Die Erfahrungen mit der Mediation im Familienrecht zeigen, dass sich Verfahren der konsensualen Konfliktlösung durchaus als mindestens gleichwertige Alternative neben dem klassischen Gerichtsverfahren etablieren können. Das Familienrecht hat in Deutschland seit langem eine Vorreiterrolle für die Nutzung formaler Mediation und mediativer Ansätze eingenommen. Bereits seit den 1980er-Jahren besteht in diesem Bereich großes Interesse an der Mediation mit entsprechend steigenden Fallzahlen.Footnote 1 Auch wenn keine offiziellen Statistiken dahingehend vorliegen, wie viele Familienkonflikte jährlich durch Mediation gelöst werden und wie viele Gerichtsverfahren sich dadurch vermeiden oder beenden lassen, besteht kein Zweifel daran, dass sich Mediation als Konfliktlösungsmechanismus im Familienrecht durchsetzen konnte und die Parteien damit gute und tragfähige Ergebnisse damit erzielen.Footnote 2

Die Konfliktlagen im Erbrecht sind in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich, gleichwohl lohnt ein näherer Blick: Was sind die besonderen Charakteristika eines Erbstreits, die ihn für eine Konfliktlösung durch Mediation geradezu prädestinieren? Der anwaltliche Rat, einen Mediationsversuch zu wagen, sollte nicht Ausdruck persönlicher Präferenz oder Lebensanschauung, sondern Folge einer konkreten Nutzenerwartung aus der Warte des Mandanten sein. Anders gewendet: Wer als Anwalt seiner Mandantin zur Mediation rät, muss gute Gründe dafür nennen können, weswegen die Mandantin auf diesem Wege wahrscheinlich besser fährt. Gleichzeitig gilt: Wer als Anwalt seiner Mandantin die Möglichkeit einer Mediation unterschlägt oder sogar explizit davon abrät, sollte zuvor ergebnisoffen geprüft haben, was deren Erfolg im konkreten Fall so unwahrscheinlich macht. Bei der Wahl zwischen Gerichtsprozess und Mediation gehört es zur anwaltlichen Pflicht, Prozessrisiken kritisch zu würdigen, die Mandantin darüber transparent zu informieren und insbesondere risikoaversen Mandanten auch alternative Wege zu einem vergleichsweise sicheren Verhandlungserfolg zu weisen.Footnote 3

4.1 Befriedigung eines breiten Interessenspektrums

Das Spektrum der Parteiinteressen ist in erbrechtlichen Fällen außerordentlich vielgestaltig. Hinter der durch die rechtsförmige Konfliktbearbeitung entstandenen Rechtsposition verbirgt sich regelmäßig eine Fülle von Wünschen und Bedürfnissen, die den Parteien ebenso wichtig oder sogar noch wichtiger sind als die materiellen Werte, die sich mit der Durchsetzung rechtlicher Ansprüche realisieren lassen. Um diese Interessen fruchtbar zu machen, braucht es ein Verfahren wie die Mediation, das erst einmal den Blick auf diese Motivlagen freigibt. Denn erst der unverstellte Blick auf ihre Interessen liefert den Parteien eine gute Begründung, ihre regelmäßig bereits energisch zementierten Rechtspositionen gesichtswahrend aufzugeben.

4.1.1 Prozedurale Interessen

Eine erste Kategorie von Interessen betrifft nicht das Verfahrensergebnis, sondern das Verfahren selbst. Einer der bekanntesten Soziologen des 20. Jahrhunderts, Niklas Luhmann, hat seinerzeit das Bewusstsein dafür geprägt, dass sich ein Verhandlungsergebnis nicht nur aus sich selbst heraus rechtfertigen kann, sondern bisweilen allein deswegen überzeugt, weil die Beteiligten den Weg dorthin als sachgerecht empfunden haben.Footnote 4 Nicht ohne Grund steht der Grundsatz des fair trial weltweit im Zentrum fast jeder Verfahrensordnung.Footnote 5 Denn wenn die Parteien das Verfahren als geordnet und neutral erleben, überträgt sich dies auf die Akzeptanz der so gefundenen Lösung, selbst wenn diese in mancherlei Hinsicht von den ursprünglichen Erwartungen abweicht.

Beispiel

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hat einer der Verfasser einmal in einem Streit um ein Millionenerbe erlebt, der pikanterweise noch zu Lebzeiten der Erblasserin stattfand. Eine beinahe 100 Jahre alte Dame wollte ihr Erbe neu regeln. Sie hatte allerdings Jahre zuvor bereits ihren jungen Nachbarn gegen Gewährung von Wart und Pflege erbvertraglich zum Erben bestimmt. Dieser sah wenig Anlass, sie aus dieser Bindung zu entlassen. Am Abend des ersten Mediationstags deutete sich an, dass ein zweiter Mediationstag erforderlich werden könnte. Die Protagonistin war allerdings schon deutlich milder gestimmt, nachdem sich der Begünstigte im Rahmen der Mediation einen Tag lang konstruktiv mit ihr unterhalten hatte. Auf ihre Frage, wie sich eine Lösung womöglich noch am selben Tag ermöglichen lasse, schlug die Co-Mediatorin eine sog. final-offer arbitration vor.

In einer final-offer arbitration schreiben beide Seiten verdeckt ihre letzten Angebote nieder, und auch der neutrale Dritte notiert sich einen aus seiner Sicht fairen Kompromissvorschlag. Es gewinnt sodann dasjenige Partei angebot, das dem Vorschlag des neutralen Dritten am nächsten ist. Footnote 6 Wenn man ein solches Verfahren in eine Mediation integriert, verlässt der Mediator natürlich die Rolle einer Person, die sich jeglicher Bewertung enthält. Im konkreten Fall erschien dieser Wechsel in ein Hybridverfahren aber sinnvoll. Footnote 7

Was geschah im konkreten Fall: Der Einigungsvorschlag der Mediatoren lag deutlich näher beim Angebot des jungen Nachbarn, also galt dessen Vorschlag. Die alte Dame hatte gespielt und verloren – im Vergleich zu ihrem letzten Angebot hatte sie knapp eine Million aus der Hand gegeben. Kurioserweise störte sie das wenig, denn sie hatte ganz bewusst auf Risiko gesetzt. Das Ergebnis war für sie offenbar zweitrangig, weil das Verfahren gestimmt hatte.

4.1.1.1 Echtes Gehör

Konflikte werden üblicherweise wortreich angegangen und ausgetragen. Die Beteiligten führen einen Redewettstreit, liefern sich ein Argument nach dem anderen und untermauern ihre Sicht der Dinge mit einem Haufen guter Gründe. Schon im Schulunterricht lernt man, Problemlagen zu erörtern und eine Argumentationskaskade möglichst überzeugend zu strukturieren. Alles soll auf einen zwingenden logischen Schluss hinaus laufen, damit dem Adressaten kaum etwas anderes übrig bleibt, als dem Redner auf ganzer Linie Recht zu geben. Diese Strategie hat aber einen entscheidenden Haken: Die meisten Menschen hören überhaupt nicht zu, wenn ein Kontrahent sie zu überzeugen versucht. Sie nutzen die Zeit lieber, um ihr eigenes Antwort-Statement gedanklich vorzubereiten. Weil beide Parteien so handeln, sind intuitiv geführte Verhandlungen meistens völlig unproduktiv. Das buchstäbliche Aneinander-Vorbeireden frisst nur Zeit und führt zu Frustration, weil sämtliche Überzeugungsversuche fehlschlagen.

Nicht selten wird diese gleichsam gehörlose Kommunikation dadurch kaschiert, dass beide Seiten kurze Antworthülsen verwenden, die Zuhören und Verständnis signalisieren sollen.Footnote 8 Es handelt sich dabei aber um ein Schein-Zuhören, das mit echtem Gehör nichts zu tun hat. Die meisten Menschen sind durchaus in der Lage, kurze Verständnislaute zu artikulieren und dabei doch gedanklich am eigenen Gegenargument zu feilen. In der Verhandlungs- und Mediationspraxis erkennt man das unter anderem daran, dass jemand keine Verständnisfragen stellt, sondern auf einen Diskussionsbeitrag seines Gegenübers mit einem Statement antwortet, das üblicherweise mit dem Wort Aber beginnt.

