Zusammenfassung
In diesem Beitrag werde ich ein kinderrechtsbasiertes Argument für die Pflicht von Staaten erörtern, in gemeinsamer Anstrengung ein effektives Programm zu etablieren, das hilft, Kinder aus Konfliktgebieten, wie derzeit in Syrien, herauszuholen. Mein Argument werde ich in drei Schritten darlegen: Erstens, dass Kinder zu den verletzlichsten Subjekten in gewaltsamen Konflikten gehören und dass sie infolgedessen stark leiden. Zur Untermauerung dieser Behauptung werde ich einen kinderrechtlichen Rahmen verwenden.
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Notes
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Siehe den Text der CRC: http://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/crc.aspx.
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Ich gehe hier von Kinderrechten als sowohl rechtlichen als auch moralischen Rechten aus, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist die KRK zwar ein rechtliches Dokument, aber eines, das auch moralische Rechte artikuliert und, so nehme ich an, auch auf moralischen Gründen beruht. Zweitens schlage ich eine Lösung vor, die in erster Linie eine politische ist – eine Pflicht der Staaten und der internationalen Staatengemeinschaft – und dafür sind rechtliche Überlegungen auf der Ebene der Menschenrechte von größter Bedeutung. Das heißt, ich bin mir durchaus bewusst, dass ich vor allem von einem moralischen Standpunkt aus argumentiere, der aber hoffentlich mit der rechtlichen Dimension der Kinderrechte verbunden werden kann.
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Auch dieser Anspruch scheint unumstritten, obwohl es erhebliche Kontroversen darüber gibt, was aus der Universalität der Menschenrechte folgt. Ein Argument für die Universalität der Menschenrechte als notwendiger Inhalt globaler Gerechtigkeit wurde von David Miller vorgebracht, der den weitreichenden Ansprüchen des Kosmopolitismus skeptisch gegenübersteht (Miller 2008).
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UNICEF hat eine Webseite zur Situation der Kinder in Syrien eingerichtet, auf der die neuesten Informationen zu finden sind: http://childrenofsyria.info.
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Es stimmt, dass nicht alle Kinder verletzlicher sind als alle Erwachsenen, zum Beispiel chronisch kranke oder behinderte Erwachsene, aber dass Kinder als Gruppe betrachtet verletzlicher sind als die Gruppe der Erwachsenen. Mehr über die Komplexität der Vulnerabilität von Kindern kann hier nachgelesen werden: Macleod 2015
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Die KRK macht deutlich, dass die Beteiligung an militärischen Konflikten im Falle jüngere Kinder eine klare Verletzung der Kinderrechte darstellt: „States Parties shall take all feasible measures to ensure that persons who have not attained the age of fifteen years do not take a direct part in hostilities“ (§ 38). Ich würde hier behaupten, dass die KRK in dieser Hinsicht zu lax ist und dass Kinder nicht vor dem Alter von 18 Jahren rekrutiert werden dürfen.
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Der Fall der Kindersoldat:innen zeigt, wie kompliziert die Dinge hier werden können. Kindersoldat:innen sind sicherlich Opfer, aber sie sind auch nicht frei von jeder Verantwortung für ihr Handeln. Für manche Kindersoldat:innen ist auch die Rückkehr in eine normale Kindheit schwierig, vielleicht sogar unmöglich, weil sie nicht mehr als Kinder behandelt werden wollen, da sie sich wie Erwachsene fühlen und verhalten. Siehe z. B. Özerdem und Podder 2011
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Siehe den Bericht, „European Union: Status of Unaccompanied Children Arriving at the EU Borders“: https://www.loc.gov/law/help/unaccompanied-children/eu.php.
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Es gibt gute Gründe – vor allem politische-, Migrant:inn:en unterschiedlich zu behandeln, je nachdem, ob sie Asylbewerber:innen sind oder nicht, aber das hat keinen Einfluss auf mein Argument. Siehe Carens 1992.
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Die Literatur zu diesen Fragen ist umfangreich, und es ist nicht das Ziel dieses Artikels, der allgemeinen Debatte über humanitäre Interventionen zum Schutz der Menschenrechte etwas Neues hinzuzufügen, sondern eine spezifische Pflicht vorzuschlagen und zu diskutieren, die auf der Zulässigkeit humanitärer Interventionen, oder zumindest einiger von ihnen, beruht. Für einen Überblick siehe: Hehir 2013
- 16.
