Es liegt in romantischen Bestrebungen immer etwas

disharmonisches, ein Wille zur Zersetzung.

Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen (1892)Footnote 1

Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine umfassende Werkausgabe der Schriften Friedrich von Hardenbergs erscheint,Footnote 2 platziert der Eugen Diederichs-Verlag einige Werbeanzeigen im Anhang seiner Bücher, um das Programm des jungen Verlags vorzustellen und in diesem Zuge auch die Sämmtlichen Werke des Novalis zu bewerben. Eine solche Novalis-Werbung, die einen ersten Einblick in die Romantik-Rezeption der Jahrhundertwende ermöglicht, findet sich auf den letzten Seiten der Erstausgabe von Wilhelm Bölsches Liebesleben in der Natur (1898):

Die erste vollständige Novalis-Ausgabe. Nachdem Maeterlinck die Aufmerksamkeit in Frankreich auf Novalis gelenkt hatte und seitdem dort die ganze litterarische Richtung, die Neuromantik, an ihn anknüpft, beginnt er auch wieder in Deutschland das Interesse eines jeden Litteraturfreundes zu finden.Footnote 3

Statt auf die literarische Romantik des frühen 19. Jahrhunderts zu verweisen, entscheiden sich die Herausgeber, Hardenbergs Schriften aus ihrer historischen Verankerung zu lösen und sie stattdessen im Kontext einer internationalen „Richtung“, der französischen „Neuromantik“ zu verorten. Allein dieser Befund kann überraschen: Eine neue Romantik wird in dieser Werbeanzeige als Exportartikel aus Frankreich gehandelt und ist damit Teil einer internationalen Moderne, die Deutschland und Österreich erst in einem zweiten Schritt erreicht. Für die Aktualität von Novalis bürgt der Name Maurice Maeterlinck, der Teile von Hardenbergs Werk ins Französische übersetzte. In der französischsprachigen Literatur also, so scheint es, entdecken junge Autorinnen und Autoren die historische Frühromantik erstmals neu.

Die Auffassung einer solchen „neue[n] Romantik“ als literarische Mode aus ParisFootnote 4 durchläuft in den Jahren von 1890 bis 1910 allerdings eine rasante Veränderung. Zwei Beispiele schicken voraus, welcher vehementen Remodellierung die Neoromantik – und mit ihr das Verständnis von historischer Romantik – in dem untersuchten Zeitraum unterliegt. Im Jahr 1896 spricht Hugo von Hofmannsthal noch emphatisch von „einer neuen Romantik, in der das Wesen der alten, Unzufriedenheit mit der Welt, aufgehoben erscheint“.Footnote 5 Genau zehn Jahre später findet sich in seinen Aufzeichnungen hingegen der „Vorschlag […], den Namen Romantik außer Gebrauch zu setzen“. In einer anschließenden „Motivierung“ akzentuiert Hofmannsthal das Verschwinden einer individuellen Note im Zuge terminologischer Vereinheitlichung:

mit dem Worte Romantik haben die Dichter jener Epoche sich selbst eine Atmosphäre suggeriert, worin aber das worauf es einzig ankommt, das Einzelne, Nie-wiederkehrende, das Besonderste verschleiert wird. Das Vage, Unzulängliche, in Allengleiche, das Unbestimmte, das worüber sich viele verständigen konnten, drängt sich vor und verschleiert die Idee jedes Einzelnen.Footnote 6

Diese Kritik an einer undifferenzierten Gruppenatmosphäre, die Hofmannsthal der historischen Romantik vorwirft, greift auf seine eigenen Erfahrungen mit der Neoromantik zurück, von der sich Hofmannsthal ab einem gewissen Punkt zu distanzieren versucht. Dass er in der Folgezeit dennoch, vor allem in den 1930er Jahren, ausgerechnet zum prototypischen Vertreter der literarischen ‚Neuromantik‘ avanciert,Footnote 7 kann diese dezidierte Abwendung von der Romantik nicht verhindern.Footnote 8

Noch deutlicher positioniert sich der junge Heinrich Mann zur ‚neuen Romantik‘, die er zu Beginn seines Schaffens in Anlehnung an Bahr, Bourget und Maeterlinck explizit mitgestaltet. In einem gleichnamigen Essay zur Neuen Romantik (1892) proklamiert er in der Zeitschrift Die Gegenwart: „Und die Aufgabe einer solchen literarischen Interimsperiode, wie der Naturalismus eine war, scheint nach diesem zu sein: die kommende Romantik zeitgemäß zu machen“.Footnote 9 Von dieser in Sperrschrift gedruckten Formel wird er sich zehn Jahre später ebenfalls distanzieren: Mit Blick auf seinen Roman Die Göttinnen (1902) gibt er in der Wiener Tageszeitung Die Zeit zu Protokoll: „Ich habe keine blaue Romantik erfinden wollen, sondern eine Wirklichkeit, intensiver gesehen als man sie sieht“.Footnote 10

Spätestens gegen Ende der 1900er Jahre ist die Romantik damit für viele Schriftsteller zu einer nicht mehr tragbaren Terminologie geworden, die von neuen Akteuren und anderen Motiven besetzt wird. „Sagen wir’s nur frei heraus“, kritisiert Kurt Walter-Goldschmidt in einem Essay über Romantik-Epigonen (1907), „die Romantik ist im Begriff und in Gefahr, Konvention – wenn nicht Schlimmeres: Konjunktur und Spekulation – zu werden.“Footnote 11 Dass eine Vielzahl heute kanonisierter Autoren ihre Verfahren in Auseinandersetzung mit einer zeitgenössischen Auffassung von Romantik entwickelt haben, die sie im Kontext einer ‚neuen Romantik‘ zu modifizieren versuchten, rückte im Zuge der oben skizzierten Rezeptionsgeschichte aus dem Blickfeld. Um sich der Neoromantik der Jahrhundertwende somit auf der Ebene der Diskurse bzw. eines ‚Denksystems‘ um 1900 anzunähern, werden im Folgenden jene Wissensbestande analysiert, die implizit aufgerufen werden, sobald von ‚neuer Romantik‘ die Rede ist. Hier wird zu rekonstruieren sein, was genau die Akteure an der Romantik positiv evaluieren bzw. reizvoll oder problematisch finden; und welche Aspekte sie im Gegenzug korrigieren wollen. Erst auf dieser Folie lässt sich ein kulturelles Wissen über Neoromantik aufarbeiten, an dem die literarischen Texte partizipieren – und das sie mit ihren jeweiligen Verfahren zu aktualisieren versuchen.

„Aber wie konnte Romantik Trumpf werden?“,Footnote 12 lautet damit die erste Frage, die der folgende Teil mit Blick auf die Debatten von 1890 bis 1896 zu klären versucht. Während in dieser frühen Phase noch eine Wiederentdeckung und produktive Aneignung von Romantik beschrieben werden kann, beginnt in den Jahren 1896 bis 1904 eine zweite Phase der Transformation, in der eine wissenschaftliche Erforschung der historischen Romantik mit einer Rückbindung an die deutschnationale Tradition einhergeht. Anhand einer dritten Phase nach 1906 kann schließlich gezeigt werden, wie auf der einen Seite eine Theoretisierung der nunmehr nationalistisch grundierten ‚Neuromantik‘ geschieht, auf der anderen Seite aber zahlreiche Autoren sich vom Diskurs um Romantik und Neoromantik entfernen.

2.1 Nervöse Romantik: Wiederentdeckung und Aneignung eines offenen Begriffs (1890–1896)

Als Leo Berg im Jahr 1891 einen Aufsatz über Die Romantik der Moderne verfasst, wagt er eine literaturgeschichtliche Prognose: „Das letzte Dezennium des Jahrhunderts oder das erste des neuen wird vermutlich einmal in die Literaturgeschichten der Zukunft unter dem gemeinsamen Titel: ‚Die naturalistische Romantik in Europa‘ behandelt werden.“Footnote 13 Diese Vorhersage hat sich mit Blick auf jüngere Literaturgeschichten nicht bewahrheiten können, auch wenn ähnliche Diagnosen durchaus noch in den Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts auftauchten. Im folgenden Kapitel soll plausibilisiert werden, weshalb Leo Berg alle Berechtigung hatte, im Jahr 1891 noch von einem literarhistorischen „Kopfsprung in die neue Romantik“ auszugehen.Footnote 14 Zunächst wird dafür Hermann Bahr in seiner Rolle als Impulsgeber analysiert, woraufhin drei Diskurskonstellationen aufgezeigt werden, die eine modische Emphase für die ‚neue Romantik‘ ermöglichten. Schließlich treten vier exemplarische Akteure in den Vordergrund, die das Gespräch über eine Neoromantik der Jahrhundertwende eingeleitet und früh mitgestaltet haben.

2.1.1 Die romantische Überwindung des Naturalismus: Hermann Bahr

Mit Blick auf den deutschsprachigen Diskurs lässt sich um das Jahr 1890 eine Schlüsselfigur ausmachen, die den Begriff der Romantik aus dem historischen Archiv ausgräbt und ihn an die jungen Autoren der Jahrhundertwende heranträgt: Hermann Bahr. Unbestritten von der heutigen Forschung ist Bahrs Rolle als „Netzwerker, Trendscout und Modeautor“ insbesondere der 1890er Jahre,Footnote 15 in denen er am Erfolg und an der Verbreitung des jungen Wiens maßgeblichen Anteil trägt.Footnote 16 Zahlreiche Akzente, die er in seinen essayistischen Schriften zur Kritik der Moderne (1890) und zur Überwindung des Naturalismus (1891) setzt, werden im deutschsprachigen Diskurs der literarischen ‚Moderne‘ rezipiert und reproduziert, womit er als Urheber der Begriffskombination einer ‚neuen Romantik‘ ausgewiesen werden kann.Footnote 17 Erstmals wörtlich benannt taucht diese Terminologie bei Bahr, zunächst noch als tastendes Angebot neben der „neue[n] Psychologie“ und dem „neue[n] Idealismus“, in seinem Essay über Naturalismus und Naturalismus (1890) auf,Footnote 18 um anschließend zu einem Schlüsselbegriff der nachfolgenden Schriften zu werden. So endet der Text Wahrheit! Wahrheit! (1891) exemplarisch mit der literarhistorischen Prognose: „Dann ist alles bereits zum jähen Kopfsprung in die neue Romantik, in das neue Ideal, ins Unbekannte“.Footnote 19

Wie genau eine solche „neue Romantik“ allerdings auszusehen habe und welche literarischen Mittel zu ihr überleiten, in dieser Einschätzung variieren die einzelnen Textangebote Bahrs. Die Forschung hat für die fehlende Kohärenz seiner essayistischen Schriften deutliche Worte gefunden: „Wer mehr als einen Text von Bahr gelesen hat – manchmal reicht auch einer –, der stößt auf Ungereimtheiten und Widersprüche“, so Jutta Müller-Tamm.Footnote 20 Ein Längsschnitt durch die einzelnen Entwürfe von „neue[r] Romantik“ bestätigt diesen Befund und macht die Inkonsequenz in Bahrs literarhistorischen Thesen deutlich: Mal „wird [es] wieder Romantik, es wird wieder Symbolik: aber eine Nervenromantik jetzt und eine Nervensymbolik“;Footnote 21 dann wiederum besteht das Romantische aus „schelmischen Traumgeburten mutwilliger Champagnerlaune“;Footnote 22 an anderer Stelle ist die historische Romantik selbst „nervös[]“, da sie „Schmerz und Entrüstung als kräftige Farben und besondere Töne sucht.“Footnote 23 Die jeweilige Modellierung von Romantik ändert sich bei Bahr entsprechend dem anstehenden Argument.

Dennoch lassen sich, wie auch Müller-Tamm in ihrer Analyse von Bahrs Klassik-Begriff feststellt, über einen längeren Zeitraum konstant bleibende Parameter ausmachen, nach denen die einzelnen Literaturströmungen in Bahrs Texten zurechtmodelliert werden. Hinter den variierenden Einzelentwürfen verberge sich ein gleichbleibender „Bewertungsmaßstab“,Footnote 24 was analog auch auf den Romantik-Begriff zutrifft: Zwar charakterisiert Bahr die historische Romantik um 1800 anhand widersprüchlicher Inhalte, am Aufkommen einer ‚neuen Romantik‘ und deren positiver Bewertung als zukünftige Literaturströmung hegt er jedoch keinen Zweifel. Was immer ‚Romantik‘ auch sein mag, ihre Wiederentdeckung für die neueren Strömungen ist die „gegenwärtige Aufgabe der Litteratur“.Footnote 25 Die bekannteste und wirkungsmächtigste Formel hierfür liefert Bahr in seinem titelgebenden Essay zur Überwindung des Naturalismus (1891):

Ich glaube also, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch eine nervöse Romantik; noch lieber möchte ich sagen: durch eine Mystik der Nerven. Dann freilich wäre der Naturalismus nicht bloß ein Korrektiv der philosophischen Verbildung: Er wäre dann geradezu die Entbindung der Moderne.Footnote 26

Mit dem Naturalismus als Zwischenakt beginnt, dieser vergleichsweise späten Textstelle zufolge,Footnote 27 eine neue Periode der Literaturgeschichte, in der eine naturwissenschaftliche Psychophysiologie – hier mit dem Paradigma der „Nerven“ anzitiertFootnote 28 – mit einer romantischen „Mystik“ kombiniert wird. In nur wenigen Stichworten eröffnet Bahr seine eigenwillige Interpretation der Literaturgeschichte: „[W]enn der Klassizismus Mensch sagt, so meint er Vernunft und Gefühl; und wenn die Romantik Mensch sagt, so meint sie Leidenschaft und Sinne; und wenn die Moderne Mensch sagt, so meint sie Nerven.“Footnote 29 Erst eine Synthese aus naturalistischem Kausalitätsdenken und romantischem Sensualismus führt zu der erwünschten Überwindung des Naturalismus.

Mit dieser stark abstrahierenden, tendenziell flexiblen Modellierung von Romantik werden Bahrs Texte zum Ausgangspunkt einer produktiven Rezeption der ‚neuen Romantik‘. Dass er sich dabei nicht nur des Begriffs, sondern im Zuge seiner Argumentation selbst einer romantischen Denkfigur bedient, lässt sich am frühen Essay über Henrik Ibsen (1887) belegen, in dem er erstmals und in aller Ausführlichkeit die Idee einer „Synthese von Naturalismus und Romantik“ entwickelt.Footnote 30 Ganz im Sinne einer triadischen Geschichtskonstruktion führt Bahr die Romantik hier als ein historisches Paradigma ein, das von einem gegenläufigen Realismus abgelöst wurde. „Europa hatte die Romantik satt. […] Man hatte sich die Wirklichkeit so behaglich eingerichtet, daß man nichts anderes begehrte als eben diese Wirklichkeit, immer und überall.“Footnote 31 Die realistische Gegenbewegung, in der man sich zeitgenössisch noch befinde und als dessen Höhepunkt Bahr den Naturalismus ansieht,Footnote 32 sei allerdings nur eine unvollständige Reaktion:

Diese Abkehr von der Romantik, in der Litteratur wie überall, war nur Negation. Diese ganze neue Litteratur war eigentlich nur umgedrehte und auf den Kopf gestellte Romantik. Sie rollte nur die andere Seite desselben Problems auf. Zur Lösung des Problems gehörte mehr. Dazu mußte man die beiden Stücke, die man so getrennt besaß, zur Bildung einer neuen Ganzheit vereinigen und die Zwietracht ihrer Widersprüche in einer höheren Einheit versöhnen. Und diese Tendenz beherrscht alle Gegenwart.Footnote 33

Erst ein dritter Zustand der „Synthese“ kann demnach die zukünftige Literaturströmung einleiten,Footnote 34 wobei die historischen Stationen Romantik und Naturalismus als literarhistorische Antagonisten platziert werden: Laut Bahr stellen sie zwei Seiten einer Medaille dar, die erst in ihrer paradoxalen Kombination zur Lösung eines geschichtlichen „Problems“ und damit zur „Bildung einer neuen Ganzheit“ beitragen.Footnote 35 In romantischem Vokabular wird hier ein ‚Goldenes Zeitalter‘ verkündet, das Vergangenheit und Gegenwart synthetisch vereint und darin eine utopische Zukunft verspricht.Footnote 36

Auch die prinzipielle Unerreichbarkeit des synthetischen Zustandes, welche die Kippfigur der literarischen Romantik konstituiert, ist in Bahrs Geschichtserzählung angelegt: Ibsen als Autor bleibt, dem Essay zufolge, zunächst unfreiwilliger Wegbereiter statt tatsächlicher Realisator einer neuen Literaturströmung, die dadurch in eine nahe, aber immer wieder entschwindende Zukunft rückt. Auch in den Essays zur Überwindung des Naturalismus wird die Synthese stets als unvermeidliche, aber nie realisierte Zukunft proklamiert, für die sich einerseits zahlreiche Anzeichen finden lassen, die andererseits aber immer im Modus der Prognose, oder auch: der Prophezeiung vorausgesagt wird.Footnote 37 Sobald sich eine der beschworenen Tendenzen auszubreiten beginnt, wie im Fall seines Essays über Maurice Maeterlinck (1891), sieht sich der selbsterklärte „Kautschukmann“ dazu gezwungen, nach der nächsten Sensation Ausschau zu halten und sein Geschichtskonzept wiederum anzupassen.Footnote 38 Gemeinsam haben Bahrs essayistisches Prinzip und die literarische Romantik somit „die Erkenntnis von dem ewigen Werden und Vergehen aller Dinge in unaufhaltsamer Flucht“, die laut Bahr eigentlich nur der ‚Moderne‘ (im mikrohistorischen Sinne) ihren „besonderen Charakter“ gibt.Footnote 39

Es lässt sich zusammenfassen: Indem Bahr den Terminus einer „neuen Romantik“ als kommende Literaturströmung proklamiert und widersprüchlich modelliert, hinterlässt er im deutschsprachigen Diskurs zwar einen einschlägigen Begriff, die individuelle Ausgestaltung von Romantik aber bleibt variabel und deutungsoffen. An dieser Stelle setzen die einzelnen Akteure um 1890 an, um die semantische Leerstelle mit eigenen Auffassungen von Romantik zu füllen. Je nachdem, was im individuellen Zugriff unter Romantik verstanden wird, kann auch eine ‚neue Romantik‘ mit aktualisierten Verfahren gestaltet werden. Bahrs Essays geben den jungen Akteuren somit einerseits genügend Spielraum, selbst modellierend aktiv zu werden; andererseits eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, die eigenen Textverfahren im Kontext einer triadischen Geschichtserzählung zu verorten und sich damit in die Literaturgeschichte der Zukunft einzuschreiben. Die Öffnung eines Romantik-Modells für die junge ‚Moderne‘ um 1890 ist damit, aus literarhistorischer Perspektive, zunächst ein produktionsanregendes Diskursereignis.