Ziel eines Mediators ist es demgegenüber, echtes gegenseitiges Gehör zwischen den Parteien zu ermöglichen. Das gelingt einerseits dadurch, dass man sich in einer Mediation bewusst so viel Zeit für die Verhandlung nimmt, dass auch Zeit zum echten Zuhören bleibt. Zum anderen nimmt der Mediator eine Brückenfunktion wahr: Er hört den Parteien seinerseits zu, stellt klärende und interessierte Fragen und erleichtert damit das Verständnis der jeweils anderen Seite.

Die Praxis zeigt, dass die Parteien am Beginn einer Mediationsverhandlung häufig schon seit Monaten oder sogar Jahren einander nicht mehr zugehört haben. Spätestens mit der Hinzuziehung von Anwälten ist das direkte Gespräch zwischen den Beteiligten regelmäßig verstummt. Wenn sich dies in einer Mediation wieder ändert, sorgt dies bei den Parteien meist für eine spürbare Erleichterung, auch wenn ihnen meist gar nicht klar ist, woher diese rührt.

4.1.1.2 Schnelles Verfahren

Ein zweites Bedürfnis, das die Mediation mit Blick auf das Verfahren erfüllt, bezieht sich auf die Dauer der Auseinandersetzung. Die anwaltliche Erfahrung zeigt, dass viele Mandanten die juristische Auseinandersetzung mit einer gewissen Streitlust beginnen, dass diese Begeisterung aber mit der fortdauernden emotionalen Belastung schon nach wenigen Monaten erlahmt, sich teilweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Die meisten Menschen unterschätzen den Aufwand, der mit einem formellen Rechtsdurchsetzungsverfahren verbunden ist. Das gilt besonders im Erbrecht als einer Materie, wo in der Regel nicht Unternehmer, sondern Privatleute streiten, die das Streiten nicht gewohnt sind und persönliche Angriffe nicht an sich abperlen lassen können.

Die Auseinandersetzung eines Nachlasses kann sich sowohl im außergerichtlichen Verfahren wie auch im Prozess über viele Monate oder sogar Jahre erstrecken. Die formelle Auflistung des Nachlassbestands, die Einholung von Wertgutachten und die Verhandlungen über die Verteilung ziehen sich trotz guten Willens der Beteiligten fast notwendig in die Länge. Das liegt vor allem an der gestreckten Kommunikation, denn diese lädt geradezu dazu ein, sich in der Sache festzulegen, bevor die Entscheidungsgrundlage ausreichend aufgearbeitet ist. Auch eine Mediation kann die Einbeziehung von Gutachtern und den Streit um einzelne, entscheidende Positionen nicht verhindern. Das Gespräch in einer gemeinsamen, en bloc durchgezogenen Präsenzverhandlung fördert allerdings die zügige Klärung von Missverständnissen und den Fokus auf die wirklich problematischen Aspekte. Vor allem aber vermeidet eine Mediation unnötigen Zeitverlust: Die Verhandlung lässt sich in der Regel mit wenigen Wochen Vorlauf terminieren und dann binnen zwei bis drei Tagen abschließen. Das ist ein buchstäblich nur ein Bruchteil der Zeit, die die Erben und Pflichtteilsberechtigten üblicherweise aufwenden müssen, um die Nachlassangelegenheit zu erledigen. Zudem zeigt die Erfahrung, dass die Parteien erbrechtlicher Streitigkeiten die Verfahrensergebnisse wesentlich zügiger und vollständiger umsetzen, wenn ihnen diese nicht per Urteil oder durch richterlichen Vergleichsdruck aufgezwungen wurden, sondern sie diese in freier Entscheidung selbst gemeinsam erarbeitet und konsentiert haben.Footnote 9

In der Beratungspraxis spielt der Zeitfaktor überraschenderweise eine untergeordnete Rolle. Das führt dazu, dass die Parteien bei Meinungsverschiedenheiten häufig nicht sofort eine Mediation erwägen, sondern diesen Weg erst dann beschreiten, wenn das Kind schon halb in den Brunnen gefallen ist und die Parteien bereits viel Zeit verschenkt haben. Gleichwohl gilt natürlich auch hier: Besser spät als nie! Besser ein verfahrenes Verfahren durch einen neuen Ansatz sanieren als der schlechten Zeit noch gute hinterherwerfen.

4.1.1.3 Geringer emotionaler Aufwand

Wer einen Rechtsstreit führt, investiert nicht nur Zeit, sondern auch Nerven. Was für die beteiligten Rechtsanwälte Routine ist, erweist sich für die Parteien selbst als unverhofft schwere Bürde. Das liegt nicht nur daran, dass sich der Konflikt mit dem Gegenüber in die Länge zieht, sondern auch daran, dass Privatpersonen der Kontakt zu Organen der Rechtspflege regelmäßig sehr unangenehm ist. Als Beteiligte eines Zivilrechtsstreits wähnen sie sich mitunter schon mit einem Bein im Gefängnis, weil sie „vor Gericht sind“. Die Rechtssoziologie hat früh darauf hingewiesen, dass historische Gerichtsgebäude ganz bewusst so gebaut sind, dass sie die Beteiligten eines Rechtsstreits beeindrucken, womöglich sogar einschüchtern.Footnote 10

Je mehr sich demgegenüber das Augenmerk weg von Anwälten und Gerichten und hin zu einem konstruktiven Gespräch mit dem Gegenüber verschiebt, umso geringer empfinden die Parteien die mit der Verhandlung verbundene emotionale Belastung. In der Praxis der Mediation ist es regelmäßig zu beobachten, dass eine spürbare Erleichterung eintritt, wenn die Parteien unter Vermittlung des Mediators wieder wagen, einander in die Augen zu schauen. Das kostet große Überwindung, aber der Mut zahlt sich aus. Spätestens wenn es einer Seite gelingt, sogar eine Entschuldigung auszusprechen, findet die Verhandlung wieder in ein konstruktives Fahrwasser zurück.Footnote 11 Der Grund dafür ist simpel: Wer sein Bedauern ausdrückt, zeigt Empathie für den Anderen und Souveränität im Verfahren und gewinnt dadurch die zuvor an juristische Institutionen delegierte Entscheidungshoheit zurück. Gerade in erbrechtlichen Konflikten sind es häufig kleine Unachtsamkeiten oder Missverständnisse, die kurz nach dem Tod des Erblassers eine ganze Kaskade von gegenseitigen Vorwürfen in Gang gesetzt haben. Die Betroffenen kennen diesen Streittrigger meistens sehr genau. Ein Wort des Bedauerns über den eigenen Beitrag zum ersten Missverständnis kann hier Wunder wirken.

4.1.1.4 Wertverteilung auf Basis objektiver Kriterien

Ein viertes typisches prozedurales Interesse liegt in der Anwendung objektiver Kriterien bei der Verteilung materieller Werte. Wenn mehrere Miterben den Nachlass untereinander aufteilen müssen, ist ihnen regelmäßig nur vordergründig daran gelegen, ganz bestimmte Gegenstände aus dem Nachlass zu erhalten. Hinter diesen Positionen steht regelmäßig das Interesse, ihre Präferenzen äußern zu dürfen und nachvollziehbare und als fair wahrgenommene Kriterien für die Güteraufteilung anzuwenden. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, einen unfair überhöhten Anteil am Nachlass zu erhalten, sondern darum, von den Miterben nicht über den Tisch gezogen zu werden.

Der US-amerikanische Verhandlungsklassiker Getting to Yes empfiehlt den Teilnehmern einer Verhandlung vor diesem Hintergrund, auf dem Einsatz objektiver Verteilungskriterien zu bestehen.Footnote 12 Die Umsetzung dieses Ratschlags ist in einer bilateralen Verhandlung einigermaßen anspruchsvoll, gelingt aber mit Hilfe eines Mediators regelmäßig gut. Versierte Mediatoren haben ein Gespür für Verteilungskriterien, die die Parteien typischerweise als fair ansehen. Ein Beispiel hierfür ist der Erblasserwille. Jedenfalls dann, wenn an der Verhandlung keine Pflichtteilsberechtigten, sondern ausschließlich Miterben beteiligt sind, ist es extrem selten, dass sich diese nicht darauf verständigen können, die Aufteilung nach den Vorstellungen des Erblassers vorzunehmen. Natürlich herrscht nicht immer Klarheit darüber, was der Erblasser tatsächlich im Sinn hatte. Aber im Werkzeugkoffer eines Mediators befinden sich einige Instrumente, mit denen sich der Wille des Erblassers ohne die Verfestigung auf juristische Positionen kreativ ermitteln lässt.

