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1 Einleitung

Zunehmend bemerkt nicht nur die Fachwissenschaft, die Geschichte des Nationalsozialismus sei ausgeforscht.Footnote 1 Auch in einer journalistischen Replik zum 51. Historikertag 2016 stand die Frage nach dem Ende der NS-Forschung provokant im Raum.Footnote 2 Michael Wildt entgegnete indes bereits 2011 scharfsinnig, dass das Feld der Geschichtswissenschaft kein Karpfenteich sei, der über kurz oder lang abgefischt wäre.Footnote 3 Doch um diese Debatte soll es im Folgenden nicht gehen. Neben neuen Forschungsfragen und -perspektiven gilt es nicht zuletzt, das Wechselverhältnis zwischen Zeitgeschichte und juristischer Aufarbeitung von NS-Verbrechen zu berücksichtigen – oder anders formuliert: Welchen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn können wir aus der juristischen Auseinandersetzung mit den konkreten Gewalt- und Handlungsräumen der Beschuldigten der letzten Dekade ziehen?

Es stellt sich zum einen die Rückfrage, wie justizielle Gesichtspunkte und Blickwinkel in der jüngsten zeithistorischen Forschung widergespiegelt wurden. Möglicherweise waren infolge zunehmend geringerer Berührungspunkte die ermittelnden Behörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte nur begrenzt erfolgreich, auf einen für sie passenden Fundus geschichtswissenschaftlicher Publikationen zurückzugreifen, quasi die Antworten aus der Schublade holen. Letztlich offenbaren die punktgenauen, fast simplifizierend wirkenden Fragen von Juristinnen und Juristen häufig Leerstellen zeithistorischer Forschungswelten. Vielleicht brauchte es daher diese NS-Verfahren der Spätverfolgung und die damit einhergehenden konkreten Fragen und Anforderungen der Justiz, um Forschungsimpulse in die Zeitgeschichte auszustrahlen und neue Zugänge anzuregen.

Zum anderen unterscheiden sich aber auch die Gruppen der Beschuldigten stark von den verurteilten NS-Täterinnen und Tätern des 20. Jahrhunderts. Es handelte sich nämlich ausschließlich um das damalige subalterne Personal der Konzentrationslager, angefangen von SS-Unterführern aus den Reihen der Wachmannschaften und Verwaltungen, zunehmend jedoch um Mannschaftsdienstgrade bis hin zu Zivilbeschäftigten der SS. Unter den tausenden Frauen im Dienst der Lager-SS standen bisher die uniformierten Gruppen im Fokus von Zeitgeschichte und Justiz: Aufseherinnen aus dem Gefolge der Waffen-SS sowie Angehörige des SS-Helferinnenkorps der Waffen-SS. Insgesamt stellten die Beschuldigten der letzten zehn Jahre nicht randständige Gruppen des KZ-Personals, sondern schlichtweg die absolute Mehrheit. Nicht die breit erforschten Biografien der vergleichbaren KZ-Kommandanten spiegeln die Strukturen des Lagerpersonals repräsentativ wider. Ganz im Gegenteil sind es die Angehörigen der heterogenen SS-Totenkopfsturmbanne und Sachbearbeiter der Kommandanturstäbe, welche weit über 90 Prozent des KZ-Personals ausmachten und über die unser Wissen nach wie vor sehr lückenhaft ist. Möglicherweise war in diesem Zusammenhang auch das Urteil der Zeitgeschichte verfrüht, wonach jüngste Verfahren wie der Auschwitz-Prozess 2015 in Lüneburg – im Gegensatz zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den 1960er-Jahren – keinen Erkenntnisgewinn mehr gebracht hätten.Footnote 4 Zu den Angeklagten in Frankfurt am Main zählten allerdings kein einziger SS-Mann in seiner Funktion als Mitglied der Wachkompanien und keine einzige Frau.

Die Antwort auf die Frage nach dem Wissenszuwachs vermag demzufolge gar nicht so sehr überraschen: Nicht nur zahlreiche, sondern auch grundsätzliche Erkenntnisse zur Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus – insbesondere zum System der nationalsozialistischen Konzentrationslager – wie auch zu dessen Akteurinnen und Akteuren halten die letzten NS-Verfahren bereit. Denn nach wie vor ist das konkrete Wissen über subalterne NS-Täterschaft viel zu gering. Dazu zählt insbesondere die Alltags-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit einem Spektrum zwischen Arbeit und Dienstabläufen einerseits bis zu Freizeit und Privatheit andererseits. Obgleich sich in den letzten beiden Jahrzehnten eine ganze Generation verstärkt mit entsprechenden Fragen beschäftigt hat und zahlreiche verdienstvolle Studien dazu erschienen sind, konnten nicht alle Felder und Gruppen gleichermaßen abgedeckt werden. Dies wäre auch beileibe ein nur bedingt machbares Unterfangen, handelte es sich doch – einschließlich der konstant hohen Fluktuation bis 1945 – um annähernd 100.000 Personen aus ganz Europa, die aus einem teils konfusen Wirrwarr der internationalen Überlieferungsschnipsel dechiffriert werden müssten. Entgegen aller Trends der Zeitgeschichte lohnt daher nichtsdestotrotz die Beschäftigung mit den Lebenswelten und Alltagswirklichkeiten des subalternen Lagerpersonals. Breitere Analysen zu den „einfachen“ Wachmannschaften, häufig aus Südosteuropa, und zu den Zivilbeschäftigten der SS stellen nach wie vor eine Fehlstelle der NS-Forschung dar.

2 Personal

Bereits das Verfahren gegen John (Iwan) Demjanjuk von 2009 bis 2011 vor dem Landgericht München II rückte mit den sogenannten Trawniki-Männern eine Gruppe in den Fokus, über die bislang wenig öffentlich bekannt war und zu der nur einzelne fachwissenschaftliche Untersuchungen vorlagen.Footnote 5 Zugleich setzte das Verfahren einen Impuls zur weiterführenden Beschäftigung mit jenem Personenkreis, welcher in der rassistischen Hierarchie des NS-Militärs zu den „fremdvölkischen Hilfswilligen“ zählte.Footnote 6 Die Trawniki-Männer – benannt nach dem SS-Ausbildungslager Trawniki südöstlich von Lublin (Generalgouvernement) – nahmen eine wesentliche Rolle bei der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ein. Sie wurden in großer Zahl in den Lagern der „Aktion Reinhard(t)“ Bełżec, Sobibór und Treblinka eingesetzt. Darüber hinaus fanden sie als Wachmannschaften in zahlreichen Zwangsarbeitslagern, bei der „Partisanenbekämpfung“ sowie bei der Räumung von Ghettos und den Deportationen Verwendung. So beteiligten sie sich im Verbund mit anderen Einheiten von SS und Polizei an der brutalen Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943. Der zynische Bericht des verantwortlichen SS-Generals Jürgen Stroop enthielt ebenfalls Aufnahmen von Trawniki-Männern; so posierten zwei „Askaris, die mit eingesetzt waren“, vor getöteten Frauen und Kindern.Footnote 7 Der in zahlreichen Sprachen verwandte Begriff Askari, der im Arabischen Soldat bedeutet und im kolonialen Kontext vor allem in Afrika – so auch in der deutschen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika – einheimische Söldner, Soldaten und Polizisten meinte, legt bereits die koloniale Brille in der Betrachtung der Trawniki-Männer offen. Nach der Veröffentlichung der sogenannten Niemann-Sammlung – Fotografien und Alben des stellvertretenden Sobibór-Kommandanten Johann Niemann – rückten erneut die abgebildeten Trawniki-Männer in das geschichtswissenschaftliche und öffentliche Interesse.Footnote 8

