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Zusammenfassung

Der fulminante Beginn des Romans entspringt einem formalästhetischen Kunstgriff: Auf dem turbulenten Flug von Tel Aviv nach Wien beginnen sich innerjüdische Debatten um Anerkennung von Identität und Differenz zu entwickeln. Das Burleske dieses Figuren-Arrangements macht deutlich, wie tief gespalten eine heterogene Gesellschaft wie die israelische aufgrund ihrer disparaten Konstitution ist, zumal die geopolitische Lage dafür sorgt, dass „die permanente Ausnahmesituation die einzige Normalität ist“ (A 100). Im vorausgreifenden Eingangskapitel ist die Komposition des weiteren Plots expositorisch verdichtet. Unterschiedliche Konzepte jüdischer Identität werden im Anschluss daran an vier Protagonisten des Romans genau exemplifiziert. Da der problematischen Übersetzung eines Zitats im Roman eine handlungskonstitutive Funktion zukommt, werden zum Schluss Grenzen der Übersetzbarkeit beleuchtet.

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Notes

  1. 1.

    Letzteres ist der Vorschein eines Problems, das im weiteren Handlungsverlauf relevant wird, als es um die Unfähigkeit des Protagonisten Ethan Rosen geht, die Herkunft eines anonymisierten, in deutscher Sprache rezipierten Zitats zu identifizieren, das zwar von ihm stammt, aber ursprünglich in Iwrith verfasst wurde.

  2. 2.

    Exemplarisch hierfür: Als der Orthodoxe beim Beten den Durchgang zur Business Class blockiert, verteidigt dieser sein raumnehmendes Agieren, indem sein Verhalten im übertragenen Sinn die territoriale Ausdehnung der messianischen Siedlerbewegung karikiert: „‚Was aber‘, sprach er, ‚wenn jetzt hier, aus der Business Class, unser Vater Abraham hervorkommt und dich fragt: Sag, hast du heute früh schon Tefillin gelegt?‘ Die Flugbegleiterin hinter ihm sagte: ‚Das zählt nicht, daß Ihr Herr Vater in der Business Class sitzt. Sie haben ein billigeres Ticket? Dann nehmen Sie bitte Platz.‘“ (A 18).

  3. 3.

    Die Verwendung des Namens Dani stellt einen intertextuellen Bezug zu Dani Morgenthau her, eine der beiden Hauptfiguren in Doron Rabinovicis Roman Suche nach M. (1997).

  4. 4.

    Sich tätowieren zu lassen, ist im orthodoxen Judentum untersagt.

  5. 5.

    Dieses Verhalten korreliert wiederum mit einem Befund Baumans: „Der Angelpunkt der postmodernen Lebensstrategie heißt nicht Identitätsbildung, sondern Vermeidung jeglicher Festlegung.“ (Bauman 1997, 146) Analog zur Verweigerung jeglicher territorialen Beschränkung lässt sich beobachten, dass ein Maximum an Freiheit mit dem Wunsch nach Wahrung möglichst vieler Wahlmöglichkeiten einhergeht. Größtmögliche Flexibilität lässt sich durch Unverbindlichkeit und Vorläufigkeit herstellen und wird häufig mit Freiheit verwechselt. Sich nicht festlegen zu wollen, Entscheidungsfindungen aufzuschieben, halten als Selbstmanagement-Konzepte Einzug in die Persönlichkeitsstruktur eines progressiv geltenden Lifestyles: „Das Spiel kurz zu halten bedeutet, sich vor langfristigen Bindungen zu hüten: Sich zu weigern, auf die eine oder andere Weise ‚festgelegt‘ zu werden; sich nicht an einen Ort zu binden, wie angenehm sich der Zwischenstopp auch anfühlen mag; […] keinem Menschen und keiner Sache Beständigkeit oder Treue zu schwören.“ (Bauman 1997, 145).

  6. 6.

    Rossauer ist ein sprechender Name: Die Rossauer-Kaserne war während des Ersten Weltkriegs vorübergehend ein Internierungslager, während des Zweiten Weltkriegs Ort von Verhören und Folter und gegenwärtig österreichisches Bundesministerium für Landesverteidigung.

  7. 7.

    Identifizierbarkeit ist ursprünglich ein Polizei-Begriff. Er ist Instrument der Strafverfolgung.

  8. 8.

    Bei der Namensänderung wird der Familienname Gerechter hebräisiert. Sein Bedeutungsgehalt wird im Namen Zedek konserviert.

  9. 9.

    Mimikry ist ein biologischer Begriff aus der Tier- und Pflanzenwelt. Sie dient der Täuschung und äußerlichen Nachahmung farblicher Muster, um Chancen der Selbsterhaltung und Fortpflanzung zu steigern.

  10. 10.

    Bhabha definiert Mimikry als eine der am schwersten zu fassenden und gleichzeitig effektivsten Strategien der kolonialen Macht und des kolonialen Wissens, die neben Mitteln der Farce, Ironie und Wiederholung steht. Demnach zeichne sie sich durch eine Ambivalenz von Ähnlichkeit und Bedrohung aus. Sie bringe das Inkompatible und Dissonante zum Vorschein, indem sie die Autorität des kolonialen Diskurses durch Imitation tiefgreifend verunsichere und durch Enthüllung ihrer Ambivalenz dessen Autorität aufbreche. (Vgl. Bhabha, 2000, 125–136).

    Im Gegensatz zur antisemitischen Mimikry, die assimilierten Juden unterstellt, mittels Tarnung über ihren Wesenscharakter zu täuschen, stört die postkoloniale Mimikry als subversive Strategie der Reform, Regulierung und Disziplin, die sich den Anderen ‚aneignet‘, indem sie die Macht visualisiert (vgl. Bhabha, 2000, 126–127).

  11. 11.

