In welcher Hinsicht können körperlich-leibliche Erfahrungen als sozial hergestellt aufgefasst werden? Und wie kann man sie sozialwissenschaftlich untersuchen? Das sind die Fragen, die im Mittelpunkt dieser Studie stehen, die einen Beitrag zu einer Soziologie leiblicher Praxis leistet. Zwar verstehe ich das vorliegende Buch auch als eine – vor allem körpersoziologische – Auseinandersetzung mit einem empirischen Sachthema. Indem allerdings sowohl eine sozialtheoretische Perspektive in ihren Grundzügen entfaltet als auch exemplarisch vorgeführt wird, wie eine Soziologie leiblicher Praxis methodisch operieren kann, besteht die übergeordnete Zielsetzung gleichwohl darin, einen Vorschlag dazu zu unterbreiten, wie allgemein-theoretische Überlegungen, methodologische Reflexionen und die empirische Erforschung leiblicher Erfahrungen konstruktiv miteinander verschränkt werden können.

Auf sozialtheoretischer Ebene geschieht dies hier vor allem unter Rekurs auf soziologische Praxistheorien und insbesondere die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus. In gegenstandsbezogener Hinsicht beschäftige ich mich aus einer diskursanalytischen und ethnographischen Perspektive mit der sogenannten Atemarbeit. Es handelt sich dabei um eine „ganzheitliche“Footnote 1 Therapie- und Selbsterfahrungspraxis, die für eine Soziologie leiblicher Praxis einen besonders interessanten und theoretisch ergiebigen Fall darstellt. Ähnlich wie bei meditativen Praktiken besteht das zentrale Telos der Atemarbeit darin, eine bewusst erlebte leibliche Selbstbezüglichkeit zu produzieren. Die Hervorbringung solcher (außeralltäglicher) Formen des Erfahrens wird als Dienstleistung angeboten, die als Antwort auf heterogene Problemlagen und Bedürfnisse – insbesondere psychisches und körperliches Wohlbefinden – gerahmt und vermarktet wird.

Motiviert ist ein solches theoretisches und empirisches Unterfangen durch eine basale Prämisse: dass nämlich ge- und erlebte Körperlichkeit für ein Verständnis sozialer Phänomene wesentlich ist und deswegen – trotz der berechtigten Betonung kognitiver und kommunikativer Dimensionen in der Soziologie – nicht ignoriert werden sollte. Alltägliches und weniger alltägliches Verhalten, soziales Leben insgesamt, ist ohne Gefühle und Emotionen, das Erleben von Stimmungen, verschiedene Formen interozeptiver Wahrnehmung – wie zum Beispiel Bewegungsgefühle oder Handlungsimpulse, die wir spüren, denen wir nachgehen oder die wir unterdrücken – und unterschiedliche Formen des sinnlichen Wahrnehmens nicht nur (theoretisch) nicht denkbar, sondern in seiner Bedeutungsfülle schlechterdings als solches nicht erlebbar. Dies spiegelt sich auch innerhalb (eines Teils) der Soziologie im theoretischen und empirischen Interesse an Fragen körperlichen, emotionalen und affektiven Erlebens sowie an sinnlichem Wahrnehmen wider, das in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten enorm zugenommen hat (vgl. lediglich beispiels- und überblickshaft Crossley 2001; Gugutzer 2010; Jäger 2014; Neckel/Pritz 2019; Prinz/Göbel 2015; Pfaller/Wiesse 2017; Scheve 2009; Schroer 2005; Wetherell 2012).

Ein zentrales Argument dieser Studie lautet vor diesem Hintergrund, dass der Begriff der Leiblichkeit sowohl in begriffsstrategischer als auch in heuristischer Hinsicht die Möglichkeit bietet, derartige Phänomenbereiche theoretisch zu konturieren und analytisch zu klammern (vgl. hierzu auch Gugutzer 2012: 41). Wesentlich ist hierbei: Wenn man in den Sozial- und Kulturwissenschaften oder der Philosophie „Leib“ sagt, dann ist damit zumeist etwas anderes oder mehr gemeint als der menschliche Körper, so wie er sich uns als ein visuell wahrnehmbares, Laute produzierendes und berührbares ‚Ding‘ unter anderen Dingen darbietet (vgl. Gugutzer 2012; Lindemann 1999, 2017; Waldenfels 2000). Mit dem Begriff der Leiblichkeit sind Aspekte unseres fühlenden und spürenden Tuns und Erleidens konnotiert, ohne deren Präsenz unser Leben ziemlich blass aussehen würde. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Beitrag zu diesem Diskussionszusammenhang. Im Mittelpunkt steht – zunächst theoretisch, dann empirisch – die Frage, in welcher Art und Weise ge- und erlebte Körperlichkeit als Teil sozialer Aktivitäten verstanden werden kann und damit: wie bestimmte Formen von Leiblichkeit in und durch Praktiken hervorgebracht werden.