Weitgehend unbeachtet blieb dennoch die fortgesetzte Verwendung der Gruppe zwischen 1943 und 1945, also nach Auflösung der Mordstätten Bełżec, Sobibór und Treblinka, nach Liquidierung der Zwangsarbeitslager, nach Ermordung der Insassinnen und Insassen wie in der „Aktion Erntefest“ im KZ Lublin Anfang November 1943 mit weit über 40.000 Opfern. Das Gros der Männer wurde in das expandierende Konzentrationslagersystem unter Regie des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes (SS-WVHA) versetzt, welches durch einen sprunghaften Ausbau der Außenlager und einer Ausweitung der Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie geprägt war. Unter den versetzten Männern befand sich ebenfalls der Ukrainer Iwan Demjanjuk; er wechselte im Oktober 1943 von Sobibór nach Flossenbürg.Footnote 9

Allein im Frühjahr 1944 versahen im KZ-System 1000 Ukrainer sowie 200 Esten und Letten Wachdienst und machten damit etwa sechs Prozent der Gesamtstärke aus.Footnote 10 Ihr Einsatz verdeutlicht zugleich die Nivellierung rassistischer Einstellungskriterien auf Seiten der KZ-Wachmannschaften und das zunehmend pragmatische Agieren der SS-Führung.Footnote 11 Waren diese Männer bislang ausschließlich in den besetzten Gebieten und Zentren von jüdischer Zwangsarbeit und Massenmord verwendet worden, verstärkten sie nunmehr signifikant die SS-Totenkopfsturmbanne der Konzentrationslager im Reichsinneren.Footnote 12 Diese wichtige Zäsur im Personalsystem wurde von der Forschung bislang ausgeblendet, sodass der Blick auf jene Tätergruppe weitgehend mit der Einstellung der „Aktion Reinhard(t)“ 1943 endete.Footnote 13 Allerdings bedeutete gerade die fortgesetzte Verwendung der Trawniki-Männer im KZ-System eine wesentliche Erweiterung der bisherigen Dienstpraxis: Zum einen verlegte die SS-Führung den Einsatz der extrem gewaltsozialisierten Gruppe auf das Reichsinnere, zum anderen erfolgte damit die Bewachung von Gefangenen, die in der rassistischen Ordnung mehrheitlich über den „fremdvölkischen Hilfswilligen“ standen. Denn noch 1943 galten die Konzentrationslager im Reich als „judenfrei“, auch Sinti und Roma waren infolge des Deportationsbefehls („Auschwitz-Erlasses“) Heinrich Himmlers von Mitte Dezember 1942 zentral nach Auschwitz verschleppt worden.Footnote 14 Die Verkehrung der rassistischen Hierarchien zwischen Bewachern und Gefangenen war ein Novum und stellte die Organisation und Durchführung des täglichen Wachdienstes vor bislang unbekannte Herausforderungen.

Diese Interdependenzen rückten weniger im Verfahren gegen Iwan Demjanjuk als vielmehr in den Ermittlungen gegen Johann Breyer von 2012 bis 2014 in den Fokus. Die ersten Versetzungen von Trawniki-Männern in das KZ-System fanden nämlich schon vor den Aufständen in Sobibór und Treblinka und damit deutlich vor dem Abbruch der Mordstätten im Sommer und Herbst 1943 statt.Footnote 15 Bereits im März 1943 waren 150 Mann nach Auschwitz versetzt und in Birkenau als 8. Ukrainische Wachkompanie eingesetzt worden.Footnote 16 Nach einer Massendesertion Anfang Juli 1943 wurde die Kompanie aufgelöst und größtenteils nach Buchenwald verlegt.Footnote 17 Dieser Aspekt wurde im Verfahren gegen den ehemaligen „volksdeutschen SS-Freiwilligen“ Johann Breyer von entscheidender Bedeutung. Denn Breyer gehörte zum Austauschpersonal, was im Gegenzug von Buchenwald nach Auschwitz-Birkenau (ab November 1943 Auschwitz II) wechselte.Footnote 18 Dies widersprach zugleich bisherigen Angaben und Annahmen, wonach eine Verwendung Breyers lediglich im Stammlager Auschwitz (ab November 1943 Auschwitz I) stattgefunden hätte. Noch im Juni 2014 wurde Johann Breyer verhaftet und starb unmittelbar im Zeitraum der Entscheidung für seine Auslieferung im Juli 2014.Footnote 19

Die Trawniki-Männer waren im Gegensatz zu den anderen Wachmannschaften keine Angehörigen der Waffen-SS, ihre Dienstzeit im Konzentrationslager wurde nicht als aktiver Wehrdienst anerkannt. Dennoch galten sie dem Gefolge der Waffen-SS gleichgestellt und unterstanden damit der SS- und Polizeigerichtsbarkeit.Footnote 20 Obgleich sich ihre Bestrafung nach der SS-Disziplinarstraf- und Beschwerdeordnung (SS-DBO)Footnote 21 regelte, unterhielt die Adjutantur ein „besonderes Strafbuch“ für Trawniki-Männer.Footnote 22 Die mehrheitlich ukrainischen Wachmannschaften wurden nur für die äußere Bewachung und nicht im Schutzhaftlager eingesetzt; Versetzungen an andere Dienstorte und in die Außenlager hatten in der Regel „ohne Waffen zu erfolgen“.Footnote 23 Neben einer dienstlichen Überwachung,Footnote 24 zu der ferner eine gesonderte Unterbringung gehörte, mussten Trawniki-Männer auch im außerdienstlichen Bereich mit räumlichen und zeitlichen Einschränkungen rechnen. Im Gegensatz zu den sogenannten Reichs-, aber auch „Volksdeutschen“ aus Kroatien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn waren ihnen nur Beurlaubungen im Reichsgebiet gestattet. „Beurlaubungen nach außerhalb der Reichsgrenzen, vor allen Dingen in die Heimat der Männer oder ins Gouvernement, können nicht erfolgen.“Footnote 25 Rückschlüsse auf Muster der Selbst- und Fremdwahrnehmung erlaubt das Verhalten vor Ort. Da die „fremdvölkischen Hilfswilligen“ ihren Ausgang oftmals mit zwangsrekrutierten „Ostarbeitern“ am Standort verbrachten, verbot die Lagerleitung diesen Umgang.Footnote 26 Der Besuch eines Häftlingsbordells war ihnen aber im Gegensatz zum übrigen Personal gestattet, weil sie sich in der rassistischen Wertigkeit als „Fremdvölkische“ einordneten.Footnote 27

Insbesondere der letzte Punkt führte zu Friktionen. So betonte der Kommandant des KZ Stutthof, Paul Werner Hoppe, „daß diese Männer sich freiwillig zur Dienstleistung im Großdeutschen Reich gemeldet haben. Viele von ihnen haben sich bereits im Bandeneinsatz hervorragend bewährt und sind entsprechend ausgezeichnet worden. Ich wünsche daher, daß die verantwortlichen SS-Führer, SS-Unterführer und SS-Männer ihre ganze Kraft einsetzen, um diesen Männern, die zunächst hier noch fremd sind, zu helfen und sie in jeder Weise zu unterstützen. Es liegt kein Grund vor, diese Männer etwa, nur weil sie vorläufig der deutschen Sprache noch nicht kundig sind, zweitrangig zu behandeln.“Footnote 28 Die Beteiligung der Trawniki-Männer an der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden wurde als Legitimation für deren fortgesetzte Verwendung im KZ-Dienst angesehen. Gleichfalls sollte aber vermieden werden, „für die vielen Angehörigen fremden Volkstums, welche wir heute unter dem Befehl der SS organisieren, die uns so teure und hochstehende Bezeichnung ,SS-Mann‘ zu verwenden“.Footnote 29

