Die blaue Blume ist wie ein Zwirnsfaden. Wenn sie

sorgsam gestreichelt wird, faltet sie sich langsam

auseinander und zeigt Blätter und Blüten – aber sie

muß sehr zart gestreichelt werden.

Paul Scheerbart: Die blaue Blume (1902)Footnote 1

Was kennzeichnet eine Neoromantik der Jahrhundertwende? Überblickt man die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen, einerseits zum Diskurs, andererseits zu ihren Textstrategien, dann ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite lässt sich auf Diskursebene nachweisen, inwiefern die Debatte über neoromantische Literatur innerhalb von nur zwanzig Jahren eine rasante Veränderung durchläuft. Von einem internationalen Geheimtipp avanciert sie zu einem Modephänomen, das vor allem im deutschsprachigen Raum literarische Erfolge feiert und bald als gewinnversprechende Marktstrategie durchschaut wird. Auf der anderen Seite aber hat der modelltheoretische Abgleich mit der Romantik gezeigt, dass zentrale Aspekte dieser neoromantischen Literatur, gerade im Hinblick auf ihre Modifikation von Romantik, über den Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg erstaunlich konstant bleiben. Vor allem gegen die Kippfiguren der historischen Romantik, die üblicherweise unter dem Begriff der romantischen Ironie diskutiert werden, hegen die neoromantischen Texte einen produktiven Vorbehalt: Neoromantik probiert, die Effekte der literarischen Ironie einzudämmen.

Nimmt man diese beiden Diagnosen zusammen, dann lässt sich jenseits des vermeintlichen Widerspruchs ein zweigliedriges Modell literarischer Neoromantik zeichnen. Unter dem Eindruck einer rasant wandelnden Oberfläche verfolgt die neoromantische Literatur eine durchaus einheitliche Aktualisierungsstrategie, um die historische Romantik in ihren ‚ansprechenden‘ Elementen aufzuwerten und von ihren ‚Problemen‘ zu befreien. Was genau an der romantischen Vorlage im zeitgenössischen Kontext als anregend oder als problematisch empfunden wurde, darin ähneln sich die literarischen Texte auf eine signifikante Art und Weise. Entsprechend lässt sich im Folgenden, nachdem die Ergebnisse der Diskursanalyse bereits oben zusammengetragen wurden,Footnote 2 nun eine kohärente literarische Strategie summieren, welche die Neoromantik um 1900 im Abgleich mit der historischen Romantik kennzeichnet.

Besonders interessant an dieser wiederkehrenden Textstrategie sind, in einem anschließenden Schritt, ihre Epochensignale: jene Merkmale, mit denen sie auf Konstanten in einem übergeordneten Literatursystem der Jahrhundertwende hinweisen. In einem weiterführenden Ausblick werden deshalb die Semantiken und Problemkonstellationen im kulturellen Wissen herausdestilliert, die als geradezu epochentypisch für die Literatur der Jahrhundertwende gelten können. Abschließend wird die historische Romantik mit kritischem Blick auf diese Rezeptionsstation geprüft: Welche Erkenntnis zeitigt das modellhafte Verständnis von Neoromantik für ein gegenwärtiges Modell des Romantischen?

4.1 Neoromantik: Charakterisierung einer literarischen Strategie

In einem vorangestellten Schritt lässt sich die Neoromantik als eine konzise literarische Strömung definieren, die parallel zu den anderen „Ismen der Jahrhundertwende“ (z. B. Ästhetizismus, Décadence, Impressionismus) existiert.Footnote 3 Neoromantisches Schreiben konstituiert sich durch ein festes Set an Erzählverfahren, das Texte unterschiedlicher Autoren verbindet; außerdem herrscht eine rege Debatte im zeitgenössischen Feuilleton, an der sich Kritiker, Akademiker und Schriftsteller beteiligen; und nicht zuletzt können gewisse Werke und Werkphasen von Autoren als neoromantisch tituliert werden, da sie sich über einen zusammenhängenden Zeitraum mit neoromantischer Literatur beschäftigen. Dennoch soll im Folgenden nicht die Strömung, sondern eine literarische Strategie der Neoromantik im Mittelpunkt stehen: Statt den Selbst- oder Fremdzuschreibungen vorbehaltlos zu folgen, die im Zuge der Diskursanalyse ausgewertet wurden, erscheint es nun sinnvoll, abschließend eine genuine Erzählstrategie innerhalb der literarischen Texte zu beschreiben.

Eine innerliterarische Strategie der Neoromantik lässt sich wiederum auf zwei Textebenen charakterisieren: Zum einen gibt es Konstanten auf der discours-Ebene, also: auf der Textoberfläche, die einen literarischen Text um 1900 als ein neoromantisches Werk lesbar machen. Zum anderen kennzeichnen sich neoromantische Texte durch eine gemeinsame Modelloperation, einen analogen Umgang mit Problemsemantiken, die sie aus der historischen Romantik aufgreifen und strukturell umgestalten. Eine solche Modelloperation wurde in den vorangegangenen Analysen sichtbar, indem ein externer Suchbefehl – ein Modell von Romantik – an die literarischen Texte herangetragen wurde. Dennoch verbirgt sich diese spezifische Transformation in dem Textmaterial selbst: Es handelt sich um eine rekurrente Semantisierungsstrategie, die als ein kleiner, aber entscheidender Teilaspekt auf der histoire-Ebene in den Texten zu verorten ist. Immerhin definiert sich neoromantische Literatur selbst über ihre Aktualisierung von Romantik, und da in diesem Aspekt tatsächlich strategische Gemeinsamkeiten aufgefunden werden konnten, lässt sich die Neoromantik anhand dieses Merkmals als eine kohärente literarische Strategie definieren.

Neoromantische Strategien auf der Textoberfläche

Auf der discours-Ebene hat sich eine Hypothese konfliktfrei bestätigt: Neoromantische Literatur lässt sich am treffsichersten daran erkennen, dass sie Motive und Schreibverfahren aus der historischen Romantik aufgreift und im Text transformiert. In Heinrich Manns Mondnachtphantasien eröffnet ein Verweis auf Arnims Isabella von Ägypten die Erzählung; Hanns Heinz Ewers bedient in Die Spinne das Motivarsenal der schwarzen Romantik; und Hermann Hesse verziert nicht nur seine frühesten Publikationen mit Zitaten von Novalis, sondern inszeniert auch seinen späteren Peter Camenzind als waschechten Romantiker aus dem Dorf. Wie im einleitenden Bildvergleich zwischen Caspar David Friedrich und einem neoromantischen Gemälde von Willy Schlobach bleibt die intertextuelle Referenz auf die romantische Vorlage klar erkennbar und markiert das eigene Werk als Übernahme und Aktualisierung romantischer Verfahren. Die Romantik muss in diesen Texten nicht erst mühsam gesucht werden, sondern sie drängt sich auf – insbesondere auf dem Hintergrund des zeithistorischen Diskurses über neue Romantik.Footnote 4

Hierarchisiert man die eingesetzten Intertexte aus der Romantik nach ihrer Relevanz, dann fällt eine besondere Orientierung an spätromantischen Texten von Eichendorff, Heine und E.T.A. Hoffmann ins Auge. Obwohl Novalis in Leben und Werk die zeitgenössischen Debatten um Neoromantik dominiert, sind es in den konkreten Prosaverfahren doch der Volkston Eichendorffs, die Gruselprosa Hoffmanns oder der Sarkasmus Heines, die auf Verfahrensebene eine stärkere Wiederaufnahme erfahren. Novalis liefert damit zwar den Initialzünder für das erhöhte Interesse an Neoromantik, neben einigen Motiven und Denkfiguren bleiben die Marmorbilder Eichendorffs und die Narren Heines dennoch die einschlägigen Verfahrensvorbilder. Eine wiederentdeckte Frühromantik lässt sich zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht von einer kanonisierten Spätromantik ablösen, welche die jungen Autoren aus der schulischen oder jugendlichen Sozialisation kannten. In Hesses Inseltraum zeigt sich außerdem beispielhaft, inwiefern die ästhetische Wirkung einer Verfahrensimitation von Novalis bei den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern ausblieb.Footnote 5