Beispiel

Ein probates Werkzeug zur Ermittlung des Erblasserwillens ist ein räumlich vollzogener Rollenwechsel. Rollenwechselübungen sind ein in Verhandlungsvorbereitung und Mediation häufig genutzter Ansatz, um die Empathie der Beteiligten füreinander zu fördern. Dabei setzen sich die Parteien buchstäblich auf den Stuhl ihres Gegenübers und kommen unter Anleitung des fragenden Mediators ins Nachdenken darüber, wie sich der Konflikt wohl aus der Lage ihres Verhandlungspartners darstellt. Das räumliche Hineinversetzen in die Haut des Anderen und das bewusste Loslassen der eigenen Perspektive fördert das Verständnis für das Verhalten des Verhandlungspartners. Footnote 13

Diese Übung lässt sich nun im Erbrecht in einer besonders einfach anzuwendenden Variante nutzen. Dazu stellt der Mediator einen leeren Stuhl in eine Ecke des Raumes und instruiert die Parteien, dass dies der Stuhl des Erblassers sei. Anschließend nehmen die Parteien nacheinander auf dem Stuhl Platz und versuchen zu erahnen, was der Erblasser sagen würde, wenn er an der Mediationsverhandlung teilnähme. In der Regel gelingt es den Betroffenen sogleich, sich in den Erblasser hineinzuversetzen und seine Meinung zu artikulieren. Üblicherweise kann man sich schnell darauf einigen, dass der Erblasser keinen Streit zwischen seinen Nachfahren wollte. Der Mediator kann aber auch tiefer fragen und die mutmaßlichen Interessen des Verstorbenen in den Blick nehmen. Daraus lassen sich Anhaltspunkte schöpfen, welche Verteilungskriterien später eine Rolle spielen könnten.

Als Mediator muss man damit rechnen, dass diese Übung intensive Emotionen freisetzt. Der Gedanke, der Verstorbene könne seine Nachfahren hier sitzen und streiten sehen, lässt die Betroffenen meist nicht kalt. In dieser Situation ist es die Aufgabe des Mediators, die Emotionen zuzulassen, sie als normal einzuordnen und die Verhandlung womöglich für einen Moment zu unterbrechen, um den Beteiligten eine Verschnaufpause zu gewähren. Insgesamt kann es für die Verhandlung sehr förderlich sein, wenn Emotionen zum Ausdruck zu kommen. Denn Emotionen setzen auch Spannung frei und führen in der Regel dazu, dass die Parteien die Verhandlung anschließend ruhiger, vielleicht sogar auch eine Spur demütiger fortsetzen.

Man kann die Stuhlwechselübung in fast beliebiger Form variieren. Denkbar ist zum Beispiel, einen „Zeitstuhl“ zu bestimmen, auf den die Situation eines Beteiligten vor zehn Jahren oder in fünf Jahren projiziert wird. Der Mediator mag die Parteien beispielsweise fragen, wie sie in fünf Jahren auf die heutige Verhandlung zurückschauen werden und was ihnen im Nachhinein wichtig gewesen sein könnte. Auch können beliebige weitere Personen, die an der Verhandlung nicht unmittelbar teilnehmen, gedanklich auf dem Stuhl Platz nehmen, beispielsweise die Ehegatten der Parteien, die am heimischen Küchentisch ihren eigenen Blick auf die Verhandlung haben. Der Rundumblick auf diese indirekt von der Konfliktlösung betroffenen Menschen eröffnet neue Perspektiven und schafft in aller Regel eine bessere Ergebnisakzeptanz.

4.1.2 Ergebnisinteressen

Neben den prozessbezogenen Interessen der Konfliktparteien gibt es eine Reihe von ergebnisbezogenen Bedürfnissen, die in Erbstreitigkeiten typischerweise eine Rolle spielen. Ein guter Mediator wird sich selbstredend nicht damit begnügen, den Verfahrensrahmen interessengerecht auszugestalten, sondern er wird auch versuchen, die Verteilung materieller Werte so zu steuern, dass die Parteien möglichst viel von dem erhalten, was ihnen wichtig ist.

4.1.2.1 Geld und Eigennutz

Das im Vorfeld der Verhandlung sichtbarste Ziel der Streitparteien liegt in der Regel darin, möglichst viel materiellen Wert aus dem Verfahren mitzunehmen. Dieses Ziel manifestiert sich in juristisch begründeten Forderungen, die die anwaltlichen Begleiter schriftsätzlich ausgetauscht haben: Vielen Betroffenen geht es zunächst darum, unter Beteiligung möglichst weniger Miterben eine möglichst hohe Erbquote zu realisieren bzw. als Pflichtteilsberechtigter den Nachlasswert möglichst hoch anzusetzen, um daraus eine möglichst hohe Geldforderung ableiten zu können. Dieses Streben nach Eigennutz ist menschlich und verdient keine moralische Kritik. Der Blick darauf bleibt gleichwohl unvollständig, wenn man sich die Frage spart, welchen konkreten Nutzen die erstrebten materiellen Werte für die Streitbeteiligten haben. In der Regel ist nämlich der Wunsch nach materiellen Werten im Sinne der bereits erwähnten Kategorisierung von Fischer und UryFootnote 14 eine Position und kein echtes Interesse.

Was also ist der tiefere Grund dafür, weswegen die Streitparteien so häufig auf bestimmten materiellen Positionen beharren? Mediatoren lösen dieses Rätsel regelmäßig mit einfachen Fragen auf: Welche Bedeutung hat die Teilhabe an dem Unternehmen Ihrer verstorbenen Mutter für Sie? Was werden Sie mit der ererbten Wohnung machen, wenn sich herausstellen sollte, dass das Nießbrauchsvermächtnis tatsächlich unwirksam ist? Wenn Sie letztendlich Ihren Pflichtteil ausgezahlt erhalten, wozu werden Sie das Geld dann einsetzen? – Solche Fragen lenken das Gespräch von festgefahrenen Positionen, die zum Teil nur um der eigenen Gesichtswahrung willen weiter aufrechterhalten werden, hin zu Plänen für die Zukunft. Dieser Perspektivenwechsel ist für eine konstruktive Verhandlung von elementarer Bedeutung, weil man die Zukunft im Unterschied zur Vergangenheit in der Gegenwart noch gestalten kann. In einem sachlichen Mediationsgespräch über den konkreten Unterschied, den die Wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung oder die Höhe einer Auszahlung für das Leben eines Betroffenen macht, stellt sich regelmäßig heraus, dass es mehr als eine Lösung gibt, mit der die Beteiligten gut leben können. Gleichzeitig öffnet sich ein Raum für Kompromisse jenseits der im materiellen Recht vorgesehenen Rechtsfolgen. Geht es etwa der Alleinerbin um kurzfristige finanzielle Stabilität, der Pflichtteilsberechtigten hingegen um bestimmte Nachlassgegenstände, auf die sie mit dem reinen Geldanspruch des § 2303 BGB eigentlich keinen Zugriff hätte, so legt der Blick auf die Interessen der Parteien unmittelbar den Blick auf Lösungen frei, die die Auszahlung des Pflichtteilsanspruchs im Interesse der Erbin teilweise verzögern, dafür aber der Pflichtteilsberechtigten bestimmte Gegenstände zukommen lassen, die für sie sonst unerreichbar wären.

Dieses durch Interessen motivierte gegenseitige Nachgeben kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Vermögenswerte nicht zum Schaden aller Beteiligten unter Wert veräußert werden müssen. Insbesondere in dem häufigen Fall, in dem eine Immobilie den wesentlichen Vermögensgegenstand der Erblasserin darstellt, führt ein Verkauf unter Zeitdruck, zur Unzeit oder im Rahmen einer Teilungsversteigerung häufig zu ungünstigen wirtschaftlichen Konditionen. Um dies zu vermeiden, brauchen Erben die Zustimmung der Pflichtteilsberechtigten, weil sie diese häufig nicht aus anderweitigen liquiden Mitteln zeitnah abfinden können.