Zur Aufrechterhaltung der Dienstmoral von Trawniki-Männern griff die SS bisweilen zu drastischen Mitteln. In einem konkreten Fall richteten sie sich gegen einen sowjetischen Gefangenen im KZ Groß-Rosen Anfang Juni 1944, der einen ukrainischen Turmposten als Landesverräter beschimpft hatte. Um die Autorität der Trawniki-Männer, die in ähnlichen Fällen bereits um Schießerlaubnis gebeten hatten, wiederherzustellen, wurde ein öffentliches Exempel statuiert. Die Exekution des Häftlings sollte dazu dienen, „die Dienstfreudigkeit, Moral und Disziplin der ukrainischen Wachposten nicht“ zu gefährden.Footnote 30 Im KZ Mauthausen erstattete der Kommandant Franz Ziereis Strafanzeige gegen einen lokalen Fleischermeister, da dieser einen Trawniki-Wachmann „mit ,Du verfluchter und blöder Russe‘ beschimpft“ hatte.Footnote 31 Ein anderer Zwischenfall ereignete sich im KZ Buchenwald. Dort hatte im Juli 1943 „einer der ukrainischen Wachmänner unter den Häftlingen seinen Bruder erkannt […]. Da die Möglichkeit besteht, daß auch noch andere Männer der ukrainischen Wachmannschaften im Lager Familienangehörige oder Verwandte haben können, bringt der Sturmbann diesen Vorfall zur Kenntnis und erbittet weitere Weisungen, damit gleich von vornherein Zwischenfälle ausgeschaltet werden können.“Footnote 32 Der Wachmann gehörte vermutlich zur oben genannten Gruppe der Trawniki-Männer in der 8. Ukrainischen Wachkompanie in Auschwitz-Birkenau, die nach deren Auflösung nach Buchenwald versetzt worden waren.Footnote 33 Das Breyer-Verfahren, angebunden bei der Staatsanwaltschaft in Weiden/Oberpfalz,Footnote 34 setzte dahingehend auch einen Impuls zur Perspektiverweiterung auf die komplexen Interdependenzen und historischen Zusammenhänge im Personalgefüge der KZ-Wachmannschaften.

Zugleich bildeten die Ermittlungen gegen Johann Breyer einen Auftakt zur tieferen justiziellen Auseinandersetzung mit den zahlreichen „volksdeutschen SS-Freiwilligen“ im Dienst der SS-Totenkopfverbände. Insbesondere Freiwillige aus Kroatien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei, überwiegend in der zweiten Kriegshälfte rekrutiert, standen im Zentrum der Ermittlungen im letzten Jahrzehnt. Durch den Münsteraner Stutthof-Prozess gegen Johann Rehbogen Ende 2018 beispielsweise rückten diese Fragen auch in die öffentliche Berichterstattung und Wahrnehmung. Aber nicht nur die Diskussion über „Volksdeutsche“ in den SS-Totenkopfverbänden, sondern vor allem deren erheblicher Anteil geriet stärker in den Blick. Was sagt dies über den Charakter, das Handeln und die Gewalt der KZ-Wachmannschaften aus? Wie fügten sich eine Sozialisation außerhalb Deutschlands und seiner produzierten Feindbilder auf der einen Seite und der Dienst im Konzentrationslager auf der anderen Seite zusammen? Weder waren sie im NS-Staat aufgewachsen noch gehörten sie den Gliederungen der NSDAP wie SA und SS an. Welche Rolle spielte daher – wenn überhaupt – die NS-Ideologie in diesem Konstrukt? In der Konsequenz muss die (Selbst-)Darstellung der SS als vorgeblich rassistische „Elite“ deutlich stärker dekonstruiert werden. Noch immer wird ein homogenes Bild der SS beständig reproduziert, das es kritisch zu hinterfragen gilt. Die bewaffnete SS im Zweiten Weltkrieg – dies schließt die Feldeinheiten an der Front wie auch die Wachtruppen in den Lagern ein – war nicht nur ein sehr heterogener, sondern auch ein jenseits der nationalistischen und völkischen Propaganda stark multikulturell, multiethnisch und multireligiös beschaffener Gesamtverband. Dieser Widerspruch zwischen dominierender Praxis seit 1943 und fortgesetztem Narrativ einer „Eliteformation der Partei und […] wachsamen Hüterin des Reiches“Footnote 35 – so eine Stoffunterlage für den weltanschaulichen Unterricht im Konzentrationslager Anfang 1945 – muss historisch kontextualisiert und erklärt werden, waren doch tausende „volksdeutsche SS-Freiwillige“ in den KZ-Wachmannschaften weder Mitglieder der NSDAP noch deutsche Staatsangehörige.

Die Reihe der Studien zu „Volksdeutschen“ in der Waffen-SS hat zwar seit der Jahrtausendwende zugenommen, bleibt aber überschaubar.Footnote 36 Dabei waren mehr als die Hälfte aller Angehörigen der Waffen-SS Ausländer. Allein ein Drittel (inklusive KZ-Wachmannschaften) machten „volksdeutsche SS-Freiwillige“ überwiegend aus Südosteuropa aus. Von insgesamt 910.000 Mann in der Waffen-SS sollen bis zu 310.000 Volksdeutsche gewesen sein. Die größten Gruppen unter ihnen stellten Rumänen und Ungarn. Bereits Ende 1943 hätten 121.861 Volksdeutsche in der SS gedient, davon rund 50.000 Rumänen.Footnote 37 Zwischen Februar und Mai 1942 rekrutierte die Waffen-SS allein in Ungarn rund 16.500 Mann.Footnote 38 Vorausgegangen war eine Vereinbarung zwischen dem Deutschen Reich und Ungarn am 12. Februar 1942. Zu den Bedingungen gehörte u. a. das ausschließliche Prinzip der Freiwilligkeit der Rekruten. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass nicht mehr als 20.000 Mann im Alter von 18 bis 30 Jahren rekrutiert werden dürfen. Der Abtransport der Freiwilligen begann am 22. März 1942 und endete mit dem 12. Transport am 3. Mai 1942. Zu diesen Freiwilligen zählte auch Johann Rehbogen. Er gehörte dem 7. Transport an und verließ am 17. April 1942 mit 1510 Mann seine Geburts- und Heimatregion Bistritz. Genau jene, nämlich die „Volksdeutschen“, welche in den Konzentrationslagern – an der sogenannten inneren FrontFootnote 39 – dienten, bleiben in den Untersuchungen jedoch weitgehend ausgeblendet. Bis Oktober 1943 betrug der Anteil der „volksdeutschen“ SS-Männer im KZ-System mit rund 7000 Mann fast 47 Prozent, diese Quote sollte sich bis Mai 1945 nur unwesentlich ändern.Footnote 40

Eine weitere tiefgreifende Zäsur in der Personalpolitik bildete die Überstellung von Wehrmachtsoldaten in die KZ-Wachmannschaften ab 1944. Die Versetzungen der Soldaten in das KZ-System erfolgten in drei Etappen. Die frühesten Kommandierungen wurden ab Januar 1944 von der Luftwaffe veranlasst, gefolgt vom Heer ab Mai 1944 sowie von der Marine ab Sommer 1944. Eine nicht unwesentliche Zahl der Ermittlungen seit 2012 konzentrierte sich auf Beschuldigte, die zur Gruppe der ehemaligen Wehrmachtsoldaten gehörten. Noch in der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ wurden zwar die vielfältigen Einsatzebenen, Orte sowie das Ausmaß der Gewalt- und Mordbeteiligung von Wehrmachtsoldaten breit diskutiert, aber ihre Rolle als Wachmannschaften in den Konzentrationslagern ausgespart.Footnote 41 Zugleich konnten Justiz und Polizei nur bedingt auf publizierte Forschungen zurückgreifen, sodass auch hier der Impuls zur weiterführenden Beschäftigung von den Ermittlungen ausging.Footnote 42