Bei der Beschäftigung mit dem Thema der Leiblichkeit rückt freilich sogleich die Differenz bzw. das Verhältnis zwischen Leib und Körper in den Blick (vgl. als Überblick Lindemann 2017). Strittig erscheint dabei jedoch, wie Leib und Körper im Detail konzeptionell zu unterscheiden sind und ob dies überhaupt ein sinnvolles Unterfangen ist. So erweisen sich zwar Ansätze wie die Leibphänomenologie Hermann Schmitz’ (1985, 2011) oder die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners (2003 [1941]; Plessner/Buytendijk 2003 [1925]), die bei einer analytischen Differenz zwischen Leib und Körper ansetzen (vgl. Landweer 2008: 243 ff.), als relevante Bezugstheorien für explizit an Leiblichkeit interessierten Soziologien (vgl. z. B. Gugutzer 2012; Jäger 2014; Lindemann 1999). Aber während der Leib – bei allen Unterschieden im Detail – vergleichsweise einhellig als basales Medium nicht-reflexiver Erfahrungskonstitution gedacht wird (so etwa auch bei Maurice Merleau-Ponty 1974 [1945]), sieht man sich mit einer fast schon unübersichtlichen Vielfalt von Körperbegriffen konfrontiert (siehe z. B. die Systematisierung bei Fuchs 2015: 145 f.).

Um dies lediglich beispielhaft anzudeuten: Einmal zeigt sich der Körper in einem Bewusstwerden vormals selbstverständlicher leiblicher Tätigkeiten (z. B. bei Störungen gewohnter Verhaltensabläufe). Der Körper wäre hier also primär ein selbstreflexives Aufmerksamkeitsphänomen, das auf einen instrumentellen Einsatz des Leibes verweist, der im Dienste der Bewältigung von handlungspraktischen Problemen steht (so etwa bei Krüger 1999: 123 f. im Anschluss an Plessner). Andere Autor*innen – beispielsweise Ulle Jäger (2014: 49 ff., 108) – verstehen den Körper als insbesondere naturwissenschaftlich informiertes diskursives Körperwissen. Hier gerät also eine ganz bestimmte wissenskulturspezifische Thematisierung menschlichen Verhaltens in den Blick. Theoretisch erscheint der Körper hier als abstraktes Wissensphänomen, das sich gerade nicht durch eine bestimmte Leiberfahrung auszeichnet, aber gleichwohl in einem Wechselverhältnis mit dieser steht. In wieder anderen Fällen (etwa bei Gugutzer 2012: 41 f., insbesondere im Anschluss an Schmitz) erscheint der Körper primär als ein „Körper-für-andere“ (Fuchs 2015: 145), als ein „in der Fremdwahrnehmung gegebene[r] Körper“ (Gugutzer 2012: 17 f.) und damit als ein auditiv, visuell und taktil wahrnehmbares Phänomen. Soziologisch betrachtet hat man es hierbei mit dem Körper als kommunikatives Phänomen zu tun (vgl. etwa Knoblauch 2005: 100 ff.).

Eine solche Vielfalt von Körperbegriffen mag auf der einen Seite in analytischer Hinsicht zwar durchaus anregend sein, auf der anderen Seite mutet die Heterogenität der Körper-Leib-Unterscheidungen bisweilen fast schon beliebig und mitunter widersprüchlich an. Vor diesem Hintergrund erscheint mir eine dezidierte Einschränkung des Körpers auf einen bestimmten, abgrenzbaren Phänomenbereich menschlichen Verhaltens nicht sinnvoll. Das bedeutet aber nicht, dass man theoretisch hinter die oben skizzierten Körper-Leib-Unterscheidungen zurückfallen muss. Im Gegenteil: Der hier eingeschlagene Weg besteht vielmehr in dem Versuch, das, was in verschiedenen Ansätzen als „Körper“ bezeichnet wird, grundlagentheoretisch einzuholen, indem ich im Anschluss an die philosophische Strömung des amerikanischen Pragmatismus zwischen unterschiedlichen Aspekten und Modi des Verhaltens unterscheide, die allesamt als verkörpert begriffen werden können.Footnote 2 Ich versuche deswegen zum einen zu zeigen, wie leibliche Verhaltensdimensionen konzeptionell gefasst und empirisch untersucht werden können. Zum anderen soll aber auch deutlich gemacht werden, dass ein exklusiver Fokus auf Leiblichkeit zu kurz greift und erst die Mit-Berücksichtigung reflexiver und performativer Verhaltensdimensionen ein hinreichend komplexes Theorie-Instrumentarium für eine Soziologie leiblicher Praxis bereitstellt.