Es passiert nicht gerade selten, dass sich zwei Miterben mit Blick auf einen bestimmten Nachlassgegenstand oder im Hinblick auf eine kleine Restsumme nicht einigen können, auch wenn diese nur einen kleinen Teil des Gesamtnachlasses ausmacht. Man ist sich zu 95 % einig, aber der letzte Mosaikstein für eine einvernehmliche Beilegung des Rechtsstreits fehlt, weil keiner den letzten Schritt gehen will. Fragt man genauer nach, erfährt man als Mediator regelmäßig, dass es den Parteien hier weniger um den materiellen Wert der letzten streitigen Nachlassposition geht. Vielmehr haben meist beide den Eindruck, im bisherigen Prozess schon viele Zugeständnisse gemacht zu haben, und möchten sich nun auf die letzten Meter nicht von ihrem Gegenüber über den Tisch ziehen lassen. Gemünzt auf ihre Interessen: Es geht nicht so sehr um materielle Werte, sondern um gleichmäßige bzw. gerechte Verteilung. Ist aber der letzte Mosaikstein nicht teilbar, so kann eine salomonische Lösung etwa darin liegen, diesen letzten kleinen Teil des Nachlasses an einen Dritten zu geben, dem beide Parteien wohlgesonnen sind. Gerade bei großen unternehmerischen Nachlässen gibt es häufig im familiären Umfeld eine vom Erblasser nicht bedachte Person, die das Geld besser gebrauchen kann als die Parteien. Oder es gibt eine Stiftung oder eine andere wohltätige Organisation, der beide Parteien wohlwollend gegenüberstehen. In der Mediationspraxis der Autoren sind gen Ende einer Mediation schon beachtliche Summen für solche respektierte Dritte vorgesehen worden. Es klingt ein wenig paradox: Man beendet einen Streit, indem man die Streitsache einfach weggibt.

4.1.2.2 Risikobegrenzung

Welche materiellen Werte sich in einem Erbstreit realisieren lassen, lässt sich ex ante nicht sicher beurteilen. Womöglich lassen sich die eigenen Wünsche und Vorstellungen umfassend durchsetzen, womöglich geht man aber auch gänzlich leer aus. Das ist für ein Konfliktlösungsverfahren bedeutsam, denn die meisten Menschen sind keine Spielernaturen, sondern streben nach Sicherheit und Stabilität. Sie ziehen einen sicheren Betrag von 100.000 Euro einer 50 %igen Chance auf 220.000 Euro vor, auch wenn der rein monetäre Erwartungswert der letzteren Option höher ist. Kurioserweise sind die meisten Menschen aber nicht besonders sensibel gegenüber Risiken, sondern unterschätzen sie systematisch. Es gehört zu den Binsenweisheiten der Verhaltensökonomie, dass bei der Taxierung von Chancen und Risiken häufig der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Menschen schätzen Chancen systematisch zu hoch und Risiken systematisch zu niedrig ein. Selbst professionelle Risikobewerter haben mit dieser Schwäche zu kämpfen. Das gilt natürlich umso mehr, wenn sie ein Eigeninteresse daran haben, dass Chancen als besonders groß und Risiken als möglichst gering dargestellt werden. Genau dies ist der verhaltensökonomische Rahmen der anwaltlichen Rechtsberatung: Nicht nur die Rechtsuchenden, sondern auch ihre Anwälte sind bei der Bewertung der Rechtslage tendenziell zu optimistisch. Sie sehen vor allem Gesichtspunkte, die ihre Auffassung stützen, und übersehen gleichzeitig Aspekte, die für die Gegenseite sprechen.Footnote 15 Reputationseffekte können diesen Intuitionsfehler nicht aufwiegen.

Praxishinweis

Die systematische Verzerrung im anwaltlichen Bauchgefühl lässt sich umso besser vermeiden, je konkreter man die fallentscheidenden Tatsachen- und Rechtsfragen benennt und nach Gründen sucht, die für und wider die eigene Perspektive sprechen. Ein hilfreiches Werkzeug dafür ist die sog. Prozessrisikoanalyse. Dabei macht man das juristische Skelett eines Falls in einer Baumstruktur sichtbar und benennt für jede tatsächliche oder rechtliche Unsicherheit eine Wahrscheinlichkeit. Die Multiplikation der Wahrscheinlichkeiten für alle unsicheren Anspruchsvoraussetzungen ergibt schließlich die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des angestrebten Ergebnisses und den durchschnittlich zu erwartenden Gewinn. Footnote 16 Dieser fällt regelmäßig niedriger aus, als man das intuitiv erwartet hat. Hängt etwa ein Erbe im Wert von 1 Mio. Euro von drei Tatsachen- und Rechtsfragen ab, die jeweils mit 80 %iger Wahrscheinlichkeit für den Mandanten entschieden werden dürften, so beträgt die Erfolgswahrscheinlichkeit nur 80 % * 80 % * 80 % = 51,2 %. Im Schnitt wird ein solcher Mandant nur 512.000 Euro aus der Sache herausholen. Ist er risikoavers, wird er ein Vergleichsangebot in Höhe von 500.000 Euro, vielleicht sogar eines in Höhe von 400.000 Euro der bloßen 50:50-Chance auf die Million vorziehen. Berücksichtigt man zusätzlich noch die Verfahrenskosten, fällt das Votum für ein konsensorientiertes Verfahren noch deutlicher aus.

Eine deutliche Vereinfachung von Risikoanalysen ist zu erwarten, wenn der Gesetzgeber künftig den strukturierten Parteivortrag zur Norm erheben sollte. Solche Strukturvorgaben werden seit einiger Zeit einerseits für komplexe wirtschaftsrechtliche Streitigkeiten, aber auch zur Ermöglichung und Vereinfachung von Online-Klagen gefordert. Footnote 17 Damit ist zwar noch nicht automatisch eine Bepreisung der Erfolgswahrscheinlichkeiten verbunden. Allerdings ist häufig schon das simple Sichtbarmachen der Tatbestandsvoraussetzungen ein wichtiger erster Schritt, um Begründungslücken zu offenbaren und Überoptimismus abzubauen. Aktuell bemühen sich Unternehmen im Bereich Legal Technology darum, auch den zweiten Schritt zu gehen und Erfolgswahrscheinlichkeiten auf der Basis großer Datenmengen ( big data ) automatisch zu schätzen.

Auch eine Mediation kann diese fast schon angeborenen Wahrnehmungsverzerrungen nicht im Handumdrehen abschalten. Weil das Mediationsverfahren aber nicht kontradiktorisch, sondern konsensorientiert angelegt ist, wird der intuitive Überoptimismus zumindest nicht unnötig verstärkt. Zudem sind in der Mediation unangenehme Überraschungen infolge nicht gesehener Risiken praktisch ausgeschlossen. Denn die Parteien behalten das Heft in der Hand; sie stimmen einem Vergleichsangebot der Gegenseite stets freiwillig zu und sind im Unterschied zum Gerichtsverfahren nicht der Entscheidung eines Dritten ausgeliefert. Zweifelsohne sorgen die jüngere Rechtsprechung zu richterlichen Hinweispflichten nach § 139 ZPOFootnote 18 wie auch die damit eng verwobene Praxis des richterlichen VergleichsdrucksFootnote 19 dafür, dass die Parteien eines Zivilrechtsstreits die Richtung eines Urteils frühzeitig absehen können. In dem Moment, wo sich die Parteien ins Gerichtsverfahren hineinbegeben, herrscht allerdings nach wie vor Unsicherheit über den Verfahrensausgang. Eine gute anwaltliche Beratung wird den Mandanten über die wesentlichen Risikofaktoren informieren und kann das Risiko durch kluge strategische Prozessführung ein Stück weit minimieren, am Ende bleibt das Risiko aber beim Mandanten haften.Footnote 20

4.1.2.3 Wahrung der Beziehung

Jenseits der materiellen Werte, die sich in einer Mediation realisieren lassen, ist es vielen Streitbeteiligten in der Praxis auch wichtig, eine tragfähige Lösung zu finden, die es ermöglicht, die Angelegenheit ohne Folgequerelen abzuschließen. Anders als in einem typischen Familienrechtsstreit geht es zwar nicht darum, eine konkrete familiäre Beziehung ins Lot zu bringen, denn die Parteien eines Erbkonflikts können einander besser aus dem Weg gehen. Gleichwohl eint sie regelmäßig ein familiäres Band, und allein die Aussicht auf unliebsames Gerede in der Großfamilie oder auf bisweilen unvermeidliche Begegnungen bei familiären Anlässen kann ein Grund sein, theoretisch begründbare juristische Positionen nicht maximal durchzusetzen.