Angesichts der Dimensionen des Personaltransfers zwischen Wehrmacht und SS überrascht dieses Desiderat. Etwa 20.000 Wehrmachtsoldaten, vermutlich sogar mehr, wurden in das KZ-System überstellt. Sie machten im Spätsommer 1944 zwischen 40 und 50 Prozent aller KZ-Wachmannschaften aus. Bis Ende August 1944 waren allein 7546 Luftwaffensoldaten an die Amtsgruppe D übergeben worden; 1779 davon versahen ihren Dienst im KZ Mauthausen, weitere 2274 im KZ Buchenwald.Footnote 43 Ein umfangreicher Einsatz von Heeresangehörigen im KZ-System wurde durch die Verfügung Hitlers im Mai 1944 ermöglicht, nach der „10 000 deutsche Soldaten, die von der Krim zurückgebracht wurden, als Bewachungsmannschaften zum Einsatz ungarischer Juden, KZ-Häftlinge usw. zur Verfügung zu stellen sind“.Footnote 44 Mit der Überstellung zu den SS-Totenkopfsturmbannen unterstanden die Soldaten der SS- und Polizeigerichtsbarkeit. Eine Ausnahme bildeten die Marineangehörigen, die weiterhin im Dienstverhältnis mit der Kriegsmarine standen. Sie werden daher nur selten in den Stärkemeldungen der SS-Totenkopfverbände aufgeführt. So betrug die SS-Personalstärke im KZ Neuengamme Ende März 1945 2211 SS-Männer (übernommene Wehrmachtsoldaten eingerechnet) und 444 Aufseherinnen. Zusätzlich versahen im März 1945 2072 Männer Wachdienst, die nicht der SS unterstanden und die überwiegend von der Marine gestellt wurden.Footnote 45

Durch die umfangreichen historischen Untersuchungen des Personalprofils von jeweils hunderten Personen pro Verfahren gehen zahlreiche Erkenntnisse weit über den bisherigen Wissensstand hinaus. Zum einen wurden nicht nur – so lautete die VereinbarungFootnote 46 – ältere und bedingt kriegsverwendungsfähige, sondern auch jüngere und voll fronttaugliche Männer übernommen. Ebenso erfolgte der Personaleinsatz keinesfalls unstrukturiert, ganz im Gegenteil gestalteten sich Verteilung und Einsatz der Alterskohorten streng proportioniert und nach dienstlichen Erfordernissen organisiert. So wurden etwa im KZ Stutthof die 18- bis 21-jährigen Wehrmachtsoldaten mehrheitlich der 1. Kompanie zugeordnet, die mittlere Alterskohorte (bis 35 Jahre) überwiegend der 2. Kompanie und die älteren Soldaten vor allem der 3. Kompanie. Die 1. Kompanie fungierte als Stammeinheit, die nahezu ausschließlich im Hauptlager eingesetzt wurde. Jene Männer wurden auch herangezogen, wenn es den SS-Totenkopfsturmbann bei externen Besuchen des Konzentrationslagers zu repräsentieren galt.

Zum anderen erscheinen auch die Versetzungen der Soldaten in den Dienstbereich der SS in einem anderen Licht. Offenbar spielten Zufall und Willkür eine deutlich marginalere Rolle. Neben dem gewünschten Aspekt der FreiwilligkeitFootnote 47 fallen vor allem die teils langjährigen Gewaltsozialisationen wie auch SS- und NSDAP-Mitgliedschaften der analysierten Gruppen auf. Zahlreiche Wehrmachtsoldaten hatten sich bei Verbänden im rückwärtigen Operationsgebiet und Besatzungstruppen, bei der Bewachung von Kriegsgefangenenlagern oder im „Bandenkampf“ (oftmals Synonym für Gewaltverbrechen gegen die – vielfach jüdische – Zivilbevölkerung) „bewährt“. Andere waren an diversen Sturmangriffen und Nahkämpfen beteiligt gewesen (und dabei häufig verwundet worden) oder ausgebildete Scharfschützen. Während ihrer Dienstzeit bewachten Soldaten der Wehrmacht – darunter auch Beschuldigte der letzten zehn Jahre – nachweislich Vernichtungstransporte nach Auschwitz-Birkenau.Footnote 48

Das mit Abstand größte Desiderat betrifft die Rolle der Zivilbeschäftigten der SS. Lediglich zum uniformierten weiblichen Personal – hierzu zählten Aufseherinnen sowie Angehörige des SS-Helferinnenkorps – liegen mittlerweile umfangreichere Studien vor.Footnote 49 Das SS-Helferinnenkorps wurde 1942 „als Schwesterorganisation der Schutzstaffel“ gegründet.Footnote 50 Als SS-Helferinnen wurden Frauen bezeichnet, die auf der Reichsschule-SS in Oberehnheim ausgebildet und daraufhin per Gelöbnis in die Waffen-SS und in die von Heinrich Himmler erdachte „Sippengemeinschaft“ aufgenommen wurden.Footnote 51 Ab 1943 waren SS-Helferinnen auf Dienststellen der SS und Sicherheitspolizei (Sipo) tätig; sie wurden z. B. als Funkerinnen, Fernsprecherinnen oder Fernschreiberinnen eingesetzt. Mindestens 2800 Frauen sind nach Oberehnheim entsandt worden, knapp 2400 von ihnen wurden in die Waffen-SS aufgenommen.Footnote 52

Nach 1945 sind vor allem Aufseherinnen in den Fokus strafrechtlicher Ermittlungen gerückt, wodurch eine entsprechend breitere Quellenlage existiert. Im Unterschied zu den SS-Helferinnen gehörten sie nicht der „Sippengemeinschaft“ an, sondern waren als Gefolgschaftsmitglieder bei der SS angestellt. Zu einer großen Zahl von Aufseherinnen, welche in den KZ Lichtenburg und Ravensbrück ihren Dienst angetreten hatten, liegen Belege vor, wonach sie sich u. a. auf eine Zeitungsannonce freiwillig zum KZ-Dienst meldeten.Footnote 53 Auch Elisabeth Niedenführ richtete ein Schreiben an das KZ Groß-Rosen und fragte noch am 15. Dezember 1944 „höflichst an, ob ich als SS Aufseherin eintreten könnte“.Footnote 54 Nur vier Tage später erhielt sie von dem dortigen Kommandanten Johannes Hassebroek die Zusage.Footnote 55 Am 1. Januar 1945 zählte das KZ-System 36.487 SS-Männer und 3482 Aufseherinnen gegenüber 508.126 männlichen und 198.522 weiblichen Häftlingen.Footnote 56 Aufgrund der Fluktuation bis 1945 lag die Gesamtziffer deutlich höher, mindestens 3500 Frauen hatten über kürzere oder längere Zeit als Aufseherinnen allein im KZ Ravensbrück gedient.

Anstellungen von nichtuniformierten Zivilbeschäftigten der SS gingen ebenfalls auf deren Eigeninitiative, Anwerbungen und/oder die Vermittlung durch Arbeitsämter zurück. Sie arbeiteten vornehmlich als Schreibkräfte und Stenotypistinnen, Fernschreiberinnen, Telefonistinnen, Kontoristinnen und Sachbearbeiterinnen. Für SS-Dienststellen sind zahlreiche Fälle belegt, in denen Verwaltungsangestellte auf eigenen Wunsch eine dortige Beschäftigung begannen und ebenso wieder aus dem Dienstverhältnis ausschieden. Sie standen in demselben Dienstverhältnis wie die Aufseherinnen, unterlagen ebenfalls der SS- und Polizeigerichtbarkeit und mussten auch eine Heiratsgenehmigung beim Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) einholen. Damit waren die weiblichen Zivilangestellten der SS in vielen Belangen den SS-Angehörigen gleichgestellt. Als Reichsangestellte wurden sie nach der Tarifordnung A für Gefolgschaftsmitglieder im öffentlichen Dienst (Angestellte) (TO.A.) vergütet.