    Stuart Hall greift auf die Beschreibung der Ästhetik des Cut-and-Mix zurück, um die Entwicklung der Identitäten der Diaspora kenntlich zu machen: „Die Identitäten der Diaspora produzieren und reproduzieren sich ständig aufs Neue, durch Transformation und Differenz. Wenn wir das einmalige, das ‚eigentlich‘ Karibische benennen wollen, dann finden wir es gerade in der Mischung der Farben, der Pigmentierungen, der Physiognomien, in den ‚Variationen‘ des Geschmacks […] und in der Ästhetik des ‚Cross-Overs‘, des ‚Cut-and-Mix‘ – ich gebrauche den aussagekräftigen Begriff von Dick Hebdige –, der das Herz und die Seele der schwarzen Musik ist.“ (1994, 41).

  12. 12.

    Wenn Rosen vorgibt, kein Israeli zu sein, deutet dieser Umstand einen weiteren Verständnishorizont an: Damit entzieht er sich zugleich der Zuweisung, Bürger des als Kolonial- oder Apartheidstaat stigmatisierten Israels zu sein.

  13. 13.

    An anderer Stelle heißt es über gebrochene Erfahrung zugeschriebener Zugehörigkeit: „In Tel Aviv sagte ein einstiger Freund aus dem Kindergarten, die Rosens seien doch Abtrünnige und Verräter, aber in Wien erklärte ihm ein Klassenkamerad, der jüdische Staat in Zion sei doch nichts als Rassismus. Seine Existenz stand unter Mißkredit.“ (A 231).

  14. 14.

    Doch handelt es sich um ein doppelbödiges Rollenspiel: Weder der Leser noch Ethan Rosen ahnen zu diesem Zeitpunkt, dass Rosens Maskerade von seinem weiblichen Gegenüber durchschaut wird. Die Fallstricke der travestitischen Mimikry haben einen zweiten Boden simulierter Echtheit. Denn Noa Levy täuscht wiederum nur vor, die von Rosen eingenommene Rolle als Nicht-Jude Johann Rossauer für wahr zu halten. Viel später bekennt sie glaubhaft, „sie habe ihn bereits im Flugzeug erkannt. Sie sei nicht auf ihn hereingefallen, da sie bereits vor Monaten einen seiner Vorträge gehört habe.“ (A 45–46).

  15. 15.

    Diese Synthese heiliger und weltlicher Ordnung korrespondiert mit Daniel Weidners Befund: Demnach werde der Religion aufgrund der Aufweichung der Disziplingrenzen eine neue Aufmerksamkeit beschert. Dies werde am Umgang mit der Kategorie des Heiligen deutlich. Während der Begriff lange verwendet worden sei, um die Selbständigkeit der Religion – und damit auch die Selbständigkeit der Religionswissenschaft oder Theologie – zu begründen, werde nun gerade seine Hybridität betont. (Vgl. Weidner 2016, 16).

  16. 16.

    Düwell weist zudem darauf hin, dass der Diskurs über Transkulturalität und hybride Konstruktionen kultureller Zugehörigkeit als programmatischer Subtext fungiere, der die Möglichkeit der Transzendierung homogenisierender Identitätskonstruktionen enthalte (vgl. 2013, 298).

  17. 17.

    An anderer Stelle schreibt Bauman: „Für Pilger in der Zeit liegt die Wahrheit andernorts; der wahre Ort liegt immer ein Stück weit und eine Weile entfernt.“ (1997, 136).

  18. 18.

    „Eben jener Dritte Raum konstituiert, obwohl ‚in sich‘ nicht repräsentierbar, die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können.“ (Bhabha 2000, 57).

  19. 19.

    Erst mit der Installation einer jüdischen Heimstätte – eine Reaktion auf den allseits grassierenden Antisemitismus – ändert sich die Situation grundlegend.

  20. 20.

    Homo Academicus ist der Titel eines Buchs von Pierre Bourdieu. Unabhängig von dieser 1984 veröffentlichten Untersuchung lässt sich festhalten, dass räumliche Mobilität und Ungebundenheit, Mehrsprachigkeit und Kultursensibilität prestigeträchtige Kennzeichen dieses Habitus sind. Dieser steht im Zusammenhang mit einem neuen Sozialcharakter der Entgrenzung. Kennzeichnend für diesen Sozialcharakter sind laut Rainer Funk Dynamiken der Entgrenzung, das sich im Streben nach absoluter Selbstbestimmung zeigt. Demnach herrsche ein dominantes Streben nach Entgrenzung vor, die als Freiheit und Ungebundenheit erlebt wird. Es komme zur Internalisierung neuer Entgrenzungsdynamiken: Alles zu flexibilisieren und die eigene Begrenztheit, nur diesen einen Körper und dieses eine Leben zu haben, korrelieren auffällig mit Entgrenzungsforderungen in der Arbeitswelt (insbesondere in Milieus der New Economy, der Neurochemie, der akademischen Eliten sowie der digitalen Medien und Vernetzungstechnologien). Neu sei die Intensität der Entgrenzungsdynamik, da es zur Verinnerlichung von Forderungen und Möglichkeiten der Entgrenzung kommt, sie sich also in die Persönlichkeit des Menschen hinein verlängern. Im Zuge bahnbrechender Entwicklungen in den Verkehrs-, Kommunikations-, vor allem aber Simulationstechnologien falle die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Illusion und Realität daher zunehmend schwer. (Vgl. Funk 2015, 215–231).

    Rosen verkörpert diesen Typus par excellence, da sich in ihm Grenzen von Innen und Außen, Privatheit und Öffentlichkeit, Arbeit und Freizeit verflüssigen: „Er ließ sich bei seinen Studien durch nichts stören, schaltete das Telefon nicht aus, las zwischendurch die neuen Nachrichten, und die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Die Einflüsse von außen inspirierten ihn, lenkten ihn nicht ab, sondern brachten ihn offenbar ständig auf neue Ideen. Freizeit und Beruf zu trennen, konnte er sich gar nicht vorstellen.“ (A 207–208).

