Das letzte Hemd hat keine Taschen. Deswegen kommt die Rechtsordnung nicht umhin, das Vermögen verstorbener Menschen nach ihrem Tod neu zuzuweisen. Darin liegt Fluch und Segen zugleich. Erbschaften befreien von Schulden und sorgen für Wohlstand, zugleich sind sie oft auch Anlass und Verstärker menschlicher Empfindungen und tiefer familiärer Auseinandersetzungen. In jeder Familie gibt es irgendwo Verletzungen und Risse, die man im Konfliktfall heranassoziierenFootnote 1 kann, um Ansprüche zu begründen, Fronten aufzubauen und eine Auseinandersetzung zu stimulieren. Wer als Anwältin oder Berater regelmäßig mit Erbstreitigkeiten beschäftigt ist, kann ein Lied davon singen. Grund genug, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie sich die meist unvermeidlichen Querelen bei Nachlassplanung und Erbauseinandersetzung konstruktiv gestalten lassen.

1.1 Warum Mediation im Erbrecht?

Das Warum ist vermutlich die häufigste Frage aus Kindermund. Oft ist es eine gute Frage. Manche dieser Fragen sind wie der Beginn einer Reise. Mit den Worten von Lorenz Pauli: „Man startet mit offenen Augen und Ohren und gelangt weiter und weiter von einer Frage zur nächsten. … Antworten sind oft das Ende einer solchen Reise. Manchmal lässt eine Antwort die schönste Fragenreise abrupt enden.“Footnote 2

Warum also dieses Buch? Man hört häufig, dass Werke, deren Sinn man erst eigens erläutern muss, am besten gar nicht geschrieben werden sollten. An dieser Stelle sei dennoch ein Wort dazu gesagt. Denn in diesem Buch geht es zwar um ein intuitiv einleuchtendes Ziel, aber um eine kontraintuitive Methode, um dorthin zu gelangen. Mit Blick auf den Leidensdruck der Parteien in erbrechtlichen Streitigkeiten liegt auf der Hand, dass eine einvernehmliche Lösung regelmäßig im Interesse aller Beteiligten liegt. Aber warum sollten Verhandlungen durch die bloße Anwesenheit eines neutralen Dritten in ein konstruktives Fahrwasser gelangen, wenn alles bis dahin immer nur kontroverser und unangenehmer wurde? Und wie lässt sich das hehre Ideal in die Praxis umsetzen? Eben diese Fragen möchte dieses Buch beantworten.

1.1.1 Erbrecht: Ein Fall für sich

Erbstreitigkeiten bieten auf der Ebene des materiellen und prozeduralen Rechts nahezu alles, wovon Juristinnen und Juristen (angeblich) träumen: komplexe Sachverhalte, fesselnde rechtsdogmatische Fragen, knifflige Herausforderungen auf materieller und prozessualer Ebene sowie eine große wirtschaftliche Bedeutung angesichts der damit einhergehenden hohen Streitwerte.Footnote 3 Erbrechtliche Fallgestaltungen stellen also schon bei rein äußerlicher Betrachtung hohe Anforderungen an die juristische Bearbeitung.

Erbkonflikte bieten allerdings auch Raum für Albträume, gerade für Beraterinnen und Berater, die isoliert juristisch arbeiten. Die hohe emotionale Betroffenheit der Beteiligten und die daraus resultierenden Verhaltensweisen stellen sie auf eine enorme Probe. Das Verhalten der Gegenseite, manchmal sogar dasjenige der eigenen Mandantin, stempelt man leicht als irrational oder querulatorisch ab. Oft geht dies einher mit einer Übertragung dieser intuitiven Abwertung von dem Verhalten eines Menschen auf die handelnde Person selbst. Sach- und Personenebene werden damit konfliktfördernd und konflikteskalierend vermischt. Hinzu treten lange Verfahrensdauern und umfangreiche anwaltliche Schriftsätze sowie gelegentlich fehlendes Verständnis für die komplexe Rechtsmaterie, sei es des originären Erbrechts oder der weiteren beteiligten Rechtsgebiete.

1.1.2 Vom Wert effizienter Verfahren

Kehrseite der großen Komplexität erbrechtlicher Fälle ist die damit verbundene Herausforderung, Konfliktbewältigungsverfahren effizient zu gestalten. Die Justiz als traditionell erste Wahl steht dabei im Wettbewerb mit neuartigen und alternativen Verfahren der Konfliktlösung.Footnote 4 Ein Grund dafür ist der Umstand, dass die staatliche Zivilgerichtsbarkeit trotz sinkender Fallzahlen nach wie vor chronisch überlastet ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine volkswirtschaftliche Frage der optimalen Allokation staatlicher Ressourcen. Denn mit einer überforderten Justiz ist stets auch die grundrechtlich verbürgte Rechtsschutzgarantie in Form des Justizgewährungsanspruches des Art. 19 Abs. 4 GG als „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats“ betroffen.Footnote 5

Das Gewaltmonopol des Staates, also der Verzicht auf Selbsthilfe und die Friedenspflicht der Bürger, erfordern einen Gegenpol. Dieser Gegenpol liegt in der Zusicherung des Staates, effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Als effektiv kann der Rechtsschutz aber nur dann bezeichnet werden, wenn effektiver Zugang zu den Gerichten und erträgliche Verfahrensdauern gewährleistet sind, sich also eine verbindliche Entscheidung eines Gerichtes in angemessener Zeit herbeiführen lässt.Footnote 6

Die subjektive Einschätzung der Bevölkerung spricht hierzu eine deutliche Sprache. Wenngleich 70 Prozent der Bevölkerung sehr viel oder ziemlich viel Vertrauen in die Gerichte haben, schätzen 75 Prozent die Gerichte als überlastet ein, und 81 Prozent der Menschen haben den Eindruck, dass viele Verfahren zu lange dauern.Footnote 7 Ausdrücklich positiven Aussagen über die deutsche Justiz, namentlich der Aussage, dass „deutsche Gerichte gewissenhaft und gründlich arbeiten und […] alles mit rechten Dingen zugeht“, stimmt sogar noch nicht einmal jeder dritte Bundesbürger zu.Footnote 8

Aber auch bei objektiver Betrachtung gelingt es in der Gerichtspraxis nicht immer, ein Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen.Footnote 9 Dies lässt sich etwa dadurch belegen, dass die Bundesrepublik Deutschland bereits mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen überlanger Gerichtsverfahren verurteilt wurde;Footnote 10 alleine in 24 Verfahren im Zeitraum von 1978 bis 2007.Footnote 11

Neben der Verfahrensdauer werden Gerichtsverfahren aber auch aus weiteren Gründen rechtsgebietsübergreifend kritisch gesehen. Im Vordergrund steht dabei die Gesamtcharakterisierung als langsam, langatmig, zeitaufwändig, teuer, schwerfällig oder schleppend.Footnote 12 Darin liegt nicht unbedingt eine Justizkritik. Denn die Formalisierung der staatlichen Rechtsgewährung birgt neben vermeidbaren auch manches notwendige Übel, das die Justiz nicht abstellen kann, dem die Parteien eines Rechtsstreits aber im eigenen Interesse häufig aus dem Weg gehen können.