Auf welche Weise die innovative Note, das Neue und ‚Moderne‘ in die Texte hineingegeben wird, lässt sich allein auf discours-Ebene nicht repräsentativ beantworten. Ewers beispielsweise nutzt ein schnoddriges Parlando und tagesaktuelle Diskurse, um seine Literatur zeitgemäß zu halten, während Heinrich Mann und Hermann Hesse Erzählstrategien hinzugeben, die sie aus dem Naturalismus oder Poetischen Realismus gelernt haben. Häufig finden sich die Verweise auf heterogene Traditionen in neoromantischen Texten vermischt: In Hofmannsthals Bergwerk zu Falun (1900) beispielsweise verschränken sich Motive des Ästhetizismus, des Naturalismus und aus Maeterlincks Märchendramen miteinander, um gemeinsam unter dem romantischen Sujet – Hoffmanns Bergwerk zu Falun – verbunden zu werden. Auch in Heinrich Manns Contessina, in Ewers’ Tagebuch eines Orangenbaums und in Hesses Inseltraum lassen sich Traditionsvermengungen aus Naturalismus, Romantik und – auffällig häufig – italienischer Renaissance finden, wobei in all diesen Texten die Imitation und Weiterführung romantischer Motive als erzählleitendes Moment dominiert. Auf der discours-Ebene lässt sich somit eine Art literarhistorischer Eklektizismus notieren, der unter dem Banner der Neoromantik eingeführt und in den Folgejahren weitergeführt wird.Footnote 6

Neoromantische Strategien in ihrer Aktualisierung von Romantik

Eine signifikante Aktualisierung von Romantik unter den Vorzeichen der Jahrhundertwende konnte schließlich mithilfe der Modellanalyse nachgewiesen werden. Unter Annahme dreier konstitutiver Säulen von Romantik – einer Diagnose der Fragmentierung, Synthese-Bestrebungen und einer ironischen Kippfigur – lässt sich eine wiederkehrende Textbewegung ausmachen, welche diese drei Aspekte aufgreift und markant transformiert. Auf der Ebene der Modelloperation lässt sich ein neoromantisches Schreiben anhand von drei semantischen Aktualisierungen kennzeichnen: einmal mithilfe einer verstärkten Fragmentierung bzw. Subjektzentrierung von Erzählperspektiven und Figuren; zweitens in der Konzeption nicht mehr eines, sondern zahlreicher, pluralisierter Naturgesetze; und drittens in dem konstitutiven Versuch einer Einrahmung bzw. Zähmung der ironischen Kippfigur.

Die Diagnose einer Partikularisierung des Individuums in der funktionsdifferenzierten Gesellschaft, wie sie laut Forschungsmodell konstitutiv für romantische Literatur angenommen wird, findet sich in den neoromantischen Texten verschärft. Oberflächlich lässt sich eine solche Erhöhung des Fragmentierungsdrucks einer fortschreitenden Moderne in zahlreichen Artikulationen auf Motivebene auffinden, wie zum Beispiel bei Hermann Hesse: „[O]ft werde ich einsamer Mann mitten unter der schweigsamen Gesellschaft meiner Scharteken von Trauer überfallen“, klagt der Erzähler in der Novalis-Erzählung, und nichts scheint ihm schlimmer „als das grausame und sinnlose Alleinsein im Unendlichen“ (NO 28). Modelltheoretisch evidenter aber ist die erhöhte Fragmentierung auf der Darstellungsebene: In der Prosa der Jahrhundertwende finden sich zunehmend Erzähler, die im Zuge einer autodiegetischen Fokalisierung nicht über ihre eigene Perspektive hinausblicken können. Wo romantische Literatur verschiedene Erzählperspektiven mischt und Erzählhaltungen in der dritten Person bevorzugt,Footnote 7 tendiert die Literatur um 1900 zu einer konsequenten Inszenierung von Einzelperspektiven. Die narrative Distanz zwischen histoire und Erzählperspektive wird hier – im Vergleich zur literarischen Romantik – deutlich und flächendeckend verringert.

Wie Moritz Baßler konstatiert, entsteht in den Erzählungen der Jahrhundertwende eine spezifische Form der Rollenprosa, die er als „Routines“ bezeichnet.Footnote 8 Mit Blick auf die Neoromantik kann dieses Verfahren als eine Verschärfung der Partikularisierung auf Formebene reformuliert werden: Durch die Augen eines Einzelsubjekts, eines ‚Charakters‘ oder Typus werden individuelle Sichtweisen auf die Welt inszeniert, die sich gerade durch ihre Andersartigkeit, durch ihre Idiosynkrasie auszeichnen. Im Zuge der Analysen wurde dieses Verfahren auch als radikalsubjektive Fokalisierung bezeichnet. Jedes Individuum sieht im Zusammenspiel der Texte potenziell anders auf die Diegese – und die einzelnen Erzählungen brechen aus dieser eindimensionalen Perspektive nur selten aus. Wo sowohl die Romantik als auch der Poetische Realismus mit dem einen verbindenden Deutungshorizont ringen und ihn teils mühsam zu konstruieren suchen,Footnote 9 schlägt die Prosa der Jahrhundertwende bereits ästhetisches Potenzial aus einer unhintergehbaren Heterogenität. Der Titel eines Reisebandes von Hanns Heinz Ewers illustriert diese Diagnose: Man sieht die Welt darin Mit meinen Augen, mit den Augen eines reisenden Dandys.Footnote 10

Dennoch lässt sich die Neoromantik der Jahrhundertwende modellstrategisch vor allem als ein Synthese-Projekt definieren. Tatsächlich versucht neoromantische Literatur, analog zur Romantik, die Fragmentierung ihrer Figuren zu überwinden oder zumindest zu problematisieren. Allerdings haben sich die semantischen Angebote eines Syntheseversprechens im Vergleich zur historischen Romantik modifiziert. „Dann fliegt vor Einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort“, heißt es bei Novalis,Footnote 11 und auch bei Eichendorff „[s]chläft ein Lied in allen Dingen“, die durch das richtige „Zauberwort“ zu singen anheben.Footnote 12 Erlösungskonzepte dieser Reichweite lassen sich in neoromantischen Texten nicht auffinden: Niemals kann ein Zauberwort dort eine ganze „Welt“ aufschließen; stattdessen sind es immer nur Teilbereiche, die durch innovative Blicke ihre verschleierte Regelhaftigkeit preisgeben.

Hanns Heinz Ewers’ Reisefiguren erforschen zum Beispiel eine Vererbung des Gedächtnisses oder eine zerstörerische Erotik, wobei sie auf wunderbare Geheimnisse stoßen, die ihr Fassungsvermögen überlastet. Durch Erkenntnisse dieser Art erschließt sich ihnen keine allumfassende Weltenmetaphysik, sondern lediglich Einzelbereiche der Wahrnehmung werden in ihren geheimen Gesetzen entlarvt. Ebenso eindrücklich führt diese Transformation Hesses Peter Camenzind vor: Der Bauernjunge destilliert aus seinen Erfahrungen ein Lebensgesetz, laut dem jede Erkenntnis zwischen Predigt und Komik schwankt: „Das Leben liebt es, neben ernste Ereignisse und tiefe Gemütsbewegungen das Komische zu stellen“ (PC 112). Damit beschreibt Camenzind – immerhin – eine vereinzelte Regelhaftigkeit, welche aber nicht alle Phänomene der Diegese in neuem Licht erscheinen lässt. Naturphänomene werden von diesem Zaubersatz ebenso wenig berührt wie Camenzinds Überzeugung, die Liebe als ethischen Leitfaden aufzuwerten; und dennoch besitzt diese überindividuelle ‚Wahrheit‘ die Funktion, die persönliche Entwurzelung von Peter Camenzind textintern zu überwinden.