Nach Shue (Shue 1996) beinhalten Menschenrechte drei Arten von Pflichten: die Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden, die Pflicht, Menschen vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen und die Pflicht, Menschen, deren Menschenrechte verletzt wurden, zu helfen. Im Falle einer Konfliktzone versagt der jeweilige Staat bei allen drei Aufgaben, so dass ein:e externe:r Akteur:in einspringen muss.
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Gilabert ist sicher nicht der erste, der für eine solche positive Pflicht plädiert. Ein anderer Theoretiker wäre David Miller, der, wie gesagt, generell skeptisch gegenüber Pflichten der globalen Gerechtigkeit ist, aber auch er stellt fest, dass positive Pflichten in Fällen von Menschenrechtsverletzungen bestehen, zum Beispiel um eine:n Diktator:in zu stürzen (Miller 2007, S. 231–59). Aber auch hier möchte ich nicht viel zu den Grundlagen der Debatte über positive oder negative Pflichten beitragen, sondern mich darauf beschränken, dass, wenn eine positive Pflicht zum Schutz der Menschenrechte von Kindern besteht, diese dann die Form einer solchen Pflicht annehmen sollte, sie an einen sicheren Ort zu bringen, wenn diese Kinder in Konfliktgebieten festsitzen.
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Eine detailliertere Kritik des Überforderungseinwandes gegen positive Pflichten wurde von Jorn Sonderholm ausgearbeitet (Sonderholm 2013).
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Colin Macleod hat vor einiger Zeit ein ähnliches Argument vorgebracht. Er schreibt (Macleod 2002, S. 224): „First, meeting children’s claims to just treatment seems to enjoy a general priority over meeting the comparable claims of adults. Let me try to motivate this claim through an example. There is a sense in which children and adults have a similar interest in avoiding suffering severe pain that can give rise to a comparably strong entitlement to access to pain medication. Yet where circumstances force a choice between providing pain-relieving medication to a child and providing medication to adult suffering the same pain, we seem to have reason to give priority to recognition of the child’s claim. I suspect that this general priority is grounded in various related factors. Children are vulnerable and dependent in many ways on adults for protection of their most basic interests. Because they cannot effectively represent and secure their own interests we naturally attach moral urgency to ensuring they receive fair treatment. The fact that children are developmentally fragile also seems significant. Children often seem to suffer more and are less able to recover from the ill effects of unjust treatment. So even when their moral claims seem comparable, caution suggests favouring the claims of children. More generally, children’s status as innocents who can be assigned no responsibility for their plight or for ameliorating unjust treatment they face supports a general priority of children’s claims. There seems to be an important difference in the relative urgency of the particular competing entitlements in this case. In sum, moral ties go to children.“
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Untersuchungen legen nahe, dass entgegen der öffentlichen Meinung und einiger Stimmen in der Politik die wirtschaftliche Belastung durch die Migrationsbewegung in die EU im Jahr 2015 tatsächlich gering ist. Die Situation für Kinder ist sicherlich etwas anders, aber langfristig sind ähnliche positive Effekte zu erwarten. Eine aktuelle ökonomische Simulation des Economics and Econometrics Research Institute kommt zu dem Schluss: „Our simulation results suggest that, although the refugee integration (e.g. by providing welfare benefits, language and professional training) is costly for public finances, in the medium – to long – run the socio – economic and fiscal benefits significantly outweigh the associated refugee integration costs.“ (Kancs und Lecca 2016, 26)
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Ein Zeitungsartikel im The Independent rechnet vor, dass die Kosten für einen Flüchtling in einem Lager in Jordanien zehnmal niedriger sind. http://www.independent.co.uk/voices/syrian-refugees-will-cost-ten-times-more-to-care-for-in-europe-than-in-neighboring-countries-a6928676.html
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Danksagungen
Ich danke Norbert Paulo, den Teilnehmer:innen des ifz-Forschungsseminars in Salzburg, den Teilnehmer:innen des Forschungskolloquiums Bochum/Dortmund an der Universität Bochum und zwei anonymen Gutachter:innen für ihre wertvollen Anmerkungen und Rückmeldungen.
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Schweiger, G. (2023). Moralische Verantwortung für Kinder in Konfliktgebieten. In: Ethik der Kindheit. Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66692-0_12
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