Gerade bezogen auf das Erbrecht stellen das umfangreiche und komplex geschriebene nationale und internationale Recht sowie die ausdifferenzierte Rechtsprechung, die nur teilweise den Gesetzeswortlaut widerspiegelt, selbst anwaltliche Expertinnen und Experten häufig vor große Herausforderungen. Bisweilen hört man sogar aus Richtermund, dass die Materie kaum mehr praktisch handhabbar sei. Auch daran liegt es, dass die Dauer erbrechtlicher Verfahren samt den damit zusammenhängenden Kosten für manche Beteiligte schwer zu ertragen ist. Regelmäßig enden gerichtliche Streitigkeiten erst nach vielen Jahren in höherer Instanz mit einem vom Gericht nachdrücklich empfohlenen Vergleich. Was bis dahin an Ressourcen investiert wurde und an Beziehungen Schaden genommen hat, lässt sich natürlich nicht mehr zurückholen.

1.1.3 Mediation als Trendthema

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass außergerichtliche Verfahren wie die Mediation en vogue sind. Im Kanon der Konfliktlösungsmechanismen haben konsensorientierte Verfahren in Europa und Deutschland seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts erheblich an Gewicht gewonnen. So bestehen auf europäischer Ebene vielfältige Bestrebungen, die außergerichtliche Streitbeilegung zu fördern. Die EU erwartet sich davon unter anderem eine Erleichterung des innergemeinschaftlichen Rechtsverkehrs. Im Jahr 2008 trat die Mediationsrichtlinie in Kraft,Footnote 13 nachdem bereits im Jahr 2004 der Europäische Verhaltenskodex für Mediatoren erlassen worden war.Footnote 14 Auf nationaler Ebene führte diese Entwicklung im Jahr 2012 zum Erlass des Mediationsgesetzes.Footnote 15 Im Jahr 2017 folgte die Verordnung über die Aus- und Fortbildung zertifizierter Mediatoren.Footnote 16

Man kann also feststellen, dass der europäische wie auch der nationale Gesetzgeber mediationsfreundlich eingestellt sind. So hält etwa die EU die Mediation ausweislich Erwägungsgrund 6 der Mediationsrichtlinie für ein Verfahren, das eine kostengünstige und rasche außergerichtliche Streitbeilegung bietet. Die EU geht dabei mit guten Gründen davon aus, dass in Mediationen geschlossene Vereinbarungen tendenziell freiwillig eingehalten werden und die Zukunftsfähigkeit der Beziehungen zwischen den Parteien wahren. Die Zeiten, in denen Mediation und Meditation versehentlich oder auch scherzhaft absichtlich verwechselt wurden,Footnote 17 sind damit endgültig vorbei.

Auch auf Seiten der Anbieter von Mediationsausbildungen und in der (Fach-)Literatur zu Mediation zeigt sich eine konsolidierende Tendenz. Dies mag an der einen oder anderen Stelle Fragen zur Qualität aufwerfen, mehrheitlich wird damit jedoch ein positiver Beitrag zur Anerkennung der Mediation und ihrer Verbreitung geleistet. Gerade auch in der juristischen Fachliteratur ist erkennbar, dass viele Standardwerke spezifischer Rechtsgebiete nunmehr auch einen eigenen Teil zu alternativer Streitbeilegung und Mediation enthalten.Footnote 18

1.1.4 Status quo der Konfliktkultur

Was der Gesetzgeber befürwortet, verfängt ein Stück weit auch in der Bevölkerung. Hier geben mittlerweile 86 Prozent der Bürger an, dass ihnen die Möglichkeit der Mediation bekannt sei. Dabei steigt der Bekanntheitsgrad des Verfahrens mit steigendem Bildungsgrad. Fast die Hälfte der Bevölkerung denkt, dass sich viele Streitigkeiten durch eine Mediation beilegen lassen. Dabei stärken eigene Mediationserfahrungen das Image des Verfahrens: Wer selbst bereits einmal an einer Mediation teilgenommen hat, hat eine (noch) höhere Meinung von dem Verfahren.Footnote 19 Dabei spielen die hohen Einigungschancen bei kurzer Verfahrensdauer eine entscheidende Rolle.Footnote 20 Auch die Bundesregierung gelangt zu der Erkenntnis, dass die Wertschätzung – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene – in Gesellschaft und Wirtschaft für Mediation stetig ansteigt.Footnote 21 Kurioserweise hält die tatsächliche Inanspruchnahme mediativer Verfahren mit dieser Entwicklung nicht Schritt.Footnote 22 Namentlich im Bereich der Wirtschaftsmediation, aber auch auf dem Gebiet des Erbrechts sind Mediationen bisher noch die Ausnahme,Footnote 23 obwohl sie eigentlich eine Art Idealmodell für die Konfliktlösung darstellen.Footnote 24

Diesen Befund kann man als Konfliktlösungsparadoxon beschreiben:Footnote 25 Die Parteien haben relativ klare Vorstellungen an und Erfahrungen mit Konfliktlösungsmechanismen, handeln aber im konkreten Fall entgegen ihrer eigenen abstrakten Erkenntnis. Dies ist umso überraschender, als bei der Bewertung verschiedener Verfahren die Zustimmung mit dem Grad der Parteiautonomie zunimmt, die staatlichen Verfahren jedoch die geringste Parteiautonomie zulassen. Das tatsächlich eher kritisch gesehene Gerichtsverfahren wird weiterhin sehr häufig genutzt, obwohl sein mittlerer Vorteilswert am geringsten eingeschätzt wird.Footnote 26 Man kann das etwas pointiert als einen Fall „verbaler Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ beschreiben.Footnote 27