Warum erweisen sich gerade pragmatistische und praxistheoretische Zugriffe für ein solches Unterfangen als geeignet und nützlich? Praxistheorien haben wesentlich dazu beigetragen, Körperlichkeit konsequent als konstitutives Element von Sozialität und Kultur zu denken. Trotz der Heterogenität unterschiedlicher praxeologischer Zugriffe besteht ihr kleinster gemeinsamer Nenner meines Erachtens darin, dass sie eine verhaltenstheoretische Fundierung der Soziologie anstreben. Programmatisch votieren sie gegenüber handlungstheoretischen Perspektiven für ein breiteres – soll heißen: körper- und materialitätssensibles – Verständnis von Sozialität. Im Hinblick auf die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung, Leiblichkeit als theoretisches und empirisches Thema der Soziologie zu verstehen, besteht der zentrale Vorzug praxistheoretischer Ansätze darin, dass sie ein analytisch-methodologisches Instrumentarium an die Hand geben, die Produktion von Körperlichkeit selbst zum Thema empirischer Untersuchungen zu machen: Körper werden nicht a priori vorausgesetzt. Sie erscheinen aus praxistheoretischer Perspektive nicht lediglich als bereits vorhandene ‚Bausteine‘ von Sozialität und Kultur, sondern vielmehr als (kontingente) Produkte der Teilnahme an Praktiken – und zwar über deren diskursive Konstruktion hinausgehend (vgl. als körpersoziologischer Überblick auch Gugutzer 2006). Das heißt: Körper werden nicht nur in dem Sinne gemacht, als sie in unterschiedlichen sozialen Welten – zum Beispiel in der Medizin oder im Sport – sprachlich thematisiert werden. Körper werden ebenso in und durch soziale Aktivitäten als spezifisch disponierte, wahrnehmbare und gefühlte Körper erst hervorgebracht. Eine solche analytische Einstellung ermöglicht es der Soziologie, Phänomene, wie zum Beispiel das Auftreten von Gefühlen oder den gekonnt-routinierten Gebrauch des Körpers, nicht – um auf Formulierungen Max Webers (1988 [1921]: 545) zurückzugreifen – als „sinnfremde Vorgänge“, sondern als konstitutive Bestandteile „soziologischer Tatbestände“ (ebd.: 551) zu begreifen (so bereits Mauss 1989 [1935]).

Gleichwohl ist auch zu konstatieren, dass praxistheoretische Ansätze – bedingt durch ihren emphatisch propagierten Anti-Intellektualismus und Anti-Mentalismus und ihre stark ausgeprägte theoretische Frontstellung gegenüber traditionellen soziologischen Handlungstheorien à la Weber, Schütz oder Blumer – bisweilen übers Ziel hinauszuschießen drohen. So kann etwa kritisch danach gefragt werden, ob Vertreter*innen praxistheoretischer Ansätze nicht (ungewollt) dazu beigetragen haben, den Dualismus zwischen Geist und Körper unter umgekehrten Vorzeichen zu bekräftigen. Ebenso besteht etwa in ethnomethodologisch informierten Praxistheorien mitunter die Tendenz, Körperlichkeit auf die „präsentatorische Seite“ des Tuns (Schmidt 2017a: 342) zu beschränken, das heißt auf körperliche Darstellungen. Damit geht die analytische Neigung einher, all jene Aspekte auszublenden, die den erfahrenden und erfahrenen Körper betreffen, für den im Deutschen eben oftmals der Begriff des Leibes verwendet wird. Auch wenn freilich nicht alle praxistheoretischen Ansätze über einen Kamm zu scheren sind, so werden doch an derlei Kritikpunkten theoretische Probleme deutlich, die sich einer Soziologie leiblicher Praxis annehmen muss.