2.1.2 Drei Diskurskonstellationen um 1890: Voraussetzungen einer neuen Romantik

Damit ist zunächst einmal das flexible und offene Modell von Romantik beschrieben, wie es die essayistischen Texte Bahrs entwerfen und mit dem sie die Akteure der Jahrhundertwende zur Partizipation einladen. Wie die Romantik bzw. das Postulat einer neuen Romantik allerdings selbst in die Schriften Bahrs gelangt, das gilt es im Folgenden anhand dreier Diskurskonstellationen um 1890 zu klären. Von einer expliziten Re-Lektüre romantischer Texte durch Hermann Bahr ist zunächst nicht auszugehen, da sich für eine solche Rezeption keinerlei Nachweise finden lassen. Vielmehr speist sich Bahrs Romantik-Begriff aus den Wissensbeständen seines Zeit- und Kulturraums, wobei drei spezifische Diskurskonstellationen ausgemacht werden können, welche in weiterer Perspektive auch die Attraktivität eines Romantik-Modells um 1890 begünstigen: erstens eine vorgelagerte Abwertung des Romantik-Begriffs im Alltagsgebrauch, die sich mit Blick auf die aktuellen Literaturströmungen korrigieren lässt; zweitens eine Homogenisierung von Realismus und Naturalismus, die postwendend den ‚Idealismus‘ der Romantik als lange verschüttete Alternative hervortreten lässt; und drittens eine literaturgeschichtliche Modellierung von Romantik als defizitäre, noch unvollendete Strömung, wie sie international u. a. durch Georg Brandes’ Romantische Schule in Deutschland (1873) vermittelt wurde.

Lexikalische Semantik: ‚Romantisch‘ im kulturellen Wissen um 1890

Hinweise auf die erste der drei Diskurskonstellationen liefert das Grimm’sche Wörterbuch, dessen achter Band mit den Lemmata „Romantik“ und „Romantisch“ im Jahr 1893, dem hier relevanten Zeitraum, erscheint.Footnote 40 Im Anschluss an die mittlerweile verdrängte Bedeutung „romanhaft“ unterteilt sich das „Romantisch[e]“ in drei semantische Aspekte:

  1. a)

    von der welt der dichtung, zunächst wie sie in den romanen entgegentrat, im gegensatze zur prosaischen wirklichkeit. […] poetisch, die phantasie anregend, wunderbar, phantastisch […] mit steigerung des begriffs so viel als ‚abenteuerlich, seltsam, überspannt‘ […]

  2. b)

    romantisch im landschaftlichen sinne […]

  3. c)

    romantisch von der poesie und poetischen lebensauffassung des katholischen mittelalters im gegensatz zum klassischen alterthum […]Footnote 41

Insbesondere die erste Abteilung, die den Gegensatz zur „prosaischen [W]irklichkeit“ akzentuiert und alles Phantastische, ferner auch das ‚Seltsame‘ und ‚Überspannte‘ umfasst, kann als repräsentativ für das gemeine Verständnis des Romantischen um 1890 angeführt werden. In weiteren Lexika des Zeitraums tauchen äquivalente, manchmal gar identische Formulierungen auf: So weiß Weigands Deutsches Wörterbuch (1909) das „Romantische“ als „dem Geist und Geschmack des mittelalterlichen Rittertums gemäß; abenteuerlich und die Einbildungskraft erregend“;Footnote 42 Moritz Heyne definiert in seinem Deutschen Wörterbuch (1892) romantisch „im Gegensatz zur Wirklichkeit […]; dann besonders, auf Grund der Schilderungen in den alten Wundergeschichten, auf das Gebiet der Anschauung und der daraus fließenden Anregung der Phantasie und Empfindung bezogen“.Footnote 43 Den zeitgenössischen Wörterbüchern zufolge ist ‚romantisch‘ damit eine Art der Imagination, die keine oder nur wenig Berührung mit der Wirklichkeit besitzt und zudem den Charakter des „wunderbar[en]“ trägt.Footnote 44 Von einer literarischen Romantik um 1800 ist in diesen Dokumenten nur selten bzw. am Rande die Rede.

„Eine kleine Auslese“ des feuilletonistischen Wortgebrauchs von Romantik im relevanten Zeitraum liefert Franz Sandvoß in den Preußischen Jahrbüchern.Footnote 45 Als Kenner der historischen Romantik moniert Sandvoß insbesondere die pejorative Note, die dem Alltagsverständnis von Romantik in den 1890er Jahren anhaftet und die, seiner Argumentation zufolge, auf einer Unkenntnis romantischer Texte beruht. Ausgehend vom Grimm’schen Wörterbuch, das er kritisch zitiert, benennt der Philologe die seines Erachtens geläufigsten Epitheta, die der Romantik im alltäglichen Gebrauch attestiert werden: „nebelhaft“, „unfaßbar“, „verworren“, „schwächlich“, „zügellose Launen“ sowie ein „fehlendes Wirklichkeitsbedürfnis“. Auch ermangele der Romantik demnach eine „deutsche[] Einfachheit und Klarheit in Dichtung und Leben“, stattdessen forciert sie eine „Überschwänglichkeit“ und subjektivistischen „Ich-Kult“.Footnote 46

In diesem semantischen Feld, das Sandvoß mit Blick auf den zeitgenössischen Diskurs skizziert, lassen sich um 1890 auch frühe Fundstellen des Lexems ‚Neuromantik‘ nachweisen, das mit der ‚neuen Romantik‘ nach Bahr noch keine Berührungspunkte aufweist. In den Innsbrucker Nachrichten vom 17. Oktober 1892 lobt ein Rezensent beispielsweise „eine im Gegensatz zur nervös erregten Neuromantik wohlthuende Klarheit musikalischer Gedanken“, die er nach einem „Musikvereins-Concert“ nach Edvard Grieg beschreibt.Footnote 47 Mehr noch als der ‚Romantik‘ haften dem Lexem ‚Neuromantik‘ bis zur Jahrhundertwende ausschließlich negative Konnotationen an, da es in einem Oxymoron – der Semantik eines ‚neuen Alten‘ folgend – eine Epigonenkunst jenseits der Anforderungen aktueller Wirklichkeit beschreibt.Footnote 48

Auf Grundlage dieser Wortbedeutungen lassen sich bereits signifikante Überschneidungen eines zeitgenössischen Romantikwissens mit den literarischen Tendenzen der Jahrhundertwende feststellen. Propositionen wie „schwächlich“ und „verworren“ lassen sich auch dem Kernbestand einer internationalen Literatur nach Paul Bourget und Joris-Karl Huysmans zuordnen, die unter dem Begriff der ‚Dekadenz‘ bald auch in Deutschland diskutiert wird.Footnote 49 Auch „Überschwänglichkeit“ und „Ich-Kult“ erkennen Zeitgenossen wie Heinrich Mann schon bei Zola.Footnote 50 Nachdem das Grimm’sche Wörterbuch die Begriffe „seltsam“ und „überspannt“, die Tagespresse auch das „[N]ervöse“ mit dem Romantischen in Verbindung setzen, erscheint die Kombination einer „nervöse[n] Romantik“, wie sie Bahr ab 1891 funktionalisiert,Footnote 51 nicht mehr als abwegige Einzelleistung: Der Romantik-Begriff der Jahrhundertwende transportiert Semantiken, die sich mit den Motivkomplexen der internationalen Moderne bereits überschneiden. Die Überwindung des Naturalismus fungiert damit als Diskursknoten, in dem das Nervöse der Romantik mit einem aufkommenden Interesse für einen Neurasthenie-Diskurs der zeitgenössischen Wissenschaften verbunden wird.Footnote 52

Homogenisierung von Realismus und Naturalismus im literarischen Feld

Eine zweite Diskurskonstellation offenbart sich mit Blick auf das literarische Feld der 1890er Jahre. Im Zuge der Debatten um den Naturalismus und seine Überwindung transformiert sich auch der Begriff des ‚Realismus‘, womit die Romantik als literarisches Paradigma umgedeutet und neu akzentuiert wird. Wie Jutta Kolkenbrock-Netz darlegt, ist eine konfrontative Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Realismus, die sich in jüngeren Literaturgeschichten nachlesen lässt, keineswegs als zeitgenössische Debatte nachweisbar, sondern wurde vielmehr postwendend für die Epochenschwelle um 1890 interpretiert.Footnote 53 Im Diskurs selbst findet sich vielmehr ein Streit um zwei antagonistische Pole, die Gerhart Hauptmann im Rahmen einer Enquête über die Zukunft der deutschen Litteratur (1892) in aufschlussreicher Weise schematisiert:

Himmel

Erde

Ideal

Leben

Metaphysik

Physik

Abkehr

Einkehr

Prophetie

Dichtung

Zwei Lager;

wird das eine fett, wird das andre mager.Footnote 54

Hauptmanns Prognose stellt zwei Antonyme gegeneinander, die im Diskurs der 1890er Jahre bei verschiedenen Akteuren angeführt werden: auf der einen Seite eine Art ‚Idealismus‘ (links), der die subjektive Imagination zum Ausgangspunkt der Kunst erhebt und sich metaphysischen Begebenheiten annehmen kann;Footnote 55 und dagegen ein ‚Naturalismus‘ bzw. ‚Realismus‘ (rechts), der von den gegebenen Erscheinungen ausgeht und ein Referenzverhältnis von Umwelt und Poesie suggeriert. Die Strömungen des Naturalismus und des Poetischen Realismus fallen dabei retrospektiv ineinander, da beide, dem Deutungsangebot Stefan Tetzlaffs folgend, ein intersubjektiv nachvollziehbares ‚Modell von‘ Welt rekonstruieren, wohingegen die romantische Poetik jeweils ‚Modelle für‘ subjektive Sichtweisen auf die Welt offeriert.Footnote 56

Wo Hauptmanns Schema des literarischen Feldes auf ein bündelndes Hyperonym für die beiden Richtungen verzichtet, hantiert die Mehrzahl der Kritiker umgekehrt mit griffigen, historisch aufgeladenen Schlagworten. Curt Grottewitz prägt die vereinfachende Opposition eines „Idealismus“ gegen den pessimistischen „Realismus“, worauf ein „neuer Idealismus“ folgen soll;Footnote 57 bei Bahr verweisen die Begriffe „Naturalismus“ und „Romantik“ exakt auf die zwei entgegengesetzten Lager, die im Henrik Ibsen-Essay in eine „Synthese von Naturalismus und Romantik“ münden sollen.Footnote 58 Gemeinsam bleibt den einzelnen, häufig begriffsunscharfen Versuchen – neben den Synthese-Bestreben – eine Homogenisierung von Realismus und Naturalismus, sodass die naturalistische Episode nunmehr als „folgenrichtige Nebenform“ des Poetischen Realismus auftritt.Footnote 59

Ein drastisch verstärktes Interesse an historischer Selbstverortung, wie es Wunberg et. al. als ‚Historismus‘ um 1900 bezeichnen,Footnote 60 verwandelt dabei auch den Blick auf die jüngere Literaturgeschichte: Gerade der Poetische Realismus des 19. Jahrhunderts verzichtet keineswegs auf einen eigens funktionalisierten Idealismus, sondern unterwirft seine jeweiligen Textwelten einer verfahrensevozierten ‚Verklärung‘, um die subjektiv modellierten Prinzipien von Welt umso deutlicher hervortreten zu lassen.Footnote 61 In seinem Essay über Die Verwirrungen der Romantik (1860) fördert Julian Schmidt diesen offen ausgestellten ‚Idealismus‘ des Poetischen Realismus exemplarisch zutage:

Der Zweck der Kunst, namentlich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d.h. Gestalten und Geschichten, deren Realität man wünschen muß, weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen, belustigen u.s.w.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d.h. eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen Ideale glauben.Footnote 62

Diese idealistische Note, die in den Realismus-Theorien der Jahrhundertmitte ausgiebig reflektiert wird, erfährt im Diskurs der 1890er Jahre nun eine Marginalisierung. Der eigentlich noch junge Naturalismus aus Frankreich wird in diesem Zuge auf einen weiter entfernten Anfangspunkt zurückdatiert. Aus dieser Warte scheint es, der Poetische Realismus habe die subjektive Bedingtheit aller Realitätswahrnehmung „so lange Zeit über […] vergessen“,Footnote 63 dass dieses Problem (vermeintlich) zuletzt in der literarischen Romantik um 1800 reflektiert wurde.

So begünstigt eine Krise des Realismus die Wiederentdeckung romantischer Autoren um 1890. Selbst Akteure aus dem Umfeld des früheren Naturalismus wenden sich unter diesen Vorzeichen einer neuen Romantik zu: „Hinaus über den Realismus! Ueber ihn, nicht mit ihm“, proklamiert Wilhelm Bölsche in der Freien Bühne.Footnote 64 Andere Naturalisten wie Michael Georg Conrad widersetzen sich den Diskussionen um eine neue Romantik:

Ich glaube, unserem Volk thut Anderes not. Statt Mystik und frommen Katechismusübungen und klerikalen Salbungen eine möglichst umfassende und gründliche Aufklärung in allen national- und weltökonomischen Wissens- und Arbeitsfächern. Nicht neue Romantik, sondern neues Wissen.Footnote 65

Die Debatten um die neue Romantik sind dabei nicht zuletzt an eine Generationen- bzw. Altersfrage gekoppelt. Für Conrad, der sich als früher Wortführer des deutschsprachigen Naturalismus noch selbst gegen die Verklärung des Poetischen Realismus richtete, erscheinen die jungen „Mystiker der internationalen Fabulierkomödie, [die] rasenden Rolande der alleinseligmachenden Stimmung aus Impotenz und Gigerlnhaftigkeit“ nun als ein naiver Affront und Rückfall in überwunden gehoffte Ideale.Footnote 66

Georg Brandes : Die romantische Schule in Deutschland (1873)

Als weitere Einflüsse müssen schließlich, so die dritte Diskurskonstellation, die konkreten Impulse aus der internationalen Moderne und insbesondere die Werke des Literaturhistorikers Georg Brandes genannt werden, über den eine Vielzahl moderner Autoren mit der historischen Romantik in Berührung kamen. Anders als Hermann Hettner und Rudolf Haym, die mit ihren historisierenden Darstellungen zwei umfangreiche Romantik-Monographien vorlegten,Footnote 67 unternimmt der dänische Literaturhistoriker Brandes in seiner Abhandlung über Die romantische Schule in Deutschland (1873) einen „psychologisch[en]“ Zugriff, mit dem er die Grundprinzipien deutscher Romantik aus dem „flüssige[n] Material zusammenzupressen“ versucht.Footnote 68 Brandes betreibt damit Modellbildung par excellence: „Das Ganze kräftig, aber dergestalt zu beleuchten, daß die Hauptzüge hervorspringen und in die Augen fallen, ist mein Prinzip“.Footnote 69 Da er selbst schon damals zu den wichtigen Akteuren der europäischen Moderne zählt,Footnote 70 liefert Brandes mit seiner Romantischen Schule in Deutschland einen der einflussreichsten Intertexte für die neue Romantik – nachweislich rezipiert u. a. von Bahr, den Brüdern Mann, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Ricarda Huch und Eugen Diederichs.Footnote 71