Die Chancen, die Konflikte bieten, rücken damit viel zu selten in den Blickpunkt der Betrachtungen. Zwar verlaufen Konflikte zumeist dysfunktional oder destruktiv, jedoch ist dies keinesfalls zwingend. Konflikte lassen sich durchaus funktional und konstruktiv führen und können so Kreativität und Innovationskraft der Beteiligten fördern.Footnote 28 Nicht ohne Grund hat der bekannte Unternehmer Claus Hipp einmal formuliert: „Nicht die Konflikte sind das Problem, sondern die mangelnde Konfliktfähigkeit“.Footnote 29

1.1.5 Reflektion statt Autopilot

Wege, die die Beteiligten bei aktiviertem „Autopiloten“ – also auf Basis automatisierter Reaktionen – einschlagen und mit denen sie hergebrachte Muster übernehmen, führen auf erbrechtlichem Terrain in der Regel in die Sackgasse der destruktiven Konfliktbearbeitung. Das gefährdet und zerstört materielle Werte, stellt Beziehungen auf eine harte Probe und vergiftet die Gesprächsatmosphäre auf lange Zeit. Die Entscheidung für einen konstruktiven Weg liegt bei den einzelnen Konfliktparteien und deren Beratern bzw. bei der klugen Auswahl und/oder Steuerung der Beraterperson. Auch Berater können sich von dem Modus „Autopilot“ natürlich nicht (gänzlich) freisprechen: Mit guten Gründen genießen die meisten Rechtsanwälte das Obsiegen vor Gericht oder das Erzielen einer positionsbasierten für die Mandantin erfolgreichen Einigung. Dies gilt selbst dann, wenn es bezogen auf den isolierten Streitgegenstand damit „nur“ zu einer Konfliktbeendigung und keiner Konfliktlösung im umfassenden Sinne kommt. Die Juristenausbildung und der anwaltliche Beruf tun ein Übriges, um kompetitive Persönlichkeitsstrukturen anzuziehen und zu fördern. Die Herausforderung besteht darin, diese Mechanismen zu erkennen und die Entscheidung über die Aktivierung oder Deaktivierung des Autopiloten aus der Rolle der Streitpartei heraus ganz bewusst zu treffen.

In erbrechtlichen Auseinandersetzungen ist wie auch in vielen anderen Konfliktkonstellationen noch ein weiterer unreflektierter Automatismus zu erkennen: Konflikte werden konsequent delegiert. Auf die Konflikterkennung folgen zunächst Verhandlungen der Parteien, bevor diese den Konflikt in verschiedenen Stufen immer weiter von der Eigenverantwortung wegdelegieren. Im unternehmerischen Kontext folgt auf die interne Eskalation in der Hierarchie nach oben und lateral an die Rechtsabteilung die Abgabe des Verfahrens und der Ergebnisverantwortung an die staatlichen Gerichte.Footnote 30

Mit der Abgabe des Konflikts an Rechtsanwälte erfolgt zudem vielfach auch eine Fokussierung auf den justitiablen Teil eines Konflikts. Damit steht zu befürchten, dass die subjektiven Interessen der Parteien unberücksichtigt bleiben, obwohl sie für die Parteien eigentlich eine viel größere Bedeutung haben.Footnote 31 Bei dieser Herangehensweise sind außergerichtliche oder gerichtliche „Irgendwie-Lösungen“ zu befürchten, die das im Konflikt angelegte Wertschöpfungspotenzial bei weitem nicht heben können und die Beziehungen der Konfliktparteien für die Zukunft dauerhaft belasten. Demgegenüber tritt bei einer umfassenden Befriedung eines Konfliktes auf Beraterebene oft auch eine tiefe Befriedigung ein. Eine echte Konfliktlösung und die unmittelbare Wahrnehmung des positiven Einflusses der Mediation auf den Familienfrieden und die einzelnen Akteure können nicht nur die Parteien zufrieden hinterlassen, sondern auch die Berater und Mediatoren beflügeln. Daher verstehen manche die Mediation auch als eine Transformationsmethode, welche die Qualität zwischenmenschlicher Interaktionen signifikant verbessern kann.Footnote 32

Man sollte bei diesem „intellektuellen Blick“ auf typische Konfliktbehandlungsmuster in der anwaltlichen Rechtsberatung nicht vorschnell annehmen, dass es die Mandanten sind, die keine Bereitschaft für eine konsensuale Konfliktlösung mitbringen. Zwar scheint die Einigungsbereitschaft der Parteien in erbrechtlichen Angelegenheiten häufig sehr gering ausgeprägt und die Fronten entsprechend stark verhärtet. Besonders deutlich ist dies wahrzunehmen, wenn konkrete Erbrechtskonflikte von einem viel tiefer gelagerten „Urkonflikt“ ausgelöst oder begleitet werden.Footnote 33 In dieser Einigungsskepsis liegt allerdings bei verständiger Betrachtung nicht unbedingt ein Mediationshindernis, sondern vor allem ein Grund, ein Verfahren in Erwägung zu ziehen, das gegenseitiges Vertrauen unterstützt. Einigen werden sich die Parteien im Gros der Fälle ohnehin früher oder später. Vor Einleitung eines Gerichtsverfahrens besteht allerdings noch die Chance, diese Einigung aus eigener Autonomie heraus und nicht erst im Angesicht der Wirkmacht richterlichen Vergleichsdrucks zu schließen.

1.2 Wirtschaftliche Bedeutung der Vermögens- und Unternehmensnachfolge

Auch wenn erbrechtliche Streitigkeiten in der Regel nur unter den Erben, ggf. noch unter Einbeziehung von Vermächtnisnehmern und Pflichtteilsberechtigten ausgetragen werden, sind doch die wirtschaftlichen und emotionalen Interessen eines weit größeren Personenkreises berührt. Je größer der Nachlass, desto häufiger geht es auch um die Führung und den wirtschaftlichen Fortbestand von Unternehmen und Arbeitsplätzen. Hier vervielfältigen sich regelmäßig die Konfliktpotenziale durch die betroffenen Ebenen Familie, Unternehmen und Vermögen. Und selbst wo dies nicht der Fall ist, beziehen viele Erblasserinnen und Erblasser gemeinnützige Zwecke in ihre Nachlassplanungen ein, die fast zwangsläufig darunter leiden, wenn Nachlasskonflikte eskalieren.