Für die Erfolgsaussichten einer Mediation ist diese in erbrechtlichen Fällen häufig anzutreffende Interessenlage ideal: Einerseits ist eine Erbrechtsmediation – im Unterschied zu einer Mediation bei Streitigkeiten um den Umgang mit einem gemeinsamen Kind oder bei Konflikten zwischen Zulieferern und Herstellern – nicht darauf angewiesen, zwischen den Parteien eine dauerhafte Arbeitsbeziehung etablieren zu müssen. Andererseits kann sie doch einen großen Nutzen für den Familienfrieden stiften, weil sie punktuelle Auseinandersetzungen in der Zukunft zu vermeiden hilft. Mit anderen Worten: Die Aussicht für die Parteien, den Konflikt schnell zu lösen und sich anschließend nur noch gelegentlich sehen zu müssen, sich dann aber gegenseitig in die Augen schauen zu können, ist ein extrem fruchtbarer Boden für ein Verfahren der alternativen Streitbeilegung.

4.2 Bewältigung von Komplexität

Neben den Interessen der Parteien spricht in erbrechtlichen Fällen häufig auch die tatsächliche und rechtliche Komplexität des Falles dafür, eine einvernehmliche Streitbeilegung anzustreben, statt durch eine Aufarbeitung juristisch relevanter Details aus der Vergangenheit nach der Wahrheit zu suchen. Denn selbst die in einem Zivilprozess gefundene Wahrheit hat letztlich keinen objektiven Gehalt, sondern ist eine durch die Brille der Richterin subjektiv ermittelte Wahrheit, die konstruiert und verkürzt ist und der Wirklichkeit nie umfassend gerecht werden kann.Footnote 21

4.2.1 Familiäre Beziehungen

Die Komplexität erbrechtlicher Fälle rührt auf tatsächlicher Seite zunächst daher, dass die Parteien häufig durch eine lange Familiengeschichte miteinander und mit dem Erblasser verbunden sind. Wenn man möchte, kann man diese Familiengeschichte gleichsam bis zu Adam und Eva zurückverfolgen, um herauszufinden, wer was wann getan oder gewollt hat. Anders als in einem vertragsrechtlichen Streit, wo die Zahl der Deutungsmöglichkeiten einer Vertragsklausel endlich sind und die kommunikativen Berührungspunkte der Parteien regelmäßig einigermaßen überschaubar bleiben, öffnet der Blick in die Vergangenheit einer Familie regelmäßig eine emotionale Büchse der Pandora. Nachdem er einmal entwichen ist, lässt sich deren unbequemer Inhalt kaum mehr unter Kontrolle bringen. Die schiere Zahl der Beteiligten und die Unendlichkeit der Vergangenheit machen es möglich, immer neue Kausalitäten und Vorwürfe heranzuassoziieren, die das eigene Verhalten begründen und rechtfertigen und die Verantwortung für Missgeschicke der anderen Seite in die Tasche schieben.Footnote 22

Vor diesem Hintergrund eignen sich für Konflikte mit familiären Bezügen – sei es im Erbrecht oder auch im Familienrecht – vor allem Verfahren, die zwar mit dem Ziel echten gegenseitigen Gehörs zunächst in die Vergangenheit blicken, aus dem Gehörten dann aber keine Wahrheit abzuleiten suchen, sondern allein Wünsche und Bedürfnisse für die Zukunft zur Grundlage der anstehenden Handlungsentscheidungen machen. Die Mediation mit ihrem anfänglichen Blick in die Vergangenheit, ihrer danach aber konsequent angewendeten Zukunftsperspektive hat dies in Reinform kultiviert.Footnote 23 Man mag es als Bruch empfinden, wenn sich die Parteien zunächst die Leviten lesen, dann diesen Faden aber abreißen lassen und sich gemeinsam der Zukunft zuwenden. Die Mediationspraxis zeigt aber, dass es die Parteien hochgradig befriedigt, wenn sie ihren Ärger zunächst artikulieren, anschließend aber hinter sich lassen können.

In erbrechtlichen Mediationsverfahren ist es absolut üblich, wenn die Verhandlung während der Beschäftigung mit den Perspektiven der Parteien den kompletten ersten Verhandlungstag lang kurz vor dem Abbruch stehen. Denn die Beschäftigung mit der ungeliebten familiären Vergangenheit ist emotional aufwühlend und exponiert beide Seiten in ungewohntem Maße. Es hängt wesentlich am Kommunikationsgeschick der Mediatorin, diese Spannung zuzulassen, auszuhalten und nicht eskalieren zu lassen. Die emotionale Entlastung der Parteien tritt meist recht unvermittelt dann ein, wenn beide feststellen, dass sie alles, was aus ihrer Sicht schief gelaufen ist, sagen konnten und damit Gehör fanden.

4.2.2 Juristisch geordnetes Verfahren

Ein zweiter Aspekt typischer Komplexität erbrechtlicher Auseinandersetzungen betrifft das komplizierte Prozedere einer Erbschaftsauseinandersetzung nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Wenn das Gesetz ein ursprünglich fremdes Vermögen neu zuweist – wie es etwa im Insolvenzrecht, aber eben auch im Erbrecht der Fall ist – wählt es mit gutem Grunde ein kleinschrittiges Verfahren, das die angestrebte Gerechtigkeit erreicht, indem der Vertrags- und Vermögensbestand sorgfältig ermittelt, Vorrechte und Sonderrechte bedient und erst danach die abschließenden Auszahlungen vorgenommen werden.

Dieser feine Schliff des materiellen Rechts setzt sich im Prozessrecht fort. Wer als Miterbe die Auseinandersetzung eines Nachlasses anstrebt, kann nicht zeitnah Fakten schaffen, sondern muss zunächst den Nachlassbestand klären, Wertermittlungen durchführen und Pflichtteilsberechtigte auszahlen, bevor es an die Verteilung im engeren Sinne geht. Entsprechend langwierig sind erbrechtliche Auseinandersetzungen vor Gericht, und wenn sie dort anlangen, führen sie nur in seltenen Fällen zu einem Urteil.

Selbst bei Pflichtteilsansprüchen, die das Gesetz zur Vermeidung von Konflikten zwischen Erben und Enterbten in § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB als reine Geldansprüche ausgestaltet hat,Footnote 24 geht es nicht schneller voran. Denn die gesetzgeberische Sorgfalt führt hier dazu, dass dem Zahlungsanspruch in der Regel ein Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch nach § 2314 Abs. 1 BGB vorausgeht, der in bestimmten Fällen zusätzlich durch eine eidesstattliche Versicherung nach § 260 Abs. 2 BGB abgesichert wird. Eine Stufenklage, die diese Schritte nacheinander abarbeitet, kann sich allein in der ersten Instanz über mehrere Jahre hinziehen. Wird sie aus sachlichen oder auch prozessstrategischen Gründen auf einer oder mehreren Stufen mit Rechtsmitteln verzögert, verlieren die Kläger schnell jede Hoffnung auf ein absehbares Ende.

Das Zivilrecht und das Zivilprozessrecht haben gute Gründe, auf oberflächliche Feststellungen zu verzichten, anwaltliche Vertreter tun gleichwohl gut daran, die zeitliche Dimension frühzeitig in den Blick zu nehmen und alternative Handlungsoptionen auch in diesem Lichte unvoreingenommen zu erwägen. Man darf dabei nicht erwarten, dass die Parteien selbst die Bedeutung des Zeitkriteriums erahnen. Dafür fehlt ihnen zum einen die notwendige Prozesserfahrung, zum anderen unterschätzen die meisten Menschen die Bedeutung künftiger Ereignisse, wenn diese nur weit genug in der Zukunft liegen. Die Perspektive der Mandantin entsprechend zu weiten, ist daher Aufgabe und Verantwortung ihrer Erbrechtsanwältin.