Selbstreferentiell und mit ausgestellt subjektiver Note legt Brandes die Kriterien seiner folgenreichen Modellbildung offen: Die deutsche Romantik wird hier auf der Folie der dänischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts gedeutet, für die sie laut Brandes den entscheidenden Motor darstellte. Zugleich werde sie in den dänischen Texten formal wesentlich weiterentwickelt, genauer: zu ihrer eigentlichen Form gebracht. Somit haftet der deutschen Romantik bei Brandes etwas Defizitäres an:

Sprachlich hat die Romantik durch Bilder ohne sinnliche Bestimmtheit, durch Mißbrauch von Ausdrücken für das Seltsame, Dämmernde, Geheimnisvolle, durch archaistische Formen und Wendungen, durch die Absicht, den gewöhnlichen aufgeklärten Sterblichen unverständlich zu sein, die poetischen Kunstmittel und den dichterischen Stil eher verschlechtert und verdorben als bereichert. Auf poetischem Gebiete zerfließt sie in hysterische Andacht und blauen Dunst[.]Footnote 72

Das Manko der deutschen Romantik ist demnach die poetische Form, was Brandes in einer eigens erklärten „Formel“ benennt:

In der Poesie Deutschlands mehr Leben, in der entsprechenden Poesie Dänemarks mehr Kunst. Es ist Deutschland, das die Stoffe ausgräbt. […] Die dänische Literatur empfängt die von Leben sprudelnden Stoffe und Ideen, und es gelingt ihr oft, ihnen eine sicherere Form und einen klareren Ausdruck zu geben, als sie in ihrer Heimat erhielten. […] Auf dänischem Boden erhielt die Romantik mehr Klarheit und mehr Form.Footnote 73

Brandes liefert in seiner Darstellung der deutschen Romantik, die auch im deutschsprachigen Raum zum zugänglichen Standardwerk avancierte, ein differenziertes, aber zugleich ausgestellt wertendes Urteil. Gegen die sprudelnden Subjekte führt er die dänische Kunstfertigkeit, eine „Fähigkeit der Veräußerlichung“ an, welche den deutschsprachigen Autoren ihrem „Rassenmerkmal“ entsprechend fehle: „Die deutsche Natur ist so innerlich und tief, daß diese Fähigkeit sich nicht eben häufig findet.“Footnote 74 Darüber hinaus erscheint Romantik hier als ein aristokratisches Phänomen, vorbehalten einer privilegierten Elite, und in ihrem Kern rückwärtsgewandt: „Im Großen und Ganzen betrachtet ist die deutsche Romantik Reaktion.“Footnote 75 Schließlich sei das Kennzeichen deutscher Romantik eine Übertreibung ins Formlose durch die Kühnheit ihrer Autorsubjekte, die sich in Imaginationen verlieren: Dadurch werden zwar die Verfasser und Individuen hinter den Texten interessant, der romantischen Literatur an sich aber bleibt das Eigenartige, Elitäre, Unzugängliche, Nicht-Volkstaugliche inhärent.

Dieses defizitäre Modell von Romantik findet sich schließlich im deutschsprachigen Diskurs um 1890 immer dann wieder, wenn die Romantik als literarhistorisches Phänomen aufgerufen wird. Insbesondere bei Bahr, aber auch darüber hinaus erscheint das Romantische als ein unfertiges Hervorbrechen von Individualität, das wiederum mit den Prämissen des Realismus bzw. Naturalismus versöhnt werden soll. Naturalismus und Romantik fungieren schon hier als zwei Seiten einer Medaille: Für die 1890er Jahre gilt es, sobald von einer „neuen Romantik“ die Rede ist, nicht eine alte Romantik und ihren „Himmel“ und ihr „Ideal“ epigonal wiederzubeleben,Footnote 76 sondern stattdessen ihre Defizite mithilfe der naturalistischen, wirklichkeitsgebundenen Technik auszugleichen.

2.1.3 Romantik und die internationale Moderne: Impulsgeber und frühe Akteure

Neben diesen impliziten Voraussetzungen für eine neue Romantik treten um das Jahr 1890 gleich mehrere Akteure in Erscheinung, die das Romantische explizit thematisieren und in diesem Zuge mit Relevanz aufladen. Als produktionsanregendes Phänomen fungiert die Romantik vor allem bei Maurice Maeterlinck, dem wohl wesentlichen Impulsgeber für eine Neoromantik der Jahrhundertwende neben Hermann Bahr. Auch Jens Peter Jacobsen spielt mit seinem Roman Niels Lyhne (1880, dt. 1889) eine wichtige Rolle, wobei erst ein einschlägiges Vorwort des Literaturkritikers Theodor Wolff die Verknüpfung zur Neoromantik offenlegt. Für einen (noch) kleinen Kreis an deutschsprachigen Feuilletonisten, die schon vor 1896 von einer „Romantik der Moderne“ sprechen, wird im Folgenden exemplarisch der Kritiker Leo Berg genauer betrachtet, der laut Gotthart Wunberg als einer der „analytisch besten Köpfe“ unter den Zeitgenossen gelten darf.Footnote 77 Schließlich rückt – neben Maeterlinck, Jacobsen und Berg – ein nahezu unbekannter Akteur in den Blick, der als Erfinder bzw. Neubesetzer des Lexems ‚Neuromantik‘ ausgemacht werden kann. Auf Henri Albert, den französisch-deutschen Auslandskorrespondenten des Pan, geht die Rede von einer Französischen Neuromantik (1896) zurück, sodass sich anhand seiner Schriften auch die Existenz eines néoromantisme-Diskurses im zeitgenössischen Frankreich kritisch beleuchten lässt.

Maurice Maeterlinck : Princesse Maleine (1889)

Drei Jahre, nachdem Hermann Bahr seine Thesen zur „Synthese von Naturalismus und Romantik“ erstmals formuliert,Footnote 78 erscheint ein Schriftsteller auf der internationalen Bühne, der Bahrs Forderungen punktgenau einlöst. Zunächst unbeachtet veröffentlicht der Belgier Maurice Maeterlinck sein Erstlingsdrama La Princesse Maleine (1889), eine freie Dramenadaption des Grimm’schen Märchens von der Jungfrau Maleen (1850), um im August 1890 durch eine prominente Fürsprache über Nacht berühmt zu werden. „Maurice Maeterlinck hat uns das genialste Werk dieser Zeit geschaffen“, schreibt der renommierte Kritiker Octave Mirbeau im französischen Figaro, „das außerordentlichste und zugleich naivste, an Schönheit vergleichbar und – soll ich wagen, es zu sagen? – überlegen dem, was es bei Shakespeare an Schönstem gibt“.Footnote 79 Schlagartig und europaweit wird Maeterlinck unter dem Label des „belgischen Shakespeare“ bekanntFootnote 80 und auch in den literarischen Szenen Deutschlands und Österreichs rege rezipiert. Hermann Bahr berichtet über das Jahr 1890: „Man konnte an dem neuen Namen nicht mehr vorbei. Er war ein Ereignis geworden, zu dem man sich stellen mußte, so oder so.“Footnote 81 Als einer der ersten schreibt Bahr einen deutschsprachigen Essay über Maurice Maeterlinck (1891), dessen Namen er von nun an eng an sein Label der „Nervenromantik“ heftet.Footnote 82 Überspitzt reflektiert Bahr schon hier den modischen Charakter dieses „Paukenschlag[s]“, den Mirbeau losgetreten hatte: „[E]s wurde eine Reklame ohne Gleichen“.Footnote 83

Um die Impulse aufzuzeigen, die Maeterlincks Dramen in den Diskurs über die Neoromantik einspeisen, lohnt sich ein analytischer Blick in das hochgelobte Drama Prinzessin Maleine (1889), das u. a. von Friedrich von Oppeln-Bronikowski im Diederichs-Verlag (1902) übersetzt wurde.Footnote 84 Schon die Eröffnung des Dramas ist symptomatisch: In der einführenden Szene im Schlossgarten beobachten zwei wachhabende Offiziere, Stephano und Vanox, in der Verlobungsnacht von Prinzessin Maleine, wie am Himmel zuerst ein Komet, dann ein Sternenregen auf das Schloss fallen.

Vanox::

Die Sterne fallen auf das Schloß! Sieh nur! Sieh nur! Sieh nur!

Stephano::

Solch einen Sternenregen habe ich noch nicht gesehen! Man möchte sagen, der Himmel weinte über dieses Verlöbnis!

Vanox::

Man sagt, das alles bedeute ein grosses Unglück.

Stephano::

Jawohl; vielleicht Kriege oder den Tod von Königen. Solche Vorzeichen sah man auch beim Tode des alten Königs Marcellus.

Vanox::

Man sagt, dass Sterne mit so langem Haarschweif den Tod von Fürstentöchtern künden.

Stephano::

Man sagt... Man sagt mancherlei...Footnote 85

Proleptische Szenen dieser Art sind charakteristisch für die frühen Dramen Maeterlincks: Figuren beobachten in einzelnen Szenen merkwürdige Phänomene, die sie als unheimliche Vorzeichen auf ein späteres oder hintergründig verborgenes Unheil interpretieren. Dabei lässt sich eine wiederkehrende Abfolge von Behauptung und Widerruf beobachten: Zuerst artikulieren die Figuren wie in diesem Fall eine vage Ahnung („Man möchte sagen“) bzw. ein verbreitetes Volkswissen („Man sagt“), anschließend aber relativieren sie die astrologischen Zeichen als möglichen Aberglauben („Man sagt… Man sagt mancherlei…“). Im Dramengeschehen aber werden sich derart artikulierte Vorahnungen in der Regel erfüllen: Noch im ersten Auftritt bricht ein Krieg aus; vom Tod des jungen Königs Marcellus wird im zweiten Auftritt berichtet; und im weiteren Handlungsverlauf stirbt auch Prinzessin Maleine tragisch.

Unter den zeitgenössischen Lesern wird vor allem der Begriff der „Sensationen“ an Maeterlincks Dramen rege diskutiert: „Die Gestalten, welche er [Maeterlinck, R.S.] formt, sind nur Zeichen seiner Sensationen, wie von seinen Stimmungen auf die Welt geworfene Schatten“, so Hermann Bahr;Footnote 86 und laut Heinrich Mann dient Maeterlincks „neue Romantik […] nur dazu, Sensationen zu wecken, das Endziel all ihrer Bestrebungen.“Footnote 87 Wie unheimliche ‚Sensationen‘ im Drama genau inszeniert werden, zeigt sich eindrücklich in einer Szene zwischen Prinzessin Maleine und dem jungen Prinz Hjalmar, die sich eines Abends im dunklen Wald treffen:

Maleine::

Ich fürchte mich!

Hjalmar::

Denkt nicht mehr daran; wir wollen weiter gehen. […]

Maleine::

Hier muss jemand weinen.

Hjalmar::

Jemand hier weinen?

Maleine::

Ich fürchte mich.

Hjalmar::

Hört Ihr denn nicht, dass es der Wind ist?

Maleine::

Was sind das alles für Augen auf den Bäumen?

Hjalmar::

Wo denn? Ach, das sind die Eulen, die sind zurückgekommen. Ich will sie wegjagen. [….] Fort! Macht euch fort!

Maleine::

Eine will nicht fortgehen!

Hjalmar::

Wo sitzt sie?

Maleine::

Auf der Trauerweide.

Hjalmar::

Fort mit dir!

Maleine::

Sie geht nicht fort!

Hjalmar::

Fort! Mach, dass du fortkommst!Footnote 88

„Die Geschehnisse sind äußerlich einfach“, so beschreibt Heinrich Mann dieses stimmungsevozierende Verfahren,Footnote 89 und tatsächlich geschieht in diesem Waldspaziergang wenig Bedrohliches. Der Text aber streut eine Reihe falscher Fährten ein: Ein Weinen im Wald entpuppt sich als ein Windzug, auch die unheimlichen Augen auf den Bäumen stammen profan von den Eulen. Dennoch evoziert das Drama in solchen Dialogen den Eindruck, dass die Umgebung mit den Figuren interagiert: „Nie sah ich dies Gehölz seltsamer als heute abend“, reflektiert Hjalmar, während er auf die Prinzessin wartet, „[n]ie habe ich mehr Vorzeichen gesehen, als heute abend“.Footnote 90 In einem Schreckmoment, in dem Maleine dem Prinzen ihre wahre Identität eröffnet, „gluckst [der Springbrunnen] seltsam und erstirbt“, wie eine Regieanweisung notiert.Footnote 91 Einerseits sind die Figuren also überzeichnet nervös, denn sie reagieren panisch auf jeden Umgebungsimpuls; andererseits erspüren sie in ihrer Nervosität tatsächlich eine Art schicksalhaftes Unheil, das sich aufgrund ihrer Liebesbeziehung über ihnen zusammenbraut.

Was haben diese unheimlichen Stimmungen im Drama mit Romantik zu tun – einerseits konkret mit der Vorlage des Grimm’schen Märchens, andererseits mit einem heuristischen Modell von Romantik? Mit Blick auf die Kinder- und Hausmärchen zeigt sich zunächst eine direkte Übernahme wesentlicher Handlungsstränge aus dem Intertext Jungfrau Maleen: Vor allem in der ersten Hälfte adaptiert das Drama u. a. das Einsperren der Prinzessin mit ihrer Magd in einen Turm; die Zerstörung des alten Königreichs; sowie die ziellose Wanderung durch ein Bauerndorf, bis Magd und Prinzessin aus Zufall am Schloss des Prinzen landen. Allerdings wird diese Handlung, die bei den Brüdern Grimm „sieben Jahre“ dauert,Footnote 92 zeitlich gerafft: Innerhalb nur einer Szene landet Maleine in dem Turm und entkommt ihm wieder, wobei der Dramentext genaue Angaben über die innerdiegetische Zeit signifikant umschifft.Footnote 93 Hinzu gesellt sich eine Intrigen- und Wahnsinnsgeschichte am Hof des Königs Hjalmar, die im Märchen komplett fehlt und in der zweiten Hälfte des Dramas auserzählt wird. Tatsächlich endet Prinzessin Maleine nach Shakespeare’schem Vorbild im Tod oder im Wahnsinn aller wichtigen Figuren, anders als in der Märchenvorlage.

Ein romantisches Volksmärchen vermischt sich also in Prinzessin Maleine mit weiteren Intertexten aus heterogenen Traditionen, wobei die kanonischen Märchenmotive – Prinz, Schloss, Mondnacht und Wald – auf histoire-Ebene dominant bleiben. Betrachtet man das Drama mithilfe des heuristischen Modells von Romantik, wie oben aufgestellt,Footnote 94 dann fällt vor allem eine analoge „Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf“ auf,Footnote 95 wie sie sich bei Maeterlinck bereits in der direkten Figurenrede gezeigt hat. Exemplarisch zeigt sich dieses Kippmoment auch in doppelten Verweisstrukturen, die wiederholt eingesetzt werden: „Der Irre war’s“, ruft ein Bediensteter im letzten Auftritt, um den Mord an Maleine einem stadtbekannten Verrückten anzulasten, den man im Graben vor ihrem Fenster gefunden hat.Footnote 96 Gleichzeitig aber verweist „der Irre“ auch auf den alten König Hjalmar, der in dieser Szene endgültig dem Wahnsinn erliegt und unzweifelhaft für den Mord an Maleine verantwortlich ist.Footnote 97 Redebeiträge greifen in Maeterlincks Dramen über die Figuren hinaus: Der Bedienstete referiert auf eine konkrete Figur des „Irrsinnige[n]“, im Dramenkontext aber zielt sie zugleich auf den richtigen Täter, ohne dass der Bedienstete seinen eigenen Doppelverweis bemerken würde.Footnote 98

In seiner Vorrede zur Ausgabe im Diederichs-Verlag (1902) beschreibt Maurice Maeterlinck seine frühen Dramen folgendermaßen: „Man glaubt darin an ungeheure, unsichtbare Schicksalsmächte, deren Absichten völlig unbekannt sind, die aber im Sinne des Dramas mit bösem Willen über unserem Thun und Lassen wachen“.Footnote 99 In diesem Text lauert tatsächlich etwas hinter der Fassade der Wahrnehmung: Unzählige Vorahnungen erfüllen sich rekurrent, unheimliche Stimmungen prognostizieren ein grausames Ende und die Figuren sprechen Wahrheiten aus, die über ihr eigenes Wissen hinausgreifen. Damit lässt sich eine erste, folgenreiche Modifikation im neoromantischen Drama im Vergleich zur Romantik beschreiben: Wo Maeterlincks Figuren (genau wie in der Romantik) nicht zwischen einer transzendenten Erscheinung und ihrer eigenen Nervosität unterscheiden können, validiert das (intersubjektiv beobachtbare) Bühnengeschehen über die histoire-Ebene zusätzlich die Existenz einer präfigurierenden Kraft, die unabhängig von den Subjekten ihre Fäden spinnt. In diesem Sinne ist der Tod der Prinzessin Maleine bereits besiegelt, als Stephano und Vannox die Vorzeichen am Himmel beobachten.