Was hat sich also genau verändert? Sobald Figuren den Schleier zu Saïs lüften, finden sie keinen Universalschlüssel zur Welt, sondern verschiedene Schlüssel zu Einzelphänomenen. Mögliche Aufhebungen von subjektiver Isolation, wie sie in romantischen Texten üblicherweise im Konjunktiv formuliert werden, finden nun innerhalb eng abgesteckter Grenzen statt. Mit Blick auf die hier untersuchten Erzählungen lässt sich folgende These formulieren: Die synthetischen Entwürfe der Romantik sind zur Jahrhundertwende ebenfalls partikularisiert, also von der modernen Fragmentierung eingeholt, und sie zersplittern in einzelne, pluralisierte Naturgesetze. Der Gültigkeitsbereich inszenierter Defragmentierungsversuche hat sich damit verkleinert: Figuren erscheint nicht die ganze Welt durch ein Zauberwort wie verwandelt, sondern nur ein begrenzter Teilbereich schließt sich ihnen auf. Diese Diagnose kann verschiedene Folgen zeitigen; zum Beispiel können sich Figuren wahnhaft in ein Einzelprinzip versteigen (wie bei Ewers) oder sich glücklich mit einem partiellen Geheimwissen integrieren (wie bei Hesse). Heinrich Mann ist in diesem Aspekt noch am traditionellsten: Eine Auflösung des Individuums geschieht nur im Tod, wie sowohl Contessina als auch Rohde im Wunderbaren herausfinden, und deshalb sollte man „das Wunderbare nicht zum Alltäglichen machen“ (WB 195). Auch hier fungiert die Sphäre des Wunderbaren als verkleinerter Teilbereich, der strikt von den Alltagserfahrungen abgetrennt wird. Eine solche Verringerung des Gültigkeitsbereichs von Synthesen, auch: eine Pluralisierung von ‚Naturgesetzen‘,Footnote 13 lässt sich mit den Ergebnissen des literarischen Naturalismus engführen: Neoromantische Texte betreiben Fallstudien, sie richten ihren Fokus auf Einzelfälle in eng umgrenzten Milieus und besitzen einen Hang dazu, Charaktertypen bündelnd zu subordinieren.

Dass neoromantische Figuren ihre Isolation als schmerzlich empfinden und sie durch die Erforschung universeller Geheimnisse aufzuheben versuchen, verbindet sie – in jeweils verschärfter Weise – mit der Literatur der Romantik. Als stärkste Modifikation aber lässt sich ihr Umgang mit dem selbstreferentiellen Vorbehalt beschreiben, der in diesem Kontext als Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf analysiert wurde. Zuerst lässt sich diagnostizieren, dass die literarische Kippfigur – auch als romantische Ironie bezeichnet – in den neoromantischen Texten blinde Flecken aufweist. In Heinrich Manns Contessina steht der Realitätsstatus der Feen-Gestalt nicht zur Debatte; bei Ewers müssen alle männlichen Figuren, die durch ein Fenster des Hotelzimmers blicken, ausnahmslos durch die Spinne sterben; und bei Hesse bleiben zwar Rätsel des ‚Lebens‘ offen, von denen sich aber manche entschlüsseln lassen. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen Modelloperationen lässt sich der schwindende Gültigkeitsbereich romantischer Ironie als strukturlogische Konsequenz der modifizierten Erlösungsangebote auslegen: Da auch die Synthese-Entwürfe zur Jahrhundertwende mittlerweile partikularisiert sind, ablesbar im Konzept der ‚Naturgesetze‘ (im Plural), operiert eine Kippfigur ebenfalls nur noch an Einzelphänomenen, deren synthetische Qualität nicht mehr die ganze Welt bzw. den ganzen Text infrage stellt. So würden auch die Kippfiguren der Neoromantik ihren Gültigkeitsbereich verkleinern.

Innerhalb der literarischen Texte ist diese Transformation aber noch greifbarer, ganz konkret in einem Verfahren der Einrahmung. Die idealtypische Lösung führt das Prosawerk Hermann Hesses vor: Zwar entziehen sich die Regeln des Lebens auch hier, wie in Der Novalis, einer konkreten Beschreibung durch textinterne Widersprüche; doch Hesses Erzähler schaffen es, mithilfe von Rahmenkonstruktionen diese Regeln analytisch einzugrenzen und ihre Paradoxien im Erkenntnisprozess genau zu erörtern. Das bedeutet bei Hesse nicht, dass die Erzähler – wie im Peter Camenzind – einem aufgearbeiteten Lebensgesetz selbst entkommen; doch die Wiederkehr von benennbaren Regularitäten auf einer Rahmenebene bestätigt noch einmal ihre intersubjektive Gültigkeit. Entsprechend folgt jede Erzählstation in Hesses Novalis einer typologischen Entwicklung von der Jugend zur Reife; auch den Erzähler umfasst dieser Kreislauf, doch er kann das Phänomen mithilfe der historischen Binnengeschichte isolieren und beschreiben. Im Gegensatz zur Romantik existiert hier die Möglichkeit, von außen auf ein Naturgesetz zu blicken, ohne sich in perspektivische Widersprüche zu verfangen.

Zwar stellt Hesses Prosa einen prototypischen Sonderfall dar, in der diese Einrahmung von Ironie – mit großem Erfolg für das 20. Jahrhundert – gelingt. Eine ähnliche Bewegung lässt sich allerdings, wenn auch mit negativen Folgen, bei Heinrich Mann und bei Hanns Heinz Ewers nachweisen. In Manns Contessina konkurrieren verschiedene Deutungsmöglichkeiten darum, welche todbringende Figur das junge Mädchen in der Marmorstatue erblickt haben könnte. Die heterogenen Lesarten aber widersprechen sich nicht, sondern knüpfen gemeinsam an einer synthetischen Gesamtdeutung, sodass sich die Ironie in diesem Fall in ein ergebnisoffenes Rätsel verwandelt. Bei Ewers findet sich eine andere Strategie: Seinen Erzählerfiguren lässt sich nicht trauen, doch entweder kommen externe Autoritäten hinzu, die das Gesehene validieren (Die Spinne) oder der Kontext muss klären, wie überzeugend die Seherlebnisse der wahnsinnigen Figur erscheinen (Aus dem Tagebuch eines Orangenbaums). Alle diese Fälle lassen sich als Einrahmung von Ironie unter Beibehalt ihrer Effekte beschreiben: Ein Phänomen erscheint durch eine radikalsubjektive, idiosynkratische Brille als widersprüchlich, von einer externen Rahmenposition aber – die manchmal nur der Leser einnimmt – lassen sich die Konstruktionsmechanismen und Regularitäten dieser Widersprüche beobachten.Footnote 14 Besonders ironisch wirken deshalb diejenigen Texte, die zur Jahrhundertwende auf jede textinterne Rahmenstrategie verzichten. Dennoch tendieren auch diese Erzählungen strukturell eher zu einem ergebnisoffenen Rätsel denn zur paradoxalen Schwebe, die den gesamten Text ins Wanken brächte. Neoromantische Literatur ist also häufig rätselhaft und nur selten ironisch.