  21. 21.

    „Er erinnerte sich, wie er als Wiener Volksschulkind in sein Geburtsland reiste und die einstigen Freunde aus dem Kindergarten traf. Sie sagten ihm, er sei kein echter Israeli mehr, während ihre Eltern das Gegenteil behaupteten und ihm mit wehmütigem Lächeln versicherten, er sei ein richtiger kleiner Sabre.“ (A 228) Sabre und zugleich nicht Sabre zu sein, zeigt auf, dass er sich in der unklaren Position des ausgeschlossenen Dritten befindet.

  22. 22.

    Derartige Attribuierungen können Anlass zu antisemitischen Projektionen bieten, die sich durch einen Ausfall der Reflexion auszeichnen: Intellekt erscheint so als Ausdruck von Abstraktheit und Arroganz, Individualität als Ausdruck von Egoismus, Nonkonformismus als Zeichen der Zersetzung und Erfolg als untrüglicher Beweis für Bevorzugung oder Betrug.

  23. 23.

    Der Transmigrant unterscheidet sich deutlich vom klassischen Fremden im Sinne Georg Simmels. Dieser verstand den Fremden nicht als Wandernden, sondern als jemanden, „der heute kommt und morgen bleibt.“ (2002, 47) Kennzeichnend für Transmigranten ist hingegen das räumliche Pendeln zwischen Wohnorten in unterschiedlichen Kulturen. Oft sind sie formal hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die eine starke räumliche Mobilität aufweisen und soziale Bindungen an die Herkunftsgesellschaft aufrechterhalten. Da der klassische Migrationsbegriff nicht mehr oder nur noch partiell mit den beobachtbaren Erscheinungen übereinstimmt, spricht man heute vom Konzept transnationaler Mobilität:

    „Die Formen der Zuwanderung verändern sich und damit auch die Perspektiven des Dableibens. MigrantInnen kommen immer öfter nicht für immer; sondern sie kommen als ‚TouristInnen‘, die eine kurzfristige Arbeit annehmen, als temporäre ZeitwanderInnen, als PendlerInnen oder als Arbeitskräfte, die so lange bleiben, bis ein spezifischer Konsumwunsch finanzierbar ist. Sie praktizieren einen neuen Typus von Migration oder besser von Mobilität. In vielen Fällen ist transnationale Mobilität nicht mehr eine Wanderbewegung in einer Richtung von einem Ort zum anderen, sondern eine Pendelwanderung über eine internationale Grenze hinweg; sie erfolgt in unterschiedlicher Periodizität und führt zu geteilten Haushalten und zu einer Form doppelter Identität. Die Übergänge zu zirkulären Wanderungsformen sowie zu einer endgültigen Aus- und Einwanderung sind vorhanden und fließend. Bei der transnationalen Mobilität kommt es nicht mehr zu einem eindeutigen Verlassen der Herkunftsgesellschaft und zu einer definitiven Zuwanderung in eine Aufnahmegesellschaft, sondern zu einer Lebensform, die dazwischen [!] liegt. Transnationale Mobilität geht einher mit einer realen Existenz in zwei Gesellschaften, mit dem Aufbau eines grenzüberschreitenden Aktionsraumes und einer damit verknüpften Hybridität der kulturellen Identifikation.“ (Faßmann 2003, 435).

  24. 24.

    Rushdies Plädoyer liest sich so: „Die Satanischen Verse feiern die Bastardierung, die Unreinheit, die Mischung, die Verwandlung, die durch neue, unerwartete Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Richtungen, Filmen oder Liedern entsteht. Das Buch erfreut sich am Mischen der Rassen und fürchtet den Absolutismus des Reinen. Melange [!], Mischmasch [!], ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt. Hierin liegt die große Chance, die sich durch die Massenmigration der Welt bietet […].“ (Rushdie 1992, 457–458) Äußerst bemerkenswert ist die Wirkgeschichte von Rushdies Roman Die Satanischen Verse. Die Fatwa ist 1989 über Rushdie verhangen worden. Dschihadisten verübten auf mehrere Übersetzer und Verleger des Buches Mordanschläge. Am 12.08.2022 hat Rushdie einen Anschlag schwerverletzt überlebt.

  25. 25.

    Fragwürdig ist dies vor dem Hintergrund der Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert, da die Shoah nur schwerlich mit den Kategorien der postkolonialen Theorie zu fassen ist. Juden waren weder kolonisiert noch aufgrund ihrer Hautfarbe als minderwertige Gruppe klassifizierbar. Die europäischen Juden waren nicht betroffen von Eroberungen, Kolonisation und Annexion. Indessen stigmatisiert man den Zionismus oft als koloniales und rassistisches Projekt.

  26. 26.

    Auffällig ist eine Passage zu Beginn auf der Rückreise nach Wien. Darin wird deutlich, in wie schlechter Verfassung er ist, gelingt es ihm doch nicht, sich von seiner Umwelt angemessen abzugrenzen. Nachdem vom „Laserblick“ seiner Mutter bei der Verabschiedung die Rede war, heißt es: „Hinzu kam der Eindruck, alle könnten ihm ansehen, wie es ihm ging, müßten ihn durchschauen, denn er fühlte sich gläsern […].“ (A 13) Als wäre er wie ein Text lesbar, befürchtet er wider besseren Wissens, andere Passagiere könnten in seinem Inneren lesen.

  27. 27.

    Doron Rabinovici schreibt über sich selbst in ähnlichem Wortlaut, „Wiederkehr familiärer Hoffnungen und […] eine Entschädigung für all das […], was nicht wiedergutzumachen war“ (2011, 194), gewesen zu sein.