Die Philosophie des Pragmatismus – insbesondere in den Varianten John Deweys, aber auch George Herbert Meads – kann dazu beitragen, derartige Probleme zu bearbeiten. So pocht der Pragmatismus zwar – ganz ähnlich wie soziologische Praxistheorien – auf die körperliche, nicht-reflexive Fundierung allen Verhaltens. Gleichzeitig bietet er aber mit dem theoretischen Zentralbegriff der Erfahrung die Möglichkeit, eine dezidiert anti-dualistische Theorie des Verhaltens voranzutreiben, die weder den Körper gegen den Geist, Routinen gegen das reflektierte Denken noch Kommunikation gegen individuelles Erleben ausspielt. Man kann sagen: Der Pragmatismus animiert zu einem anti-reduktionistischen Denken in analytischen Differenzen. Was ist damit gemeint? Er regt nicht nur dazu an, verschiedene Verhaltensdimensionen und -modi – etwa Sprache und körperliches Tun – in den Blick zu nehmen. Er erlaubt es ebenso, nach den Verbindungen und den funktionalen Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Aspekten menschlichen Verhaltens zu fragen. Der Pragmatismus, der in der soziologischen Theoriediskussion trotz wichtiger Beiträge bislang eine eher marginale Rolle spielt und dessen Potenziale meines Erachtens keineswegs ausgeschöpft sind (vgl. auch Nungesser/Pettenkofer 2018: 193), bietet, so mein zentrales Argument, eine integrative Analyseperspektive. Integrativ ist diese insofern, als er auf einer Theorie des Verhaltens fußt, die quer zu den oben genannten theoretischen Dualismen liegt. Er kann somit dazu beitragen, Lagerbildungen – etwa die oppositionelle Gegenüberstellung zwischen Handeln und Praxis – und damit verbundene analytische Engführungen bereits auf grundlagentheoretischer Ebene zu unterlaufen.

Vor dem Hintergrund des Gesagten votiere ich in diesem Buch für eine Verbindung (neuerer) soziologischer Praxistheorien mit dem Pragmatismus: Während es der Pragmatismus erlaubt, Praxistheorien verhaltenstheoretisch zu unterfüttern, erlauben es Praxistheorien, einen pragmatistischen Zugriff gleichsam zu soziologisieren und ihn in ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm zu übersetzen. Als zentraler analytischer Zugriffspunkt ergibt sich daraus das empirisch zu bestimmende Verhältnis zwischen organisierten Aktivitäten (Praktiken), an denen Akteur*innen partizipieren, einerseits und diesen korrespondierenden Leibschemata andererseits. Soll heißen: Praktiken – wozu auch diskursive Praktiken gehören – stellen, so mein zentrales forschungsleitendes Argument, die historisch und kulturell kontingenten ‚Rahmenbedingungen‘ dafür bereit, wie wir uns leiblich vermittelt zur Welt verhalten und die Welt an uns erfahren.

Ein derartiger Zugriff mündet in eine zentrale analytische Weichenstellung, die die vorliegende Studie – und damit auch: die Art und Weise, wie hier der Gegenstand der Atemarbeit analytisch perspektiviert und erforscht wird – grundlegend informiert: eine doppelte Perspektivierung des Machens von Erfahrungen. Zum einen geht es darum, auf das Machen von Erfahrungen aus der individuellen Teilnehmer*innen-Perspektive abzustellen. Zum anderen sind Erfahrungen aber stets auch in diskursiven ‚Räumen‘, soziomateriellen Arrangements und Interaktionsordnungen situiert. Ein Machen von Erfahrungen meint aus der hier vorgeschlagenen Perspektive dementsprechend immer zweierlei: ein individuelles ‚Durchmachen‘ und seine soziomaterielle Produktion – etwa durch medial zirkulierende diskursive Deutungsmuster, die Beteiligung materieller Infrastrukturen, den Einsatz eines bestimmten Personals, das auf der Grundlage spezifischer kommunikativer Praktiken operiert usw.

Ausgestattet mit einer solchen analytischen Perspektive lässt sich in gegenstandsbezogener Hinsicht danach fragen, wie in unterschiedlichen sozialen Welten (Strauss 1978) leibliche Erfahrungen hergestellt werden. Prinzipiell gilt zwar, dass alle sozialen Aktivitäten in praktischer und normativer Hinsicht spezifischer Leibschemata bedürfen, die es uns ermöglichen, zu kompetenten Teilnehmer*innen zu werden (z. B. bestimmte Formen des Sich-Bewegens, sinnliche Wahrnehmungsfertigkeiten oder eben auch spezifische Formen des Fühlens). Zugleich ist aber auch darauf zu verweisen, dass leibliche Verhaltensschemata, insofern sie als implizites Wissen fungieren, bei vielen alltäglichen und routinehaften Verrichtungen oftmals im Wahrnehmungshintergrund bleiben und überdies nicht thematisch werden (können) (vgl. Crossley 2007: 82 ff.; Polanyi 1967, 1983 [1966]). Doch gibt es eben auch soziale Welten, in denen die Hervorbringung spezifischer Formen ge- und erlebter Körperlichkeit gezielt vorangetrieben wird. Dies hat für die Erforschung der Produktion leiblicher Erfahrungen vor allem auch forschungspraktische Vorteile: Die leibliche Fundierung unseres Tuns wird gleichsam seiner Selbstverständlichkeit entrissen und in unterschiedlicher Art und Weise bearbeitet.