Auf dieser Grundlage lässt sich ein Modell von Neoromantik zusammentragen, das sich auf der Folie der Romantikforschungen folgendermaßen beschreiben lässt:

Erhöhte Fragmentierung: Diagnose der funktionsdifferenzierten Gesellschaft wird verschärft, erkennbar an radikalsubjektiver Fokalisierung, Fall- und Milieustudien etc. Tendenz zur Monoperspektivität (statt Multiperspektivität der Romantik)

Pluralisierung von Synthese-Optionen: Angestrebt werden transindividuelle Zustände, die keine letztbegründbare Einheit mehr versprechen (romantisches Zauberwort), sondern Eingliederungen in vereinzelte Teilbereiche in Aussicht stellen (Natur- oder Lebensgesetze)

Einrahmung der Kippfigur: Behauptungen und Widerrufe von Syntheseoptionen beziehen sich auf Teilbereiche im Text und können zwar Figuren in Widersprüche verstricken, lassen aber auf Textebene einzelne Rätsel bzw. Wunder unwidersprochen

In diesem Modell zeigt sich die strukturelle Transformation, welche die neoromantische Literatur im Vergleich zu ihrer romantischen Vorlage unternimmt. Abstrahierend zusammengefasst, lässt sich Neoromantik damit auf zwei Besonderheiten herunterbrechen: Erstens verwandelt sie das romantische Zauberwort in mehrere Naturgesetze, deren Erforschung das Individuum ebenfalls vor Erkenntnisprobleme stellt. Und zweitens stellt Neoromantik einen Versuch dar, die romantische Ironie, die sowohl diskursiv als auch innerliterarisch als ungewünschtes Problem diagnostiziert wird, produktiv zu überwinden. Dabei lassen sich die Kippfiguren der historischen Romantik in den verschiedenen Texten unterschiedlich stark zähmen. Dennoch kann man in der Neoromantik um 1900 beobachten, wie eine beachtliche Anzahl literarischer Texte probiert, ironische Momente, die sich nach romantischem Vorbild in der Verallgemeinerung von subjektiver Erkenntnis ergeben, zu marginalisieren.

Ausblick: Rätselhafte Überkomplexität als Substitut der Kippfigur

Modelle sind immer nur vorläufig, funktional und in der Regel verbesserbar. Während die ersten zwei der oben beschriebenen Modellsäulen, eine erhöhte Fragmentierung und eine Pluralisierung der Synthese-Angebote, eine strukturelle Analogie zwischen Romantik und Neoromantik behaupten, stellt die Einrahmung der Kippfigur in der dritten Säule in Aussicht, dass in diesem Aspekt ein wesentliches Moment romantischen Erzählens modifiziert wird. Tatsächlich scheint der Begriff der Kippfigur, so hilfreich er sich zum Verständnis der Neoromantik herausgestellt hat, die spezifische Eigenqualität neoromantischer Texte nur über einen Umweg zu beschreiben. Kippfiguren in exakt der Form, wie sie in romantischen Texten zu finden sind, gibt es dort im engeren Sinne nicht mehr.

Stattdessen lässt sich das Spezifikum neoromantischer Literatur durch ein alternatives Modellangebot ausdrücken, dass sich vom Modell Romantik schrittweise emanzipiert. Im Folgenden fokussiert der konstitutive Dreischritt nicht mehr auf die Kippfigur der Romantik, die heuristisch ausgeblendet wird, sondern auf ein Folgeproblem, das in neoromantischen Texten prominenter auftritt, nämlich: auf die rätselhafte Unerschließbarkeit überkomplexer Phänomene. Das emanzipierte Modellangebot lautet wie folgt:

Fragmentierung: Diagnose der funktionsdifferenzierten Gesellschaft wird verschärft, erkennbar an radikalsubjektiver Fokalisierung, Fall- und Milieustudien etc.

Partialsynthese: Angestrebt werden transindividuelle Zustände, welche die Eingliederung in einen Teilbereich in Aussicht stellen

Verrätselung: Im Zuge der Eingliederung in einen Partialbereich wird das Verständnis anderer Teilbereiche erschwert; deren Phänomene erscheinen nun rätselhaft

Während die ersten beiden Säulen mit dem vorangegangenen Modell übereinstimmen, rückt der letzte Aspekt die neue Qualität in den Mittelpunkt, hier als Verrätselung betitelt. Tatsächlich lassen sich die Probleme der neoromantischen Figuren, meistens der Erzähler, als Kommunikationsproblem zwischen verschiedenen Wissensbereichen reformulieren: Die Integration in einen Teilbereich ist zugleich eine Desintegration aus anderen Teilbereichen. In Hanns Heinz Ewers Prosa versteigen sich die Figuren durch ihre Erkenntnis eines Einzelprinzips in einen Wahn; bei Hesse geht der Dörfler Camenzind am Ende in seiner Heimat auf und bleibt von der restlichen Gesellschaft getrennt; und bei Heinrich Mann sind ‚Natur‘ und ‚Leben‘ derart unvereinbar, dass erst im Tod ein Übergang stattfinden kann. Jede Vernetzung zwischen den inkompatiblen Bereichen bleibt strukturell unmöglich.

Auch in diesem Modellangebot sind die Gemeinsamkeiten zur Romantik greifbar. Christian aus Tiecks Runenberg (1804) beispielsweise kehrt nach seiner Bergsynthese in die Stadt zurück und scheitert daran, mit seiner Familie zu kommunizieren. Bei Tieck allerdings – so auch in weiteren Märchen aus dem Phantasus – verbleibt der Text in einer unentscheidbaren Schwebe: Möglicherweise hat Christian in einem Naturreich tatsächlich eine andersartige ‚Wahrheit‘ bzw. Kommunikationsform gefunden, die nur aus den Augen der Dorfbewohner als Wahnsinn erscheint.Footnote 15 Der Unterschied liegt in der Pluralisierung der Syntheseoptionen um 1900: In neoromantischen Texten entdecken Figuren wie Peter Camenzind, anders als Christian, ein mögliches Naturgesetz unter vielen, das zwar gültig sein kann, aber niemals die ganze Reichweite aller Erscheinungen aufschließt. Wie der Erzähler im Tagebuch eines Orangenbaums sähe Christian nicht die ganze Welt mit anderen Augen, sondern lediglich Einzelphänomene; deshalb können Ewers’ Erzähler zum Beispiel ihre Pathologie noch in philosophischer Manier darlegen. Neoromantische Figuren versteigen sich notwendig in ein Einzelprinzip, denn eine Einsicht in das Naturganze erweist sich als strukturell derart überkomplex, dass sie nicht einmal als Option angelegt ist. In dieser Frage evozieren die Texte keine Schwebe, sondern artikulieren von vorneherein überfordernde Unmöglichkeit.

Aus der Natur der Romantik werden also Naturgesetze: eine Pluralität von Regularitäten, die zumeist unter dem Kollektivsingular ‚Leben‘ subsummiert werden. Die Entschlüsselung eines Natur- bzw. Lebensgesetzes aber löst in neoromantischen Texten keine Kettenreaktion aus, da die einzelnen Teilbereiche bereits entkoppelt sind – und entkoppelt bleiben. Sobald eines der Naturgesetze entschlüsselt wurde, bleibt der Rest notwendig rätselhaft. Mehr noch: Durch den Figurenblick in die Tiefen eines Einzelprinzips wird die Rätselhaftigkeit aller weiteren Phänomene erst offenbar, da noch weitere Regularitäten unerkannt hinter der Wahrnehmung schlummern. Die romantische Vision einer Vernetzung aller Teilbereiche wird in diesen Texten gar nicht forciert; vielmehr erforschen neoromantische Figuren sonderbare Einzelfälle, womit sie unzählige weitere Rätselhaftigkeiten in anderen Bereichen erahnen, die aber wiederum mühsam entschlüsselt werden müssen. Hierin lässt sich auch der latente Hang zum Wunderbaren (im Todorov’schen Sinn) neoromantischer Texte erklären: Wie in Heinrich Manns Contessina scheint hinter der Fassade der Wahrnehmung etwas zu arbeiten, was sich aufgrund struktureller Überkomplexität niemals erfassen lässt. Mit Heinrich Mann selbst formuliert: Neue Romantik „ist nur darauf bedacht, aus der bestehenden Abhängigkeit des Menschenlebens von unberechenbaren Factoren eine Tragik von möglichst intensiver Nervenwirkung herauszuziehen.“Footnote 16

Modellhaft betrachtet, trennt Neoromantik und Romantik damit ein Gradunterschied, der aber folgenreich ist. Unberechenbare Faktoren, jene „Zahlen und Figuren“, die Novalis noch „in einem geheimen Wort“ aufzulösen versucht,Footnote 17 kann und will das Subjekt hier nicht entschlüsseln; es übersteigt schlichtweg seine Fähigkeiten. Dafür erahnt es in der Rätselhaftigkeit von Einzelphänomenen die Überkomplexität der verschachtelten Lebensgesetze, was auf die Figuren durchaus lähmend wirken kann.Footnote 18 Unerschöpfbare Rätsel überragen deshalb die Effekte romantischer Ironie, die eine Annäherung an das eine Absolute noch poetisch zu evozieren versucht. Taucht eine neoromantische Figur aber über eine Einzelerscheinung in die Welt hintergründiger Rätselhaftigkeit ein, dann erschließen sich ihr überfordernde Anschlussrätsel und mystifizieren so die gesamte Wahrnehmung. Einzelne Subjekte kämpfen also jeweils mit Einzelprinzipien, für deren Erkenntnis sie eine spezifische, milieubedingte Eignung bzw. Idiosynkrasie mitbringen. Die Frage, ob sie dann tatsächlich eine Geheimwahrheit über Einzelprinzipien erlangen, ist romantisch; die erdrückende Gewissheit, dass es noch weitere, überkomplexe Lebensrätsel geben muss, ist hingegen spezifisch neoromantisch.