  28. 28.

    Ähnlich lässt sich Dov Zedeks Wunsch verstehen, seinen Tod durch Ertrinken zu simulieren, um die eigene zerbrochene Lebensgeschichte abstreifen und nochmal neu anfangen zu können (vgl. A 66).

  29. 29.

    Auch sein Hang zur Polemik spricht dafür, den inneren Spannungszustand aus Hass, Wut, Kälte und Zorn zu entladen. Sie dient dazu, aggressive Impulse auszuagieren. In ihr artikuliert sich das, worüber in nüchterner Sachlichkeit sich nicht schreiben lässt. Die Polemik als literarische Form vermag, das Destruktive, das er wie „kleine Pakete voll Sprengstoff“ (A 11) absondert, produktiv zu wenden. Das „Schreiben im Affekt“ (A 29) hat kathartische Wirkung, „schäumte er [doch] in seinen Glossen auf, pulverte dort an Emotionen hinein, was er sich als Forscher versagte.“ (A 11) Immerhin entsteht erst aus dem Geist der Polemik die von Missverständnissen geprägte Debatte um die Sinnhaftigkeit von Schülerexkursionen nach Auschwitz.

  30. 30.

    Angesichts der erlittenen Demütigungen, Entbehrungen und Verluste seiner Eltern erzieht Felix Rosen seinen Sohn dazu, sich nichts gefallen zu lassen. Eine Anekdote aus dem Kindergarten steht exemplarisch hierfür. (vgl. A 230–231).

  31. 31.

    Gebrochen wird das Selbstverständnis, sich festen Zuordnungen zu verweigern, dadurch, dass Rosen Klausinger reflexhaft als Bastard beschimpft: „‚Du bist nicht mein Bruder. Du bist nur irgendein Bastard mit Hintergedanken.‘“ (A 132).

  32. 32.

    „‚Was denkst du dir eigentlich? Du kannst ihm doch nicht vorwerfen, ein Bastard zu sein‘, fuhr Noa ihn an.“ (A 132) „Ethan kicherte, ein Glucksen erst, das in Prusten überging, dann tätschelte er unversehens mit der flachen Hand Rudis Hinterkopf. ‚Bild dir nichts drauf ein. Ich bin auch ein Bastard. Wir sind es beide.‘“ (A 233).

  33. 33.

    Später wird dieses Verfahren (nochmal) eine Rolle im Unterkapitel über die Denkfigur des Spekulanten bei der Figurenanalyse von Felix Rosen spielen und ausführlicher erläutert werden.

  34. 34.

    „In der Früh ein Krabbeln an meinem Bein. […] [D]ann wurde die Decke zurückgeschlagen, und der Vierjährige […] kam zum Vorschein. ‚Bist du mein Papa?‘ Und ich: ‚Nein‘, aber du hast dich an mich geschmiegt.“ (A 50).

  35. 35.

    „‚Bist du mein Papa?‘ Eines Morgens war er ins Bett der Eltern gestiegen und dort auf einen Fremden gestoßen, und er, der kleine Bub, dessen Vater so selten zu Hause war, hatte erstaunt gefragt: ‚Bist du mein Papa?‘“ (A 216).

  36. 36.

    Was Rosen vom zeitspezifischen Original des Randseiters unterscheidet, ist die Tatsache, dass er zum einen von Tradition bzw. vom Naturzusammenhang längst entfremdet ist und zum anderen eine weitgehende Akzeptanz in der österreichischen Aufnahmegesellschaft erfährt. Entfremdet ist er, weil für ihn naturwüchsige Verbände wie Sippe, Stamm oder Staat nur noch bedingt relevant sind. Akzeptanz genießt er, da er in Wien über ein hohes Renommee verfügt, das nicht nur seinem Dasein als transmigrantischer Diaspora in einer global vernetzten Welt geschuldet ist, sondern ihm darüber hinaus wegen seiner jüdischen Herkunft eine besondere Rolle in der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung mit der jüdisch-österreichischen Geschichte zukommt.

  37. 37.

    Das bestätigt sogar die Institutsleiterin Jael Steiner. Kurz zuvor bringt eine namenlos bleibende junge Assistentin im Sekretariat des Instituts gegenüber Rosen ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, die Professur in Wien auszuschlagen, stattdessen aber eine Rückkehr nach Tel Aviv zu beabsichtigen: Sie „schaute ihn an, als litte er an einer unheilbaren Krankheit.“ (A 136).

  38. 38.

    Damals wie heute ist ein prototypisches Merkmal dieses Typus das „Bewusstsein der moralischen Gespaltenheit und […] Konflikthaftigkeit“ (Park 2002, 70). Dieser Bewusstseinsmodus findet sich im Roman besonders auffällig in der Debatte um die Sinnhaftigkeit von Schülerexkursionen nach Auschwitz ausgestaltet. Rosens Position ist kontextgebunden (orts- und sprachabhängig), changiert also mit dem Aufenthaltsort.

  39. 39.

    Eine Besonderheit seiner inkorporierten Wandlungsfähigkeit besteht darin, sogar eine enigmatische Grenze zwischen jüdischer Diaspora und jüdischem Nationalstaat – als entgegengesetzte Formen der Sozialität – durch Anpassungsfähigkeit (Mimikry) zu übersteigen. Festzuhalten ist, dass die Situation von Juden in der Diaspora seit Bestehen Israels in eine persönliche Entscheidung transformiert worden ist.

  40. 40.