Eine soziale Welt, in der dies sozusagen schwerpunktmäßig passiert, ist jene der sogenannten „ganzheitlichen“ bzw. „holistischen“ Therapie- und Selbsterfahrungsangebote bzw. körperorientierter Praktiken; worunter so unterschiedliche Angebote wie zum Beispiel Yoga, Zen-Meditation, Ayurveda, Reiki, schamanische Heilungsrituale, Bioenergetik und eben auch die Atemtherapie bzw. Atemarbeit gezählt werden können. Ganzheitliche Praktiken zeichnen sich allesamt durch ein Weltbild aus, das von „einer untrennbaren Einheit der körperlichen, geistigen und seelisch-spirituellen Ebene des Menschen“ ausgeht (Höllinger/Tripold 2012: 18; vgl. auch Eitler 2011a: 164 ff.). Insofern ein zentrales Telos dieser Angebote darin besteht, „das Wohlbefinden auf allen drei Ebenen zu gewährleisten“ (Höllinger/Tripold 2012: 18), sollen sie auch – in vielen Fällen sogar primär – bestimmte Formen von ge- und erlebter Körperlichkeit produzieren (vgl. auch Hero 2016: 614 f.). Uta Karstein und Friederike Benthaus-Apel (2012: 318) sprechen dahingehend von „psycho-somatischen Formen der Daseins- und Kontingenzbewältigung.“ Ebenso verweisen Franz Höllinger und Thomas Tripold (2012: 28) auf die „Betonung der Erfahrungsdimension“, die etwa in einer „Fokussierung auf den Körper und auf die Signale, die dieser aussendet“, zum Ausdruck komme. Mit Blick auf die New-Age-Bewegung (vgl. ebd.: 50 ff.), deren Ideen sich für verschiedene ganzheitliche Praktiken als einflussreich erwiesen haben, spricht der Körperhistoriker Pascal Eitler (2011a: 165) von einer „Somatisierung“ und „Emotionalisierung von Selbstverhältnissen“ (vgl. generell auch Gugutzer 2016; McCarthy 2002; Neckel 2014).

Dass sich derlei körper- bzw. erfahrungsorientierte Sinnangebote als ein ertragreiches Betätigungsfeld für eine Soziologie leiblicher Praxis erweisen, lässt sich anhand von zwei Beobachtungen begründen: Erstens werden eben nicht bloß Angebote unterbreitet, um beispielsweise am eigenen Auftreten oder Eindruck zu feilen. Es geht weniger um körperliche Darstellungen, sondern vielmehr darum, sich zu spüren (vgl. auch Duttweiler 2004). Zweitens werden die Konsument*innen solcher Angebote – im Unterschied zu verschiedenen Praktiken der Selbstthematisierung wie beispielsweise der Gesprächspsychotherapie (vgl. Hahn/Willems/Winter 1991; Bohn/Hahn 1999; Willems 1999) – nicht primär dazu angehalten, über sich zu sprechen oder nachzudenken und derart ein kognitiv-reflexives Selbstverhältnis zu etablieren (vgl. Illouz 2011; Neckel 2014). Der Fokus liegt vor allem darauf, sich im Tun auf eine spezifische Art und Weise affektiv zu erleben und (mehr oder weniger) außeralltägliche präsentische Erfahrungen zu machen (vgl. Gumbrecht 2004; Hitzler 2015).