4.2 Epochensignale: Das Literatursystem der Jahrhundertwende im Spiegel der Neoromantik

In der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende lässt sich, nimmt man die Neoromantik als Ausgangspunkt für einen weiterführenden Ausblick, ein latentes Unbehagen an der romantischen Ironie nachweisen. In seinem späten Essay über Die Ironie der Dinge (1921) blickt Hugo von Hofmannsthal vergleichend auf die Kultur der Jahrhundertwende zurück:

Es war lange vor dem Krieg, daß ich in den „Fragmenten“ des Novalis diese Bemerkung fand: „Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden.“ Diese Aufzeichnung in ihrer sonderbar lakonischen Form war mir ziemlich wunderlich. Heute verstehe ich sie besser. Das Element der Komödie ist die Ironie, und in der Tat ist nichts geeigneter als ein Krieg, der unglücklich ausgeht, uns die Ironie deutlich zu machen, die über allen Dingen dieser Erde waltet.Footnote 19

Nimmt man Hofmannsthals Selbstbeobachtung ernst, dann habe er das Konzept der romantischen Ironie erst nach dem Weltkrieg auf eine andere, adäquatere Weise verstanden. Ungeachtet der wiederum eigenwilligen Ironie beim späten HofmannsthalFootnote 20 konnte der analytische Blick auf den Neoromantik-Diskurs zwischen 1890 und 1910 aufdecken, dass die literarische Ironie auch über den Einzelfall hinaus wenig Ansehen genießt: „Die Gegenwart hat diese Ironie [der Romantik, R.S.] überwunden“, behauptet Ludwig Coellen gegenwartsdiagnostisch in seiner Monographie Neuromantik (NR 62); und auch bei Ricarda Huch besteht Ironie nicht aus einer selbstreferentiellen Schwebe aus Paradoxien, sondern wird als Mittel zum Ausgleich heterogener Pole angeführt. Ständige Widersprüche und unfertige Fragmente, so wettert auch Samuel Lublinski, gelte es in der zeitgenössischen Literatur unbedingt zu vermeiden.

Die Ironie der Romantik, so haben die Textanalysen gezeigt, ist tatsächlich eine andere als zur Jahrhundertwende um 1900. Wo die romantische Literatur auf der Folie von Kant und Fichte einen erkenntnistheoretischen Vorbehalt gegenüber Einsichten in die Natur inszeniert, versucht neoromantische Literatur auf der Folie von Maeterlinck und Nietzsche, Erkenntnisse über das ‚Leben‘ im Rahmen der Poesie formulierbar zu machen. Damit geht es ihr, erstens, verstärkt um anthropologische Phänomene (zum Beispiel um Milieustudien) statt um die Möglichkeit einer Entschlüsselung des Naturganzen. Zweitens liegt der Anspruch neoromantischer Literatur noch pointierter in einer Vernetzung zweier inkompatibler Teilbereiche: Bereits unvereinbar ausdifferenzierte Felder (wie ‚Kunst‘ und ‚Leben‘) sollen miteinander verwoben werden, ohne dabei auf das genuin Poetische bzw. auf das genuin Lebendige zu verzichten. Als Ergebnis erhoffen sich zahlreiche Protagonisten um 1900 ein ‚goldenes Zeitalter‘ deutschsprachiger Literatur, welche im Wettstreit der Moderne, bislang dominiert von Frankreich und Skandinavien, mithalten kann. Neben all den Schnittmengen, die diese Konstellation mit der Romantik aufweist, erscheint folgender Unterschied als der kulturhistorisch bedeutsamste: Praktische Ironie ist im Ergebnis störend, da sie – ebenso wie das Fragment – durch ästhetisch-selbstreferentielle Schleifen eine Übertragung von Kunst in das Leben (und umgekehrt) verhindert.Footnote 21 Thomas Mann bildet mit seinem Werk eine fulminante Ausnahme, wobei sich mit Blick auf diesen Aspekt erklärt, weshalb gerade seine spezifische Ironie zur Jahrhundertwende wenige Nachahmer fand: Im Unterschied zum Milieustudiencharakter z. B. der Buddenbrooks ist Manns Ironie um 1900 eigentlich nicht zeitgemäß.Footnote 22

Die literarische Neoromantik legt damit ein Grundproblem von ‚Kunst‘ gegen ‚Leben‘ offen, das zur Jahrhundertwende zahlreiche Texte beschäftigt und in der Neoromantik auf eine spezifische Weise behandelt wird.Footnote 23 Ein autarkes Feld der Literatur, in dem ‚Romantik‘ stellvertretend für eine genuin poetische, also lebensferne Erscheinung gilt,Footnote 24 soll unter Beibehalt ihrer Eigenqualitäten an das praktische ‚Leben‘ gebunden werden. Wie Theodor Wolff in seinem Vorwort zu Jacobsens Niels Lyhne formuliert: „Es ist nicht mehr der dünne, zitternde, blasse Mondschein, was jetzt die Romantik durchzieht, es ist heißes Leben, Fleisch und Blut.“Footnote 25 Obwohl diese Neoromantik ihre diskursiven Impulse von Novalis empfängt, ist es doch primär die Spätromantik, die sich mit ihrem volkspopulären Vermittlungsanspruch für die neoromantische Synthese eignet. Heinrich Mann, Hanns Heinz Ewers und Hermann Hesse schreiben allesamt in einem zugänglichen, inszeniert naiven bzw. dilettantischen Stil, der sich in den späteren Texten der Neoromantik – so bei Ernst Hardt oder Karl Gustav Vollmoeller – noch stärker ausprägen wird.

Anhand dieses Merkmals, eines Syntheseversuchs von Kunst und Leben, lässt sich die Neoromantik zugleich von anderen Strömungen der Jahrhundertwende abgrenzen. Ein literarischer Ästhetizismus, in der deutschsprachigen Literatur u. a. durch Stefan George vertreten, wertet die ‚Kunst‘ gegenüber des ‚Lebens‘ auf und entscheidet sich im Rahmen des epochentypischen Antagonismus für die Autonomieästhetik. Der Naturalismus hingegen, in deutschsprachiger Literatur vertreten z. B. durch Michael Georg Conrad, wird zeitgenössisch als diejenige Strömung aufgefasst, die praktische Lebensfragen in das literarische Feld eingeführt habe und die Ästhetik darüber vernachlässige.Footnote 26 Besonders schwierig erscheint die Abgrenzung zur literarischen Décadence: Wie u. a. Leo Berg festhält,Footnote 27 stellen Neoromantik und Décadence zwei Ausprägungen eines Ansatzes dar, die textanalytisch am besten über ihre verschiedenen Erzählverfahren voneinander abgegrenzt werden. In neoromantischer Literatur finden sich romantische Motive inklusive eines stilistischen Hangs zur Naivität eingesetzt, während dekadente Literatur den Untergang eines (ähnlich aristokratischen) Milieus in gehobener Sprache inszeniert. Eine genauere Analyse dieser zwei Seiten der Medaille stellt sich, im Vergleich mit den Ergebnissen von Caroline Pross, als wünschenswertes Anschlussprojekt heraus.Footnote 28