    Rosen unterstellt Levy, sich in ihm zu irren und unlautere Motive zu verfolgen: „Er hegte den Verdacht, sie habe sich weniger in ihn verliebt als in die gemeinsame Identität. […] Die Sehnsucht nach Heimat war es, die sie ihm zugetrieben hatte, und das machte ihn mißtrauisch. In Israel wäre er einer von vielen gewesen, aber hier war er plötzlich zum Sabre, zum zionistischen Vorposten, mutiert. Diese Frau mochte ihn nur seines Geburtsortes wegen. Und war sie überhaupt verliebt in ihn? Nahm sie nicht eher bloß vorlieb mit ihm, weil er unter lauter Älplern einer der wenigen Repräsentanten biblischer Auserwähltheit und noch dazu israelischer Staatsbürger war? Wer sich wirklich in einen anderen verliebte, hatte keine Wahl, sondern wußte sich bestimmt. Er war aber nur die Verneinung ihrer früheren Ehe. Sie wollte zurückkehren, und er war das Ticket in ihr persönliches Altneuland. Sie träumte von Familie, von ihrer alten und von einer neuen. […] Aber eignete er sich, der schon die eigene Verwandtschaft kaum aushielt, als Stammhalter einer orientalischen Sippe, eines Clans, einer Chamullah? Wenn sie jetzt von Heimkehr sprach, dann hoffte sie darauf, mit ihm heimisch zu werden. So redeten Leute, die sich nach einem Zuhause sehnten, so traut, wie es nie war, und so wonniglich, wie sie es nie ertragen könnten.“ (A 55–56).

  41. 41.

    Nach dem gleichnamigen Buch der US-amerikanisch-jüdisch-türkischen Politologin Seyla Benhabib, die das „Desaggregieren von Bürgerschaft“ konstatiert, da sie das „unitarische Modell der (Staats-)Bürgerschaft“ (Benhabib 2008, 43) an sein Ende gekommen sieht.

  42. 42.

    Bezeichnend hierfür ist das ritualisierte Rollenspiel als Johann Rossauer, das die Ursprungsszene der persönlichen Begegnung von Ethan Rosen und Noa Levy bildet. Die Fortführung des Rollenspiels übt auf beide Figuren einen enormen Reiz aus. (Siehe A 44, 45, 54, 57, 98, 159) Er spielt mit ihr, ein Nicht-Jude namens Johann Rossauer zu sein: „Im Dunkeln nannte sie ihn Johann und Rossauer. Bei ihr konnte er außer sich sein. Nachher wußte er nie, wieviel Zeit vergangen war. Es brauchte einige Herzschläge, bis er verstand, wo er war.“ (A 98) Erst mit Felix Rosens Tod endet die Lust am Schein (vgl. A 277). Die parodistische Inszenierung von Johann Rossauer lässt sich als Aneignung des österreichischen Anderen begreifen. Durch die fingierte Subjektposition des Anderen wird der Gegensatz zum Eigenen erst hervorgebracht. Dies lässt sich als überstilisierte Strategie der Mimikry fassen, die qua ironisierender Nachahmung tradierte Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit hinterfragt.

  43. 43.

    Diese Herangehensweise übernimmt Elemente sowohl aus dem von Karl Mannheim stammenden Konzept freischwebender Intelligenz, sich als Intellektueller unabhängig ein Urteil zu bilden, als auch aus der postkolonialen Wissenschaftskritik, die nach den Umständen und Bedingungen der Wissensproduktion fragt und Wissenschaft, Kultur und Politik als Kampfplätze verstanden wissen will. Rosens Aufbegehren lässt sich im Sinne von Gayatri Chakravorty Spivak als Parteinahme für diejenigen fassen, die in Ermangelung von Repräsentation systematisch unsicht- und unhörbar bleiben. Um Machtverhältnisse ins Wanken zu bringen, müssten sie zur Sprache kommen. Demgemäß kann Wahrheit bestehende Machtstrukturen nicht aufbrechen, sondern Wahrheit gilt stets als Folgeerscheinung von Macht.

    Die Identifizierung mit der subalternen Position im offiziellen Diskurs lässt sich als gegen-diskursive Praktik einordnen, um die darin unzureichend abgebildete Position der Marginalisierten hervorzuheben. In dieser Kampfzone politischer Meinungen ergreift er als Intellektueller stets für diejenigen Partei, die vom offiziellen Diskurs ausgeschlossen oder kaum wahrnehmbar sind. Rosen ergreift zwar ortsunabhängig Partei für Subalterne und Marginalisierte. Seine Interventionen sind jedoch abhängig vom gesellschaftlichen Kontext und seinen historischen Besonderheiten.

    Dabei beschränkt Rosen sich nicht auf Strukturen (post-)kolonialer Ordnung und Repräsentation zur Herstellung von Handlungsmacht, sondern ergreift Partei für Subalterne oder Verfolgte im Allgemeinen. Als hätte Rosen Spivaks berühmten Aufsatz Can the Subaltern speak? zum Lebensprinzip erhoben, begehrt er in der Rolle des Intellektuellen gegen herrschende Ungerechtigkeiten auf, fällt aber im Unterschied zu Spivak nicht hinter Vorstellungen formaler Freiheit und Gleichheit zurück, um das widerständige Potential von Formen partikularer Bräuche (wie die Witwenverbrennung in Indien) anzuerkennen. Da er an einem aufklärerischen Universalismus festzuhalten sucht, lehnt er es ab, aufklärerische Ideen als machtpolitische Diskurse ‚weißer‘ Dominanzkultur zu denunzieren, wie es heute in der Wissensproduktion unter dem Label kritischer Weißseinsforschung üblich geworden ist.

  44. 44.

    Nach Ansicht von Karin Furner, stellvertretende Vorsitzende des Instituts, wäre es „durchaus denkbar, daß Klausinger über das Judentum eingehender geforscht habe als Rosen.“ (A 69).

  45. 45.

    Ethan Rosen kennt Dov Zedek von klein auf. Später wird dieser ein väterlicher Freund für jenen.

  46. 46.