Anders in der Romantik: In den Lehrlingen zu Saïs von Novalis (1798–99), die Maeterlinck selbst ins Französische übersetzt,Footnote 100 bleibt die Einsicht in das Absolute immer notwendig an ein Subjekt gekoppelt. Im Binnenmärchen über Hyacinth und Rosenblüthe beispielsweise erkennt der melancholische Hyacinth am Ende seiner Bildungsreise, dass sich hinter dem Schleier zu Saïs seine alte Jugendliebe Rosenblüthe verbirgt, zu der er nun in seiner individuellen Erlösungsvision zurückkehrt. Das Märchen illustriert hier die Tätigkeit des Romantisierens, mit der ein Subjekt seine Geliebte zur Göttin romantisieren bzw. das Göttliche romantisch in der Geliebten auffinden kann.Footnote 101 Diese Verbindung von Subjekt und absoluter Erkenntnis wird bei Maeterlinck aufgelockert. Das Bühnengeschehen überfällt die Figuren hier regelrecht, die selbst nicht realisieren, welche intersubjektiven Wahrheiten sie in den einzelnen Szenen aussprechen. Die Figuren in Prinzessin Maleine sind machtlos gegenüber den unheimlichen Stimmungen im Wald, was Prinz Hjalmar noch einmal vor seinem Freund Angus artikuliert:

Geht nachts einmal zum Park ins kleine Wäldchen, wo der Springbrunnen ist, dann werdet Ihr es merken, wie alle Dinge dort, doch nur zu gewissen Augenblicken und wenn man sie betrachtet, ruhig sind, wie artige Kinder, und durchaus nicht seltsam und wunderlich erscheinen. Dreht man ihnen aber den Rücken, gleich schneiden sie Gesichter und spielen Euch den ärgsten Schabernack.Footnote 102

In einem romantischen Text werden die „Dinge“ in der Regel erst eigenartig, sobald sie von den Figuren angeschaut werden. Hier aber spinnt eine außersubjektive Kraft hinter dem Rücken der Figuren ihre Fäden, was sich über eine Erregung auf ihren Nerven erspüren lässt. Rational beschreiben können die Figuren im Drama diese Phänomene nicht: „Das verstehe ich nicht“, antwortet Angus auf diesen Passus, und Hjalmar antwortet: „Noch minder ich“.Footnote 103

Erzähltheoretisch bürgt vor allem das nullfokalisierte Bühnengeschehen inklusive seiner Regieanweisungen für eine ontologisch vorhandene Ebene schicksalshafter Vernetzungen, die sich hinter der Wahrnehmung einzelner Figuren versteckt. Hjalmar, Maleine oder die Bediensteten verstricken sich zwar in ihren figurengebundenen Redebeiträgen in die romantischen Ambivalenzen zwischen Behauptung und Widerruf, doch im Zuge der Dramenhandlung erfüllen sich all ihre Vorzeichen widerspruchsfrei.Footnote 104 Auf dieser Grundlage sorgt das neoromantische Drama für eine schrittweise Entkoppelung von Subjekt und dem verborgenen Naturschlüssel: Es liegt bei Maeterlinck nicht an der Perspektive, ob die Figuren etwas Absolutes erkennen, sondern die neoromantischen Figuren werden das objektive Walten von etwas Absolutem schon zu spüren bekommen – ob sie es nun erkennen oder nicht. Die nullfokalisierte Bühnenperspektive im Drama bringt die entscheidende intersubjektive Verbindlichkeit hinein, welche die Romantik mit ihren verschachtelten Perspektivierungen tendenziell seltener aufweist.

Romantisch an Prinzessin Maleine sind damit erstens die intertextuellen Referenzen zum Märchen, zweitens ein naiver Sprachstil (in Anlehnung an die Grimm’schen Märchen) sowie drittens die changierenden Figurenwahrnehmungen, die nicht zwischen ihrer eigenen Nervosität und einem Weltgeheimnis unterscheiden können. Neoromantisch aber ist die tatsächliche Abhängigkeit der Subjekte von einer numinosen Kraft, die unabhängig von individuellen Perspektiven die Handlung determiniert. Heinrich Mann bringt diesen Unterschied auf eine Formel: „hier freier Wille [in der Romantik, R.S.], hier Naturbestimmung [bei Maeterlinck, R.S.]“.Footnote 105 Johannes Schlaf stört sich in seiner Lektüre an der „von ihrem Dichter allen Ernstes so ausgesprochene[n] wie durchgeführte[n] ästhetische[n] Forderung, daß die handelnden Personen eines Dramas keine lebendigen Menschen mehr, sondern Puppen sein sollten“;Footnote 106 und laut Bahr haben Maeterlincks Stücke vor allem die „Absicht, die Nerven in eine bestimmte Verfassung zu bringen“, um performativ auch die Zuschauer anfällig für neoromantische Sensationen zu machen.Footnote 107

Jens Peter Jacobsen : Niels Lyhne (1880, dt. 1889)

„Die Rezeption Jens Peter Jacobsens im deutschen Sprachraum gehört zu den interessantesten, in mancher Hinsicht aber auch merkwürdigsten und undurchschaubarsten Kapiteln der Literaturgeschichte“, konstatiert Klaus Bohnen im Nachwort zur jüngsten Reclam-Ausgabe von Niels Lyhne, und darüber hinaus pointiert er: „Jacobsens Resonanz ist zweifellos so stark gewesen, daß man zeitweilig von einem Modephänomen wird sprechen müssen“.Footnote 108 Tatsächlich lassen sich die Stimmen prominenter Autoren, die in ihrer frühen Schreibentwicklung von Jacobsen geprägt wurden, kaum erschöpfend darstellen: „In jener Zeit war Niels Lyhne unter der deutschen Jugend eine fast populäre Gestalt“, konstatiert Jacob Wassermann; Niels Lyhne und die Bibel seien die zwei Bücher, die Rilke nach eigenen Angaben am stärksten beeinflusst haben; und Stefan Zweig formuliert: „Niels Lyhne, wie glühend, wie leidenschaftlich haben wir in den ersten wachen Jahren der Jugend dieses Buch geliebt: es ist der Werther unserer Generation gewesen“.Footnote 109 Die Analogie zu Goethes Werther umfasst auch die Stellung des Niels Lyhne-Romans zur einer Neoromantik, wie sie zum Beispiel Hermann Hesse betont: „In Jacobsen war der Realist, ohne auf die Errungenschaften seiner Schule zu verzichten, zum Dichter geworden. Es ist nicht zu sagen, welch großen Anteil sein Beispiel am Entstehen einer deutschen Neuromantik gehabt hat.“Footnote 110

Dabei ist es nicht vorrangig der literarische Text, mit dem Jacobsens Niels Lyhne die Debatte um neue Romantik im deutschen Sprachraum miteröffnet. Vielmehr liefert ein Vorwort von Theodor Wolff den folgenreichen Brückenschlag zur Romantik, an das sich Gottfried Benn noch erinnert, als er ebenfalls seine Lieblingsbücher benennt: „Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne (in der Reclam-Ausgabe, mit dem schönen Vorwort von Theodor Wolff aus dem Jahre 1889)“.Footnote 111 Exakt im selben Jahr wie das ‚Ereignis‘ Maeterlinck schafft es der noch junge Literaturkritiker Wolff, den jung verstorbenen Jacobsen mithilfe einer preisgünstigen Ausgabe bei Reclam im literarischen Deutschland bekannt zu machen. Wolffs Einleitung und seine weiteren Ankündigungstexte begründen damit zu einem großen Teil den ominösen Ruhm des zuvor unbekannten Jacobsen, wobei u. a. die Romantik als (gelingende) Werbestrategie eingesetzt wird.

Die passiven Figuren des Dänen Jacobsen werden in Wolffs ausführlicher Einleitung in eine Traditionslinie mit der deutschen Romantik gestellt: „Diese Flucht vor der Wirklichkeit ist das Merkzeichen des Romantikers“, so Wolff mit Blick auf Niels Lyhne. „Wie die Helden Jacobsens, so flohen einst die Gestalten Eichendorffs und Hardenbergs aus dem staubigen Lärm des Alltags in das Reich des Ideals.“Footnote 112 Romantik und Jacobsen verbinde laut Wolff ein gemeinsamer Eskapismus, da auch die Figuren im Niels Lyhne ausschließlich „thatenlose[] Träumergestalten“ seien, die „vor der Wirklichkeit [fliehen], bis die Wirklichkeit an sie herantritt und unsanft aus ihren Träumen reißt.“Footnote 113 Was als Argument für einen möglichen Anachronismus anhebt, wendet Wolff rhetorisch geschickt in ein positives Argument für Jacobsens zeitgemäße Modernität:

Und doch ist Jens Peter Jacobsen von den älteren Romantikern durch mehr als eine unüberschreitbare Kluft getrennt. Waren jene die mittelalterlichen Romantiker, so ist er der moderne, naturwissenschaftliche Romantiker. Die Ergebnisse der modernen Wissenschaft – er verschmilzt sie mit der Romantik.Footnote 114

Diese vielrezipierten Sätze müssen als Impulsgeber für eine Neoromantik – verstanden als Aktualisierung von Romantik unter den Vorzeichen der Jahrhundertwende – als äußerst wirkmächtig veranschlagt werden. In Jacobsens „Stil, den man wohl den naturwissenschaftlichen nennen möchte“,Footnote 115 gelinge ihm eine Synthese aus aktueller Biologie und alter Romantik, wofür Wolff das biographische Argument heranzieht, dass Jacobsen – als ausgebildeter Botaniker und Darwin-Übersetzer – sowohl Wissenschaftler als auch Dichter zugleich sei. Das „Ideal, die blaue Blume“, nach der sich Jacobsens Figuren sehnen, sei in seinen Texten das praktische „Leben“, aus dem die alten Romantiker (angeblich) noch willentlich flüchteten.Footnote 116 Qua Milieu und Veranlagung bleibe Jacobsens Sehnsucht zur Praxis notwendig unerfüllt, da seine neoromantischen Figuren durch allzu feine Nerven zur „[a]ristokratische[n] Thatenlosigkeit“ verdammt seien.Footnote 117 Kurz: „Es ist nicht mehr der dünne, zitternde, blasse Mondschein, was jetzt die Romantik durchzieht, es ist heißes Leben, Fleisch und Blut.“Footnote 118

Wo die älteren Romantiker noch träumerischen Idealen und Mondnächten nacheilten, da sehnt sich der unfreiwillige Neoromantiker jetzt nach mehr Leben – so lautet das komparatistische Deutungsangebot Theodor Wolffs. Auch der anschließende Primärtext, also der Roman rund um die Hauptfigur Niels Lyhne, setzt sich intensiv mit dem Romantischen auseinander, allerdings in differenzierterer Weise. Zum einen ist dem jungen Niels Lyhne eine Vorliebe „für das Romantische oder vielmehr das Sentimental-Romantische“, wie er sie in der Kunst seines Jugendfreundes Erik beobachtet, überhaupt „nicht sympathisch“.Footnote 119 Seine geradezu antiromantische Semantik inszeniert der Roman anhand der Figur der Frau Boye, einer unerfüllten Jugendliebe Lyhnes, die über ein Gespräch über den dänischen Romantiker Adam Oehlenschläger eingeführt wird. Nachdem Frau Boye die Darstellung einer Meerjungfrau aus Oehlenschlägers Helge (1814) textgetreu zitiert, äußert sie vor Niels ihren Unmut: „[D]amit war ich nicht zufrieden. Da will ich eine üppig glühende Schilderung haben, ich will etwas so blendend Schönes sehen, daß es mir den Atem raubt.“Footnote 120 Ein Beispiel für die detailverliebte, lebendige Schilderung, wie sie auch der Erzähler des Romans bevorzugt, gibt Frau Boye anschließend selbst, sodass alle umstehenden Männer plötzlich ihre „berauschend[e]“ Schönheit erkennen.Footnote 121 Romantik fungiert in diesen Szenen, frei nach Georg Brandes, als ein erzähltechnisches Manko, das sich durch Detailverliebtheit und formale Ausführlichkeit ausmerzen lässt.

Die Romantik-Kritik der Frau Boye aber beschränkt sich nicht auf den literarischen Stil. Nachdem sie an einem Frühlingsabend ihren „Heine“ beiseitelegt, um „Lotterie“ zu spielen,Footnote 122 entwickelt sie im Gespräch mit Niels Lyhne eine geradezu dogmatische Ideologiekritik der romantischen Liebe. „Wie ich diese vergeistigte Liebe hasse“, hebt sie auf eine Bemerkung des (unfreiwillig) schwärmenden Niels an, und sie unterscheidet im folgenden Monolog zwischen einer idealisierenden bzw. vergeistigten Liebe, wie sie bei Männern auftritt, und einer natürlichen, „realistisch[en]“ Liebe, wie sie Frauen ausüben.Footnote 123 Ihr Urteil gegen das männliche Romantisieren fällt hart aus:

Ich verachte die Phantasie. [...] Wie oft müssen wir uns nicht darein finden, daß der, welcher uns liebt, uns mit seiner Phantasie ausstaffiert, [...] uns in ein sternübersätes Gewand hüllt und uns dann erst der Liebe für wert hält, wenn wir in dem Maskeradenkostüm einhergehen, in dem keiner von uns er selbst sein kann, weil wir allzu herausgeputzt sind, und man uns dadurch nervös macht, daß man sich vor uns in den Staub wirft und uns anbetet, anstatt uns zu nehmen, wie wir sind, und uns einfach zu lieben.Footnote 124

Entwürdigend und „tyrannisch“ sei demnach die romantische Liebe des Mannes, der seiner Geliebten einen „Schein von Göttlichkeit“ andichtet, um ihre reale Natur zu überschreiben. „In nenne das eine Gewalttat gegen unsere Natur. Ich nenne es Dressur. Die Liebe des Mannes dressiert.“Footnote 125 Auch wenn die Figur der Frau Boye in ihrem Hang zur übertriebenen Pose im Roman auch ironisch reflektiert wird, bestätigt sich ihre Theorie im weiteren Handlungsverlauf anhand verschiedener Figuren: Niels verliebt sich auf tragische Weise in Frau Boyes „goldenen Schein unter dem dunklen Haar“,Footnote 126 und auch seine spätere Geliebte Fennimore wird durch eine romantische Liebe, diesmal zu dem Jugendfreund Erik, tragisch zugrunde gerichtet. Romantische Idealisierung, darin liegt eine der wesentlichen Pointen des Niels Lyhne-Romans, führt mindestens zur Ernüchterung, häufig gar zur brutalen Zerstörung des Ideals oder des idealisierenden Romantikers.

Entsprechend hat Bengt Algot Sørensen in seiner Analyse ein „polare[s] Gegensatzverhältnis“ zwischen dem romantischen Traum und dem biologischen Leben im Niels Lyhne herausgearbeitet, wobei vorrangig das Träumen in problematischem Licht erscheint. „Die Gefährlichkeit des Traumes“, so Sørensen, „entsteht vor allem dadurch, daß sich die im Traum enthaltene Sehnsucht auf das Leben richtet und daß der Traum unverbindlich Leben vorgaukelt und vortäuscht.“Footnote 127 Romantisches Träumen ist im Romanverlauf gefährlich, und gerade die Hauptfigur Niels Lyhne trägt einen unvermeidbaren Hang zum Romantisieren als biologische Tatsache in seinen Genen. Denn obwohl sich Lyhne rational gegen eine sentimentale Romantik ausspricht, hat er das Romantisieren genealogisch von seiner Mutter geerbt, deren Faible für „deutsche Poesie“ ihn stärker prägt als der praktisch veranlagte Vater.Footnote 128 In einer Szene, in der Niels vor der kranken Mutter sein Versprechen zum Dichtertum ablegt, findet er sie umringt von Büchern von „Schiller, Staffeldt, Ewald und Novalis“ und vor allem von „Rousseaus ‚Héloise‘“,Footnote 129 deren „Lieblingsblume […], die blauer ist als der blaue Himmel“, später den Grabstein der Mutter ziert.Footnote 130 An ihrem Beispiel inszeniert der Roman das poetologische Problem des romantischen Träumens: Da sie sich im Krankenbett „so mit ganzer Seele“ nach der fernen Welt sehnt, reist Niels mit ihr in das schweizerische Clarens, wohin sie ihre „müde, traumbefangene Seele lockte; es war ja Rousseaus Clarens, Julies paradiesisches Clarens“.Footnote 131 Die Erfüllung ihrer Sehnsucht stellt sich jedoch als desillusionierende, todbringende Enttäuschung heraus:

Nein, sie mußte dahinwelken, denn der letzte Traum, […] der Traum von der Herrlichkeit der fernen Welt – er hatte keinen Tag gebracht, seine Farben waren verblichen, je näher sie ihnen kam, und sie fühlte, daß sie nur für sie erbleichten, weil sie Farben verlangt hatte, die das Leben nicht besitzt, eine Schönheit begehrt hatte, welche die Erde nicht trägt.Footnote 132