Hintergrund

Unechte Footnote 25 Gegenwartspräferenzen sind ein von der Verhaltensforschung ausführlich studiertes Phänomen. Im Englischen spricht man anschaulich vom hyperbolic discounting . Footnote 26 Die Gegenwart ist den meisten Menschen wichtiger als die Zukunft. Für einen eher kleinen Vorteil in der Gegenwart lässt man einen größeren Vorteil in einiger zeitlicher Entfernung ziehen. Lieber erhält man heute eine Million Euro als in 20 Jahren drei Millionen Euro. Footnote 27 In gleicher Weise sucht man auch kleinere Nachteile in der Gegenwart zu vermeiden, selbst wenn dies mit respektablen Verlusten in der Zukunft verbunden ist. Man geht mit den ersten Boten einer ernsthaften Krankheit noch nicht zum Arzt, um sich die Illusion andauernder Gesundheit zu erhalten, und doch ahnt man, dass es dadurch am Ende noch viel schlimmer kommen könnte.

Das Problem daran: Irgendwann holt einen die Zukunft ein, und man ärgert sich nachträglich darüber, seinerzeit so kurzsichtig abgewogen zu haben. Diese Gefahr zeitinkonsistenten Verhaltens lässt sich im Wesentlichen nur durch Selbstbindungsmechanismen oder durch kluge Berater bannen. Deswegen ist es von so zentraler Bedeutung, dass Anwälte ihre Mandanten in Rechtsbereichen mit typischerweise langer Prozessdauer unmissverständlich vor Augen führen, mit welchem zeitlichen und emotionalen Aufwand ein Klageverfahren verbunden ist. Für den Ruf eines Anwalts und der Anwaltschaft schlechthin ist kaum etwas schädlicher als eine Mandantin, die den Eintritt ins Klageverfahren nachträglich bereut und den Eindruck hat, ihr Anwalt habe sie vor dem damit verbundenen Zeitaufwand und den damit einhergehenden Risiken nicht deutlich gewarnt.

4.2.3 Gesellschaftsrechtliche Bezüge

Neben diese Faktoren, die den Erbstreit materiell-rechtlich und verfahrensrechtlich aufladen, treten regelmäßig zusätzliche Aspekte, die eine Lösung des Konflikts erheblich erschweren. Insbesondere dann, wenn die Erblasserin als Gesellschafterin einer Personen- oder Kapitalgesellschaft fungierte oder auch nur Teilhaberin einer noch nicht auseinandergesetzten Miterbengemeinschaft war, erweist es sich üblicherweise als sehr schwer, eine beherrschbare Verhandlungsmaterie einzuhegen und eine überschaubare Zahl von Verhandlungsteilnehmern zu bestimmen. Das gilt namentlich in Familienunternehmen, in denen neben gesellschaftsrechtliche Befugnisse auch hergebrachte familiäre Zielvorstellungen und Usancen treten, die für neu eintretende Erben zum einen nicht leicht nachzuvollziehen sind und die zu übernehmen sie zum anderen auch nicht unbedingt bereit sind.

Trotz dieser schwierigen und häufig buchstäblich verfahrenen Ausgangssituation sind Erbstreitigkeiten mit Bezug zu Familienunternehmen nicht schlechthin unlösbar. Gerade in Fällen mit „langer Vorgeschichte“ ist bei den Beteiligten über die Jahre meist die Erkenntnis gereift, dass eine geordnete Trennung besser ist als ein konfliktträchtiges Weiter so. Es fehlt allein die Methode, die eine faire Verteilung der in der Gesellschaft akkumulierten Werte sichert. Gesellschaftserben gehen in der Regel nicht am Bettelstab: Sie gehen zwar meist achtsam mit ihrem Geld um und haben nichts zu verschenken, aber sie müssen nicht jeden Cent umdrehen und um den letzten Groschen feilschen. Es geht ihnen typischerweise nicht um Gewinnmaximierung um jeden Preis, sondern um eine angemessene Wertverteilung im Lichte der erblasserischen Bestimmungen. Hier liegen ihre Interessen meist nicht weit auseinander. Der Nährboden für ein interessenorientiertes Verfahren wie die Mediation ist damit ideal. Gesellschaftsrechtliche Komplexität ist nicht Hindernis, sondern zunächst Herausforderung und dann Treiber für eine interessenorientierte Konfliktlösung.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für Interessen jenseits der Gewinnmaximierung erlebten die Autoren im Rahmen einer Co-Mediation zweier Geschwister, die von ihrer Mutter unter anderem Gesellschaftsanteile im hohen Millionenwert geerbt hatten. Nach einem langen und emotional geführten Austausch der Perspektiven beider Geschwister staunten sie nicht schlecht, als sich beide in der anschließenden Interessenklärung gegenseitig als Interesse Nr. 1 bezeichneten. Hier ging es nicht um das eigene Gewinnmaximum, ja noch nicht einmal vorrangig um faire Verteilungskriterien, sondern vor allem darum, wieder einen Zugang zueinander zu finden. Der kontroverse Umgang mit dem Konflikt vor dem Beginn der Mediation hatte dieses Interesse füreinander wirksam verschüttet. Das Mediationsverfahren legte es wieder frei – in einer Selbstverständlichkeit und Gegenseitigkeit, die tatsächlich auch die Mediatoren verblüffte.

Freilich: Nicht immer lassen sich Interessen so einfach zu Tage fördern wie in diesem Beispiel. Vor allem dann, wenn an der Seite einer oder mehrerer Parteien strategische Berater oder familienexterne Manager agieren, ist es bisweilen schwer, zu den echten Interessen der Stakeholder vorzudringen. Bisweilen fehlt es diesen Akteuren an Sensibilität für nicht-monetäre Bedürfnisse ihrer Prinzipale, manchmal mangelt es auch schlicht an der Zuversicht, ein finanzielles Kompromissergebnis als Erfolg darstellen zu können. Je weniger Bedeutung man den nicht-monetären Faktoren beimisst und je mehr Konfliktroutine eine Partei an den Verhandlungstisch bringt, desto größer ist für sie die Versuchung, ihr weniger routiniertes Gegenüber durch eine Streckung des Verfahrens ganz bewusst zu ermüden und daraus am Ende Kapital zu schlagen. Dieser Fall ist seltener, als man denkt, aber er kommt vor. Eine Mediation führt hier nur selten zu einem verwertbaren Ergebnis in der Sache. Dafür fördert sie aber bei der weniger routinierten Seite meist die schnelle Erkenntnis zu Tage, welches Spiel die Gegenseite spielt. Hier frühzeitig klar zu sehen, kann das Verfahren immerhin auch voranbringen, denn die weniger konfliktbewanderte Partei kann die Auseinandersetzung dann auf dem streitigen Wege entsprechend zügiger vorantreiben.

Im häufigeren Fall, dass eine gemeinsame Lösung im Bereich des Möglichen und Gewünschten liegt, besteht die zentrale Herausforderung bei gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen in der Regel darin, eine handlungsfähige Verhandlungsmannschaft zu formieren. Wenn die Anteile der Familienfirma über Dutzende Stakeholder verteilt sind, gilt es, bestehende Allianzen zu erkennen, inhaltliche Übereinstimmungen zu ahnen und vor diesem Hintergrund eine Gruppe von Verhandlungsteilnehmern festzulegen, die möglichst alle Interessen reflektiert und repräsentiert und auf deren Wort möglichst viele Anteilseigner folgen.Footnote 28 Eine Mediatorin wird diese Auswahl zur Vermeidung von Neutralitätsbedenken natürlich nicht selbst vornehmen, sondern die Betroffenen dazu anleiten, wie sie sich auf geeignete Vertreter einigen können. Dass sich diese vorlaufende Abstimmung über einige Wochen hinzieht und ggf. auch einmal ein Präsenztreffen erfordert, ist nicht ungewöhnlich. Kommt es danach zu einer Mediation mit repräsentierenden Verhandlungsteilnehmern, führt diese abhängig von der Entscheidungsmacht der Repräsentanten nicht zwingend zu einem unmittelbar bindenden Ergebnis. Sie kann aber durch einen möglichst konkreten Entwurf zum weiteren Vorgehen durchaus den Knoten durchschlagen und eine langfristige Lösung aufs Gleis setzen.