Bei der Einstellung von weiblichen Gefolgschaftsmitgliedern in Dienststellen der SS kamen sowohl allgemeine zeitgenössische Anforderungen des öffentlichen Dienstes bzw. der staatlichen Arbeitskräftepolitik als auch organisationsspezifische Ansprüche der SS zum Tragen. Aus den überlieferten „Richtlinien für die Bearbeitung von Personalangelegenheiten der Zivilangestellten“ des SS-WVHA geht etwa die Relevanz der beruflichen Qualifikation des Gefolgschaftsmitglieds (abgesehen von Aufseherinnen) sowie ihrer politischen Eignung hervor. Sie verdeutlichen aber auch, dass die Frauen explizit ihr Einverständnis zu ihrer Anstellung zu geben hatten.Footnote 57

Vielfach findet sich in Nachkriegsvernehmungen die Entlastungsaussage, dass die Tätigkeit auf einer Dienstverpflichtung durch das zuständige Arbeitsamt beruhte. Im Nationalsozialismus übernahmen Arbeitsämter zunehmend Funktionen in der staatlichen Arbeitskräftelenkung. Die Dienstverpflichtung ist aber zunächst vor allem als eine verwaltungstechnische Maßnahme zu betrachten. So wurden beispielsweise Männer, die sich bei den für sie zuständigen Stellen des Ergänzungsamtes der Waffen-SS freiwillig meldeten, über die Notdienstverordnung zu den KZ-Wachmannschaften einberufen.Footnote 58 Auch die Einberufung der SS-Helferinnen, die sich freiwillig zur Waffen-SS meldeten, erfolgte über den Weg der Notdienstverpflichtung. Entsprechend lässt das Vorliegen einer Dienstverpflichtung keine Schlussfolgerungen über die Freiwilligkeit bzw. Nicht-Freiwilligkeit einer Beschäftigung zu. Wurde die Dienstverpflichtung zum Zweck der Arbeitskräftelenkung eingesetzt und entsprechend gegenüber berufstätigen bzw. meldepflichtigen Frauen ausgesprochen, bedeutete dies noch keinen Abschluss eines Dienstvertrages. Die betreffenden Frauen konnten sich gemäß den Richtlinien für Zivilangestellte des SS-WVHA für oder gegen eine Anstellung in einem Konzentrationslager entscheiden.

In summa versahen tausende Frauen als Zivilangestellte der SS ihren Dienst in den Konzentrationslagern, darunter in den verschiedenen Abteilungen des Kommandanturstabes oder in den SS-eigenen Betrieben. Durch diverse Verpflichtungserklärungen, darunter auch im Umgang mit Verschlusssachen, wird offenkundig, dass diese Frauen nicht am Rande, sondern in den Schaltzentralen der SS zentrale Kommunikationsschnittstellen ausfüllten und übernahmen. Ihre Rolle kann daher für die Funktionsweise und die Gewährleistung der täglichen Abläufe kaum unterschätzt werden.

3 Inkorporation und Verbrechen

Wie wurden aber die neuen SS-Wachmannschaften und Frauen langfristig in den KZ-Dienst integriert? Diese Aufgabe wie die fortwährende Betreuung der verschiedenen Gruppen in den Lagern übernahm die Abteilung VI „Fürsorge und Weltanschauliche Schulung“, die bis zu den Verfahren der „Spätverfolgung“ in der NS-Forschung eine geringere Rolle gespielt hatte.Footnote 59 Die Abteilung VI war ab März 1941 als neues Department des Kommandanturstabs in jedem Konzentrationslager eingerichtet worden. Mit der steigenden Zahl an Wachmännern aus Ost- und Südosteuropa startete das SS-WVHA 1943 ein Programm zur gezielten Fürsorge der „volksdeutschen“ Rekruten. Das Hauptaugenmerk galt vorerst den „Rumäniendeutschen“, die bis Ende 1943 die größte Gruppe bildeten. Mit der Übernahme von Wehrmachtsoldaten in größerer Zahl sowie den steigenden Zahlen von weiblichen Zivilangestellten und SS-Helferinnen wurden auch diese dezidiert in die Betreuungs- und Schulungsarbeit einbezogen. In Auschwitz wurden etwa separate Schulungen für die weiblichen Angestellten der SS organisiert, sie konnten an Truppenbetreuungsveranstaltungen und Sportkursen teilnehmen oder Bücher der Abteilung VI erwerben.Footnote 60

Zur verstärkten Betreuung der „volksdeutschen“ SS-Angehörigen gehörte die Zuweisung von „Volksdeutschen“ an die Amtsgruppe D (bis 1942 Inspektion der Konzentrationslager) im SS-WVHA und die einzelnen Abteilungen VI in den Lagern.Footnote 61 Dies schloss die Unterstützung bei Fragen des Dienstalltags, des Kontakts mit den Angehörigen in den Heimatländern, aber auch Kultur- und Vortragsveranstaltungen sowie Schulungen vom Geschichts- bis zum Mathematik- und Sprachunterricht ein. Zugleich wurde der Transformation der SS-Wachtruppen Rechnung getragen. In semantischer Erweiterung verschmolzen die Begriffe Schutzstaffel (SS) und Europa zu einer Einheit. Zu den Themen der SS-Handblätter ab 1943 gehörten „Europa in Gefahr“, „Die SS, Stoßtrupp für das neue Europa“ und „Unser Ziel – ein starkes und einiges Europa“, die klar den europäischen Charakter der Waffen-SS berücksichtigten.Footnote 62 Die Multinationalität und -ethnizität der SS-Totenkopfsturmbanne sowie die Nivellierung rassistischer Rekrutierungskriterien führten zur Veränderung der Unterrichtsinhalte.

Zur Legitimation und Inkorporation der „Volksdeutschen“ musste daher das bestehende Bild der SS als nationale Parteiformation der NSDAP angepasst werden. Im Kontext der Erweiterung „von der germanischen zur europäischen Aufgabe“Footnote 63 darf indes nicht der Status der neuen Rekruten vergessen werden. Die meisten „Volksdeutschen“, die im Dienst der Waffen-SS standen und sowohl in deren Feldeinheiten kämpften als auch in den KZ-Wachmannschaften eingesetzt wurden, waren keine deutschen Staatsbürger – also keine „Reichsdeutschen“ – und damit keine Mitglieder der SS oder NSDAP. Einer Aufnahme in die SS würden sie laut Oswald Pohl, Chef des SS-WVHA und damit oberster Dienstherr des KZ-Systems, schon aus „rassischen“ Gründen nicht genügen.Footnote 64

Die Kategorisierung der „Volksdeutschen“ folgte dabei einer Fremdzuschreibung durch die NS-Führung und SS-Rekrutierungsbezirke. Demzufolge sind damalige und retrospektive Gruppenzuordnungen wie beispielsweise „Rumäniendeutsche“ unscharf, da sie nicht der transnationalen Komponente und nicht zwangsläufig der Eigenwahrnehmung der „Volksdeutschen“ Rechnung tragen. So erstreckte sich die Gruppe der sogenannten Banater Schwaben auf Regionen in Rumänien, im ehemaligen Jugoslawien und in kleinen Teilen sogar in Ungarn. Darüber hinaus folgte die Rekrutierungslogik der SS auch nicht stringent der Herkunft der Rekruten. „Volksdeutsche“, die u. a. in den USA geboren worden waren, wurden fortgesetzt als „Ungarndeutsche“, „Rumäniendeutsche“ oder „Volksdeutsche“ aus der Slowakei verzeichnet. Zu den wichtigsten Dienststellen der Waffen-SS für „Volksdeutsche“ aus Südosteuropa gehörten neben dem zentralen Ersatzkommando „Südost“ in Wien (später Ersatzinspektion „Südost“) die Zweigstellen in Agram (Kroatien), Budapest (Ungarn), Kronstadt (Rumänien) und Preßburg (Slowakei). Diese regionalen SS-Ersatzkommandos arbeiteten wiederum eng mit den jeweiligen Volksgruppenführern zusammen: Branimir Altgayer (Kroatien), Franz Anton Basch (Ungarn), Andreas Schmidt (Rumänien) und Franz Karmasin (Slowakei). Diese mitunter komplexen zwischenstaatlichen wie interregionalen Verflechtungen und Aushandlungsprozesse sind für das Verständnis des Personalsystems in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern insbesondere in der zweiten Kriegshälfte unerlässlich. Zugleich beeinflussten sie tiefgreifend Dienstalltag und Abläufe, angefangen von Personalschlüssel und Kompanieeinteilungen nach ethnischer Herkunft über SS-Fürsorgestellen in den Lagern und Heimatgebieten, Regelungen zu Urlaubzeiten und Auslandsreisen bis hin zu integrativen Truppenbetreuungen und gezielten Maßnahmen zur Hebung der Truppenmoral.