Die Atemarbeit im Speziellen zeichnet sich dadurch aus, dass das bewusst erlebte Atmen von den Teilnehmer*innen nicht lediglich als biochemischer Stoffwechselvorgang, sondern als eine zu kultivierende Technik des Körpers (Mauss 1989 [1935]) begriffen wird.Footnote 3 Der „Atem“ – so die diskursive Logik der Anbieter*innen entsprechender Dienstleistungen – fungiert als praktisches Medium des Erfahrens und als therapeutisches Instrument. Er stellt einen Problemlösungsmechanismus dar, der auf einen breiten und heterogenen Problemhorizont bezogen ist. Dass dem so ist, ist nicht nur soziologisch erklärungsbedürftig. Um potenzielle Konsument*innen interessiert zu machen und diese letztlich mobilisieren zu können, sind auch die Atemarbeit-Anbieter*innen selbst darauf angewiesen, ihre Dienstleistungen zu erklären und deren Vorzüge zu bewerben. Neben einer ethnographischen Rekonstruktion des praktischen Vollzugsgeschehens, so wie es insbesondere praxistheoretische Ansätze nahelegen, bietet somit die Zirkulation diskursiver Selbstrepräsentationen der Soziologie die Möglichkeit, empirisch zu rekonstruieren, was Atemarbeit ‚ist‘ bzw. sein soll, was sie ‚will‘ und warum sie das tut, was sie tut. Mein erstes primäres gegenstandsbezogenes Erkenntnisinteresse besteht demnach darin, zu zeigen, wie das Atmen der Atemarbeit diskursiv bedeutungsvoll und bedeutsam und damit auch alltagsweltlich anschlussfähig gemacht wird.

Eine diskursanalytische Perspektive, die auf eine Rekonstruktion symbolischen Wissens zielt, ermöglicht es somit, einen empirisch fundierten Beitrag zur Frage zu leisten, mittels welcher diskursiven Strategien die Produktion leiblicher Erfahrungen gesellschaftlich relevant gemacht wird. Wichtig ist hierbei: Es geht mir nicht vordergründig um den Diskurs der Atemarbeit oder Atem-Diskurse, so wie sich diese beispielsweise in entsprechenden ‚theoretischen‘ und programmatischen Schriften dokumentieren, sondern inbesondere um die kommunikativen Strategien der Anbieter*innen entsprechender Dienstleistungen, die ihr Tun Außenstehenden gegenüber erklären, dieses potenziellen „Klient*innen“ gegenüber legitimieren und derart versuchen, aktiv Interessierte anzusprechen. Dies impliziert zugleich aber mehr als ein bloßes Marketing: Der analytische Fokus auf die diskursive Arbeit der Atemarbeit-Anbieter*innen reflektiert zum einen, dass das Interesse an und das Bedürfnis nach präsentischen Erfahrungen historisch und kulturell spezifisch ist und sich diese Tatsache nicht nur in den konkreten Praktiken, sondern vor allem auch in spezifisch zugeschnittenen Diskursen manifestiert, die bestimmte Personenkreise adressieren. Zum anderen wird so auch deutlich, dass ein Interesse an „Innerlichkeit“, „Achtsamkeit“, „Wohlbefinden“ und dergleichen mehr als solches erst angebotsseitig mit-produziert werden muss. Dies lässt sich nicht allein aus einer empirischen Rekonstruktion der Praxis der Atemarbeit herausdestillieren. Am Falle ganzheitlicher Praktiken wird insofern besonders deutlich, dass körpersoziologisch-ethnographische Zugänge durch eine komplementäre und entsprechend ausgerichtete diskursanalytische Perspektive profitieren können.

Naheliegenderweise ist es gleichwohl gerade für eine Soziologie leiblicher Praxis wesentlich, das konkrete praktische Tun in den Blick zu nehmen. Denn: Erfahrungen werden, so eine zentrale praxeologische Einsicht, stets auch situativ – mittels spezifischer Ethnomethoden – erzeugt (vgl. Meyer 2015a, 2019). Sie sind, mit Harold Garfinkel (1967: 4, 33 ff.) gesprochen, als practical accomplishments zu verstehen. Mein zweites übergeordnetes gegenstandsspezifisches Erkenntnisinteresse besteht folglich darin, die situative praktische Hervorbringung von Atem-Erfahrungen zu analysieren. Allgemeiner gesprochen: Wie wird Leiblichkeit – jeweils sozialwelt- und praktikenspezifisch – als solche erzeugt?

Was die Atemarbeit für eine Soziologie leiblicher Praxis zu einem besonders instruktiven Fall macht, ist die Tatsache, dass das Machen leiblicher Erfahrungen zu einem handlungspraktisch zu bewältigenden Problem für die Beteiligten wird. Das heißt: Gerade (auch) an den auftretenden praktischen Herausforderungen, denen man sich als Teilnehmer*in – zumal als Novizin oder Novize – gegenübersieht, können jene im Alltag oftmals unbemerkt bleibenden und sich beiläufig vollziehenden praktischen Strategien der Produktion leiblicher Erfahrungen (partiell) offengelegt und empirisch rekonstruiert werden. In den Blick geraten damit experiences in the making.Footnote 4 Die Atemarbeit eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, exemplarisch vor Augen zu führen, wie Sozialität und Normativität an den Grenzen des Kommunikativen operieren, wie also die Schnittstellen und Übergänge zwischen kommunikativ und symbolisch verfasstem Wissen einerseits und einem leiblichen Spüren andererseits beschaffen sind.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Teil („Theorie und Methodologie einer Soziologie leiblicher Praxis“, Kapitel 2 und 3) entwickle ich die sozialtheoretischen Prämissen und diskutiere die methodologische und forschungspraktische Perspektive der Arbeit. Im zweiten empirischen Teil („Eine Soziologie holistischer Erfahrung: Die Atemarbeit“, Kapitel 4 bis 7) wende ich mich der Praktik der Atemarbeit Schritt für Schritt auf verschiedenen analytischen Ebenen – ausgehend von der anbieter*innenseitigen Diskursarbeit (Kap. 4), über deren soziomaterielles Arrangement (Kap. 5) und ihre Interaktionsordnung (Kap. 6), bis hin zur individuellen Erfahrungsordnung (Kap. 7) – empirisch zu.