In den letzten Jahrzehnten ist das Gesamtvermögen aller privaten Haushalte in Deutschland nach den Zahlen des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) rasant angestiegen. Das Vermögen entfällt zu ungefähr gleichen Teilen auf Immobilien und Sachanlagen. Footnote 34 Pro Jahr entspricht das einem Erbvolumen von über 300 Milliarden Euro. Footnote 35 Dieses Vermögen ist allerdings sehr ungleich verteilt. Mit guten Gründen befürchtet die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, dass das derzeitige Erbschaftsrecht die sozialen Unterschiede verstärkt. Knapp drei Viertel der Bevölkerung befürworten daher eine höhere Besteuerung von großen Erbschaften im Wert von über einer Million Euro. Footnote 36

1.2.1 Konfliktkosten auf Seiten der Erben

Die Nachkommen der Erblasser investieren in Nachlasskonflikte regelmäßig viel Zeit und viel Geld. Was Anwälte und Gerichte für ihren Beitrag zur Konfliktlösung in Rechnung stellen, vermindert naturgemäß den zu verteilenden Nachlasswert. Bei einer erst außergerichtlichen und später gerichtlichen Auseinandersetzung über mehrere Klagestufen, Termine und Instanzen ist schnell ein zweistelliger Prozentsatz des Nachlasswerts verbrannt. Es ist zwar üblich und gerade aus Sicht der Verhaltensforschung verständlich, die Verfahrenskosten in der eigenen Kalkulation nicht zu berücksichtigen – in der Erwartung, der Gegenspieler werde letztlich den Kürzeren ziehen und dann auch Gerichts- und Anwaltskosten zahlen müssen. Der Wirklichkeit wird diese optimistische Herangehensweise aber nicht gerecht: In aller Regel steht auch am Ende eines langen Gerichtsverfahrens ein Vergleich, der freilich aufgrund der inzwischen verbrauchten Ressourcen beide Seiten deutlich teurer zu stehen kommt, als dies eigentlich notwendig gewesen wäre.

Dabei bilden die durch Konflikte verursachten materiellen Nachteile nur die Spitze eines Eisbergs. Die durch erbrechtliche Konflikte ausgelösten immateriellen Schäden sind regelmäßig immens und übersteigen die materiellen Nachteile bei weitem. Gerade im Bereich erbrechtlicher Konflikte sind persönliche Verletzungen und Kränkungen an der Tagesordnung. Häufig bestehen sie für lange Zeit, manchmal noch über Generationen hinweg, fort. Das gilt umso mehr, wenn die Betroffenen aufgrund ihrer Prominenz ohnehin im Licht des öffentlichen Interesses stehen. Nicht zufällig sind erbrechtliche Beratungen und Konflikte häufig Gegenstand detailreicher Berichterstattung der Boulevard-Presse.

Im Volksmund gibt es ein vielsagendes und leider zutreffendes Bonmot: Haben Sie schon geerbt oder reden Sie noch miteinander?

1.2.2 Gesellschaftliche Bedeutung der Unternehmensnachfolge

Wenn sich Unternehmen oder Unternehmensanteile im Nachlass befinden, haben die mit einer streitigen Erbauseinandersetzung verbundenen Nachteile häufig eine Hebelwirkung weit in die Gesellschaft hinein. Konflikte hinterlassen Wirkung im Unternehmen, sie beeinträchtigen das Arbeitsklima und hemmen Motivation und Produktivität. Das gilt insbesondere dann, wenn der Erbstreit unmittelbar Fragen der Unternehmensnachfolge betrifft. Hier treibt die Auseinandersetzung regelmäßig selbst gesunde Unternehmen an den Rand des Ruins.Footnote 37 Es ist kein Geheimnis, dass (Rechts-)Berater von den hohen Streitwerten dieser Auseinandersetzungen vielfach gut leben. Für die Betroffenen macht das die Sache aber natürlich nicht besser.

Für den Begriff der Unternehmensnachfolge existiert keine einheitliche Definition. Das Institut für Mittelstandsforschung Bonn („IfM Bonn“) spricht von einer Unternehmensnachfolge, wenn der Eigentümer eines Familienunternehmens die Leitung aus persönlichen Gründen abgibt. Ohne dass dieses Kriterium dafür zwingend wäre, wird in der Regel auch das Eigentum vollständig übergeben. Die wesentlichen Gründe für eine solche Unternehmensnachfolge sind Alter, Krankheit, Unfall oder Tod. Als übergabereif gilt ein Unternehmen nach den Annahmen des IfM Bonn dann, wenn sich dessen Eigentümergeschäftsführerin innerhalb der nächsten fünf Jahre aus der Geschäftsführung zurückziehen wird. Verhielten sich alle Beteiligten streng rational, würde jedes Unternehmen eine Nachfolgerin finden, wenn es hinreichend attraktiv ist, wenn also die zu erwartenden Gewinne höher sind als die zu erwartenden Einkünfte eines potenziellen Nachfolgers plus die Erträge aus einer alternativen Kapitalanlage des gebundenen Kapitals.Footnote 38

Für den Fünfjahreszeitraum 2014 bis 2018 stand pro Jahr bei etwa 27.000 Unternehmen, die übernahmewürdig sind, eine Nachfolge an. Im Vergleich zum vorhergehenden Fünfjahreszeitraum liegt darin ein Anstieg von mehr als 20 %, der im Wesentlichen auf die Alterung der Unternehmer als Folge des demographischen Wandels zurückzuführen ist. Diese Tendenz wird sich schon aus demographischen Gründen voraussichtlich in den nächsten Fünfjahreszeiträumen weiter verstärken, während gleichzeitig die Zahl potenzieller Übernehmer sinkt.Footnote 39

Aus Sicht der Unternehmerfamilie stellt sich die Betrachtung der Unternehmensnachfolge noch gravierender, weil viel konkreter dar. Scheitert die Nachfolge, kommt es zu einem unmittelbaren Vermögensschaden, häufig verbunden mit negativen langfristigen Auswirkungen auf die Altersversorgung. Emotional ist das Scheitern der Nachfolge oft mit dem Zerbrechen des Lebenswerkes verbunden und damit hoch belastend.Footnote 40 Damit geht meist ein starker negativer Einfluss auf das gesamte System der Familie einher, da regelmäßig der zentrale Verbindungspunkt jenseits der Verwandtschaft selbst verloren geht. Nachfolgeregelungen müssten daher in jedem Stadium des Unternehmens höchste Priorität haben, da Unfall und Krankheit des Unternehmers auch in jedem Alter eintreten können.