Niels Lyhne erzählt damit von der tragischen Qualität romantischer Träume, die eine unerfüllbare Sehnsucht im Subjekt evozieren und in der Praxis enttäuscht werden. Erst im Tod entfaltet die ‚Lüge‘ des Traums ihre Funktion. In diesen Kontext lässt sich auch das Atheismus-Problem des Romans einordnen: Als überzeugter Atheist kämpft Lyhne für eine säkulare „Wahrheit“ ohne Gott, doch als er den Todeskampf seines eigenen Sohnes beobachten muss, gibt er sich im Gebet „dem Herrgott im Himmel [hin], der das Erdenreich durch Zucht und Prüfungen in Angst hält“.Footnote 133 Am Ende entsagt er Gott ein weiteres Mal und stirbt daraufhin einen besonders qualvollen, „den schweren Tod“.Footnote 134 Der Roman inszeniert in diesen Wendepunkten nicht das Walten einer göttlichen Hand, sondern stattdessen die (genealogisch entwickelte) Unmöglichkeit der Individuen, dem Glauben und der enttäuschenden Idealisierung zu entsagen.Footnote 135

Romantisieren ist im Niels Lyhne somit ein anthropologisches Faktum, das zur Lüge, zur Enttäuschung und schließlich in den Tod führt, sich aber auf tragische Weise nicht überwinden lässt – zumindest nicht in schwärmerischen Subjekten wie Lyhne. Auch stilistisch verfällt der auktoriale Erzähler dabei immer wieder romantischen Formulierungen, allen voran einem auffällig häufigen ‚es war, als ob‘,Footnote 136 das um detailgenaue, ausschweifende Beobachtungen ergänzt wird – ganz nach dem Beispiel der Frau Boye und der Meerjungfrau. Aktualisierungen von Romantik lassen sich also einerseits auf stilistischer, andererseits auf semantischer Ebene nachweisen, wobei der trügerischen Romantik in diesem Text eine pejorative Note anhaftet. Niels Lyhne ist tatsächlich ein unfreiwilliger Romantiker, der durch seine Umgebung und seine Genealogie zum Schwärmer erzogen wird. „Und so wächst Niels nun auf“, betont der auktoriale Erzähler in einer frühen Passage, „alle Einflüsse der Kindheit formen an dem weichen Ton, alles formt daran, alles hat Bedeutung, das was ist, was er träumt, was er weiß, was er ahnt – alles zieht seine leichten, aber sicheren Linien, die nachgegraben und vertieft, dann abgeschwächt und ausgelöscht werden.“Footnote 137 Semantisch steht eine solche Front gegen die Romantik durchaus dem Poetischen Realismus nahe.Footnote 138 Stilistisch aber weist dieser Grenztext bereits in die Literatur der Jahrhundertwende: Neben der Imitation einer romantischen Formensprache, in der sich der Erzähler streckenweise übt, fokalisiert der Roman auch derart konsequent in Lyhnes argumentative Gegner, dass am Ende des Textes eben keine Verklärung der antiromantischen Lebenspraxis stattfindet, sondern vielmehr ein unentschlossener Patt zwischen der nihilistischen ‚Wahrheit‘ des Atheisten und der Glaubensnotwendigkeit der Subjekte entsteht, die in Gott und in erträumten Idealen eine kurzweilige Schmerzlinderung erfahren.Footnote 139

Laut seines Briefverkehrs mit Edvard Brandes unternimmt Jacobsen im Niels Lyhne „eine psychologische Schilderung jener Gruppe freidenkerisch angelegter Romantiker, die bei uns zurückgedrängt und überflügelt werden von den politischen Naturen der Achtundvierziger, den religiös Geweckten aus jener Zeit u. a. m.“Footnote 140 Der Roman spielt entsprechend nicht in Jacobsens Gegenwart, sondern erzählt von einer vergangenen Zeit zwischen 1829 und 1864, wie einige (randständige) Datierungen im Roman markieren. „[D]aß eine Jugend gemeint ist, die heute alt ist“, so schrieb es Jacobsen an Georg Brandes,Footnote 141 wird in der deutschsprachigen Rezeption der Jahrhundertwende bereitwillig überlesen. Niels Lyhne emanzipiert sich stattdessen zu einem Roman für die junge Generation, geboren in den 1870er und 1880er Jahren, die seinen neuartigen Stil als Zeichen einer neuen Romantik interpretiert. „[E]ine neue Periode kommt“, schreibt Theodor Wolff in einem zweiten Vorwort (1895) nach dem überraschenden Erfolg der ersten Reclam-Ausgabe, und ferner:

Die kommende Periode, welche äußerlich vielleicht fast wie eine Neu-Romantik erscheinen wird, wird doch nur eine Fortsetzung des Realismus sein und alle Resultate, die der Realismus in heißer Arbeit erobert hat, verwerten müssen. Und in dieser Periode wird Jens Peter Jacobsen, der in den Tagen des konsequenten Realismus vergeblich an die Thüren der deutschen Litteratur pochen mußte, seine Rolle zu spielen haben.Footnote 142

Wolff selbst korrigiert an dieser Stelle, dass Niels Lyhne keineswegs als Wiederholung von Romantik im Sinne einer „Neu-Romantik“ zu lesen sei. Für die „naturwissenschaftliche Romantik[]“ aber, für eine Aktualisierung vom Romantik durch naturwissenschaftliche Präzision und genealogische Analyse,Footnote 143 stellte er selbst mit seinem Deutungsangebot im ersten Vorwort und in weiteren Essays die Weichen.

Leo Berg : Romantik der Moderne (1891)

Im Anschluss an diese literarischen Beispiele, die wesentlich zur Entstehung einer neuen Romantik beigetragen haben, entzündet sich die Debatte auch im deutschsprachigen Feuilleton. Mit seinem Aufsatz zur Romantik der Moderne (1891) knüpft der Berliner Kritiker Leo Berg an die Schriften Hermann Bahrs an,Footnote 144 um dessen Texte selbst als Ausdruck einer „romantische[n] Sehnsucht“ zu deuten: „Die typische Erscheinung aber für die naturalistische Romantik ist für Deutschland zunächst Hermann Bahr, der auch am besten den Übergang vom Naturalismus zur Romantik zeigt“.Footnote 145 Am Beispiel der Russischen Reise (1891) interpretiert er Bahrs Humor, die Überschwänglichkeit seiner Formulierungen und vor allem die inneren Widersprüche seiner Texte als symptomatische Züge einer romantisch werdenden ‚Moderne‘.Footnote 146 Das Schlüsselwort, das laut Berg eine Gemeinsamkeit zwischen historischer Romantik und aktueller ‚Moderne‘ behauptet, ist die Sehnsucht: „Unsere Zeit ist eine große Zeit der Sehnsucht, oder besser: eine Zeit der großen Sehnsucht“, so lautet der einleitende Satz des Essays.Footnote 147 Aus einer gegenwärtigen „Traurigkeit“ und einem „Mißbehagen“ am Status Quo erwachse in der Gegenwartskultur der Traum von einer glücklicheren Zukunft, und an dieser Stelle komme „[d]as Wunderbare, ja, das Wunderbare“ auf das Tableau: „Der Naturalismus hat so eine ganz eigenartige Romantik gezeigt: die Romantik der Zukunft“.Footnote 148 Da die Hoffnung auf einen utopischen Zustand im Zuge einer strengen, naturwissenschaftlich grundierten Rationalität immer auch als unrealisierbar erkannt wird, bleibe die neoromantische Sehnsucht in einem konstitutiven Widerspruch gefangen. Berg folgert: „Da wurde die Zukunft die blaue Blume der Modernen.“Footnote 149

Ein unerfüllbares Zukunftsversprechen ist somit für Berg der archimedische Punkt aller modernen Sehnsucht, womit eine zentrale Aporie der Romantik, nämlich: das emphatische Streben nach einer nicht realisierbaren Synthese,Footnote 150 auch in den Texten des „jüngste[n] romantische[n] Nachwuchs des Naturalismus“ entdeckt wird.Footnote 151 Dabei affirmiert Berg wiederum in seinem eigenen Text die zu beschreibende Widersprüchlichkeit, indem er eine eigenwillige, paradoxale Definition von Romantik liefert:

Romantik ist gewissermaßen das Gegenteil von Moderne und Realismus. Romantik ist alles Ferne, blau Verschwimmende, die Sehnsucht nach dem Vergangenen, Verschollenen. Romantik steckt im Humor, und Romantik ist nur ein anderer Ausdruck für Dekadent. Denn das ist über allem Zweifel erhaben, dass die Romantiker alle Dekadenten sind! Jede starke Liebe ist Romantik, und jede heimliche Liebe ist es dergleichen.Footnote 152

Indem Romantik hier als „Gegenteil von Moderne“ und zugleich als Synonym für Dekadenz angeführt wird, trägt Berg insgesamt wenig zur Klärung seines Romantik-Begriffs bei. Auch hier lässt sich die Sehnsucht als Schlüssel zu Bergs Romantik-Konzept anführen: Die „Dekadenten“ im Sinne Bergs, womit er auf ein kulturelles Paradigma im Anschluss an die französische Literatur referiert,Footnote 153 träumt sich, eher implizit denn explizit, ebenfalls in eine andere Zukunft hinein und moniert eine unzureichende Gefühlslage in der Gegenwart, aus welcher der romantische Zug der Moderne herausstrebt. Dekadenz ist bei Berg ein vorgelagerter, noch unbestimmter Ausdruck romantischer Sehnsucht, sodass er den ersten Romantiker der Moderne entsprechend in Friedrich Nietzsche sieht:

Ich glaube hier einen Namen nennen zu dürfen, einen Geist, der wie ein großes Licht am Horizonte des literarischen Europa aufflammte und Alles in neuen Farben erscheinen ließ, Abgründe aufdeckend und Fernsichten eröffnend und jäh in das ferne unbekannte Land weisend: Friedrich Nietzsche. Seit ihm datiert die Abkehr des Naturalismus.Footnote 154

Die Bewegung in Richtung eines „ferne[n] unbekannte[n] Lande[s]“ durch Nietzsche kann mit Berg als wichtiges Anzeichen für eine neue Romantik gelesen werden, die allerdings verschiedene Ausprägungen zeitigt. Neben Nietzsche sind es auch „der köstliche Naturbursche“ Detlev von Liliencron, der „etwas wie die Erfüllung deutscher Romantik“ darstellt, sowie Johannes Schlafs In Dingsda (1890), dessen Skizzen „von Liebe und Dankbarkeit gegen ein Unbestimmtes (man kann es nicht mehr die Natur nennen, auch das Leben nicht, sondern ein Moment des Lebens)“ zeugen.Footnote 155

Mit dieser Sehnsucht in Richtung des Nicht-Benennbaren liefert Leo Berg schon früh eines der interessantesten Deutungsangebote, um eine Äquivalenz zwischen Moderne und Romantik herzustellen:

Es ist die Sehnsucht des Fin-de-siècle-Menschen, der immer hinaustreibt, hinaus in andere Welten, nur fort von sich, und wenn man endlich hinaus ist, dann wieder quält Einen die Sehnsucht nach sich, und man will um jeden Preis zurück.Footnote 156

Die Ironie und Widersprüchlichkeit eines Hermann Bahr nimmt er damit ebenso auf wie einen „unerhörten Mystizismus, […] eine rückläufige, eine kulturfeindliche Bewegung, die sich vorbereitet“ und die Berg als problematische Ausprägung der romantischen Sehnsucht beobachtet.Footnote 157

Mit Blick auf das naturalistisch geprägte Berlin der 1890er Jahre formuliert Berg in seiner Romantik der Moderne zugleich eine „Kriegs-Erklärung“,Footnote 158 die ihn noch im selben Jahr zu einem Umzug nach Hamburg bewegt. Der Öffnung des Naturalismus zugunsten jüngerer Tendenzen, wie Berg sie bspw. von Bahr aus Wien empfängt, steht die Berliner Szene um die Freie Bühne oder um Conrads Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt noch kritisch gegenüber, sodass Berg trotz wiederholtem Bemühen eine eigene Redakteursanstellung verweigert wird. Peter Sprengel bezeichnet Bergs Vermittlungsversuche zwischen Berlin und Wien deshalb als eine „Entgrenzung der Moderne“,Footnote 159 in dessen Zuge auch die charakteristischen Merkmale des Naturalismus Berliner Prägung verschwimmen, dem Berg von Beginn an distanziert gegenüberstand. Schon in seinem Buch über den Naturalismus (1892) zeigt sich entsprechend ein geöffneter, zugleich aber auch unspezifischer Gebrauch des Terminus ‚Naturalismus‘: „Ich bestimmte ihn als: Rückkehr zur Natur, als Annäherung an die Natur und als Zeichen der ‚Zeit der Naturwissenschaften‘, d. h. als den speziellen Ausdruck der modernen Weltanschauung“.Footnote 160 Auf der Grundlage einer solchen etymologischen Re-Evaluierung beinhaltet der Berg’sche Naturalismus-Begriff bereits die Ansätze zu seiner Überwindung.Footnote 161

Henri Alberts Paris-Kolumnen und französischer néoromantisme

Maurice Maeterlinck, Jens Peter Jacobsen und Hermann Bahr, in der zweiten Reihe auch Friedrich Nietzsche sind somit die zentralen Figuren, die im Diskurs um die deutschsprachige Neoromantik der Jahrhundertwende modellbildende Funktion einnehmen. Im Laufe der 1890er Jahre wird, wie auch in der Novalis-Werbung des Diederichs-Verlags, zudem wiederholt von einer französischen Neuromantik, einem néoromantisme gesprochen, der die deutschsprachige Neoromantik inspiriert haben soll.Footnote 162 Mit Blick auf den Moderne-Diskurs lässt sich in diesem Zusammenhang Henri Albert als unterschätzter Akteur ausweisen, der als zweisprachiger Korrespondent sowohl am Mercure de France als auch an der Jugendstil-Zeitschrift Pan (1895–1900) mitarbeitete und dort eine wiederkehrende Kolumne über die Pariser Kunst und Literatur verfasste.

Gleich im zweiten Heft aus dem Sommer 1895 spricht Albert mit Blick auf André Gide von einer „französischen Neu-Romantik“:

Als Gymnasiast debutierte André Gide vor vier Jahren mit einem Geständnissbuche: „Les Cahiers d’André Walter“, seitdem hat er ein Meisterwerk geschrieben „Le Voyage d’Urien“, in dem die ganze französische Neu-Romantik in nuce enthalten ist.Footnote 163

Tatsächlich ist der junge André Gide bekennender Novalis-Verehrer, wobei insbesondere seine Erzählung Le Voyage d’Urien (1893) schon früh als Adaption von Novalis’ Lehrlingen zu Saïs (1798/1799) erkannt wurde.Footnote 164 Eine produktive Romantik-Rezeption ist um 1890 damit auch im französischsprachigen Raum zu greifen, besonders bei einzelnen Akteuren wie Gide oder Maeterlinck; aber auch der zeitgenössische Symbolismus, verstanden als erweiterter Dichterkreis um Mallarmé und Verlaine, ist von Einflüssen aus der deutschsprachigen Romantik geprägt.

Gibt es aber auch eine öffentliche Debatte über die Wiederkehr der Romantik im französischen Sprachraum? Die romanistische Forschungsliteratur liefert hierfür spärliche Hinweise: Mario Zanucchi spricht von der Romantik als „Protosymbolismus“, da sie den französischen Symbolismus ideengeschichtlich vorbereitet habe:

Dass der Symbolismus in der deutschen Romantik seine Wurzeln hat und dass er dadurch eine Art ‚Germanisierung‘ der französischen Dichtung dargestellt hat – was seine Kritiker auch dazu veranlasste, ihn als fremd und unfranzösisch zu verwerfen –, wurde von der französischen Literaturkritik spätestens seit dem Aufsatz von Jean Thorel Les Romantiques allemands es les Symbolistes francais (1891) erkannt und war den deutschen Symbolisten stets bewusst [Hervorhebung R.S.].Footnote 165

Unklar bleibt in Zanucchis Formulierung, ob auch die französischen Autorinnen und Autoren des Symbolismus sich in einer Traditionslinie mit der Romantik verorteten und dabei einen nouveau romantisme im Entstehen sahen. Werner Vordtriede führt in seiner einschlägigen Untersuchung zwar Novalis als „Vorläufer“ des Symbolismus an, die eigenständige Lektüre und produktive Aneignung kann aber vor allem bei Maeterlinck nachgewiesen werden.Footnote 166 Ausschlaggebend ist vor allem Zanucchis Feststellung, dass das französische Feuilleton um 1891 den Symbolismus als ‚romantisch‘ – und damit ‚germanisch‘ – empfand und ihr Unbehagen an dieser kulturellen Fremdheit artikulierte.Footnote 167 Jean Thorels komparatistischer Essay ist dabei weniger ein später denn ein entscheidender, in einem führenden Publikationsmedium der Symbolisten veröffentlichter Text, der die französische Kritik auf die Ähnlichkeit des Symbolismus mit der deutschsprachigen Frühromantik aufmerksam macht.Footnote 168

Insgesamt lassen sich weder bei Thorel noch an anderer Stelle im französischsprachigen Raum konkrete Proklamationen eines nouveau romantisme, néoromantisme o. ä. auffinden. Romantik wird zwar als ideengeschichtlicher Vorläufer des Symbolismus diskutiert, an Manifesten über ‚neue Romantik‘ aber besteht in Frankreich, anders als im deutschsprachigen Raum, kein erhöhtes Interesse. Damit wäre es irreführend, von einem regen Neoromantik-Diskurs im Frankreich der 1890er Jahre zu sprechen: Etwas Romantisches am französischen Symbolismus wird zwar erkannt und im Umfeld des Mercure de France besprochen, diese Diagnose entwickelt jedoch keine vergleichbare Eigendynamik wie im deutschsprachigen Literaturfeld.Footnote 169 In Frankreich bleibt die Anknüpfung an die Romantik somit vergleichsweise fremdartig, exklusiv und interessant: Sie kann später in wichtigen Werken der französischsprachigen Moderne nachwirken, ohne den breitflächigen Imageverlust zu erleiden, wie ihn die Entwicklung eines modischen ‚Neuromantik‘-Diskurses in Deutschland provoziert.