Im den ersten Teil eröffnenden zweiten Kapitel skizziere ich zunächst die praxistheoretischen Grundpfeiler der Studie. Im Vergleich zur handlungsbegrifflichen Grundlegung der Soziologie bei Weber bestimme ich praxeologische Ansätze kontrastiv als eine verhaltenstheoretische Alternative, die sich dazu eignet, eine Soziologie leiblicher Praxis theoretisch und methodologisch zu informieren. Im Anschluss daran entfalte ich eine pragmatistische Perspektive auf die Leiblichkeit von Erfahrungen. Das zentrale Argument lautet: Der Pragmatismus erlaubt es, ein hinreichend komplexes Verständnis von Verhalten zu entwickeln, in dessen Rahmen nicht nur leibliche Verhaltensdimensionen einen zentralen Platz einnehmen, sondern zugleich auch reflexive und performative Dimensionen des Tuns systematisch Berücksichtigung finden können. Wie in den späteren empirischen Kapiteln zu zeigen sein wird, erweist sich ein solcher multi-perspektivischer Zugriff als notwendig, um die praktische Logik der Atemarbeit soziologisch rekonstruieren zu können. Den Ausführungen zur pragmatistischen Verhaltenstheorie folgen eine kurze zusammenfassende Darstellung der theoretischen Perspektive der Studie und schließlich eine erste Annäherung an den Gegenstand, die damit verbundene Explikation der übergeordneten Fragestellungen sowie eine kurze Erläuterung des schrittweisen analytischen Vorgehens in den empirischen Kapiteln.

Die Zielsetzung des dritten Kapitels besteht darin, den hier verfolgten me-thod(olog)ischen Zugriff zu diskutieren und zu begründen. Ich stelle zuerst ausführlich dar, in welcher Hinsicht ein ethnographisches Forschungsprogramm dazu geeignet ist, Leiblichkeit beobachtbar und analysierbar zu machen. Mein zentrales Votum besteht darin, aktiv am sozialen Geschehen teilzunehmen und derart eine Binnenperspektive auf das praktische Vollzugsgeschehen zu etablieren. Ich diskutiere die Vorzüge, aber auch die Grenzen eines solchen Vorgehens und schlage vor, eine ethnographische Binnensicht (aktive Teilnahme) mit einer technisch unterstützten Draufsicht (in Form von synchronen Audio- und Videoaufnahmen) zu kombinieren. Danach lege ich dar, wie eine diskursanalytische Perspektive im Rahmen einer ethnographisch orientierten Vorgehensweise dazu beitragen kann, den Gegenstand der Atemarbeit multi-perspektivisch zu erschließen. Abschließend skizziere ich kurz das konkrete forschungspraktische Vorgehen und stelle dar, auf welcher Datengrundlage die Untersuchung beruht.

Im den zweiten Teil des Buches einleitenden vierten Kapitel beschäftige ich mich ausführlich mit den diskursiven Wissensordnungen der sozialen Welt der Atemarbeit. Zunächst stelle ich kurz Strauss‘ (1978) Konzept der sozialen Welten dar, das ich dafür nutze, den kulturellen Ordnungszusammenhang der Atemarbeit analytisch zu fassen. Danach erläutere ich den Prozess der Feldkonstitution: Ich fokussiere in einem ersten Schritt auf den Verein atman – Österreichischer Verein für Integratives Atmen, der ein zentraler Akteur der hier untersuchten lokalen sozialen Welt der Atemarbeit ist. Auf der Vereinshomepage wird nicht nur inhaltlich über die Atemarbeit informiert. Die diskursiven Selbstrepräsentationen zielen auch auf die Reklamation einer legitimen Zuständigkeit für die Bewältigung spezifischer Probleme („geistiges“ und „körperliches Wohlbefinden“ und „spirituelle“ Sinnsuche) und damit auf die angebotsseitige Produktion von Expertise. Danach wende ich mich unter Rückgriff auf Karin Knorr Cetinas (2002) Konzept der Wissenskulturen der Frage zu, wie die Wissensdomäne der Atemarbeit in inhaltlicher Hinsicht abgesteckt wird und welcher Logik die diskursive Konstruktion atemarbeitsspezifischer Wissensobjekte folgt: Was hat es mit dem „Atem“ überhaupt auf sich? Welche (impliziten) argumentativen Logiken liegen dem Atmen der Atemarbeit zugrunde? Schließlich zeige ich, basierend auf einer Analyse von Websites von Einzelanbieter*innen, wie potenzielle Konsument*innen angesprochen und interessiert gemacht werden (sollen).