1.2.3 Bedeutung für die Erblasserin

Für die potenziellen Erben liegt die wirtschaftliche Bedeutung zumindest abstrakt noch auf der Hand, auch wenn sie in vielen Fällen von immenser emotionaler Bedeutung begleitet oder gar überlagert wird. Eine globale Betrachtung muss darüber hinaus aber auch die Bedeutung des Konflikts für die Erblasserin mit einbeziehen. Sie sitzt zwar nach ihrem Tod naturgemäß nicht mehr mit am Verhandlungstisch.Footnote 41 Aber ihr Stil und ihre Ziele haben für die Nachkommen doch regelmäßig eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Vor allem aber beginnt Konfliktmanagement in Erbangelegenheiten nicht erst nach dem Tod der Erblasserin, sondern bereits zu ihren Lebzeiten. Die Fertigstellung einer umfassenden und austarierten Nachlassplanung,Footnote 42 die für Unternehmer eine Selbstverständlichkeit sein sollte, führt für alle Beteiligten häufig zu großer emotionaler Erleichterung. Gleiches gilt für Privatpersonen ohne unternehmerischen Hintergrund. Dieser Effekt verstärkt sich noch durch die Abstimmung der Planung mit der nachfolgenden Generation, denn so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese den ins Werk gesetzten Nachfolgeplan aufgrund der dahinterstehenden Motive, Wünsche und Interessen auch in der Praxis störungsfrei umsetzt.

Freilich bestehen vielfach hohe emotionale Hürden der Erblasser, sich mit der Nachlassplanung konkret zu beschäftigen. In der Beratungspraxis ist es eher Regel denn Ausnahme, dass Mandanten das Thema nach ihren eigenen Aussagen schon lange vor sich hergeschoben haben, ehe sie – oft genug veranlasst durch unschöne Lebensereignisse – konkrete Schritte zur Umsetzung ihrer Pläne unternehmen. Dies ist einerseits nicht verwunderlich, da die Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit und – im Hinblick auf Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen – mit der eigenen möglichen schweren Krankheit den meisten Menschen nicht leicht von der Hand geht. Andererseits ist es doch immer wieder bemerkenswert, wie häufig Unternehmer (im wahrsten Sinne des Wortes), denen Wohl und Wehe des Unternehmens wie der Unternehmerfamilie eigentlich sehr am Herzen liegen, im Hinblick auf die Unternehmensnachfolge zu „Unterlassern“ werden.

Damit lassen Unternehmer häufig außer Betracht, was eigentlich offen zu Tage liegt: Die rechtzeitige Regelung der eigenen Nachfolge müsste nach ihrer eigenen Zielsetzung eigentlich oberste Priorität genießen. Die in diesem Sinne rechte Zeit für die Nachfolgeplanung wäre dabei eigentlich mit Beginn der unternehmerischen Tätigkeit, jedenfalls mit Erreichung eines Unternehmensstadiums der Übernahmewürdigkeit aus betriebswirtschaftlichen oder persönlichen Gründen. Auch wenn viele Menschen verständlicherweise die Augen davor verschließen: Unfall, Krankheit oder Tod können uns in jedem Alter und in jedem Stadium der Unternehmertätigkeit ereilen.Footnote 43

Insgesamt ist der Anteil der Erblasser, die sich mit der eigenen Nachlassgestaltung detailliert auseinandersetzen und diese dann auch noch mit den Bedachten (oder gar mit den nicht Bedachten) umfassend besprechen, bedauerlicherweise außerordentlich gering, obwohl Erblasser wie potenzielle Erben eine zeitige und gründliche Planung dieser Dinge eigentlich dringend wünschen. Für juristische wie nichtjuristische Berater liegt hier insofern ein zentrales Augenmerk ihrer Dienstleistung.

1.3 Typische Beispielsfälle

Wer über intelligentes Konfliktmanagement im Erbstreit nachdenkt, wird sich dabei leichter tun, wenn er öffentlichkeitswirksame Fälle vor Augen hat, die durch die Gestaltung des Streitverfahrens einen guten oder womöglich auch weniger guten Ausgang genommen haben. Aus allen Epochen sind Erbstreitigkeiten prominenter Persönlichkeiten bekannt. Das Interesse der Öffentlichkeit an den oftmals heftigen Auseinandersetzungen und der Konflikteskalation ist ungebrochen groß. Darin liegt allerdings nicht nur Voyeurismus, sondern man kann aus diesen Fällen durchaus diverse typische Konfliktlagen ableiten und insofern aus den Erfahrungen anderer lernen.

1.3.1 Vermögensnachfolge

Jährlich kommt es in der Deutschland zu knapp 1 Mio. Erbfällen.Footnote 44 In 115.000 Fällen fiel beim Erwerb Erbschaftssteuer an;Footnote 45 d. h. es handelte sich entweder um ein sehr respektables, die Freibeträge des § 16 ErbStG überschreitendes Vermögen oder die Erben standen nicht in einer engen verwandtschaftlichen Nähebeziehung zum Erblasser.

1.3.1.1 Biblischer Erbstreit um das Erbe des Abraham

Aufsehenerregende Erbstreitigkeiten gab es bereits vor 2000 Jahren. Die Bibel etwa kennt nicht nur bereits den aus Eifersucht vollbrachten Geschwistermord von Kain an Abel,Footnote 46 sondern sie kann auch bereits mit einer Erbstreitigkeit aufwarten. So wollte Sara ihrem leiblichen Sohn Isaak das Alleinerbe nach Abraham sichern und so die erste Erbengemeinschaft verhindern. Der erstgeborene Sohn Abrahams, Ismael, sollte so seiner besonderen Stellung und Rechte beraubt werden.Footnote 47 Das Erstgeborenenrecht war zu biblischen Zeiten mit besonderen Privilegien verbunden: Der männliche Erstgeborene erhielt einen größeren Erbteil und es kam ihm überall der erste Platz nach dem Vater zu.Footnote 48 Letztlich ging es also um das Verhältnis der Stammeslinien untereinander.