Basis für den Masseneinsatz von „Volksdeutschen“ im KZ-System wie auch in den Feldeinheiten der Waffen-SS ab 1942 bildeten konzertierte Verhandlungen des Auswärtigen Amtes mit ihren Verbündeten Ungarn und Rumänien und den Marionettenregierungen in Kroatien und der Slowakei. Im Falle Ungarns beispielsweise folgte nach einer ersten illegalen Werbeaktion der Waffen-SS ab 1941 am 12. Februar 1942 eine Vereinbarung zur Rekrutierung von „Volksdeutschen“. Zu den Bedingungen gehörte u. a. das ausschließliche Prinzip der Freiwilligkeit der Rekruten. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass nicht mehr als 20.000 Mann im Alter von 18 bis 30 Jahren rekrutiert werden dürfen. Die Vereinbarung trat am 24. Februar 1942 in Kraft; tatsächlich hatten die Musterungskommissionen der SS aber bereits um den 8./9. Februar 1942 ihre Arbeit aufgenommen. Der Abtransport der Freiwilligen begann am 22. März 1942 und endete mit dem 12. Transport am 3. Mai 1942. Von den insgesamt 17.860 für tauglich befundenen Freiwilligen wurden 16.527 bis zum 3. Mai 1942 einberufen und an verschiedene Ausbildungsstandorte verlegt. Weitere 7849 Männer, die sich für den Dienst in der Waffen-SS beworben hatten, wurden als untauglich abgewiesen.Footnote 65 Die stärkste Resonanz war in den Regionen Batschka, Schwäbische Türkei und Siebenbürgen. Dort meldeten sich die meisten Freiwilligen teils mit hoher Begeisterung. Zugleich waren darunter Regionen, die von den Grenzverschiebungen bis Anfang der 1940er-Jahre am stärksten betroffen waren. Der Kreis um Bistritz im Nordosten von Siebenbürgen beispielsweise gehörte bis 1919 zu Österreich-Ungarn. Infolge des Ersten Weltkriegs ging Bistritz zwischen 1919 und 1940 an Rumänien über, mit dem 2. Wiener Schiedsspruch bis 1944 erneut an Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Region wiederum Teil Rumäniens. SS-Freiwillige aus dieser Region waren dementsprechend bis 1940 rumänische Staatsbürger, zum Zeitpunkt ihrer Rekrutierung für die Waffen-SS indes ungarische Staatsbürger. In den Unterlagen der Waffen-SS wurden sie daher als sogenannte Volksdeutsche aus Ungarn geführt. Der Einsatz von „volksdeutschen SS-Freiwilligen“ in den Konzentrationslagern muss daher zu einem hohen Grad als transnationale Verflechtungsgeschichte gelesen werden.

Eine entscheidende Frage in den Verfahren war unweigerlich mit diesem vielschichtigen Personalsystem und ex causa mit dieser heterogenen Personalstruktur verbunden: In welchem Umfang und aus welchen Antriebskräften beteiligten sich diese neuen Wachmannschaften an den Gewaltverbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern? Mit dem Buch der „unnatürlichen Todesfälle“ des KZ-Komplexes Mauthausen, das – im Gegensatz zu anderen Konzentrationslagern – vollständig erhalten ist, liegt eine wichtige Quelle vor, um Gewalt- und insbesondere Mordbeteiligung der Wachmannschaften jenseits subjektiver Wahrnehmungen und Erinnerungen belastbar zu operationalisieren.Footnote 66 Dessen Analyse zeigt, dass die Beteiligung der einzelnen Bewachergruppen an den „Erschießungen auf der Flucht“ ungefähr ihrem Truppenanteil am gesamten Lagerpersonal entsprach. Damit stellten altgediente SS-Kader die absolute Minderheit. Bis auf eine Ausnahme hatte kein Todesschütze in den SS-Totenkopfverbänden der Vorkriegszeit gedient. Die absolute Mehrheit machten unterdessen „volksdeutsche SS-Freiwillige“, Wehrmachtsoldaten und „fremdvölkische Hilfswillige“ aus. Sie erschossen über 80 Prozent der Häftlinge „auf der Flucht“. Die neuen Wachmannschaften beteiligten sich zwar nicht stärker, aber nichtsdestotrotz im gleichen Maße an den Verbrechen wie die altgedienten und gewalterfahrenen SS-Kader. Damit setzte sich der mörderische Alltag – unabhängig von der tiefgreifenden Transformation des Personals – ungebrochen fort.

4 Auswege

Mussten sich diese Männer an diesen Gewalthandlungen beteiligen oder hatten sie gar die Möglichkeit, den Gewalträumen der Lager zu entfliehen bzw. sich aus diesen versetzen zu lassen? Bis zur Gegenwart hält sich in der Gesellschaft die Auffassung, all jene zehntausende Männer und Frauen im SS-Dienst des KZ-Systems hätten keine Wahl gehabt, wären gar zum Dienst gezwungen worden, hätten bei einem Versetzungsgesuch um ihr Leib und Leben fürchten müssten, wären mindestens selbst als Häftlinge in die Konzentrationslager eingewiesen worden.Footnote 67 Sie hätten demnach den schweren Dienst versehen müssen, um selbst zu überleben. Aber war dem so?