4.2.4 Internationale Bezugspunkte

Eine vierte Dimension besonderer Komplexität in Erbrechtsstreitigkeiten bilden internationale Bezugspunkte. Sie schlagen sich zunächst darin nieder, dass die Streitparteien häufig über große Distanzen kommunizieren, ohne sich persönlich zu sehen; diese Distanz und die teilweise hinzutretenden Sprachbarrieren fördern Missverständnisse und verschärfen Konflikte. Darüber hinaus sind für die rechtliche Würdigung solcher Fälle vertiefte Kenntnisse im internationalen Privatrecht und im internationalen Zivilverfahrensrecht notwendig, die nicht für jeden Anwalt zur Standardklaviatur gehören. Bisweilen wird dabei die Anwendbarkeit ausländischen Rechts unbewusst übersehen oder zielorientiert „abgewendet“, um nur mit dem eigenen Recht arbeiten zu können. Kommt es letztlich zu einem Gerichtsprozess, muss diese Dimension des Falls ganz neu erarbeitet werden.

Die Autoren waren seinerzeit als Mediatoren an einem grenzüberschreitenden Fall beteiligt, der in die Zeit kurz nach Geltungsbeginn der Europäischen Erbrechtsverordnung fiel. Beide Parteien waren seit langer Zeit anwaltlich beraten. Beide Anwälte hatten die internationalen Bezüge des Falls erkannt, einer hielt allerdings die veralteten Bestimmungen des Art. 25 EGBGB für einschlägig, während der andere die EuErbVO zwar schon zu Rate gezogen hatte, sich bei der Rechtsanwendung aber erkennbar schwertat. Beide Anwälte hatten die Sache bereits zu einer nennenswerten Eskalation geführt, scheuten aber letztlich vor einem Klageverfahren zurück, mutmaßlich wegen ihrer Unsicherheit auf dem international-rechtlichen Terrain. Eine Mediation erschien hier offenbar als einziger gesichtswahrender Ausweg – und führte binnen weniger Verhandlungstage zu einem durchgreifenden Erfolg.

Eine Mediation kann den Anforderungen eines internationalen Erbschaftsstreits wesentlich flexibler gerecht werden, als dies einem Gerichtsprozess möglich ist. Erheblicher Gestaltungsspielraum besteht unter anderem bei der Verfahrenssprache, beim Verhandlungsort und bei Prognosen zur Bewertung rechtlicher Fragen.Footnote 29 Insbesondere eine Mediation unter Leitung zweier gleichberechtigter Co-Mediatoren bietet die Chance, Sprachdifferenzen zu überwinden, etwa indem das Verfahren zweisprachig geführt wird und jeder Verhandler sich in seiner Muttersprache äußern kann. Der dadurch bewirkte Zugewinn an Verfahrenskomfort und Verfahrenszufriedenheit ist nicht zu unterschätzen.

4.3 Große Einigungschance trotz starker Polarisierung

Grundsätzlich kann eine Mediation ähnlich einem Zivilprozess zu einem Verzicht der Anspruchstellerin oder einem Anerkenntnis der Anspruchsgegnerin führen. Häufiger kommt es vor, dass sich die Parteien ein Stück weit, wenn auch nicht notwendig im selben Umfang entgegenkommen. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dies gelingt, ist im Erbrecht größer als in vielen anderen Rechtsbereichen, obwohl die Positionen auch hier zunächst extrem verhärtet sein können. Aussicht auf Erfolg besteht gleichwohl deswegen, weil keine Seite eigenes Vermögen aufgeben muss, weil häufig gemeinsame Autoritätspersonen existieren und weil die Aussicht auf eine baldige Trennung der Parteien für eine gewisse Erledigungsdynamik sorgen kann.

4.3.1 Geringe Verlustängste

Es ist bedeutend einfacher, eine für die Zukunft erhoffte Vermögensposition aufzugeben, als aus dem bestehenden Besitz etwas abzugeben; die Verhaltensökonomen sprechen von Verlustaversion.Footnote 30 Das sind günstige Rahmenbedingungen für Erbschaftsstreitigkeiten, weil hier alle Beteiligten aus dem Nachlass neue Vermögenswerte erhalten und niemand etwas aufgeben muss, das bisher ihm gehörte.Footnote 31 Mit anderen Worten: In Erbschaftsauseinandersetzungen muss man nicht zwingend kreativ sein, um eine Wertschöpfung zu realisieren, sondern das Win-Win ist gewissermaßen bereits in der DNA der Nachlasssache angelegt. Es lässt sich kaum vermeiden, dass alle nachher mindestens ebenso gut, eher aber deutlich besser stehen als vorher. Zugleich ist der Nachlass im Unterschied zu streitigen Vermögenspositionen in anderen Rechtsgebieten während der Auseinandersetzung regelmäßig noch blockiert; es besteht also ein gemeinsames Interesse an einer zügigen Einigung zur Verteilung bzw. Auszahlung der einzelnen Nachlasspositionen.

Auch wenn die Erbrechtsmediation insofern weniger als die Mediation in anderen Rechtsbereichen auf echte Wertschöpfung angewiesen ist, gibt es natürlich auch in Erbstreitigkeiten vielfältige Gelegenheiten, Vermögensmassen wertmaximierend zu verteilen und heterogene Interessen abhängig von ihrer subjektiven Priorität für den Einzelnen intelligent zu befriedigen. An die bisweilen fesselnde Struktur des BGB-Auseinandersetzungsverfahrens sind die Beteiligten dabei gerade nicht gebunden. So wird man in einer Mediation stets nach Wegen suchen, um die einzelnen Nachlassbestandteile denjenigen Erben zuzuweisen, die sie besonders wertschätzen.Footnote 32 Dabei sind – bei einem generellen Wohlwollen der Parteien zueinander – durchaus auch verzahnende Lösungen denkbar, bei denen Vermögenspositionen, die für beide Parteien mit einem hohen Affektionsinteresse verbunden sind, auch einmal zwischen ihnen hin- und herwandern oder mit bestimmten Nutzungsrechten für denjenigen versehen werden können, der sie nicht zu Eigentum erhält.

In einem von den Autoren mediierten Erbstreit ging es unter anderem um ein großes Villengrundstück inmitten einer Parkanlage, mit dem beide Söhne der verstorbenen Mutter viele schöne Kindheitserinnerungen verbanden. Nachdem sich eine Fortführung der Erbengemeinschaft oder eine Übernahme zu Miteigentum beider Geschwister als schwierig erwies, vereinbarten die beiden Brüder, dass der eine das Grundstück erhalten sollte, der andere aber berechtigt sein sollte, die dort eingerichtete Ferienwohnung für vier Wochen im Jahr zu selbst gewählten Terminen mit seiner Familie zu nutzen. Damit war dem Affektionsinteresse beider Parteien Rechnung getragen und doch eine klare Verantwortlichkeit für das Grundstück geschaffen. Natürlich war eine solche Lösung hier nur deswegen möglich, weil sich beide Brüder trotz des Konflikts im Grundsatz noch so wohlgesonnen waren, dass der durch die Feriennutzung entstehende zukünftige Berührungspunkt für sie kein rotes Tuch war.

4.3.2 Respekt gegenüber gemeinsamen Autoritäten

Ein zweiter Aspekt, der selbst in hoch eskalierten Erbstreitigkeiten dafür sorgen kann, dass sich beide Parteien letztendlich doch auf die Suche nach einer einvernehmlichen Lösung machen, ist der häufig an der einen oder anderen Stelle anzutreffende Respekt gegenüber gemeinsamen Autoritäten. Es kommt überraschend häufig vor, dass es irgendwo in der Großfamilie eine einflussreiche Figur gibt, die vom Erbstreit Wind bekommt und auf beide Parteien Einfluss nimmt, diesen Konflikt nicht vor Gericht auszutragen, sondern es zunächst mit einem Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung zu versuchen. Insbesondere wenn diese Person nicht „im Lager“ einer der Streitparteien steht, stehen die Chancen gut, dass sich die Parteien zu einem Mediationsversuch entscheiden.