Ähnliche Konstellationen sind auch heute noch an der Tagesordnung. Zwar hat man die Privilegien der Erstgeborenen heute außerhalb von Höfen und bestimmten Adelsregimes weitgehend zurückgedrängt. Gleichwohl treffen Erbrechtspraktiker immer wieder auf mehr oder minder explizit vorgesehene Rangfolgen unter Geschwistern. Die damit verwobene Zurücksetzung der in solchen Kategorien nachrangigen Kinder ist besonders konfliktanfällig, weil damit häufig persönliche Verletzungen verbunden sind, die bis in die Kindheit der Betroffenen zurückreichen.

1.3.1.2 Das ARAG-Millionen-Erbe

Auch die nachbiblische Zeit ist gespickt mit Erbstreitigkeiten bekannter Persönlichkeiten. Im Jahr 2019 fand der wohl längste bekannte gerichtliche Erbrechtsstreit um finanzielle Interessen sein vorläufiges Ende. Seit 1983 stritten die Beteiligten vor dem Landgericht Düsseldorf über ein Testament aus dem Jahr 1965. In der Sache vermachte der Erblasser, der 1972 verstorben war, seinem Sohn Paul-Otto Faßbender seine Anteile an dem Versicherungskonzern ARAG; dessen Schwester sollte mit einem Geldbetrag abgefunden werden.Footnote 49 In der ersten Instanz sprach das Gericht der Schwester einen Geldbetrag von etwa 3,5 Millionen Euro zu. Sie hatte allerdings zuvor bereits ein außergerichtliches Vergleichsangebot in Höhe von 10 Millionen Euro erhalten; zudem sah sie einer Kostentragungsquote von 70 Prozent der Anwalts- und Gerichtskosten entgegen. Es verwundert nicht, dass sie daher auch noch die Berufungsinstanz bemühte. An der erstinstanzlichen Entscheidung änderte das freilich kaum noch etwas.Footnote 50

Bemerkenswert ist in solchen Fällen nicht nur die schiere Dauer der erbrechtlichen Auseinandersetzung, die häufig durch weitere Todesfälle zu einer Fortsetzung der Erbfolge und weiteren Verzweigung der Erbstreitigkeit führt. Der Fall zeigt auch, dass das Verhalten der Beteiligten mit Blick auf die Streitmaterie regelmäßig nicht unbedingt von objektiven Kriterien, sondern vor allem davon abhängt, welche Strategie im Lichte ihres früheren Verhaltens konsequent erscheint.Footnote 51

1.3.1.3 Streit am Totenbett von Altkanzler Helmut Kohl

Der Streit um den finanziellen Nachlass ist aber keineswegs der einzige Grund für Auseinandersetzungen anlässlich des Todes. Selbst wenn die finanziellen Angelegenheiten vor dem Tod geklärt sind, kann noch an vielen anderen Stellen erbitterter Streit ausbrechen. So wurde Maike Kohl-Richter vergleichsweise unstreitig Alleinerbin des früheren deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Das Verhältnis der zweiten Ehefrau mit den Kindern Kohls aus erster Ehe war dennoch bereits vor dem Tod völlig zerrüttet.Footnote 52 Mit den Worten der Tagesschau ist „die Geschichte der Familie Kohl […] eine Verkettung von Vernachlässigung, Eifersucht, verletzter Eitelkeit und Sprachlosigkeit, die über den Tod des Altkanzlers hinausgeht“.Footnote 53

Es verwundert daher nicht, dass bereits unmittelbar nach dem Tod Kohls im Juni 2017 an verschiedenen Stellen erbitterte Konflikte aufbrachen. So kam es schon zu giftigen, öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen wegen eines (angeblich) untersagten Besuchs des Kohl-Sohns Walter am Totenbett. Die damit verbundenen Bilder des trauernden Walter Kohl mit zwei Enkeln Kohls am Oggersheimer Bungalow bleiben im Gedächtnis. Laut der Seite der zweiten Ehefrau handelte es sich jedoch lediglich um eine Medieninszenierung des Sohnes.Footnote 54 Der wiederum widersprach dieser Darstellung wiederum heftig und beklagte das „pietätlose Verhalten von Maike Kohl-Richter.“Footnote 55 Auch hinsichtlich des Bestattungsortes von Helmut Kohl kam es zu Auseinandersetzungen. So wurde spekuliert, ob Maike Kohl-Richter hinter Kohls Wunsch einer Bestattung in Speyer statt in Ludwigshafen-Friesenheim und damit neben seiner ersten Frau Hannelore stehe.Footnote 56 In ähnlichen Konstellationen kommt es tatsächlich häufig vor, dass die überlebende Ehegattin keine Beisetzung ihres Gatten neben „ihrer Vorgängerin“ wünscht.

Von außen lässt sich naturgemäß nicht beurteilen, welche der verschiedenen Darstellungen den wahren Ablauf am ehesten trifft. An dieser Stelle kommt es darauf aber auch gar nicht an. Der frühere Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel hat einmal geäußert, im Tod ende jede Feindschaft.Footnote 57 Jedenfalls mit Bezug auf die Familien der Verstorbenen gilt das leider regelmäßig nicht. Somit hatte Helmut Kohl zwar großen Anteil an der Überwindung der deutschen Teilung und der Einigung Europas; die Familie hingegen musste er zerstritten hinterlassen.Footnote 58 Dass er seine materiellen Dinge bereits zu Lebzeiten geordnet hatte, konnte daran nichts ändern.

1.3.1.4 Erben von Udo Jürgens

Auch in der Auseinandersetzung hinsichtlich des Nachlasses des Ende 2014 verstorbenen Musikers Udo Jürgens Bockelmann wird vermutet, dass es letztlich weniger um finanzielle Ansprüche als um die Erbenstellung der Halbgeschwister ging.Footnote 59 Letztlich entschieden die Gerichte, dass die Lebensgefährtin und die beiden leiblichen Kinder Erben, die uneheliche Tochter hingegen „nur“ Vermächtnisnehmerin wurden.Footnote 60 Bis dahin war freilich bereits reichlich Porzellan zerschlagen.

