum Ausdruck kommen und sich eben nicht allein aus einer Rekonstruktion des praktischen Vollzugsgeschehens ableiten lassen.

Eine Soziologie leiblicher Praxis kann allerdings nicht bei der diskursiven Konstruktion der Atemarbeit stehen bleiben. Offen bliebe ansonsten die Frage, wie die Atemarbeit nicht nur symbolisch-diskursiv, sondern auch praktisch hergestellt wird (vgl. Bourdieu 2009 [1972]: 262). Dem diskursiven Relevantmachen präsentischer Erfahrungen korrespondiert auf handlungspraktischer Ebene die situative Produktion einer leiblichen Selbstbezüglichkeit: Die Atemarbeit soll bei den Klient*innen spezifische Formen eigenleiblicher Erfahrungen evozieren – beispielsweise als „Im-Moment-Sein“ diskursiviert. Ähnlich wie bei verschiedenen meditativen Praktiken (vgl. Nehring/Ernst 2013; Pagis 2009, 2010) wird ein nicht-reflexiver, aber bewusst erfahrbarer Gegenwartsbezug angestrebt. Die Klient*innen sind dabei allerdings nicht auf sich allein gestellt. Atemlehrer*innen dirigieren die Sitzungen und instruieren die Teilnehmer*innen – überwiegend verbal.

Der „Atem“ stellt in diesem Sinne also nicht nur ein diskursives Wissensobjekt dar. Er ist auch als ein affektiv erfahrbares ‚Objekt‘ zu begreifen. Ethnomethodologisch gesprochen impliziert dies, dass unterschiedliche Formen des Affiziertseins im konkreten Vollzug – im Sinne eines doing being affected – hergestellt werden müssen. Das zweite primäre Erkenntnisinteresse der Arbeit besteht dementsprechend darin, die praktische Hervorbringung von Atem-Erfahrungen empirisch zu rekonstruieren.

Was die Atemarbeit zu einem instruktiven Fall für eine Soziologie leiblicher Praxis macht, ist die Tatsache, dass die Produktion (eigen-)leiblicher Erfahrungen – insbesondere für Novizinnen und Novizen – zu einem praktisch zu bewältigenden Problem für die Beteiligen wird. Das heißt: In der Atemarbeit können jene im Alltag oftmals unbemerkt bleibenden und sich beiläufig vollziehenden Ethnomethoden der Produktion präsentischer Erfahrungen – wie zum Beispiel die Herstellung von Aufmerksamkeit – offengelegt und rekonstruiert werden. Die Atemarbeit eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, exemplarisch vor Augen zu führen, wie Sozialität und Normativität an den Grenzen des Kommunikativen (und Kommunizierbaren) operieren – wie also die Schnittstellen und Übergänge zwischen performativ und symbolisch verfasstem Wissen einerseits und leiblichen Erfahrungen andererseits beschaffen sind, wie unterschiedliche Verhaltensmodi ineinandergreifen oder auch in ein Spannungsverhältnis zueinander geraten. Sie bietet damit produktive theoretische und methodische Lerngelegenheiten für eine Soziologie leiblicher Praxis, die über den hier untersuchten Einzelfall hinausweisen.

Die Beantwortung der beiden übergeordneten Fragestellungen – die diskursive Produktion von Erfahrungsangeboten auf der einen und das praktische enactment leiblicher Erfahrungen (vgl. Mol/Law 2004) auf der anderen Seite –, erfolgt mittels eines analytischen Zugriffs, der sich schrittweise von einer methodologischen Draufsicht zu einer aktiv teilnehmenden Binnensicht bewegt. Damit formuliert die Arbeit einen konkreten Vorschlag, wie die oben beschriebene doppelte Perspektivierung des Machens leiblicher Erfahrungen (diskursive und soziomaterielle Produktion einerseits und individuelles leibliches Erleben andererseits) empirisch auf unterschiedlichen Analyseebenen spezifiziert und realisiert werden kann. Im Hinblick auf die Gesamtarchitektur des vorliegenden Buches bedeutet dies: Der allgemein-theoretische Zugriff, die entwickelte Perspektive einer Soziologie leiblicher Praxis, wird in verschiedene, aber gleichwohl zusammenhängende und sich ergänzende analytische Perspektivierungen übersetzt (siehe Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Analytische Perspektiven einer Soziologie leiblicher Praxis

Dies ermöglicht es, die Praktik der Atemarbeit aus differenten Blickwinkeln und mittels verschiedener theoretischer Optiken zu erforschen (vgl. Nicolini 2009: 1396). Die Frage nach der diskursiven Produktion von Atem-Erfahrungen, der ich in einem ersten Schritt nachgehe, ist der Analyseebene der diskursiven Wissensordnungen zuzuordnen. Danach bewegt sich die Rekonstruktion der praktischen Hervorbringung von Atem-Erfahrungen Schritt für Schritt von einer Betrachtung der soziomateriellen Organisation der Atemarbeit, die es erlaubt, diese als ein spezifisches Erlebnisformat mit ihren eigenen praktischen Logiken zu beschreiben, zur Interaktionsordnung, wie sie insbesondere in der Kommunikation zwischen Atemlehrer*innen und Klient*innen zum Ausdruck kommt, bis hin zur Analyseebene, die ich als Erfahrungsordnung bezeichne. Diese stellt auf das individuelle leibliche Erleben und die praktischen Strategien seiner Erzeugung ab. Die Sub-Fragestellungen, die auf den verschiedenen Analyseebenen behandelt werden, erläutere ich jeweils zu Beginn der entsprechenden Kapitel (4 bis 7) näher.

In methodologischer Hinsicht ist festzuhalten, dass die verschiedenen Analyseebenen nicht strikt voneinander abgrenzbar sind (und dies auch gar nicht erwünscht ist). Ebenso wenig impliziert die (relative) Differenz zwischen ihnen eine sozialontologische Ex-ante-Bestimmung über die Organisation sozialer Wirklichkeit schlechthin – etwa im Sinne eines Ebenen- oder Stufenmodells. Die Analyseebenen stellen vielmehr Fragerichtungen dar, die soziologische Wirklichkeiten (im Plural!) als solche erst hervorbringen (vgl. Nicolini 2017: 25 f. sowie Kalthoff 2010). Diese wurden dem Gegenstand überdies nicht einfach subsumtionslogisch übergestülpt. Sie sind als Resultat der (stets theoretisch informierten) empirischen Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Fall zu verstehen. Sie weisen aber insofern über diesen hinaus, als die Analyseebenen ebenso für die theoretische Konstruktion anderer empirischer Fälle genutzt werden können: als sensibilisierender analytischer und modifizierbarer Rahmen, innerhalb dessen sich eine Soziologie leiblicher Praxis bewegen und jeweils ihre gegenstandsspezifischen Fragestellungen generieren und beantworten kann.