Die Antwort ist unbequem: Sie hatten eine Wahl, und sie hatten enorme Handlungsräume. Es ist kein Fall bekannt, wonach Männer wie Frauen, welche sich erfolgreich dem Lagerdienst entzogen haben, eine Strafe befürchten mussten oder gar erhalten haben.Footnote 68 Das Spektrum der Optionen reichte von Entlassungsgesuchen über Versetzungsanträge, freiwillige Meldungen zu den Feldeinheiten der Waffen-SS, Rückversetzungen zu den Wehrmachtseinheiten bis hin zu Neuvermittlungen durch Arbeitsämter und Tätigkeiten in der Rüstungsindustrie. Auf diese Aspekte richtete sich ein besonderes Interesse der Justiz, zugleich tauchten durch die zunehmende Sensibilisierung für diese Fragestellungen immer mehr Beispiele für das Ausscheren von Männern und Frauen aus dem KZ-Dienst auf. Diverse Entlassungsgesuche liegen etwa für den Bereich der Zivilangestellten der SS vor. Beispielsweise schied Annelies Pajonk Mitte Februar 1942 aus dem RuSHA „entsprechend Ihrem Antrag vom 4. Februar 1942“ aus. Sie war zunächst ab Januar 1942 im Verwaltungsamt des RuSHA als Stenotypistin eingestellt worden und wurde in gleicher Funktion wenige Wochen später zum dortigen Sippenamt versetzt.Footnote 69 Genehmigt wurde auch die Kündigung von Helga Kroll, Stenotypistin beim Chef des Fernmeldewesens der SS, im Juni 1943. Zuvor hatte sie bereits in einem Schreiben an ihren Vorgesetzten ihrer Unzufriedenheit mit ihrer Tätigkeit Ausdruck gegeben: „Darum weiss ich es auch jetzt nur zu genau, daß ich nie eine gute Stenotypistin werden kann, weil mir erstens die Grundlage fehlt, und zweitens die Freude an dieser Arbeit.“Footnote 70 Im KZ Stutthof meldeten sich 1944 die Brüder Anton Possmayer und Josef Possmayer freiwillig zu den Feldeinheiten, Anton Possmayer angeblich, um „mehr sehen u. lernen“ zu können. Josef Possmayer hatte allerdings bereits im Herbst 1943 versucht, aus dem SS-Totenkopfsturmbann Stutthof entlassen zu werden.Footnote 71 Ebenfalls 1944 in Stutthof schied der Heeressoldat Eugen Ichnowski nach nur wenigen Wochen Dienst aus der SS aus und kehrte zu seiner Wehrmachtseinheit zurück. Zuvor hatte ihm der Kompanieführer bescheinigt, „im Kameradenkreise wenig beliebt“ zu sein und „von einer Dienstfreudigkeit nichts zu verspüren.“Footnote 72 Aus den Regiments-Tagesbefehlen des Rekruten-Depots der Waffen-SS Debica (eine Sammel-, Ausbildung- und Verteilerstelle für „volksdeutsche SS-Freiwillige“ aus Südosteuropa) geht mehrfach hervor, dass u. a. im Frühjahr 1942 zahlreiche „Volksdeutsche“ aus Ungarn ohne Meldung und Musterung mit den Transporten der Rekruten nach Wien und von dort zum SS-Truppenübungsplatz Debica/Heidelager mitfuhren. Den „Schwarzfahrern“ war es freigestellt, nach Feststellung und nachgeholter Musterung in der Waffen-SS zu verbleiben, in ein Arbeitsverhältnis durch das Arbeitsamt vermittelt zu werden oder über Wien in ihre Heimat zurückzukehren.Footnote 73

Eine extreme Form, sich dem KZ-Dienst zu entziehen, stellte der Freitod dar. Wenngleich sehr selten, offenbaren die erhaltenen Personalakten zu Suiziden ablehnende Haltungen und verstörende Eindrücke der betreffenden SS-Männer. Der „volksdeutsche“ SS-Schütze Anton Bartosch (Kremnitz, Slowakei) zum Beispiel diente seit Mitte April 1943 als Wachmann im SS-Totenkopfsturmbann Stutthof. Nach seiner Ausbildung und weiteren zwei Monaten Dienst in Stutthof erschoss er sich am 28. Juli 1943 morgens mit dem Karabiner in seiner Stube. Die SS setzte protokollarisch Ermittlungen ein, die vom Schreiber des SS-Gerichtsführers in Stutthof begleitet wurden. Standardgemäß wurden Fotografien vom Tatort angefertigt sowie mehrere Zeugen vernommen, die mit Bartosch in der 1. Kompanie eingesetzt waren und sich mit dem Toten die Unterkunft geteilt hatten. Aus den Vernehmungen lassen sich keine besonderen Rückschlüsse zum Verhalten schließen; laut Aussagen seiner „Kameraden“ gab es keine Konflikte oder Vorkommnisse mit Anton Bartosch, er soll unauffällig gewesen sein und sich nach seinem Dienstantritt in Stutthof sukzessive zurückgezogen haben.Footnote 74 Schon vor seinem Freitod habe Anton Bartosch über Magenbeschwerden, Durchfall, Herz- und Lungenschmerzen geklagt und war vom SS-Standortarzt untersucht worden, der ihn abschließend Mitte Juli 1943 für einen Simulanten hielt.Footnote 75 Dass diese Beschwerden möglicherweise psychosomatisch bedingt waren, kam in den Denkkategorien seiner Vorgesetzten und SS-Ärzte offenbar nicht vor. Eine Erklärung für den Freitod war indes schnell gefunden. Der Lagerkommandant Paul Werner Hoppe funkte noch am Todestag an die Zentrale in Oranienburg: „Das Motiv zur Tat ist in Schwermut und zeitweiser geistiger Verwirrung zu suchen.“Footnote 76 Im Bericht der SS-Gerichtsabteilung Stutthof ist von einem „schwachen willenslosen Menschen“ die Rede.Footnote 77 Der Kompanieführer attestierte ihm nachträglich, „weltanschaulich nicht ausreichend gefestigt“ gewesen zu sein.Footnote 78 Dies alles sind verschiedene Chiffren der SS für einen Menschen, der dem Gewaltraum in einem Konzentrationslager nicht gewachsen gewesen war und aufgrund seines Freitods schwach, unpolitisch und/oder geisteskrank gewesen sein muss. Allerdings vermerkte das Danziger SS- und Polizeigericht en passant, dass das Verhalten von Anton Bartosch letztlich Reaktionen „auf ein unliebsames Erlebnis“ gewesen sein können.Footnote 79 Es bleibt aber bei dieser verklausulierten Äußerung und daher völlig unklar, welches Erlebnis gemeint war. Da das Gros der SS-Männer in Stutthof augenscheinlich kein Problem mit dem Lagerdienst hatte, gab es seitens der SS auch kein Bewusstsein für moralische Bedenken in der Truppe. Die SS-Führung reagierte so, wie sie es in solchen Fällen meistens tat, und bestattete den Toten Anton Bartosch mit militärischen Ehren am 31. Juli 1943.Footnote 80

In der Mehrheit artikulierte sich der Wunsch, nicht weiter im KZ-System eingesetzt zu werden, in Versetzungsgesuchen insbesondere zu Feldeinheiten der Waffen-SS. Seit Kriegsbeginn, verstärkt aber seit 1941 waren jederzeit freiwillige Meldungen zur Front möglich und sogar erwünscht.Footnote 81 1944 ergingen mehrere Anfragen an die Konzentrationslager, SS-Männer für den Frontdienst freizusetzen. Allein Anfang August 1944 forderte SS-Chef Heinrich Himmler den Austausch von 1000 KZ-Wachmannschaften für den Fronteinsatz.Footnote 82 Zum September 1944 fanden großangelegte und tiefgreifende Austauschaktionen im gesamten KZ-System – darunter 500 SS-Unterführer und Männer aus Auschwitz und 200 aus SachsenhausenFootnote 83 – statt. Die Versetzungen von SS-Wachmannschaften erfolgten 1944 und 1945 vornehmlich zum SS-Truppenübungsplatz „Kurmark“ bei Lieberose, der als Drehscheibe für das KZ-Personal fungierte (1944 u. a. für die 17. SS-Panzergrenadier-Division „Götz von Berlichingen“, 1945 für die 32. SS-Freiwilligen-Grenadier-Division „30. Januar“). In den letzten Kriegsmonaten wurden zudem zahlreiche langgediente Funktionskader aus dem KZ-System zum SS-Panzer-Grenadier-Ersatz-Bataillon 18 nach Breslau versetzt, das als Sammelbecken der Lager-SS für einen künftigen Fronteinsatz fungierte. Dazu gehörten der Kommandant des KZ Herzogenbusch Adam Grünewald, der Gruppenleiter D (Konzentrationslager) beim SS-Wirtschafter des HSSPF „Ostland“ Wilhelm Schitli, der Adjutant des KZ Dachau Eugen Illig, der Standortführer des Dachauer Außenlagerkomplexes Kaufering Heinrich Forster und andere mehr. Unter den abgegebenen SS-Männern in der zweiten Kriegshälfte befand sich ein signifikanter Anteil des Kernpersonals wie Rapportführer, Schutzhaftlagerführer, Adjutanten, Führer der SS-Wachbataillone der Lager oder gar Lagerkommandanten selbst.Footnote 84

Aber auch diese Frontmeldungen bildeten Ausnahmen und nicht die Regel. Für das Gros der SS-Wachmannschaften sind weder Versetzungsgesuche noch Ablehnungen zum KZ-Dienst überliefert. Möglicherweise bildet diese Feststellung die größte Irritation, nämlich die Erkenntnis, dass unabhängig von nationaler, ethnischer, religiöser und sozialer Herkunft, von Bildung oder Mitgliedschaft in den NS-Organisationen der Dienst in einem Konzentrationslager inmitten von Gewalt und Mord offensichtlich kaum oder keinen Anstoß fand.