Im fünften Kapitel untersuche ich das soziomaterielle Arrangement der Praktik der Atemarbeit, in dem gezielt die Produktion bewusster leiblicher Erfahrungen vorangetrieben wird. Wie ich in der Folge anhand einer ethnographischen Analyse verdeutliche, ist die Atemarbeit ein Erlebnisformat, das einerseits eine erfahrbare Alltagstranszendenz ermöglichen soll. Diese zeichnet sich durch eine räumlich-zeitliche und symbolische Distanzierung von alltäglichen Verrichtungen und Verpflichtungen aus. Andererseits soll die Atemarbeit ein erlebbares Hier und Jetzt erzeugen, das auf der Etablierung eines fokussierten Wahrnehmungsraums und der Herstellung einer spezifischen Form von Körperlichkeit basiert.

Sodann nehme ich im sechsten Kapitel die Interaktionsordnung der Atemarbeit in den Blick. Die Atemarbeit erweist sich als ein arbeitsteiliger Prozess zwischen „Atemlehrer*innen“ und „Klient*innen“. Es sind vor allem die Erklärungen und Instruktionen der Atemlehrer*innen, die dazu beitragen (sollen), eine spezifische Form ge- und erlebter Körperlichkeit zu etablieren. Diese besteht in einer auf Dauer gestellten und nach ‚innen‘ gerichteten Form des Wahrnehmens. Trotz der zentralen Bedeutung der Interaktion in der Atemarbeit operiert diese an den Rändern des Kommunikativen: Die Kommunikation zwischen Atemlehrer*innen und Klient*innen ist nicht nur primär unidirektional ausgerichtet, sondern die Atemarbeit vollzieht sich auch vergleichsweise schweigsam und bewegungsarm. Die Klient*innen sind dazu aufgefordert, die verbalen Instruktionen in ihre leibliche Praxis zu übersetzen. Die Atemarbeit operiert damit wesentlich an den Schnittstellen zwischen verbalen Anleitungen und den praktischen Anschlussaktivitäten der Klient*innen. Vor diesem Hintergrund widme ich mich der Frage, wie die Übergänge zwischen Sprache und Leiblichkeit in der Atemarbeit beschaffen sein können.

Schließlich wende ich mich im siebten Kapitel der Herstellung von Atem-Erfahrungen aus einer individuellen Erfahrensperspektive zu: Wie ist die Erfahrungsordnung der Atemarbeit beschaffen? Im ersten Teil des Kapitels zeige ich, mittels welcher praktischen Operationen das alltägliche Atmen in der Atemarbeit derart rekonfiguriert wird, dass daraus ein erlebbarer „Atem“ entstehen kann. Die Atemarbeit begreife ich hierbei wesentlich als eine „Aufmerksamkeitstechnik“ (Waldenfels 2004: 11), bei der verschiedene Formen der Herstellung einer bewussten Wahrnehmung ineinandergreifen. Im zweiten Teil des Kapitels wende ich mich der Frage zu, wie (In-)Kompetenz, im Sinne eines als normativ (un-)angemessen erachteten Verhaltens, in der Atemarbeit produziert wird. Denn: Dass es sich beim Atmen der Atemarbeit um eine soziale Praktik handelt, wird nicht nur daran deutlich, dass es Gegenstand diskursiver Bezugnahmen ist, sondern vor allem auch daran, dass man ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ atmen kann. Wie zu zeigen sein wird, erweist sich die Praktik der Atemarbeit als ein instruktiver Fall für eine Soziologie der (leiblichen) Kompetenz: Kompetenz wird nicht primär körperlich zur Schau gestellt, sondern erspürt. Es offenbart sich eine der Atemarbeit inhärente Normativität ‚unter der Haut‘.