1.3.1.5 Familie von Finck

Auch in dem Erbstreit nach dem Bankier August Georg Heinrich von Finck ging es – neben substanziellen finanziellen Interessen – vor allem um Zwischenmenschliches, namentlich die Zugehörigkeit zur Familie. So hatte sich einer der Söhne, Helmut von Finck, im Jahr 1985 mit einem Betrag von 66 Millionen DM abfinden lassen. Dies geschah freilich zu einer Zeit, zu der er, so seine heutige Rechtsanwälte, aufgrund Drogenmissbrauchs, Depressionen und labiler Seelenverfassung nicht geschäftsfähig war und die Abfindung zudem offensichtlich sittenwidrig niedrig gewesen sei. „Liebe und Nähe“ hatte er in der Bhagwan-Sekte gesucht, als Ausgleich zu seinem als „herzlos“ empfundenen Vater und „ablehnenden Brüdern“. Erst Helmuts Sohn Nino von Finck suchte vergeblich wieder engeren Kontakt zu den weiteren Familienstämmen. Hierzu schrieb er seinem Onkel 2003 einen handgeschriebenen „naiv liebevoll“ formulierten Brief, der von dessen Anwälten beantwortet wurde. Diese als Kränkung empfundene Reaktion führte zu einem Rechtsstreit mit Milliardenstreitwert.Footnote 61 Allein das 2019 abgeschlossene erstinstanzliche Verfahren zog sich über zehn Jahre hin.Footnote 62

1.3.2 Unternehmensnachfolge

Unternehmensnachfolgen weisen gegenüber der „bloßen“ Vermögensnachfolge eine erhöhte Komplexität auf. Jedes Jahr steht bei 27.000 übernahmewürdigen Unternehmen die Unternehmensnachfolge an; die Tendenz ist steigend.Footnote 63 Dabei erfolgt die Übertragung in den meisten Fällen an Familienmitglieder, seltener an externe Interessenten und gelegentlich auch an unternehmensinterne Nachfolger. Wegen der regelmäßig großen volkswirtschaftlichen Bedeutung finden sich Berichte über geglückte und gescheiterte Unternehmensnachfolgeprozesse regelmäßig nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in den großen Wirtschaftszeitungen.

Vorzeichen einer konflikthaften Nachfolgeregelung ist die häufig Otto Fürst von Bismarck zugeschriebene Aussage, dass die erste Generation Vermögen schafft, die zweite es verwaltet, die dritte Kunstgeschichte studiert und die vierte verkommt. Mit dieser Weisheit ist es wie mit vielen Sprichwörtern: Die Aussage entspricht in ihrer überzeichnenden Universalität nicht der Realität, aber einen wahren Kern wird man ihr zubilligen müssen. Vor allem aber haben es die späteren Generationen in der Hand, die ungute Prophezeiung in ihrem Fall nicht wahr werden zu lassen.

1.3.2.1 Zerschlagenes Keksimperium der Familie Bahlsen

Während es in der Vermögensnachfolge zur familiären Trennung kommen kann, können Streitigkeiten unter Unternehmenserben zur Zerschlagung von Unternehmen führen. So erging es auch dem Ende des 19. Jahrhunderts von Hermann Bahlsen gegründeten Keksimperium. Nachdem Bahlsen die Idee englischer Cakes nach Deutschland brachte und umsetzte, florierte sein Unternehmen zunächst. Der Erfolg lässt sich daran erahnen, dass der Begriff „Keks“, die Eindeutschung von „Cakes“, auf den Unternehmensgründer zurückgeht. In den Wirren des Ersten Weltkrieges brach jedoch die Rohstoffversorgung zusammen und das Unternehmen damit fast zum Erliegen. Die drei Söhne Hermann Bahlsens, Hans, Werner und Klaus, ließen das Unternehmen jedoch nach beiden Weltkriegen jeweils wieder wie Phoenix aus der Asche auferstehen. Werner Bahlsen stand dabei fast sechs Jahrzehnte an der Spitze des Familienunternehmens.Footnote 64

Mit dem Ausscheiden des Patriarchen begann das Unternehmen auseinanderzufallen. In einer ersten Welle der Auseinandersetzungen schied der Sohn von Hans Bahlsen gegen Abfindung in Form einer ausländischen Gesellschaft aus dem Unternehmen aus. Darauf folgte eine zweite Welle der Streitigkeiten, nun unter den drei Kindern von Werner Bahlsen, Lorenz, Werner Michael und Andrea. Klaus Bahlsen hinterließ keine Abkömmlinge. Nachdem der Beirat des Unternehmens Werner Michael Bahlsen zum Sprecher des Unternehmens berufen hatte, kam es zu massiven Auseinandersetzungen mit seinem älteren Bruder Lorenz. Um zu verhindern, dass das Unternehmen im „Strudel der Streitigkeiten“ untergeht, wurde Bahlsen in der Folge in drei Teile vollständig aufgeteilt, also zerschlagen. Die bekannten Teile bildeten dabei das Kerngeschäft „Süßgebäck“ sowie das „Snack-Geschäft“. Der SPIEGEL geizte nicht mit harschen Worten und sprach von einem „Beispiel für die traurige Tatsache, dass florierende Familienfirmen durch Streit und Gier der Erben runtergewirtschaftet werden.“Footnote 65

1.3.2.2 Erbstreit in der Pudding-Dynastie

Der Streit um die Konzernleitung beim NahrungsmittelproduzentenFootnote 66 Dr. Oetker, genauer der Dr. August Oetker KG, also der Holding der Oetker-Gruppe, dürfte einer der längsten bekannten Unternehmensnachfolge-Auseinandersetzungen in Deutschland darstellen. Die gut vierhundert Unternehmen der Oetker-Gruppe erwirtschafteten im Geschäftsjahr 2020 einen Umsatz von etwa 7,3 Milliarden Euro und beschäftigten rund 37.000 Mitarbeiter.Footnote 67 Der Familienstreit der Oetkers schwelte schon lange und eskalierte nach dem Tod von Rudolf-August Oetker im Jahr 2007.Footnote 68 Es stehen sich regelmäßig die fünf Kinder aus den ersten beiden Ehen, welche die Mehrheit an Dr. Oetker halten, mit den drei Kindern aus der dritten Ehe gegenüber.