Die Grundopposition von Kunst gegen Leben ist damit nicht nur ein Problem literarischer Texte der Neoromantik, sondern beschäftigt das Literatursystem der Jahrhundertwende auch darüber hinaus. In diesem Kontext lässt sich noch einmal der anthropologische Lebensmonismus evaluieren, der nach aktuellem Forschungsstand die Literatur der Jahrhundertwende als eine Art Leitparadigma durchwebt.Footnote 29 Hält man die (historisch verankerte) Kombination von Monismus und Haeckel’schem Lebensbegriff aufrecht, demzufolge eine Synthese von Körper und Geist, auch: die „Identität des Leiblichen und Seelischen“ vorrangig in einem biologisch-anthropozentrischen Lebenskonzept stattfindet,Footnote 30 lässt sich eine solche These mit Blick auf das literarische Feld nicht bestätigen. Nach Jens Ole Schneider akzentuieren ausgewählte Autoren wie Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil auch die Aporien eines geradezu dogmatischen Körpermonismus.Footnote 31 Mit Blick auf die Neoromantik und einige populäre Vertreter lässt sich Schneiders These ausweiten: Da ein konkreter Monismus, wie ihn auch Hanns Heinz Ewers zitiert,Footnote 32 als primär wissenschaftliche Erkenntniskategorie in einem oppositionellen Feld verortet wird, nimmt es sich die Literatur dieses Zeitraums großflächiger zur Aufgabe, die Wissenschaften vom Körper mit der ‚Kunst‘ zu fusionieren, ohne ihnen zwangsläufig die Vorrangstellung einzuräumen. Die Auseinandersetzung mit dem ‚Leben‘ im literarischen Feld geschieht nicht als unreflektierte Übernahme aus Wissenschaft und Philosophie, sondern notwendig als Übertragungsprozess zwischen zwei konkurrierenden Feldern. Die Literatur der Jahrhundertwende greift also stets in einem (irgendwie gearteten) Reflexionsprozess auf den wissenshistorischen Lebensmonismus zu, der für die Literatur erst ästhetisch zurechtgebogen werden muss.Footnote 33

Trotzdem eint die Literatur dieses Zeitraums mit Blick auf den monistischen Lebensbegriff zweierlei: Erstens beschäftigt sie sich virulent mit dem Epochenproblem von Kunst versus Leben; und zweitens lässt sich ein struktureller Monismusdruck, losgelöst vom konkreten Lebensvitalismus, auch in der Literatur um 1900 beobachten. Neoromantische Texte zum Beispiel probieren, durch die Versöhnung heterogener Paradigmen, einen anthropo-ästhetischen Zwitter zu schaffen, der als ‚Zukunft der Literatur‘ den monistischen Einheitsgedanken befriedigt. Auch die Neoromantik strebt entsprechend nach einem einigenden, strukturmonistischen Nenner. Allerdings erscheint es zum Verständnis des ästhetischen Potenzials dieser Texte sinnvoll, zwischen einem historisch konkreten Lebensmonismus, der nur in einem mühsamen Übertragungsprozess auf die Literatur angewandt werden kann, und einem strukturellen Synthesedruck, der die kulturelle Situation um 1900 tatsächlich dominiert, zu unterscheiden. Am ehesten lässt sich die Literatur der Jahrhundertwende dadurch charakterisieren, dass sie einen Monismus strukturell anvisiert, faktisch aber mit unvereinbaren Subdifferenzierungen zu arbeiten hat und aus dieser Aufgabe literarisches Potenzial schlägt.

Welche Epochensignale zeigen sich über den Lebensbegriff hinaus, betrachtet man die Neoromantik im Kontext? Ausgerechnet in ihrem Hang zur defragmentierenden Typenbildung, also zur Binnendifferenzierung in Unterklassen, Typen und Milieus lassen sich Verbindungen zwischen den verschiedenen Texten um 1900 aufdecken. Auch die diskursive Ausdifferenzierung in zahlreiche Subströmungen (z. B. Ästhetizismus, Naturalismus, Neoromantik), wie sie im literarischen Feld der Jahrhundertwende aktiv vorangetrieben wird, lässt sich als eine epochentypische Diagnose wenden: Typologisierung und Kartographierung von Einzelbereichen kennzeichnen sowohl den Diskurs als auch das Erzählmodell der Neoromantik. Mit Hermann Bahr zeigt sich ein frühes Beispiel dafür, inwiefern Anzeichen verschiedener literarischer Texte diskursiv gebündelt und zu einem neuen Subtypus, hier: der „Nervenromantik“ erklärt werden – was wiederum vertiefende Typologisierungsansätze nach sich zieht. Gleichzeitig arbeitet neoromantische Literatur selbst an Typologisierungen: Heinrich Manns frühe Künstlerfiguren bewegen sich ausnahmslos in einem aristokratischen Milieu, um an den Anforderungen konträrer Lebensbereiche – wie Arbeit, Geld oder Disziplin – zu scheitern. Auch Hesses Peter Camenzind ist ein idiosynkratischer Sonderfall, ein Bauer aus Nimikon, den seine geographische Sozialisation zu einem Romantiker erzieht – gemeinsam mit den anderen Einwohnern Nimikons. Neoromantische Literatur kreist damit um ‚Typen‘: Einerseits wird der Sonderfall akribisch seziert und analysiert; andererseits beschreibt die Einzelfallanalyse auch eine eng umgrenzte Subgruppe in der Gesellschaft, deren partikularisierte Einzelblicke allesamt sonderbare Perspektiven auf die Rätsel des Lebens einnehmen. Hierin unterscheiden sich Lieutnant Gustl von Schnitzler und Die blauen Indianer von Ewers nicht: Im Sonderfall offenbaren sich eigenwillige Wahrheiten, die für einen gewissen Typus Gültigkeit beanspruchen und eingeübte Wissensbestände kontrastiv ergänzen.

Tatsächlich besitzen die zahlreichen Einzelfallanalysen um 1900, wie sie u. a. in neoromantischen Texten betrieben werden, auch eine defragmentierende Funktion: Einzelne Typen von Individualität werden vermessen, von der Gesellschaft abgegrenzt und zugleich in ihrer gemeinsamen Besonderheit synthetisiert. Neoromantik also bündelt fragmentierte Einzelbereiche zu Gruppen. Dieser Ansatz zeichnet die ‚moderne‘ Literatur der Jahrhundertwende insgesamt aus, allerdings ist die Neoromantik für ein spezifisches Milieu zuständig, nämlich: für eine aristokratische Künstlergeneration, die sich für Schlösser, Prinzen, Literatur und Romantik begeistert, ihre Sinne ohne körperliche Arbeit kultiviert und zeitgenössisch im Verfall begriffen ist. Neoromantik bildet damit eine untergehende Geistes- bzw. Standeselite ab, die in ihrem besonderen Einzelblick noch einmal konserviert wird. Hierin liegt ein nostalgisches Moment dieser Literatur, was sich vor allem beim frühen Heinrich Mann, aber auch in Ricarda Huchs Erzählungen greifen lässt. In der späten Phase der Neoromantik durchläuft dieser Milieufokus schließlich eine dezente Verschiebung, da auch Bedürfnisse und Topoi des ‚Volkes‘ stärker akzentuiert werden, welches sich für neoromantische Literatur zu interessieren beginnt. Überhaupt erscheint das Verhältnis zur wachsenden Trivialliteratur bzw. zum Populären in der Neoromantik noch weiter untersuchenswert:Footnote 34 Durch die inszenierte Naivität ihrer Sprache werden neoromantische Texte zugänglich für eine breite, populäre Rezeption, was die avantgardistischen Ziele mancher Autoren enttäuscht und rückwirkend das Profil der gesamten Bewegung verändert.Footnote 35

Schließlich bleibt das Unbehagen an der Ironie das wahrscheinlich markante Epochensignal, das die Betrachtung einer Neoromantik der Jahrhundertwende für die Gesamtliteratur dieses Zeitraums gewinnbringend macht. Eine Einrahmung bzw. Zähmung ironischer Effekte, wie sie in der neoromantischen Literatur als eine Binnen-Ironie auftritt, lässt sich analog auch in den wiederkehrenden Typologisierungsstrategien um 1900 entdecken: In der Vermessung, Abgrenzung und schließlich Bündelung sonderbarer ‚Typen‘ wird der erhöhten Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Binnenräume Rechnung getragen, um zugleich verbindliche Normen für entstehende Subkulturen zu formulieren. Der genau vermessene Sonderblick, so der Reiz dieser Literatur, könnte eine für den Durchschnittsbürger unerschließbare Wahrheit eruieren – und zwar immer im Potentialis, denn mit einem ‚normalen‘ Blick lässt sich das Wahrheitsangebot natürlich nicht überprüfen.