Henri Albert kommt in diesem Prozess eine diskursive Schlüsselrolle zu. Anhand seiner Paris-Kolumnen lässt sich nachverfolgen, inwiefern der Vermittler zwischen den Kulturen einen eigenwilligen, gesonderten Romantik-Fokus auf die Texte der symbolistischen Literatur anwendet, um deutsche und französische Moderne diskursiv miteinander zu vernetzen. So auch im dritten Pan am Beispiel von Camille Mauclairs Couronne de clarté (1895):

Mauclair’s Helden haben kein Leben, es sind bloße Schatten, die in Träumen dahinwandeln. […] In der Litteraturgeschichte kenne ich blos ein Werk, das ihm zum Vorbild hätte dienen können; es ist Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“, und vielleicht noch die Frauenphantasien eines Jean Pauls.Footnote 170

Subjektivierungen wie „kenne ich blos“ und der symptomatische Konjunktiv „hätte dienen können“ weisen auf die Selbstständigkeit der Analogieschlüsse hin, die sich aus dem spezifischen Kontext Alberts ergeben. Henri Albert Haug, zweisprachig aufgewachsen im damaligen Reichsland Elsass-Lothringen, tritt in den frühen 1890er Jahren als deutscher Korrespondent der symbolistischen Zeitschrift Mercure de France in den Moderne-Diskurs ein und erlangt vor allem durch seine frühe Übersetzung und Vermittlung Friedrich Nietzsches internationale Bekanntheit, mit dem er auch im persönlichen Austausch stand.Footnote 171 Von Paris aus arbeitet er u. a. mit Richard Dehmel und Otto Julius Bierbaum im Kontext der Neuen Deutschen Rundschau sowie des Pan zusammen, sodass er um 1895 als vielleicht gefragteste Persönlichkeit zur Vermittlung deutschsprachiger Literatur nach Frankreich gelten kann. Leopold von Andrian beispielsweise erreicht am 17. März 1895 ein Brief von Hans Schlesinger:

Willst Du nicht auch für Henri Albert und seine ganze Clique vom ‚Mercure de France‘ und der ‚Revue blanche‘ auch ein Exemplar schicken, wenn Dir etwas daran liegt auch unter den Jungen bekannt zu werden. Der Bubi muss den Garten [der Erkenntnis (1895), R.S.] schon studiert haben.Footnote 172

Die Romantik-Verweise erfüllen bei Albert damit die diskursive Funktion, eine kulturelle Verbindung zwischen deutschsprachiger Literatur und dem modernen Frankreich aufzuzeigen, was weniger aus einer genuin französischen Perspektive als aus der individuellen Vermittlerposition Alberts entspringt.Footnote 173

Anhand eines französischsprachigen Artikels über Novalis (1895), den Albert im Mercure de France veröffentlicht, lässt sich schließlich auch der nationale Unterschied im Umgang mit Romantik konkretisieren. Wo Albert im deutschsprachigen Pan selbstbewusst von einer „französische[n] Neu-Romantik“ spricht, beschreibt er das Interesse des Symbolismus an Novalis im Mercure de France deutlich vorsichtiger als eine ‚Annäherung‘ („rapprochement“):

Le rapprochement entre les romantiques allemands et les symbolistes français méritait surtout de se faire sur le nom de Novalis. […] La synthétique étude de M. Georges Brandès, pourtant purement négative, dans ses conclusions, les patientes recherches un peu sobres de Haym, mériteraient d’être reprises, en rapprochant les dernières années de ce dix-huitième siècle allemand avec la fin de notre dix-neuvième siècle français.Footnote 174

Statt von einer ‚neuen Romantik‘ spricht Albert hier von einer Revision der negativen bzw. nüchternen Geschichtsbilder eines Brandes und Haym, um die deutsche Frühromantik mit dem französischen Fin de Siècle in Verständigung zu setzen („en rapprochant“). Der Rest des Artikels referiert Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, sodass Albert ebenso wie Jean Thorel eine ideengeschichtliche Nähe von Romantik und Symbolismus vermittelnd behauptet, ohne aber auf eine Bewegung von neuer Romantik im französischen Diskurs referieren zu können. Ausschließlich in Alberts deutschsprachiger Korrespondenz wird damit das Schlagwort der „Neu-Romantik“ forciert, was in einem Artikel über die „Französische Neu-Romantik“ (1896) in der Neuen Deutschen Rundschau kulminiert – und in der Folgezeit, beispielsweise in der Werbung des Eugen Diederichs-Verlags, dankbar aufgegriffen wird.Footnote 175

Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, den Diskurs um die neue Romantik zunächst als ein genuin deutschsprachiges Phänomen zu bewerten, das seine wichtigsten Impulse von internationalen Autoren wie Maurice Maeterlinck empfängt und sich in der hier nachvollzogenen Art – nämlich: als eigene Strömung im literarischen Feld – vorrangig im deutschen Kulturraum ausbreitet. Das nationalpatriotische Argument spielt in diesem Diskurs eine tragende Rolle, auch wenn in der hier nachgezeichneten Anfangsphase noch ein ergebnisoffener, spezifisch deutschsprachiger Beitrag zum internationalen Moderne-Projekt ausgelotet wird. In ästhetischer Hinsicht handelt es sich bei der Neoromantik selbstredend um ein international breitenwirksames Phänomen, da etliche Werke um 1900 auch in Frankreich in struktureller Analogie zur Romantik entstehen.Footnote 176 Euphorische Proklamationen und hitzige Diskussionen um eine ‚Neuromantik‘ entzünden sich aber vorrangig im deutschsprachigen Raum, wo der Begriff eine bemerkenswerte Eigendynamik entfaltet.

2.1.4 Resümee als Analyse Ludwig von Hofmanns Novalis-Illustration im Pan (1895)

Der zeitgenössische Reiz und spezifische Charakter einer Aktualisierung von Romantik, die u. a. in literarischen Zeitschriften ausgehandelt wird, lässt sich resümierend anhand einer Novalis-Illustration herausarbeiten. In der ersten Ausgabe der Kunstzeitschrift Pan (1895) findet sich, gleich auf der vierten Seite, eine Rahmung des Graphikers und Malers Ludwig von Hofmann (siehe Abb. 2.1), der die dritte Hymne an die Nacht (1800) in einem Setting von verschiedenen Symbolen präsentiert.Footnote 177 Die Illustration zeigt neben dem Prosatext in händisch gezeichnetem Antiqua genau drei Figuren: erstens einen weinenden Mann, der am rechten Rand des Bildes das Gesicht in die Hände versenkt; zweitens eine mythische Prometheus-Gestalt im unteren Bildbereich links, die sich im Sog eines Wasserfalls an eine Klippe klammert; und drittens eine schwebende Frauenfigur, die am oberen Bildrand links einen Kelch öffnet.

Alle drei Figuren referieren auf semantische Bausteine des abgedruckten Textes: Der junge Mann, der weinend am rechten Bildrand kauert, ist im Abgleich mit der ersten Textzeile als Erzähler der Hymne an die Nacht zu identifizieren („Einst da ich bittre Thränen vergoss“). An seiner schwarzen Kleidung und der realistischen Zeichnung lässt sich eine erste Aktualisierung erkennen: Es handelt sich nicht um eine historische Persönlichkeit, sondern um einen Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, womit die Semantik des Textes zeichnerisch in die Gegenwart transportiert wird. Die Zeichnung wertet damit ein Fragment auf, dessen Probleme bildintern auch für die Subjekte der zeitgenössischen Gegenwart gelten.

Abbildung 2.1
figure 1

Ludwig von Hofmann: <Hymne an die Nacht>. In: Pan 1 (1895), S. 4. Universitätsbibliothek Heidelberg, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan1895_96_1/0011/image, info (letzter Zugriff am 6.9.2022)

Dem weinenden Mann liegt in äquivalenter Pose eine phantastische Spiegelung gegenüber, die sich mit freiem Oberkörper um einen „dürren Hügel“ klammert. Es handelt sich um eine Figuration der inneren Empfindungen des Erzählers, wie sie ebenfalls zu Beginn des Textes geschildert werden:

[…] und ich einsam stand am dürren Hügel, der im engen dunklen Raum die Gestalt meines Lebens barg, einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben, kraftlos, nur ein Gedanke des Elends noch: Wie ich nach Hülfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und am fliehenden verloschenen Leben mit unendlicher Sehnsucht hing;

Die Psychologie des Erzählers, und damit: des weinenden Mannes, wird hier bildlich als prometheischer Doppelgänger ausgelagert, welcher von einem tosenden Wasserstrom bereits zur Hälfte verschlungen ist und sich in einem Kraftakt an einen Hügel klammert. Dass gerade dieser Aspekt des Novalis-Textes eine herausgehobene Stellung im Bild erhält, lässt sich als eines der charakteristischen Merkmale der neuen Romantik ausmachen: Das psychologische Innenleben der Figur verselbstständigt sich und tritt in mythischer Form plastisch in Erscheinung, sodass sich ein psychologisches ‚Gefühl‘ vom Individuum loslöst. Für solche freigelassenen ‚Sensationen‘ interessiert sich die naturalistisch geschulte Romantik der Jahrhundertwende besonders,Footnote 178 wobei die psychischen Prozesse in der neoromantischen Darstellung von aller modernen Zeitlichkeit entbunden werden und damit als drastisches Universalgefühl auftreten. Ludwig von Hofmann inszeniert hier das Motiv einer „unendliche[n] Sehnsucht“, mit der die dargestellte Figur „am fliehenden verloschnen Leben“ hängt.

Während sich die Psychologie der Figur auf neoromantische Weise verselbstständigt, erfährt der im Text aufgerufene „entbundene[] neugeborene[] Geist“ eine dezente Marginalisierung. Zwar lässt er sich als strahlende Taube in der oberen Bildschirmhälfte identifizieren, dominant aber treten vielmehr „die verklärten Züge der Geliebten“ in Erscheinung, die als schwebende Marienfigur einen Kelch – den Gral der „Ewigkeit“ – öffnet.Footnote 179 Ludwig von Hofmanns Rahmung ist dabei mit mehreren Zeichen des Christentums angereichert, die ambivalent präsentiert werden: ein brennendes Kreuz, die Taube als heiliger Geist, das Marienbild und schließlich der Dornenkranz, der sich – blutend oder weinend – um das Gedicht herumwindet. Wie auch die Prometheus-Figur entstammen diese Insignien aber zunächst der inneren Psychologie des Erzählers. Vor allem die weibliche Mariengestalt tritt durch eine doppelte optische Brechung an den Erzähler heran, erstens durch eine Spiegelung im Wasser und zweitens durch die geschlossenen Hände des Weinenden, der sein Gesicht tief in seine Hände vergräbt. Der ontologische Status der Heiligen bleibt damit unklar und ihre Existenz potenziell nur eine Imagination bzw. ferne Ahnung des Subjekts, wie auch die Illustration der kämpfenden Sehnsucht am linken Bildrand eine Manifestation des inneren Empfindens darstellt.

Ein weiterer Aspekt der Marienfigur, die zeichnerisch den Präraffaeliten entlehnt ist,Footnote 180 erscheint als symptomatisch für die neue Romantik: Ganz im Sinne von Heinrich Manns Gefühlswirkung von Literatur auf die Nerven ist es hier die Poesie und konkret der Text von Novalis, der dem Subjekt die Ahnung der strahlenden Geliebten vermittelt. Die Hymne an die Nacht in Textform fungiert topographisch als Vermittler zwischen dem Weinenden und der Erscheinung, womit der Prosatext als Medium der Erkenntnis aufgewertet wird. Ein neoromantischer Text, in diesem Fall: die Re-Lektüre eines tatsächlich romantischen Textes, gibt dem psychologisch fragilen Subjekt damit nicht nur eine Ahnung von Ewigkeit und zeitenthobenen Prinzipien (‚Gral‘), sondern auch einen erkenntnistheoretischen Zugang zu einer verborgenen Welt, deren ontologischer Status zwischen subjektiver Imagination und Transzendenz unentschieden bleibt.

Gerade in der Spiegelungsmotivik und in der Kontrastierung von realistisch gezeichnetem Subjekt und imaginierter Außenwelt verfolgt die Umrahmung damit ein Modell von Romantik, das mit literarischen Texten um 1800 vereinbar ist. Die ironische Kippfigur der Unentscheidbarkeit wird auch bei Ludwig von Hofmann nicht aufgegeben; außerdem tritt der Topos der Sehnsucht mit Hang zu einer – hier christlich inspirierten – Synthese als leitendes Motiv in Erscheinung. Etwas ‚Absolutes‘ ist potenziell vorhanden, sein ontologischer Status allerdings bleibt in der Schwebe. Gegenüber der literarischen Romantik gewinnen einige Aspekte allerdings eine neue Qualität: Die moderne Psychologie erlaubt eine direkte Anthropomorphisierung von Gefühlen, sodass sich die prometheische Gestalt ausschließlich – und nicht nur möglicherweise – als Figuration des subjektiven Innenlebens des Erzählers deuten lässt. Diegetische Objekte sind als metaphorisches Abbild des psychologischen Innenlebens nun deutlich erkennbar, was in der literarischen Romantik noch stärker im Potentialis gehalten wird.Footnote 181

Das Objekt der Sehnsucht schließlich, so ein weiterer Aspekt, ist in der physischen Gestalt der Geliebten um 1895 vergleichsweise plastisch greifbar, was unter anderem durch die implementierten Zeichen des Christentums unterstützt wird. Im Gegensatz zur literarischen Romantik scheint hier ein dezenter, aber folgenreicher Unterschied im Verhältnis von Subjekt und Außenwelt zu bestehen, der sich an einem Detail exemplarisch erörtern lässt: In Hofmanns Illustration drückt sich das gespiegelte Gesicht selbst aus dem Wasser heraus, das weinende Subjekt aber versenkt seine Augen in die Hände und kann die Erscheinung damit visuell eigentlich nicht erblicken. Während die optische Verwirrung in der literarischen Romantik ein unabdingbares Motiv darstellt, um fundamentale Wahrnehmungskrisen in den Figuren auszulösen, könnte die Hauptfigur dieses Bildes eine mystische Erscheinung sogar verpassen.Footnote 182 Trotz aller Potenzialität und Brechung tendiert die Darstellung von 1895 damit stärker zu einer Verankerung von Erscheinungen auch in der Außenwelt, allgemeiner gefasst: Die Sehnsucht wird hier als Nervenregung in der Realität manifest, was sich ebenfalls aus der psychologischen Vorbildung zur Zeit der Jahrhundertwende erklären lässt. Aus welcher Quelle genau das Sehnsuchtsgefühl in der Umrahmung von 1895 entstammt, bleibt schließlich auch in der Illustration unklar; ein sensualistischer Zugang zur Welt aber, beispielsweise über die Poesie oder über das Gehör (statt über das Auge), könnte der bildinternen Semantik zufolge auch neue Arten von Erkenntnis ermöglichen.

Ein Unbehagen an der rationalen Erfassbarkeit von Welt grundiert somit die neue Romantik der 1890er Jahre, die mit ästhetischen Verfahren das Innenleben von Subjekten modelliert, um sie von den vergänglichen und modernen Oberflächen zu entkoppeln. Zugleich versucht das neoromantische Kunstwerk im Rezeptionsvorgang, „Sensationen“ und Gefühle zu evozieren, indem sie starke Emotionen thematisiert und in subjektiven Figurenperspektiven zugleich illustrativ vorführt. Ein unbestimmbarer, aber überindividuell verbindender „Gefühlswerth[]“ (Heinrich Mann),Footnote 183 der auf dem Hintergrund deterministischer Naturwissenschaft zu neuer Art von Erkenntnis führen könnte, konstituiert somit den Reiz einer ‚neuen Romantik‘ um 1890.

2.2 Die Erfindung der Neuromantik: Ausbreitung, Begriffskonstitution und Wandel (1896–1904)

In Peter Altenbergs Sammlung Was der Tag mir zuträgt (1901) findet sich unter den knappen Prosastudien, die voraussetzungsreich auf das kulturelle Wissen der Jahrhundertwende referieren, auch eine Prosaskizze mit dem Titel Neu-Romantik:

Heinrich Frauenlob, Walther von der Vogelweide, Hölty, Hölderlin, wo weilet Ihr?!?

Sind eure Sammet-Wamse von den Schaben zerstückelt, hat eure Locken der Sturm zerzaust?!