5 Was bleibt?

Bereits in den 1950er-Jahren hatten Zeitgenossen die Strafverfolgung von NS-Verbrechen als „späte Prozesse“ empfunden.Footnote 85 Es wäre daher zu hinterfragen, nach welchen – zumindest historischen – Kriterien wir die Verfahren der letzten zehn bis 15 Jahre retrospektiv als Spätverfolgung charakterisieren und welche Perspektiven diese begriffliche Eingrenzung ein- bzw. ausschließt. Ganz unabhängig davon haben die intensiven Forschungen im Rahmen der Verfahren wegen Beihilfe zum Mord in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern seit 2012 auf zahlreichen Ebenen neue Erkenntnisse und Impulse für weiterführende Arbeiten hervorgebracht.

Es waren vor allem juristische Erfordernisse und konkrete Ermittlungsfragen, welche zum Teil eklatante Leerstellen sichtbar machten und den Anstoß für vertiefende empirische Forschungen anregten. So wurden Standardwerke zur Rolle von nicht-uniformierten Zivilbeschäftigten im KZ-System vergebens gesucht. Aber auch scheinbar profane Dimensionen von Täterschaft führten in der Forschungslandschaft ein Schattendasein. Dazu gehören etwa Fragen nach der Struktur und Organisation von Alltag, nach Dienstzeiten und spezifischen Abläufen zwischen den Statusgruppen in den Konzentrationslagern, nach „Arbeitsplatzbeschreibungen“, individuellen Aufgaben und inhaltlichen Zuständigkeiten, nach Formen der kooperativen Zusammenarbeit und Funktionsnetzwerken, aber auch nach den Wegen in den Lagerkosmos und möglichen Auswegen aus dem Gewaltraum. Letztlich sind es vermeintlich detailversessene Fragestellungen, welche zwar anscheinend nicht der Erklärung der großen Linien dienen, jedoch bei genauerer Betrachtung erst das notwendige Netz aufspannen, um überhaupt quellengestützt jene Linien zeichnen zu können. Können wir also nicht belastbar den Alltag in seinen vielschichtigen Dimensionen und Interdependenzen erklären, können wir genauso wenig über vorgebliche Handlungsräume und die Rollen der Einzelnen sprechen. Diese Aspekte sind daher keineswegs erschöpfend beantwortet und bleiben künftigen Forschungsarbeiten weiterhin vorbehalten.

Das breite Spektrum der Beschuldigten von sogenannten reichsdeutschen SS-Unterführern und SS-Mitgliedern, „volksdeutschen SS-Freiwilligen“, über Angehörige der Wehrmacht bis zu Aufseherinnen im Gefolge der Waffen-SS und Zivilbeschäftigten der SS spiegelt zugleich die zunehmende Heterogenität des Lagerpersonals in der zweiten Kriegshälfte wider. Diese Gruppen stellten nicht die Minorität, sondern die Mehrheit des Personals im KZ-System dar, allein „Volksdeutsche“ und Wehrmachtsoldaten vereinten 90 Prozent aller KZ-Wachmannschaften im Sommer 1944. Ohne sie war der wachsende Gewaltapparat weder zu kontrollieren noch aufrecht zu erhalten. Im Zentrum der kritischen Beschäftigung und fachgutachterlichen Auseinandersetzung mit zehntausenden Personen im Konzentrationslagersystem standen daher nicht nur die verschiedenen Gruppen und Abteilungen in den Lagern, sondern vor allem Inkorporation, Dienstalltag und arbeitsteilige Integration in Gewalt und Mord. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass das Gros dieser Männer und Frauen weder der NSDAP noch der SS angehörte. Was bleibt, ist die Frage, wie und warum trotz personeller Transformationen Gewalt und Mord in den Konzentrationslagern kontinuierlich eskalierten und entgrenzten und zu Hundertausenden von Toten 1944 und 1945 führten.

Nicht alle Ebenen konnten in diesem Beitrag betrachtet werden. Die Organisation des Massenraubs in den Lagern und insbesondere in den Mordzentren wie Auschwitz-Birkenau, darüber hinaus die persönliche Bereicherung und Korruption durch SS-Angehörige und Zivilisten gehören dazu genauso wie die strukturelle Einbindung von Auschwitz in die eingangs genannte „Aktion Reinhard(t)“. Diese Punkte rückten vor allem im Lüneburger Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning in den Fokus.Footnote 86 In einem weiteren Auschwitz-Prozess gegen Reinhold Hanning in Detmold interessierte der mitnichten unsystematische oder zufällige Transfer zwischen den Feldeinheiten der Waffen-SS und den KZ-Wachmannschaften, also die umgekehrte Versetzung von der Front in das Konzentrationslager.Footnote 87 Das Verfahren legte das mehrdimensionale Personalsystem offen, das Sammeln und Verteilen von – in diesem Falle meist verwundeten SS-Männern – in Ersatzeinheiten der Waffen-SS und der gezielte Transfer in die Konzentrationslager zur Verstärkung der mittleren Führungsebene (Gruppen- und Zugführer) in den Wachkompanien. Im Falle des Detmolder Verfahrens wechselten sie vom SS-Ersatz-Bataillon „Der Führer“ (Ersatzeinheit der SS-Division „Reich“) in Stralsund nach Auschwitz. Bei der SS-Kaserne in Stralsund wiederum handelte es sich um eine 1939 geräumte Landesheilanstalt. Die „unheilbar Geisteskranken“ der Anstalt waren von Oktober bis Dezember 1939 über Lauenburg nach Neustadt deportiert und in den Wäldern von Piaśnica durch den SS-Wachsturmbann „E“ unter Leitung von Kurt Eimann erschossen worden. Sie zählten zu den ersten „Euthanasie“-Opfern im Dritten Reich. Der Höhere SS- und Polizeiführer von Danzig-Westpreußen lobte daraufhin die „Beseitigung von 1400 unheilbar Geisteskranken aus pommerschen Irrenanstalten“ und weitere Massenmorde des Sturmbanns.Footnote 88 Die Angehörigen dieser Einheit stellten im Anschluss eine große Zahl des Wach- und Kernpersonals des KZ Stutthof, darunter der Stabsführer des Wachsturmbanns „E“ und spätere Kommandant in StutthofMax Pauly. Diese komplexen Verflechtungen zeigen das Ineinandergreifen nicht nur der historischen Zusammenhänge der verschiedenen Verfahren, sondern auch der tiefgreifenden Gewaltsozialisation des Lagerpersonals vor dem KZ-Dienst und der Herausbildung einer perpetuierenden Tötungsarbeit von Mordexperten im KZ-System.Footnote 89

Die Geschichte des Nationalsozialismus ist nicht ausgeforscht. Die aufgeworfenen Fragen lohnen für eine fortgesetzte kritische Auseinandersetzung und können als Anregung für weiterführende Studien verstanden werden. Insbesondere die Interdependenzen von zeithistorischer Forschung, juristischer Zeitgeschichte und sogenannter Spätverfolgung bieten neue Perspektiven auf Beteiligte und Statusgruppen in den NS-Gewalträumen und hierin auf deren heterogtene Disposition, Sozialgefüge und konkrete Alltagswelten.