Eine (eigentlich aporetische) Gleichzeitigkeit von unhintergehbarer Partikularisierung und individuellem Synthesebestreben macht das Romantische damit auch aufgrund von Strukturanalogien um 1900 wieder attraktiv. Allerdings ist diese Neoromantik, soziologisch betrachtet, sogar moderner als die historische Romantik: In ihr sind die Fragmentierungsprozesse von Gesellschaft und Individuum bereits weiter fortgeschritten, und ein „Einheitsfuror“ der modernen Literatur verstärkt sich in dem Maße,Footnote 36 dass einzelne Teilbereiche ästhetisch gefestigt und auf ihr Potenzial hin befragt werden, einen Beitrag zur universellen Welterschließung zu liefern. Unauflösbare Paradoxien und selbstreferentielle Schleifen, die in der Romantik noch als progressive Universalpoesie aufgewertet wurden, erträgt die neoromantische Literatur strukturell nicht mehr. Stattdessen werden Rätselhaftigkeiten, die sich in den subjektiven Einzelblicken ergeben, literarisch analysiert und im Idealfall inklusive ihrer Widersprüche nachgezeichnet. Die Einrahmung bzw. Verlegung ironischer Reflexionen in den Sonderfall kann damit als Epochenmerkmal destilliert werden, das die Literatur der Jahrhundertwende in ihren Motiven, Erzählverfahren und auch Diskursstrategien kennzeichnet.Footnote 37

4.3 Anfällige Romantik: Was sagt eine Neoromantik über die historische Romantik aus?

Eine erfolgte „Umwertung der deutschen Romantik“, wie sie Walther Linden im Jahr 1933 weichenstellend für die Kulturpolitik der Nationalsozialisten vorgeschlagen hat,Footnote 38 stellt die Germanistik seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor eine brisante Aufgabe: Es gilt zu belegen, inwiefern die historische Romantik entweder einen gefährlichen, präfaschistischen Grundimpuls in sich trage, oder ob sie alternativ erst im Nationalsozialismus zu einer „deutschen Affäre“ transformiert wurde.Footnote 39 Die Neoromantik der Jahrhundertwende, als erste virulente Wiederaufnahme dieser Kunstströmung, liefert zu beiden Argumenten einen jeweils wichtigen Impuls: Einerseits zeigt sich, dass neoromantische Erzählungen schon um 1900 mit einer schrittweisen Transformation von ironischen und selbstreferentiellen Verfahren der Romantik beginnen. Es benötigt also einen spezifischen historischen Kontext, um Romantik – mit weitreichenden Folgen für ihre Kulturgeschichte – strukturell wie semantisch umzumodellieren. Andererseits aber kann sich auch das Modell Romantik nicht voreilig aus seiner Verantwortung entziehen: Es scheint etwas im romantischen Programm zu liegen, was es für spätere Wiederaufnahmen, u. a. als konsequenter Irrationalismus oder als nationales Politikum, attraktiv macht. Zwei Thesen zur historischen Romantik lassen sich deshalb abschließend aus dem gewonnenen Modell neoromantischer Literatur gewinnen: Erstens kann sich ‚Romantik‘ in verschiedenen Kontexten so markant verändern, dass wesentliche Grundprämissen ihrer ursprünglichen Programmatik nicht mehr greifen; und zweitens bringt sie in ihrer Kombination aus Erlösungsstreben und selbstreferentieller Kippfigur eine strukturelle Anfälligkeit bereits mit.

Die Neoromantik um 1900 lässt sich aus soziologischer Perspektive als eine verschärfte Romantik interpretieren: Problemkonstellationen der Moderne, wie die Entwurzelung des Subjekts auf der Folie einer fortschreitend partikularisierten Gesellschaft, haben im Zuge eines Modernisierungsschubs gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal an Dringlichkeit zugenommen. Eine Sehnsucht nach verbindenden Normen, die in der Romantik noch zu ironisch-fragmentarischer Universalpoesie führte, wird in der Literatur der Jahrhundertwende nun als „Problemhypothek“ aus der romantischen Schule aufgegriffen und produktiv weitergeführt.Footnote 40 Allerdings gilt das Romantische jetzt nicht mehr als funktionierende Lösungsstrategie, sondern wird selbst als inhärent problematisch wahrgenommen: Da die romantischen Versuche einer „Vereinigung von Fühlen und Wissen“ (RO 111) letztlich gescheitert seien, müssen in einer Wiederaufnahme bestimmte Stellschrauben neu justiert werden, um das weiterhin bestehende, (angeblich) lange vernachlässigte Problem der Romantik zu lösen. Bislang übersehen wurde, dass diese Aktualisierung von Romantik unter den Vorzeichen der Jahrhundertwende in gewisser Hinsicht gelingt: Indem das Romantische um 1900 diskursiv aufgegriffen und noch einmal virulent ausgehandelt wird, ob in Wissenschaft oder Literatur, erfolgt eine Veränderung des bisherigen Wissensbestandes über Romantik durch neue Aspekte, die spezifisch dem historischen Kontext um 1900 zuzuschreiben sind. Hierzu gehören u. a. der irrationalistische Sensualismus des frühen Maeterlincks; die kämpferischen Vereinigungsbemühungen nach Ricarda Huch; aber auch die Konnotation einer „germanischen Rassenpoesie“, die sich im Umfeld des Diederichs-Verlags entwickelt. Dabei sind es die kulturgeschichtlichen Umstände der Jahrhundertwende, die eine Ironie und selbstreferentielle Schleifen der literarischen Romantik zu marginalisieren und ans ‚Leben‘ zu binden versuchen.

Karl Heinz Bohrer unterschätzt in seiner Monographie über Die Kritik der Romantik (1989) sowohl den modernistischen Anspruch der Neoromantik als auch die Reichweite der Romantikrezeption um 1900. Die „Phase Huch – Walzel“ wird bei ihm nur als „atypische Variante“ innerhalb einer kohärenten Forschungsgeschichte gedeutet, in der romantikkritische bzw. reaktionäre Lesarten (z. B. nach Dilthey) bruchlos dominierten;Footnote 41 und überhaupt sei eine „romantische Moderne, wie wir sie über Benjamin und die Surrealisten konstruieren können, nicht durch die sogenannte Neuromantik gefunden worden.“Footnote 42 Tatsächlich illustriert das Beispiel Georg Lukács, auf den die These von „Romantik als präfaschistischem Bewußstsein“ zurückgeht,Footnote 43 dass es sich anders verhält: Lukács kritisiert die Romantik als „Vorläufer des Faschismus“ vor allem deshalb, wie Peter Uwe Hohendahl gezeigt hat, „weil er aufgrund seiner intellektuellen Entwicklung mit der Romantik intim vertraut war und ferner seine eigene Position vor dem Hintergrund der neoromantischen Strömungen der Jahrhundertwende entwickelte.“Footnote 44 Lukács Kritik an der Romantik entspringt nicht, wie Bohrer argumentiert, einer eingeübten Fehlinterpretation von Romantik seit dem 19. Jahrhundert, sondern gerade einer Kritik an moderner, eigens beobachteter Neoromantik. Das macht Lukács’ Thesen umso brisanter: Besonders eine „Irrationalisierung des Geistes“, welche laut Lukács den Faschismus vorbereite,Footnote 45 zielt kulturhistorisch weniger auf die Frühromantik denn auf die Neoromantik Maurice Maeterlincks, ohne dessen Einfluss sich ‚Romantik‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht denken lässt. Auch Thomas Manns Inszenierungen von gefährlicher, ‚deutscher‘ Romantik, wie z. B. im Doktor Faustus (1947), lassen sich mithilfe der Neoromantik um 1900 besser erklären: Auch Manns Romantikkonzept ist wesentlich geprägt von der omnipräsenten Wiederaufnahme des Romantischen um 1900, das erst zu diesem Zeitpunkt seine krankheitsaffine, schicksalsdevote und auch deutschpatriotische Note überakzentuiert.Footnote 46