Hier stehe ich, Siebzehnjährige, Nachts am Balkone der Land-Villa, in offenem Nachtgewande, bereit, meinen Haarkamm hinabfallen zu lassen, dass Ihr ihn an eure Lippen drücktet und voll innerer Gesänge dahinwandeltet in die dunklen Strassen –!

Wo seid Ihr?!? Träumerische?! Von uns Träumende!?Footnote 184

In insgesamt sechs Abschnitten, an dessen Anfang die Beschwörung mittelalterlicher Dichter, Hölderlins und Ludwig Höltys (1748–1776) steht, breitet der ‚neuromantisch‘ affizierte Erzähler einige träumerische Erlebnisbilder aus, deren suggestive Andeutungen immer deutlicher in die Absurdität abgleiten. Wo der fiktive Neuromantiker im ersten Abschnitt noch bereitsteht, einen märchenhaften „Haarkamm“ für seine potenziellen Jünger fallen zu lassen, tanzt er in einer dritten Vision bereits „auf der Wiese im alten melancholischen Herzogs-Parke, splitternackt“, um auch hier vergeblich auf die erwünschte Wirkung zu warten: „Will Niemand heute nachts davon träumen?!? Träumet, träumet doch davon! Traumlose!“Footnote 185 Verzweifelt wartet Altenbergs Neuromantiker auf eine ‚Sensation‘ seiner Rezipienten, bis er sich in einem letzten Anlauf im erotischen Erlebnis mit einem Hund verzettelt:

Ah, Verdammte, höret! Ich sass in meiner Stube, spielte und sang Grieg-Lieder. Da kam der grosse Hund des jungen Grafen, kroch unter das Clavier, unter mein Kleid und leckte meine Kniee – – – Träumet davon! […]

Elender, Elender! Da hast du mich ganz, ganz – – –!

Aber träume davon! Träume davon, ich flehe dich an, wenigstens heute und morgen nachts!Footnote 186

Die satirische Prosaskizze endet mit dem Kommentar einer zweiten Erzählinstanz, die eine finale Auskunft darüber liefert, welche Effekte die neoromantischen Elemente nun tatsächlich auf ihre Leser ausüben: „Aber er träumte nicht davon, sondern schlief fest und tief wie ein sattes Thier – – –“.Footnote 187

Altenbergs Prosastudie aus dem Jahr 1901 persifliert einen Schriftsteller-Typus, der sich im literarischen Diskurs der Jahrhundertwende bereits etabliert hat. Neben den intertextuellen Referenzen auf die frühen Dramen Maeterlincks, die in zahlreichen, mit Strichen markierten Auslassungen greifbar werden („Da hast du mich ganz, ganz – – –!“),Footnote 188 sind es die träumerischen Posen, die Altenberg dem Paradigma der Neu-Romantik zuordnet und anschließend entzaubert. Zum Ziel des Angriffs wird vor allem die ‚neuromantische‘ Autorfigur, hinter deren affektierten und verschleiernden Aussprüchen sich ein ruhmsüchtiger Artist verbirgt, dessen manischer Hang zur Erotik ihn als lächerlichen Schwärmer entlarvt. Keine zehn Jahre nach Hermann Bahr, Leo Berg und Heinrich Mann zeigt sich: Im Jahr 1901 ist die Neu-Romantik bereits zu einer modischen Strömung geworden, die sich anhand wiedererkennbarer Merkmale ausmachen und postwendend ironisieren lässt.Footnote 189 Als diskursives Ereignis ist die Neoromantik um 1900 derart verbreitet, dass sich erste Abwehrreaktionen gegen eine neoromantische Modetendenz formieren.

Nach der ersten Phase der Entdeckung und Proklamation (1890–1896), die von einem kleineren Autorenkreis mit französischsprachigen Kenntnissen ausging, erhält die Diskussion um die neue Romantik damit im Jahr 1896 eine neuartige Qualität. Im Folgenden soll sie als Ausbreitung, Begriffskonstitution und schließlich Wandel beschrieben werden. Bis in das Jahr 1904 wächst die Anzahl an Aussagen und Stellungnahmen über Neoromantik im deutschsprachigen Diskurs derart gewaltig, dass mit Anne Kimmich tatsächlich eine „wahre Sturmflut […] von Auseinandersetzungen mit dem Problem einer neuen Romantik“ konstatiert werden kann.Footnote 190 Wo Kimmich den Diskurs allerdings erst in den 1900er Jahren beginnen lässt, um ihn anschließend bis in die 1930er Jahre fortzuschreiben, legt der aktuelle Zugriff auf ein breites Quellenmaterial ein anderes Bild nahe: Die Romantik-Diskussionen im deutschsprachigen Raum stehen in den Jahren von 1896 bis ca. 1904 auf einem Höhepunkt ihrer symbolischen Relevanz, aus dem sowohl die Neoromantik als auch das Bild einer literarischen Romantik um 1800 wesentlich transformiert hervorgehen werden. Zur Forcierung und Beschleunigung dieser diskursiven Prozesse trägt die Erfindung einer Neu-Romantik bei, welche die Diskussionen um eine ‚neue Romantik‘ ablösen, bündeln und in eine andere Richtung drängen wird.

Im Folgenden wird somit zuerst jener Diskursstrang der ‚Neuromantik‘ (als objektsprachlicher Begriff) nachgezeichnet, der aufgrund einer spezifischen Auslegung des romantischen Quellenmaterials auch Abwendungen und Kritiken provoziert. Die Gegenpositionen lassen sich, so der zweite Schritt, in der Diskussion um Maeterlincks Essayband zum Schatz der Armen (1896) greifen. In einem heterogenen Feld von Romantik-Aneignungen schließlich stechen zwei Akteure dieses Zeitraums besonders heraus: erstens Eugen Diederichs mit seinem „führende[n] Verlag der Neuromantik“;Footnote 191 zweitens Ricarda Huch, die einschlägige und wirkmächtige Romantik-Monographien im Kontext der zeitgenössischen Neoromantik-Debatte vorlegt. Am Beispiel des Germanisten Oskar Walzel und vergleichbarer Publikationen wird schließlich auch die Literaturwissenschaft der Jahrhundertwende auf ihren spezifischen Beitrag zur Etablierung einer Neoromantik im Denksystem um 1900 überprüft.

2.2.1 Umbruchszeit des Modells: Genese und Transformation einer ‚Neu-Romantik‘

Mit den Artikeln von Henri Albert und der Gründung des Eugen Diederichs-Verlags in Florenz und Leipzig betreten im Jahr 1896 erstmals Akteure das literarische Feld, die sich selbst emphatisch als „Neuromantiker“ bezeichnen.Footnote 192 Im Zuge dieser Begriffsaneignung entwickeln sie innerhalb weniger Jahre ein eigenes, kohärentes Profil von ‚Neuromantik‘, dessen Genese und Kernargumente im Folgenden nachgezeichnet werden. Im Konglomerat der produktiven Romantik-Aneignungen der Jahrhundertwende bleibt eine solche ‚Neuromantik‘ der Diederichs-Autoren nicht die einzige Möglichkeit, literarische Aktualisierungen von Romantik zu betreiben. Aufgrund ihrer expliziten Aneignung des Begriffs stellt sie allerdings eines der dominanten Diskursereignisse dieser Jahre dar, das postwendend auch zu Abwendungen anderer Autoren von der Romantik führen wird.

Zur Annäherung an diesen Diskursstrang werden im folgenden Unterkapitel drei Schlaglichter gesetzt: Zuerst lassen sich die frühesten Aufnahmen des ‚Neuromantik‘-Begriffs (im engen Sinne) verfolgen; anschließend wird Julius Hart als exemplarischer Autor in den Fokus treten, der sich explizit für eine ‚Neuromantik‘ im Diederichs-Verlag entscheidet; und schließlich zeigt sich anhand von weiteren Diskursargumenten, welche programmatischen Grundpfeiler die ‚Neuromantik‘ dieser Jahre vertritt und wie sie in der literarischen Öffentlichkeit rezipiert wird.

Entstehung und Emanzipation des Neuromantik-Begriffs

Über das erste Auftreten des Lexems ‚Neuromantik‘ im deutschsprachigen Diskurs finden sich in der Forschungsliteratur widersprüchliche Vermutungen: Neben Hermann Bahr, Eugen Diederichs und Ricarda Huch wird das Schlagwort häufig Julius Coellen zugeschrieben, der zwar eine wichtige Studie mit dem Titel Neuromantik (1906) vorlegte, mit seiner Monographie allerdings vergleichsweise spät auf die Bewegung reagierte.Footnote 193

Wie Reinhold Grimm in einer kritischen Vorgeschichte des Begriffs Neuromantik (1969) gezeigt hat,Footnote 194 ist der vermeintliche Neologismus deutlich älter und kursiert bereits Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts. Grimms Ausführungen lassen sich noch ergänzen: Im Jahr 1822 persifliert Christian Diedrich Grabbe schon die „Schriften der neuromantischen Schule“, womit noch die literarische Romantik um Eichendorff selbst gemeint ist.Footnote 195 Zur Jahrhundertmitte konzentrieren sich die pejorativen Aussagen vor allem auf den Bereich der Musik, so beispielsweise in einem Roman Der Neuromantiker (1840) von Julius Becker, der sich dem Leben Beethovens widmet.Footnote 196 Auch Richard Wagner äußert sich in Oper und Drama (1851) abfällig gegen „den musikalischen Ausdruck von den französischen sogenannten Neuromantikern“ nach Beethoven, von denen er sich selbst abzugrenzen versucht.Footnote 197 Die Begrifflichkeit ist damit um 1890 keinesfalls neu, dennoch erfährt sie eine eklatante Bedeutungsverschiebung: Während ‚Neuromantik‘ zuvor in erster Linie mit abwertender Note anzitiert wurde, beispielsweise um „zu viel blutige Neuromantik“ oder auch eine „krasse Neuromantik“ zu monieren,Footnote 198 gilt sie im Jahr 1896 erstmals als Hyperonym einer aktuellen Richtung in der Literatur, die von einzelnen Akteuren im Umfeld der deutschsprachigen Moderne positiv konnotiert wird.

Einer der wichtigsten, wenn auch vergessenen Akteure in diesem Prozess gibt im Jahr 1896 noch einmal den entscheidenden Impuls: In der Neuen Deutschen Rundschau veröffentlicht Henri Albert seinen Artikel über die Französische Neuromantik (1896), mit der er die vermeintlich aktuellste „Strömung[]“ aus Paris für den deutschsprachigen Diskurs auf einen Begriff bringt.Footnote 199 Statt auf literarische Schulen und Dichterkreise zu blicken, fokussiert Albert eigenwillig auf gemeinsame „Tendenzen und Anschauungen“, die sich „unabhängig voneinander“ in den Individuen Frankreichs entwickeln – und dabei „von denen der Tieck-Schlegel’schen Richtung nicht sehr verschieden sind“.Footnote 200 Für den deutschsprachigen Diskurs bündeln sich hier die Möglichkeiten der Partizipation: „[E]in ganz germanischer Drang nach Verinnerlichung und Vertiefung hat sich der Geister bemächtigt“, so Albert,Footnote 201 und mit der Autorität des Pariser Kulturvermittlers werden einzelne „Vollblut-Romantiker“ der französischen Literatur konkret benannt.Footnote 202 Auch die Aktualität von Novalis wird hervorgehoben: „Der arme Hardenberg hat sein ganzes Leben hindurch die blaue Blume gesucht. Er wird jetzt zum Mode-Dichter im jungen Frankreich.“Footnote 203 Mit seinen Äußerungen in der Neuen Deutschen Rundschau, die er auch im Pan perpetuiert,Footnote 204 ist Albert nicht nur Urheber des modernen Neuromantik-Begriffs, sondern auch Begründer eines urbanen Mythos von französischer Neuromantik, der sich sowohl im deutschsprachigen Diskurs der Zeit als auch in der späteren Forschungsliteratur halten wird.

Nicht zeitgenössisch belegbar, sondern erst in der literaturwissenschaftlichen Retrospektion der 1950er Jahre entstanden ist die Begriffsschöpfung einer „Neuro-Mantik“, welche die Nerven bzw. Neuronen unmittelbar integriert.Footnote 205 In den Texten um 1900 wird das Lexem in dieser Weise nicht gebraucht oder in dieser Akzentuierung zumindest nicht reflektiert, was sich u. a. mit der damaligen Vorrangstellung des Wortes ‚Nerven‘ begründen lässt, das noch nicht von den anglophonen ‚Neuronen‘ überlagert wurde. Auch lässt sich das Fehlen der ‚Neuro‘-Akzentuierung an den konkreten Begriffsentscheidungen der einzelnen Akteure festmachen: Hermann Bahr und Heinrich Mann, deren „Nervenromantik“ noch am ehesten den poetologischen Vorstellungen einer ‚Neuro-Mantik‘ entspräche,Footnote 206 reden explizit von einer ‚neuen Romantik‘, ohne den Albert’schen Neuromantik-Begriff überhaupt aufzugreifen. Erst mit dessen Funktionalisierung im Umfeld des Eugen Diederichs-Verlags liegt eine größere Verbreitung des Begriffs nahe; dort ist, wie sich zeigen wird, die Idee einer Nervenromantik allerdings bereits zugunsten veränderter Ziele gewichen.

Julius Hart an der Schnittstelle zu einem holistischen Romantik-Modell

Im Anschluss an Henri Albert häufen sich die Referenzen auf eine Neuromantik in der deutschsprachigen Literaturkritik, so zuerst in einem Aufsatz von Julius Hart über Die Entwicklung der neueren Lyrik in Deutschland (1896):

Man hat von einem naturalistischen Romanticismus gesprochen, und in der Tat geht diese Richtung unmittelbar auf die deutsche Romantik zu Anfang unseres Jahrhunderts zurück, welche die reine und mächtige ästhetische Kultur der Weimarer Periode noch zu verfeinern und übertrumpfen suchte.Footnote 207

Im Lyrik-Essay des ehemaligen Naturalisten lässt sich ein forciertes Bedürfnis greifen, die internationale Neuromantik auch für die deutschsprachige Literatur fruchtbar zu machen. Mit Johannes Schlaf, Paul Scheerbart und Loris (Hugo von Hofmannsthal) wird eine heterogene Reihe von Autoren angeführt, um den „romantischen Aestheticismus“ in seiner deutschen Variation zu belegen.Footnote 208

Harts Annäherung an Otto Julius Bierbaum offenbart allerdings auch die Unsicherheit bezüglich des jungen Terminus: „Er [Bierbaum, R.S.] steht mit dem einen Fuss auf dem Boden der deutschen Neuromantiker, Scheffel, Baumbach und Julius Wolff, und mit dem andern innerhalb der Welt des englischen Präraffaelismus.“Footnote 209 In dieser Aufzählung findet eine Vermengung der Konzepte statt: Wo die biedermeierlichen Autoren Joseph Victor von Scheffel, Rudolf Baumbach und Julius Wolff im Kontext des Berliner Naturalismus noch als epigonale Naturlyriker abgewertet wurden, weisen sie für Hart nun retrospektiv auf die neoromantische Modetendenz voraus und erhalten eine wohlwollende Revision. Harts frühere Vorbehalte gegen Julius Wolff und die moderne Minnepoesie (1887), so der Titel einer eigenen polemischen Abhandlung,Footnote 210 münden unter dem Druck der internationalen Bewegung nun umgekehrt in eine zweifelhafte Romantik-Affirmation.

Mit Harts Lyrik-Essay liegt zudem ein frühes und charakteristisches Textbeispiel vor, in dem die Neoromantik zum Anlass einer sozialdarwinistischen Auslegung der Literaturgeschichte wird. Einer genealogischen Entwicklung zufolge, so Hart, stammen alle Strömungen der Jahrhundertwende ursprünglich von der deutschen Romantik ab, womit nicht nur der französische Symbolismus, sondern die Moderne überhaupt auf einen deutschen Impuls zurückzuführen sei:

Unmittelbare Schüler der deutschen Romantik sind Coleridge und Poe, ein unmittelbarer Schüler Poes ist aber Baudelaire, und Baudelaire der Urheber und Begründer der Dekadenten- und Symbolistenlyrik Verlaines, Mallarmés, Maeterlincks u. s. w. Unsere zeitgenössische naturalistisch-ästheticistische Lyrik hatte daher eigentlich nicht nötig, Baudelaire auf den Schild zu heben, wie man einige Jahre früher Zola auf den Schild hob, nach altem deutschen Brauch aus der Fremde zu beziehen, was im eigenen Hause wohl aufgespeichert lag.Footnote 211

Gerade das Französische, ließ: das „Fremde“ an der Neoromantik wird hier als ästhetisches Problem markiert, gegen das auf Grundlage eines darwinistischen Rassenkonzepts Einspruch erhoben wird. „Da wo unsere naturalistisch-ästheticistische Lyrik unter den Einflüssen der französischen Dekadenten steht, ist sie eine lebensunfähige und modische vorübergehende Erscheinung, und wird ebenso rasch abwelken, wie die Zolaistische Erzählungslitteratur in den Anfängen der neuen Bewegung.“Footnote 212

Romantisches Schreiben lässt sich für Hart damit nur in deutscher Kultur verwirklichen, da eine ausländische Aneignung zu unnatürlichen und modisch-flüchtigen Formen neige. In dieser Argumentation eröffnet sich für ihn gleich eine doppelte Partizipationsmöglichkeit: Zum einen kann er den Naturalismus, als dessen früher Wegbereiter er mit der Herausgabe der Kritischen Waffengänge auftrat, in seiner geöffneten Wortbedeutung (im Sinne eines ‚natürlichen‘ Schreibens) fortleben lassen.Footnote 213 Zum anderen bietet sich für die deutschsprachige Literatur eine bislang verpasste Chance, unter einem modischen Label an das Niveau der internationalen Moderne anzuknüpfen. In den späten 1890er Jahren wird Hart schließlich selbst neoromantische Texte im Umfeld des Diederichs-Verlags verfassen, so die „Visionen“ Stimmen in der Nacht (1898), Triumph des Lebens (1898) oder Träume der Mittsommernacht (1905).Footnote 214 Wie neben ihm sonst nur Johannes Schlaf entwickelt sich Julius Hart damit innerhalb weniger Jahre von einem Naturalisten der ersten Stunde zu einem Neoromantiker par excellence.