    „Mama wollte nichts von ihm wissen. […] Er war kein Wunschbaby gewesen, sondern Ausdruck ihrer Verzweiflung. Seine Geburt als ihre Niederlage. […] Einige Jahre später hätte die Mama ihn wohl abgetrieben.“ (A 193).

  47. 47.

    „So hatten ihn alle gesehen, die wußten, daß sein leiblicher Vater ein Überlebender war.“ (A 193) Diese Formulierung erinnert an Jean-Paul Sartres Blick in den Überlegungen zur Judenfrage, durch den der Andere erst in seiner Rolle bestätigt und darauf festgelegt werde. Demnach mache der Antisemit erst den Juden.

  48. 48.

    Obwohl er sich zur Verwunderung seiner Pflegeeltern bestmöglich an deren Lebensmodell anpasst, belegt dies in den Augen der Pflegeeltern nur seine jüdische Herkunft, die seinen Charakter zu determinieren scheint. Sämtliche persönlichen Merkmale lassen sich auf seine Zugehörigkeit rückführen. „Intelligenz, Mäßigung, Bildung, Rationalität und Zuwendung an die Familie (in Verbindung mit unternehmerischem Erfolg) können als List, Feigheit, Spitzfindigkeit, Unmännlichkeit, Stammesdenken und Gier dargestellt werden, während die scheinbare Betonung des Körpers, des Exzesses, des Instinkts, der Zügellosigkeit und der Gewalt als Erdverbundenheit, Spontanität, Seelentiefe, Großzügigkeit und kriegerische Kraft interpretiert werden können.“ (Slezkine 2007, 106) Zudem erinnert die Familienkonstellation an Yuri Slezkines Beschreibung gegensätzlicher Lebensweisen von merkurianisch attribuierten Juden (Moderne, Warenzirkulation, Dienstleistungen) und apollinisch attribuierten Nicht-Juden (Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht). (vgl. Slezkine 2007, 27–57).

  49. 49.

    „In der Pflegefamilie sollte er sich gefälligst fühlen wie zu Haus, und der Mutter in Wien und der Tiroler Mama durfte er keinen Kummer bereiten. Er sollte sich einleben.“ (A 194).

  50. 50.

    Das Ideologem, sich überall an das ‚Wirtsvolk‘ anzupassen, kulminiert im antisemitischen Topos jüdischer Mimikry. Im obigen Eingangskapitel zur Interpretation dieses Buches wird dies an Ethan Rosen ex negativo deutlich gemacht.

  51. 51.

    Der Titel der Replik stellt einen intertextuellen Bezug zu Moshe Zuckermanns 1998 veröffentlichtes Buch Zweierlei Holocaust: Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands her, das als programmatische Rahmung des meta-historiographischen Romans zu verstehen ist. Weiterhin verweist der Titel „Zweierlei Rosen“ auf Martin Bubers 1948 erschienenen Aufsatz Zweierlei Zionismus, worin die nationale Wiedergeburt einer kulturell-religiösen Wiedergeburt gegenübergestellt ist.

  52. 52.

    Ethan Rosen erinnert sich an eine Szene seiner Kindheit, worin ihm seine Mutter Dov Zedek als besten Freund seines Vaters vorstellt (vgl. A 216).

  53. 53.

    Als neues Mitglied der Familie Rosen bekennt Klausinger: „Meine frühere Fassung tut mir leid.“ (A 183).

  54. 54.

    Er berichtet in der Reportage von seiner Suche nach einem jüdischen Vater, der jüdischen Heimsuchung und dem Plan des Ultraorthodoxen, den ungeborenen Messias zu klonen. Er fragt danach, welche Aussagekraft genetischen Verwandtschaftsverhältnissen überhaupt zukommt; und ob die Erinnerung an den Massenmord insbesondere im Nahen Osten nicht noch mehr Hass schüre? Schließlich verkündet er, dass ihn nichts mit Felix Rosen verbinde (vgl. A 266–267). Auch das Familiengeheimnis der Rosens enthüllt er (vgl. A 275).

  55. 55.

    Weiter heißt es bei Bischoff: „Insgesamt reflektiert der Text in dieser Konstellation nicht zuletzt die Frage, inwiefern (Familien-)Zugehörigkeit nicht gerade auch nach den Exzessen einer rassistischen Abstammungspolitik und nach der Schoah, die Familien zerrissen und Genealogien unwiderruflich abgebrochen hat, neu gedacht werden muss.“ (2016, 146).

  56. 56.

    Dieses poetologische Konzept heißt Palimpsest (vgl. Genette 2018, 14–15, 532–534) und ist auch als überlagerndes Rewriting bekannt. Im Abschnitt „Die Denkfigur des Spekulanten“ wird dies genauer beleuchtet werden.

  57. 57.

    Künstler wie Arthur Szyk, Saul Tschernichowski, Chaim Nachman Bialik, Heinrich Heine und Georg Büchner faszinieren ihn, aber auch marxistische, zionistische und psychoanalytische Schriften gehören zu seinen Interessen (vgl. A 139–140).

  58. 58.

    Leo Baeck zufolge hat das Judentum „das Wort ‚Zedakah‘ geschaffen, ein Wort, das in seiner vollen Bedeutung unübersetzbar ist, da es Gerechtigkeit und Güte umschließt, sie beide zu einer Einheit macht, oder genauer, all unser Wohltun als das bezeichnet, was dem Nächsten gebührt, und mit dessen Erfüllung wir nur das getan haben, was die Pflicht gegen ihn immer wieder von uns verlangt. Zedakah ist die positive, die religiöse, soziale Gerechtigkeit, diese Gerechtigkeit, die ihr Forderndes, ihr Vorwärtsdrängendes, ihr Messianisches hat.“ (1988, 136).

  59. 59.

    Der Zeitpunkt seiner Auswanderung ist nicht genau angegeben, lässt sich aber auf den Zeitraum zwischen der Eingliederung Österreichs in das Dritte Reich am 12.03.1938 und der Reichspogromnacht am 09./10.11.1938 eingrenzen (vgl. A 60–61).