Eine solche Autoritätsfigur kann etwa eine gemeinsame Tante sein, mit der die Parteien seit Kindheitstagen in großer Achtung verbunden sind. Womöglich gibt es auch Menschen, die den Verstorbenen vor seinem Tode gepflegt haben und deren Wort allein wegen der uneigennützig für die Pflege aufgewendeten Zeit etwas gilt. Und natürlich hat auch das noch zu Lebzeiten gesprochene oder verschriftlichte Wort des Erblassers selbst eine große Autorität. Findet sich etwa in einem Testament der Wunsch des Verstorbenen, seine Nachfahren mögen bei Unstimmigkeiten die Hilfe einer Mediatorin suchen und ist dort eine mögliche Mediatorin womöglich sogar schon namentlich genannt, werden sich die Erben wesentlich leichter tun, den Weg zu einer gütlichen Streitbeilegung zu finden. Ein solcher Appell kann im Einzelfall sogar für Pflichtteilsberechtigte eine Anregung zur Beteiligung am Mediationsverfahren darstellen, jedenfalls sofern diese damit rechnen können, hier nicht schlechter zu stehen als in einem gerichtlichen Verfahren.Footnote 33

4.3.3 Realistische Aussicht auf dauerhafte Trennung

Schließlich ist auch ein dritter Aspekt von großer Bedeutung dafür, dass das Mediationsverfahren im Erbrecht nicht nur eine noble Idee, sondern ein sehr praxisgerechtes und nutzerfreundliches Werkzeug ist: Im Unterschied zu Streitigkeiten aus dem Familienrecht oder aus ständigen Lieferbeziehungen haben die Parteien eines Erbstreits die realistische Chance, sich nach Abschluss des Verfahrens nie wieder sehen zu müssen. Wer mit seinem Partner über Unterhaltsfragen oder um ein Sorge- oder Umgangsrecht streitet, wird diese Fragen vermutlich unabhängig von seinem konkreten aktuellen Rechtsproblem auf Jahre oder Jahrzehnte, vielleicht sogar auf Lebenszeit nicht los. Wer sich mit seiner Nachbarin um Fragen von Baurecht und Nachbarschutz streitet, wird die mit der nachbarlichen Grenze verbundenen Herausforderungen vermutlich nicht los, solange er sein Haus nicht verkauft. Und wenn zwei Mitgesellschafter eines Unternehmens um die Wirksamkeit einer Management-Entscheidung streiten, müssen sie auch in der absehbaren Zukunft mit ähnlichen Differenzen rechnen, solange nicht einer seine Anteile veräußert. Dies ist im Erbrecht in den meisten Fällen anders: Dieselben Personen werden in der Regel nur einmal zusammen erben.Footnote 34 Wenn sie wollen, können sie sich danach fast beliebig aus dem Weg gehen; vertragliche Verbindungen oder Unterhaltspflichten untereinander existieren nur im Ausnahmefall.

Im ersten Zugriff mag man vermuten, dass es eigentlich die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft sein müsste, die die Parteien dazu bringt, sich zu einem Einigungsversuch aufzuraffen. Die Praxis zeigt indes, dass die meisten Menschen nicht so denken. Die auf absehbare Zeit fortbestehende Verbindung bringt sie eher dazu, Pflöcke einschlagen, Festlegungen treffen und Prinzipien durchsetzen zu wollen. Es treibt sie tendenziell die Angst, nicht nur situativ den Kürzeren zu ziehen, sondern auf unabsehbare Zeit von ihrem Gegenüber ausgenutzt zu werden. Deswegen wird andersherum ein Schuh aus der Sache: Wer die Aussicht auf eine dauerhafte Trennung hat, kann sich leichter zu einem Kompromiss aufraffen als derjenige, der über eine Präzedenz für die kommenden Jahrzehnte verhandelt.

4.4 Geringe Verfahrenskosten

Sich professionell zu streiten, kostet Geld: Das Hinzuziehen neutraler Dritter, seien es Richter, Schiedsrichter oder Mediatoren, schmälert die Verhandlungsmaterie insgesamt. Es besteht also ein gemeinsames Interesse der Parteien, Verfahrenskosten nur mit großer Bedacht auszulösen. Dieses Interesse wird insbesondere im gerichtlichen Verfahren regelmäßig verstellt von einer überoptimistischen Perspektive, die damit rechnet, dass nach § 91 ZPO ohnehin der jeweils andere für die Verfahrenskosten geradestehen müsse. Sorgfältig beratene Parteien werden gleichwohl sorgfältig abwägen, ob sie das Kostenrisiko eines über womöglich mehrere Instanzen zu führenden Zivilprozesses tatsächlich aufnehmen möchten.

Vergleicht man vor diesem Hintergrund die Kosten eines Gerichtsprozesses einerseits und eines Mediationsverfahrens andererseits, so erscheint die Justiz vor allem bei geringen Streitwerten vorteilhaft, während die Mediation vor allem bei großen Streitwerten punktet. Wesentlicher Grund hierfür ist das künstliche Kostentableau vor Gericht: Das Gerichtskostengesetz (GKG) und das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) sehen streitwertabhängige Kostensätze vor, die bei geringen Streitwerten regelmäßig hinter dem tatsächlichen Aufwand zurückbleiben und bei hohen Streitwerten den tatsächlichen Aufwand meist deutlich übersteigen. Diese Quersubventionierung der kleinen durch die großen Verfahren rechtfertigt sich unter anderem durch das rechtspolitische Ziel eines effektiven Zugangs zur Justiz auch für niedrige Streitwerte. Aber sie führt eben auch dazu, dass Klagen auf hohe Werte überproportional teuer ist.

Die Kosten eines Mediationsverfahrens berechnen sich üblicherweise nach Stunden-, Halbtages- oder Tagessätzen der beteiligten Anwälte und Mediatoren. Bei einer Vorbereitungszeit von einem Tag und einer Verhandlungsdauer von drei Tagen kann man beispielsweise mit einem Mediatorenhonorar von 5000 bis 10.000 € rechnen. Tritt ein Co-Mediator hinzu oder sind Anwälte in der Mediationsverhandlung anwesend, fallen die Gesamtkosten entsprechend höher aus.Footnote 35 Die Kosten eines Gerichtsverfahrens erreichen diese Größenordnung grob ab einem Streitwert von 100.000 Euro. Betrachtet man das Verfahren rein aus der Warte der monetären Verfahrenskosten, so ist eine Mediation ungefähr ab einem sechsstelligen Streitwert sinnvoll. Erbstreitigkeiten bewegen sich regelmäßig in dieser Größenordnung und sind damit grundsätzlich mediationsaffin.

Ungefähr eines von fünf Mediationsverfahren führt nicht zu einer Einigung der Parteien. Footnote 36 In diesen Fällen kann sich ein Gerichtsprozess anschließen, so dass sich die Kosten beider Verfahren womöglich aufaddieren. Wer als Anwältin ein Mediationsverfahren empfiehlt, sollte aus Transparenzgründen darauf hinweisen. Es gilt aber auch: Wenn sich eine Einigung nicht anbahnt, fallen die Mediationsverhandlung regelmäßig deutlich kürzer und das Mediatorenhonorar entsprechend schmaler aus. Abgesehen davon kann durchaus auch eine ohne Einigung abgeschlossene Mediation Früchte tragen, etwa in Gestalt von Erkenntnissen über die Perspektive oder die Interessen des Gegenübers. Und selbst wenn man die Kosten eines solchen Mediationsverfahrens im Nachhinein als nutzlos abschreiben wollte, ist aus einer ex-ante-Perspektive ein Mediationsversuch gleichwohl sinnvoll, weil die Nutzenerwartung angesichts der hohen Erfolgsquote zumeist klar positiv ist.

Diese rein monetäre Rechnung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in einer Mediation nicht vordergründig darum geht, Geld zu sparen. Die Mediation ist kein Billigverfahren, und selbst wenn sich die dargestellten Verfahrenskosten im Vergleich zu einem Millionenstreitwert bescheiden ausnehmen, so sollten für die Wahl eines Konfliktlösungsverfahrens doch andere Maßstäbe entscheidend sein. Ebenso wichtig wie Geld, häufig sogar noch wichtiger ist den Parteien, den Streit ohne emotionalen Aufwand zügig über die Bühne zu bringen, ohne sich dabei über den Tisch ziehen zu lassen. Diese Bedürfnisse befriedigt eine Mediation so unmittelbar und nachhaltig, dass man sich eigentlich sogar regelmäßig dann dafür entscheiden müsste, wenn andere Verfahren weniger Geld kosten würden.