Die Diskussionen um den präfaschistischen Gehalt von Romantik zielen also weniger auf die historische Romantik selbst als vielmehr auf eine Remodellierung des Romantischen, wie sie im Kontext der Neoromantik um 1900 maßgeblich stattfindet. Manns und Lukács’ kritische Romantik-Inszenierungen zielen implizit auf einen attraktiven Irrationalismus zur Jahrhundertwende, der sich unter den Vorzeichen der Neoromantik verbreitet. In dieser Zeit prägen sich die kulturhistorisch folgenreichen Aspekte von Romantik erst wesentlich aus, so zum Beispiel die patriotische Note, ein passives Hingeben an schicksalshafte Verstrickungen sowie das Wegfallen ironischer Vorbehalte, welche die literarische Romantik um 1800 noch als ‚progressive Universalpoesie‘ auszeichneten. Gegen die ironischen Aspekte des Romantischen richtet sich die Kritik an Romantik heute nicht mehr; vielmehr wird eine passive Schicksalsapologie unter deutschpatriotischen Vorzeichen problematisiert, zu der sich das Romantische allerdings, bei genauem Blick, erst im Kontext der literarischen Jahrhundertwende entwickelt. Überspitzt formuliert, macht erst die Wiederaufnahme von Romantik um 1900 das Romantische zu einer ‚deutschen Affäre‘.Footnote 47

Ebenso wenig, wie man den Stellenwert einer Neoromantik in der deutschsprachigen Kulturgeschichte unterschätzen sollte, lässt sich die historische Romantik im Modellsinne völlig von ihrer Rezeptionsgeschichte abkoppeln. Obwohl das Romantische im Zuge der neoromantischen Episode markant rekonzeptualisiert wurde und erst auf diese Weise in den Nationalsozialismus hineinwirkte, erscheint es doch nicht beliebig, dass sich gerade die Romantik als derart anfällig für emphatische Wiederaufnahmen erwiesen hat. Ob für eine „romantische Moderne“, die sich nach Bohrer durch Reflexion, Subjektivität und Phantastik auszeichnet;Footnote 48 oder für eine „germanische[] Rassenpoesie“ im Sinne Julius HartsFootnote 49 eignet sich die Romantik als kulturgeschichtlicher „Gründungsmythos“ offenbar gleichermaßenFootnote 50 – wie sich auch an den heterogenen Ansätzen zeigt, die bereits in der Neoromantik zur Jahrhundertwende koexistieren.

Nahe liegt dabei, die ironische Kippfigur als das anfällige Moment auszumachen, an dem eine romantische Sehnsucht in kontingenzmildernde Konzepte umzuschlagen bedroht ist. Obwohl für die ständige Selbstreflexion und den produktiven Vorbehalt zuständig, der romantische Literatur aus heutiger Sicht besonders modern und anschlussfähig macht, tendiert die ironische Kippfigur in der historischen Wiederaufnahmepraxis dazu, modifiziert, eingerahmt oder letztlich ganz ausgeräumt zu werden.Footnote 51 Diese These ist zunächst einmal als Befund mit Blick auf die Neoromantik zu notieren. Gleichzeitig reicht es aber nicht aus, Romantik nur aufgrund ihrer Ironie als transformierbar für spätere Funktionalisierungen auszuweisen: Mindestens ebenso anschlussfähig erscheint die modellkonstitutive Kopplung von Fragmentierung und Synthese; jene (auch politisch deutbare) Vision einer Überwindung moderner Einsamkeit in transindividueller Gemeinschaft, was in einer Situation fortschreitender, gesellschaftlicher Partikularisierung besonders reizvoll erscheint. Wird diese Problemkonstellation nicht mit ironischen Vorbehalten betrachtet, sondern politisch-programmatisch gewendet, verliert die Romantik offenbar ihre modelleigene Qualität.

Tatsächlich lässt sich unter diesen Vorzeichen von einem Praxisproblem der Romantik sprechen. Gerade die Neoromantik der Jahrhundertwende probiert, über Literatur hinauszugreifen und in der Rückbindung von Romantik an das ‚Leben‘ – und damit auch an die Praxis, z. B. Wissenschaft und Politik – einen synthetischen Ausgleich herzustellen, in dem sich Sensualismus und Rationalität die Waage halten. Eine charmante Lösung findet sich im Frühwerk Hermann Hesses, der die romantische Sehnsucht zu einem anthropologischen Phänomen umdeutet und so ironische Szenarien im alltäglichen Leben beschreibt. Uncharmant wird es hingegen bei Hanns Heinz Ewers, dessen neoromantische Experimente schon früh eine Tendenz dazu aufweisen, durch starke Anthropologisierung und Figurenbindung geheime, rätselhafte Wahrheiten zu inszenieren, die sich lediglich dem alltäglichen Blick entziehen und trotzdem Gültigkeit vorspielen. Insgesamt aber, das zeigen alle hier behandelten Autoren, führt eine konsequente Synthese von Romantik und ‚Leben‘ zu einer Auflösung, Einrahmung oder Marginalisierung von Ironie. Eine solche Formel lässt sich ausweiten bzw. larmoyant reformulieren: Wer sich für das Konzept der romantischen Liebe begeistert, für den ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er oder sie in einer monogamen Zweierbeziehung landet. Die ironische Kippfigur erweist sich als wenig praxistauglich außerhalb der Bereiche der Kunst. Ähnliches gilt für die romantische Sehnsucht nach politischen Bezugsnormen und ihre praktische Umsetzung in einem patriotisch ersehnten Nationalstaat.

Mit Blick auf die historische Romantik liefert die neoromantische Episode somit einen pessimistischen Blick darauf, inwiefern sich romantische Ansätze (im Modellsinne) lebenspraktisch auslegen lassen.Footnote 52 Das neoromantische Syntheseprojekt scheitert nicht nur in seinem spezifischen historischen Kontext, sondern erweist sich auch als kulturhistorisch folgenreich, da es eine Sehnsucht nach irrationalen, bereits unhintergehbar verlorenen Letztbegründbarkeiten ganz praktisch forcierte. Eine mögliche Geschichtsnarration, wie sie Thomas Mann später im Doktor Faustus und auch Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften entwerfen, lautet entsprechend, dass sich kulturelle Sehnsüchte nach einer sensualistischen Ganzheit, wie sie sich in der Kultur der Jahrhundertwende ausgeprägt haben, in politische Fluchtpunkte wie Krieg und Totalitarismus entladen. Eine Wiederaufnahme von Romantik unter den Vorzeichen der Jahrhundertwende pointiert also, dass romantische Literatur in ihrem ironischen Vorbehalt eine moderne (nach Ludwig Marcuse auch: „progressive“) Seite besitzt, in ihrem Streben nach absoluter Synthese aber dieser Modernität gleichzeitig paradoxal entgegenläuft.Footnote 53 Keiner von beiden Seiten kann der Vorrang im Modell Romantik zugesprochen werden; vielmehr sind beide im Modell enthalten und nicht voneinander zu trennen. Die romantischen Widersprüche und ihre Sehnsüchte dabei nicht in konkreter Praxis aufzulösen, sondern im Modus der Kunst und Literatur ästhetisch auszukundschaften, das erscheint schließlich mit Blick auf die Neoromantik und ihre Folgen wünschenswert.