  60. 60.

    Siehe hierzu William G. Niederlands 1980 erschienenes Buch Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord.

  61. 61.

    Dennoch scheint es, als wäre insofern eine Synthese von den sonst unvereinbaren Positionen Adolf Gerechters und Dov Zedeks erfolgt, als Gerechter – in Übereinstimmung mit der jüngeren israelischen Geschichtspolitik – auch eine Legitimationsfigur für Dov Zedeks Kampf für einen Nationalstaat der Juden ist: „Und ist es nicht richtig, wenn sie lernen, was es bedeutete, ohne eigenes Land, ohne eigene Armee, ohne eigene Macht dazustehen?“ (A 73).

  62. 62.

    Zedek sieht sich von Christen zur Symbolfigur eines Heilands verklärt: „Diese Sprößlinge christlichen Glaubens […] zelebrieren meine Wandlung als zentrales Ritual einer Messe.“ (A 66).

  63. 63.

    Ausdrücklich sei hier betont, dass die Figur Dov Zedek nicht an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet.

  64. 64.

    Im Jahr 1942 erschien Hannah Arendts Artikel „Keinen Kaddisch wird man sagen“. Darin heißt es mit Referenz auf Heinrich Heines Gedicht „Gedächtnisfeier“: „‚Keine Messe wird man singen, keinen Kaddisch wird man sagen‘. Diese Toten hinterlassen keine geschriebenen Testamente und kaum einen Namen; wir können ihnen nicht die letzte Ehre erweisen, wir können ihre Witwen und Waisen nicht trösten. Sie sind Opfer wie es Opfer nicht mehr gegeben hat, seitdem Carthago und der Moloch zerstört wurden. Wir können nur ihre Träume zu Ende träumen.“ (Arendt 1989a, 142).

  65. 65.

    Theodizee, ein aus dem Griechischen stammender Begriff, meint ‚Gerechtigkeit Gottes‘. Zedek, ein hebräischer Begriff, steht für ‚Gerechtigkeit‘.

  66. 66.

    Wohlgemerkt, der Vernichtung ist er vor allem deshalb entkommen, weil die deutschen Panzerverbände in der Zweiten Schlacht von El Alamein am Ende des Jahres 1942 der britischen 8. Armee unterlagen.

  67. 67.

    Hinweise für ein gestörtes Verhältnis zwischen Dov Zedek und seiner Lebensgefährtin Katharina erhält der Leser nur beiläufig. So heißt es über Katharina auf der Beerdigung: „Seit seinem Tod entwickelte sie [Katharina] eine Leidenschaft, die Ethan nie an ihr bemerkt hatte, solange Dov noch am Leben gewesen war.“ (A 11) Wenige Wochen später heißt es: „Als Witwe blühte sie indes auf. […] Nun war sie die einzige, die Eigentliche, wenn auch bloß, weil sie ihn spät genug kennengelernt und ausreichend lange ertragen hatte.“ (A 141) Diese Randnotizen deuten darauf hin, dass, da Dov Zedek als Lebensgefährte unbequeme Eigenarten hatte, Katharina anlässlich des Todes von Zedek weniger traurig als vielmehr erleichtert zu sein scheint.

  68. 68.

    Auffällig ist, dass er in der unmittelbaren Nachkriegszeit weitgehend frei von Ressentiments gegenüber den Österreichern zu sein scheint (vgl. A 37).

  69. 69.

    Die Fähigkeit, sich zu verstellen, ist ein Charakteristikum, das auch Ethan Rosen im Flugzeug anwendet.

  70. 70.

    Wahrscheinlich verwendet der Arzt, Literat und Zionist Max Nordau den Begriff erstmalig in einer Rede anlässlich des zweiten Zionistenkongresses in Basel. Darin heißt es: „Der Zionismus erweckt das Judenthum zu neuem Leben. Das ist meine Zuversicht. Er bewirkt dies sittlich durch Auffrischung der Volksideale, körperlich durch die physische Erziehung des Nachwuchses, der uns wieder das verloren gegangene Muskeljudenthum schaffen soll.“ (Nordau 1898, 24).

    Der positive Bezug auf das Muskeljudentum lässt sich nach 1945 als Gegenentwurf zum von der NS-Propaganda gezeichneten Bild dekadenter und verweichlichter Juden verstehen, das viele der überlebenden Juden in Europa aufgrund der Dehumanisierung und Wehrlosigkeit internalisiert haben. Das Bild wehrhafter Juden soll dies Ideologem korrigieren, widerlegt es doch traditionelle Topoi des modernen Antisemitismus. Demnach, so hieß es, seien Juden generell unfähig zur Staatlichkeit, vor allem weil sie charakterlich generell illoyal und als Soldaten physisch untauglich seien, darüber hinaus aber hinter den Kulissen vom Kriegswucher profitieren würden. Ein markanter Spottvers aus der Zeit des Ersten Weltkriegs im deutschen Kaiserreich lautete: „Überall grinst das Judengesicht, nur im Schützengraben nicht!“ Die Dreyfus-Affäre in Frankreich zeigt weiterhin auf, dass es Juden unmöglich war, in der Nation aufzugehen, standen sie doch trotz aller Assimilationsbemühungen aufgrund der abweichenden Volkszugehörigkeit per se im Verdacht, das Land zu verraten.

  71. 71.

    Noch im hohen Alter weigert er sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, eine Gehhilfe zu nutzen, „weil er zu stolz dafür war. Als er zum ersten Mal wieder auf die Straße wollte, stürzte er. […] Felix wehrte jede Hilfe ab. Langsam stand er wieder auf, schaute sich um und nickte. Seht her, das ist Felix Rosen, und er steht auf eigenen Beinen.“ (A 156).