Nach dem Tod des Firmenpatriarchen Rudolf-August Oetker im Januar 2007 leitete zunächst dessen ältester Sohn August aus zweiter Ehe das Unternehmen. Als dessen Leitung länger als bis zum Erreichen der internen Altersgrenze dauern sollte, legten die Kinder aus dritter Ehe ihr Veto ein. Gleichzeitig nominierten sie Sohn Alfred, aus dritter Ehe, als nächsten Konzernchef, was auf starken Widerstand der älteren Halbgeschwister stieß. Als Puffer zwischen den Generationen – zwischen der ältesten Tochter Rosely Schweizer und der jüngsten Tochter Julia liegen fast vier Jahrzehnte – und Kompromisskandidat wurde Richard Oetker, Sohn aus zweiter Ehe, akzeptiert.Footnote 69 Über dessen Nachfolge nach dem Erreichen der Altersgrenze wurde heftig und letztlich bereits seit der Übernahme der Konzernleitung durch ihn gestritten.

Etwa ab 2010 oder 2011 war schließlich ein hochkarätig besetztes Schiedsgericht eingebunden, das in den ersten Jahren so streng geheim tagte, dass seine Existenz erst 2014 öffentlich bekannt wurde. Mithilfe des Schiedsgerichts gelang es der Unternehmerfamilie zunächst, sich auf eine Neubesetzung des Beirates zu einigen, der die Spitzenmanager beruft und über die Nachfolge an der Konzernspitze entscheidet. Das ursprüngliche Ziel, der Abschluss der Nachfolgefrage bis Ende 2014, verfehlten die Beteiligten aber deutlich.Footnote 70 Erst im Dezember 2016 wurde verlautbart, dass mit Finanzchef Albert Christmann erstmals ein familienfremder Manager den Konzern leiten soll.Footnote 71 Ob damit eine endgültige Befriedung der verschiedenen Familienteile erreicht wurde, erscheint unklar: In jüngster Zeit verdichteten sich die Anzeichen für eine Aufspaltung des Unternehmens in mehrere Einheiten.Footnote 72

Ein solcher Nachfolgestreit zwischen mehreren Familienstämmen verschlingt stets hohe Summen an Beraterhonoraren und Kosten des Schiedsgerichts. Wenig überraschend erstreckte sich der Streit auch bei Dr. Oetker bald auf die Frage, wer diese Verfahrenskosten zu tragen hat.Footnote 73 Viel einschneidender ist jedoch, dass der Streit zwischen den Anteilseignern das Management jahrelang schwächt. Viele Unternehmen brauchen lange Jahre, um sich von dieser Belastung zu erholen.

1.4 Ratgeber für eine bewusste Verfahrensgestaltung

Was hätte man in den dargestellten Beispielsfällen womöglich besser machen können? Was können diejenigen, die an der Nachfolgeplanung oder an einer Nachlassauseinandersetzung beteiligt sind, in ihrer eigenen Situation konkret tun? Wichtig ist vor allem, nicht blind den Weg einer scheinbar unausweichlichen Eskalation zu gehen, sondern frühzeitig konsensorientierte Alternativen zu erwägen. Es wäre anmaßend zu behaupten, dass sich jeder der soeben geschilderten Fälle mit Hilfe einer Mediation zeitnah zu einem friedlichen Ende hätte führen lassen. Es spricht aber vieles dafür, dass ein reflektierteres Vorgehen zumindest in einigen dieser Fälle eine schnellere und interessengerechtere Lösung ermöglicht hätte.

Dieses Buch möchte Erblassern und ihren Anwältinnen helfen, die Option einer Mediation überlegt zu erwägen und auf dieser Grundlage eine kluge Verfahrensentscheidung zu treffen. Ohne Grundkenntnisse über die Charakteristika einer Mediation laufen Erben im Streitfall unweigerlich in Richtung eines zeitraubenden und kostenintensiven Gerichtsverfahrens. Ein Blick in dieses Buch soll hier eine bewusste Entscheidung für oder gegen eine Mediation ermöglichen. Gleichzeitig hilft das Werk Berufsträgern aus Anwaltschaft und Notariat, ihre Mandantschaft bei der Vertragsgestaltung sowie im Streitfall kompetent zu beraten. Für den Fall, dass es zu einem Mediationsverfahren kommt, möchte das Buch verständliche Erläuterungen geben und damit die Einschätzung dessen präzisieren, was die Betroffenen in einer Mediation erwartet. Schließlich kann die Darstellung auch für die Teilnehmer von Mediationsausbildungen einen guten Überblick über einen Konflikttyp geben, der für die konsensuale Konfliktlösung in besonderer Weise prädestiniert ist.

Es geht in diesem Werk nicht isoliert um die Bewältigung eines bestimmten Konflikttyps, beispielsweise das Finden einer für alle Erben akzeptablen Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft durch einen Vergleich „um jeden Preis“, sondern um Mittel und Wege, den Interessen der Erblasserin und darüber hinaus möglichst den Interessen aller Beteiligten umfassend und dauerhaft Geltung zu verschaffen. Legt man dieses Verständnis zugrunde, ist Mediation nicht nur ein Verfahren zur Streitbeilegung hinsichtlich bereits eingetretener erbrechtlicher Konflikte nach dem Tod des Erblassers (post mortem), sondern dient bereits der Konfliktprävention vor dem Erbfall (prae mortem). Konfliktlösung und Konfliktvermeidung sind dann auf tieferer Ebene sogar nur die Folgen dieses zentralen Ansatzes der Mediation. Im Zentrum dieser Perspektive stehen die Motive der Erblasserin und das Ziel, diese mit den wirklichen Interessen der weiteren Beteiligten in Einklang zu bringen. Im Idealfall lassen sich damit nicht nur destruktive Konflikte vermeiden, sondern es lässt sich ein vielfacher, materieller wie immaterieller Mehrwert schaffen.

Das auf diesen einführenden Überblick folgende zweite Kapitel des Buches erläutert Charakteristika, derentwegen sich erbrechtliche Fälle für eine einvernehmliche Streitbeilegung in besonderer Weise eignen. Daran schließen sich im dritten und vierten Kapitel eine Darstellung der Methode Mediation sowie ein Einblick in das konkrete Wertschöpfungspotenzial des Verfahrens für Erbstreitigkeiten an. Das fünfte Kapitel gibt Anregungen für die anwaltliche Beratungspraxis vor Eintritt des Erbfalls; das darauffolgende sechste Kapitel widmet sich speziell der Gestaltung von Mediationsklauseln. Das abschließende siebte Kapitel wirft einen Blick auf die speziellen Bedürfnisse der Nachfolge in Familienunternehmen.