  72. 72.

    „Es hat sich gezeigt, daß die Opfer nicht selten das während der Verfolgung Erlebte auf Dauer verleugnen müssen. In den Familien kam es zum ‚pact of silence‘, der es den Eltern erleichterte, wider besseres Wissen eine Illusion aufrechtzuerhalten, die sich vielleicht so umschreiben lässt: All das kann nicht wahr gewesen sein; vielleicht ist es doch nur ein Alptraum, aus dem ich eines Tages noch erwachen werde (was für die Betroffenen nicht zuletzt hieße: Entlastung von Überlebensschuld und von dem Schmerz, die ermordeten Liebesobjekte endgültig verloren geben zu müssen.) Indem die Spuren, die das Trauma im Gedächtnis der Verfolgten hinterlassen hat, auf diese Weise ständig entwirklicht werden, vermögen sie nicht Erinnerungscharakter und damit Vergangenheitsqualität zu gewinnen.“ (Grubrich-Simitis 1984, 18–19).

  73. 73.

    Eine nicht biologisch definierte Konzeption von Vaterschaft und Familie „jenseits von Herkunftsvergewisserung, Generationenfolge und genealogischer Kontinuität“ (Bischoff 2016, 150) droht zur diffusen Affirmation von Kontingenz und Flexibilisierung zu gerinnen. Fragwürdig ist Bischoffs kulturoptimistische Interpretation einer aus der Notwendigkeit heraus gefassten Konzeption stellvertretender Zeugung, um eine Familie zu gründen, und flexibilisierter familiärer Verhältnisse, da sie die subjektive Notlage – Felix Rosens Unfruchtbarkeit – zur objektiven Tugend verklärt, also aus einer spezifischen Situation die Überwindung fortschrittlich sich gerierender Formen von Familie und Sexualität ableitet.

  74. 74.

    Auch die Anerkennung der Vaterschaft von Rudi Klausinger scheint motiviert durch seine Neigungen zum Pragmatismus und zur Fürsorge. Vermutlich entspringt seine Bereitschaft, Klausinger als Sohn aufzunehmen und dessen Suche nach dem biologischen Vater dadurch zu beenden, auch dem Glauben, dass biologische Formen der Abstammung ohnehin ein Relikt einer überkommenen Ordnung seien, die durch den Nationalsozialismus ohnehin korrumpiert worden sind. Die Wahl von Verwandtschaftsbeziehungen wäre demnach eine Frage individueller Selbstbestimmung. Dies ist im Vater-Sohn-Verhältnis von Felix und Ethan bereits einseitig angelegt.

  75. 75.

    „Niemand konnte ausgiebiger alle Freuden und allen Kummer auskosten. Zuweilen schluchzten sie ganze Nächte aneinandergeschmiegt, und zwar laut genug, um ihren Sohn, der auf der anderen Seite der Wand im Bett lag, aufzuwecken, aber es konnte auch geschehen, daß sie zusammen zu singen begannen und nicht damit aufhörten, eben weil sie sich erinnerten, was sie alles gemeinsam durchlebt hatten. Sie waren die Widerlegung des Sprichworts, geteiltes Leid sei halbes Leid, denn bei ihnen wurde alles – ob gut oder schlecht – verdoppelt.“ (A 91–92).

  76. 76.

    Ethan Rosen und dem Leser entzieht sich zu diesem Zeitpunkt das Verständnis dafür, warum „die Machtverhältnisse […] seither ein wenig verlagert [waren]. Die Mutter wirkte nun ruhiger, womöglich befreiter, auf jeden Fall aber erleichtert. Sie hatte ein Stück von sich hergeschenkt, das zum Unterpfand ihrer Freiheit und Souveränität geworden war. Es war immer so gewesen, als stünde sie in Vaters Schuld.“ (A 92) „Vor der Transplantation hatten die Rosens von außen verhärtet gewirkt, nun war da nichts Verkrampftes mehr zu bemerken. Felix und Dina waren sehr zufrieden mit sich.“ (A 93).

    Eine mögliche Erklärung für Dina Rosens Schuldgefühl lässt sich erst im weiteren Handlungsverlauf finden. Auslöser dafür könnte der unkonventionelle Akt der Kindszeugung von Dina Rosen und Dov Zedek sein. Sowohl Befruchtung als auch Transplantation sind leiblich-organischen Notlagen geschuldet. Die Transplantation gleicht das gefühlte Ungleichgewicht aus, das durch die biologische Vaterschaft von Zedek das Verhältnis der Eheleute zuvor noch latent beschwert haben mag.

  77. 77.

    Dessen untrügliches Gespür für Profite präsentiert ihn als Inkarnation von Spekulation und Warenhandel. Durch die Zugehörigkeit zur Zirkulationssphäre reaktiviert die Tiefenstruktur einen kulturellen Code: Darin verdichtet sich ein Assoziationsraum vom schmarotzenden Zinswucherer (klassischer Antijudaismus), vom internationalen Finanzjudentum (nationalsozialistische Terminologie) und dem von Juden kontrollierten Finanzkapital (marxistisch-leninistische Terminologie).

  78. 78.

    Eine steigende Durchlässigkeit territorialer Grenzen – ablesbar an De- und Trans-Territorialisierungsprozessen – zieht auf historiographischer Ebene keineswegs eine Aufweichung kontextgebundener Semantik nach sich. Die Dynamik ökonomischer und Offenheit kultureller Hybridisierung sowie die Möglichkeiten post-territorialer Kommunikations- und Verkehrstechnologien stehen hier der Statik geschichtspolitischer Kontexte und der Aporie der Übersetzbarkeit entgegen.

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Matthies, M. (2023). Andernorts (A). In: Literarische Gestaltung jüdischer Identität bei Maxim Biller und Doron Rabinovici. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66729-3_5

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  • Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg

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