Dabei hegt Hart für das Romantische an sich, das er im lexikalischen Sinn als „das Seltsame, Wunderbare, Märchenhafte, kurz: das Nichtwirkliche“ definiert,Footnote 215 zunächst keine größeren Sympathien. „Es lässt sich verstehen“, so Hart über die Romantik um 1800, „dass alle diese Wandelungen und Entwickelungen notwendig waren, weil der deutsche Kulturboden wirklich noch nicht Zeugungs- und Erhaltungskraft genug besass für eine unromantische, ganz im Heimischen und Gegenwärtigen wurzelnde Poesie“.Footnote 216 Eine letztlich „unromantische“ Heimatpoesie ist es auch, die Hart als wünschenswertes Ziel der Entwicklung der neueren Lyrik in Deutschland verkündet. Nach dem Naturalismus folge deshalb der notwendige, aber defizitäre Schritt einer Neuromantik, um im Zuge einer triadischen Geschichtsnarration eine finale, zeitunabhängige Kunstform zu erreichen: eine „neue[] germanische[] Rassenpoesie“.Footnote 217 „Ein „neue[s] Geschlecht[]“, so Harts Utopie, strebe „nach einer deutschen Kunst hin, nationaleigentümlichen Rassencharakters, nach einer Ueberwindung des nur gelehrt Angeeigneten“, wobei die naturalistische Romantik eine ungeliebte Zwischenstation im Laufe der natürlichen Kunstentwicklung darstellt. Das Ziel ist eine „deutschnationale[] Rassenpoesie“; das Neue an der Romantik eine zu tilgende französische Note.Footnote 218

Für eine solche Zukunftspoesie aus Deutschland kann Hart bereits konkrete Beispiele anführen. Vor allem in Detlev von Liliencron zeige sich der „deutsche[] Vollblut-Künstler, ein Lyriker der germanischen Unmittelbarkeit, welche den Erscheinungen der Natur ganz nah auf den Leib rückt und sie nicht ummodelt und dekorativ zurechtstutzt, wie das noch jede antike und romantische Poesie gethan hat“.Footnote 219 Signifikant ist hier der Aspekt der ‚Unmittelbarkeit‘, der sich, wie Hart selbst konstatiert, von den ästhetischen Brechungen einer romantischen Poetik entfernt. An Liliencron und an Cäsar Flaischlen interessiert ihn vor allem die ‚Natürlichkeit‘ des deutschen Charakters, genauer: die Authentizität einer regional verankerten Autorfigur, die ihre ‚Natur‘ möglichst mimetisch in zugängliche Formen presst. „[O]b er sich betrinkt oder in romantische Träumereien verliert: er ist immer der saftige Vollblutmensch, der sein Ich in die Schale wirft und den man in jedem Vers deutlich wiedererkennt“. Auch Otto Erich Hartleben, so führt Hart seine Reihe ‚germanischer‘ Lyriker fort, „gehört zu den echten Menschen, bei denen Leben und Dichten eins ist, […] zu den Künstlern des Urwüchsig- und Ursprünglich-Persönlichen“.Footnote 220

Harts Essay vertritt in diesen Aspekten keine singuläre, sondern vielmehr eine charakteristische Position für den weiteren Verlauf des Diskurses im Eugen Diederichs-Verlag. Die Suche nach einer deutschsprachigen ‚Neuromantik‘ verstärkt ab 1896 eine nationalpatriotische Ausprägung, die (u. a. aufbauend auf die damals populären Darwin-Lektüren nach Ernst Haeckel) eine besondere Eignung von ‚germanischer‘ Literatur für romantische Schreibformen annimmt. Dabei zeigt sich, dass nicht die literarischen Verfahren der Romantik für Hart von besonderer Attraktivität sind, sondern stattdessen Romantik als historische Station funktionalisiert und von ihren konstitutiven Aspekten nahezu völlig befreit wird. Trotz eines scharfen, expansiven Duktus muss auch konstatiert werden, dass Harts Forderung zunächst auf eine Weiterentwicklung der deutschsprachigen Literatur zielt, ohne anderen Nationalliteraturen prinzipiell ihre Berechtigung abzusprechen. Unter Affirmation des monistischen Rassengedankens geht es Hart aber durchaus um eine Besinnung auf die biologistischen Anlagen einer jeden Nationalliteratur, die sich mit ihren natürlichen Eigenarten postwendend in einem Wettstreit der Moderne zu behaupten habe. Der „germanischen Rassenpoesie“ also, daran lässt Hart keinen Zweifel, gehöre die Zukunft der internationalen Moderne.Footnote 221

Anzeichen des Wandels im Umfeld von Eugen Diederichs

Julius Hart und seine Ausführungen im Pan lassen sich deshalb als Übergang von einer internationalen Neuen Romantik hin zu einer kompetitiven Neuromantik deutschkultureller Provenienz ausweisen, da sich seine Argumente und poetologischen Vorstellungen vor allem an den jungen Verlag von Eugen Diederichs heften. Im „führende[n] Verlag der Neuromantik“, so Diederichs Positionierung im literarischen Feld,Footnote 222 erscheint nur wenige Jahre später Julius Harts kulturmorphologische Monographie Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahrhundert (1899), die der Verleger in einer späteren Rückschau als Ausgangspunkt der neuromantischen Bewegung bezeichnet.Footnote 223 Schon in einer Weihnachtsbroschüre aus dem Jahr 1898 lässt Diederichs die Neuromantik-Sparte seines Verlags mit Harts Stimmen in der Nacht beginnen: „Der Name Julius Hart […] hat als Einleiter der modernen Litteraturbewegung einen guten Klang. Unsere Literaturentwicklung strebt jetzt nach Überwindung des Naturalismus zu neuer Romantik, und speziell die Novellen geben eine neue Dichtungsform.“Footnote 224

Julius Harts Forderungen an die moderne Literatur fallen somit passgenau mit einer ‚Neuromantik‘ im Diederichs-Verlags zusammen. Ein versteckter Nachbericht des Übersetzers (1902) der Maeterlinck-Gesamtausgabe, verfasst von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, verweist in nahezu identischem Wortlaut auf das gemeinsame Projekt einer deutschen Rassenpoesie:

Naturalismus und Romantik sind, wie entgegengesetzt sie auch scheinen mögen, doch wurzelverwandt; sie sind die beiden Pole der germanischen Rassenkunst, und Maeterlinck ist nicht der einzige – besonders unter den Modernen, – dessen Werke diese eigenartige Polarität aufweisen.Footnote 225

Auch Maeterlinck wird hier als deutschrassiger Autor vereinnahmt, trotz seiner belgischen Herkunft und französischen Sprache. Mit Friedrich von Oppeln-Bronikowski befindet sich also ein zweiter, wichtiger Akteur des Diederichs-Verlags auf der Suche nach einer ‚germanischen Rassenkunst‘, für dessen Zwecke er sich editorisch und publizistisch sowohl Maeterlinck wie auch der Romantik zuwendet. „Wir stehen im Zeichen einer Neuromantik“, eröffnet er die auflagenstarke Romantik-Anthologie Die blaue Blume (1900), um anhand von ausgewählten Texten aus der „teutonische[n] Romantik […] ein Hohelied auf das Deutsche Vaterland“ zu singen.Footnote 226 In der Verbindung von Romantik und Naturalismus liege, so Oppeln-Bronikowski, der Schlüssel zum Verständnis des germanischen Gemüts. Zu einem goldenen Zeitalter germanischer Kultur gilt es unter dem Label der ‚Neuromantik‘ hinzuarbeiten.

Im Jahr 1904 zeigt sich schließlich der erfolgreiche Abschluss dieses Transformationsprozesses, der einander ähnliche Einzelauffassungen zu einer extern wahrnehmbaren Strömung – der ‚Neuromantik‘ im engeren Sinne – amalgamiert hat. In einer Rezension über Paul Scheerbart (1904), die Johannes Schlaf im Magazin für Litteratur publiziert, arbeitet er bereits die Distanz der Scheerbart’schen Poetik zu einer jüngeren Gruppe von ‚Neuromantikern‘ heraus, in denen er allesamt eine nationalistische Note erkennt:

Wollte doch unsere inzwischen so ins Kraut geschossene „Neuromantik“, wollten unsere neuerlichen, so eifrigen Nationalisten von ihm lernen, worauf es ankommt! Wollten sie wahrnehmen, wie er zehnmal so viel „Gotik“, „Romantik“ und wirklich lebensvolle Phantasie besitzt, als sie alle zusammen; und daß es nicht mit einer dilettantischen Reproduktion althergebrachter Tradition getan ist, sondern daß es auf eine Metastase der neuerdings so viel mißbrauchten „deutschen Volksseele“, auf eine Metastase und Neuoffenbarung bisheriger Tradition hinaus will!Footnote 227

Die ‚Neuromantik‘, von einem Experten- zu einem Breitendiskurs avanciert, teilt mit Paul Scheerbarts hochironischer Astralpoetik nun kein gemeinsames Romantik-Modell mehr. So wie Johannes Schlaf seine eigenen Texte einer adäquateren „Neo-Romantik“ zuordnet,Footnote 228 attestiert er auch dem Phantasten Scheerbart eine bessere Romantik als den neuromantischen Nationalisten. „Noch nie ist deutsche Romantik und Phantastik so neuzeitig gewesen!“, ruft Schlaf über Scheerbart aus, bei dem er die ursprünglichen Ziele der Neoromantik eingelöst sieht und deshalb Diskurskorrektur fordert.Footnote 229

Trotz der erfolgten Transformation zu einer eigenständigen Diskursgruppe reißen die Grautöne und Ambivalenzen in der Zuordnung aber keineswegs ab. Auch Schlaf, der sich trotz freundschaftlichen Kontakten publizistisch vom Diederichs-Verlag distanziert,Footnote 230 beendet seinen Scheerbart-Essay mit einem Kommentar zur nationalen Bedeutung dieses Phantasten:

So einen haben wir modernen Deutschen nun! Solch einen ganz und völlig Eigenen! Einen ersten, allerersten, internationalen, modernen, phantastischen Humoristen, der dennoch zugleich völlig deutsch ist und so völlig in nationaler Tradition wurzelt! – Und wissen kaum von ihm! Und sind nicht stolz auf ihn! – Was würde er uns gelten, wenn er Franzose oder Norweger wäre! Bessern wir uns!Footnote 231

Auch Schlafs Behauptung einer alternativen ‚Neo-Romantik‘ arbeitet somit an einem Mythos von deutschkultureller Tradition mit, sodass dieser Aspekt nicht exklusiv auf den Diederichs-Verlag und die germanische Unmittelbarkeitspoetik einiger seiner Akteure beschränkt bleibt. Die drastische Affirmation sozialdarwinistischer Grundannahmen aber unterscheidet mit ihren expansorischen Konsequenzen eine ‚Neuromantik‘ nach Diederichs von alternativen Positionen, die sich ebenfalls mit Romantik auseinandersetzen und die monistischen Überzeugungen nicht zwangsläufig teilen.Footnote 232

Somit lässt sich ein Profil der Diskursbewegung ‚Neuromantik‘ eng und klar definieren: Auf Grundlage einer sozialdarwinistisch-monistischen Weltanschauung verfolgen Texte aus dem Umfeld der ‚Neuromantik‘, die sich in den Jahren zwischen 1896 und 1904 formiert, das Projekt einer „germanischen Rassenpoesie“,Footnote 233 die eine deutsche Literatur durch Rückbesinnung auf ihre romantischen Wurzeln in die zeitgenössische, internationale Höhe zu transportieren verspricht. In der Vermengung von Romantik und aktueller ‚Moderne‘ liege auch hier die Zukunft der Literatur, die ihre Akteure nun allerdings als exklusiv germanischer Weg interessiert. ‚Natürlichkeit‘ ist das doppelte Fundament dieser ‚neuromantischen‘ Literatur, die um 1900 vor allem im Diederichs-Verlag ausgehandelt wird: Zum einen sind ‚Natur‘ und mimetische ‚Unmittelbarkeit‘ die zentralen Themen und Motive dieser Texte. Zum anderen ist die vorgeschlagene Entwicklung der Moderne hin zu einer ‚Neuromantik‘ selbst eine ‚natürliche‘, da über die Schulung an der literarischen Romantik eine Wurzel der deutschen Rassenkultur wiederentdeckt wird. ‚Neuromantik‘ muss dabei nicht zwangsläufig als „Ziel aller Entwicklungen“ gelten;Footnote 234 gemäß eines eigenen Dreischritts aber erscheint sie als notwendiger Schritt hin zu einer ‚natürlich deutschen‘ Kunst- und Poesieentwicklung.

2.2.2 Der Streitfall Maurice Maeterlinck Vom Trendautor zum passiven Mystiker

Einerseits liegt mit der Proklamation des neuromantischen Verlags von Eugen Diederichs eines der sichtbarsten Diskursereignisse rund um die Gestaltung von moderner Romantik vor. Andererseits aber bildet auch diese ‚Neuromantik‘ nur eine unter zahlreichen Spielarten aus, um mit der zeitgenössischen Konjunktur der Romantik umzugehen. Indem der Eugen Diederichs-Verlag einen Modebegriff aufgreift und im literarischen Feld besetzt, fungiert seine ‚Neuromantik‘ im engeren Sinne als Diskursknoten: Sie ist Ausdruck eines erhöhten Romantik-Interesses und lenkt wiederum gemeinsame Text- und Diskursinteressen in eine eigendynamische Richtung. Das Fundament aber liefert ein weiterreichendes und heterogenes Interesse am Romantischen, dem sich gegen Ende der 1890er Jahre kaum ein Autor entziehen kann.

Neoromantik abseits des Diederichs -Verlags (Schmitz, Schaukal und Hofmannsthal)

Drei Beispiele illustrieren, wie stark das Thema Romantik bis in die individuellen poetologischen Entwicklungen hineinreicht. Etwas versteckt findet sich im Tagebuch des reisenden Dandys Oscar A. H. Schmitz ein kurzer Eintrag, der von seiner eigenen Auseinandersetzung mit den romantischen Textverfahren zeugt – genau im hier ausgemachten Schwellenjahr 1896.

Es ist nicht notwendig, daß in der Dichtung, besonders der romantischen, die Symbole in der Wirklichkeit ganz aufgehen. Wir wandeln durch den Wald und hören bisweilen das Rauschen eines unterirdischen Stroms, dann verschwindet es wieder. Darauf beruht der Reiz der ungelösten Symbole, die nicht ganz klar werden, aber unter ihrer Hülle tiefere Beziehungen ahnen lassen. Es ist in der romantischen Dichtung besonders nicht notwendig, daß man immer den Faden in der Hand behält. Man darf ihn verlieren und fühlt sich dann um so erschütterter dem Walten elementarer Kräfte gegenüber.Footnote 235

In Schmitz’ persönlichen Aufzeichnungen ist es ein „Reiz der ungelösten Symbole“, der eine kohärente Schließung verhindert und mit dem Romantischen in Verbindung gebracht wird. Deutlich schließt er hier an Maeterlinck an, indem er das „Walten elementarer Kräfte“ aus seinen Märchendramen aufgreift. Naive Unmittelbarkeit und nationale Fragen spielen hier vorerst keine Rolle; vielmehr affirmiert Schmitz in seiner Deutung romantische Uneindeutigkeiten, die eine Subjekt-Erschütterung vor unnennbaren Naturkräften auslösen. Abseits des engeren Neuromantik-Diskurs ist es auch in diesem Fall Maurice Maeterlinck, der Schmitz’ poetologisches Interesse für das Romantische auslöst.

Auch im literarischen Wien taucht die Romantik um 1896 noch einmal verstärkt in poetologischen Auseinandersetzungen auf. Am Beispiel von Richard Schaukal, der in diesen Jahren E.T.A. Hoffmann zu seinem literarischen Vorbild erklärt (und u. a. eine Monographie über ihn schreibt),Footnote 236 förderte Cornelius Mitterer bislang unentdeckte Briefkontakte im Austausch über Romantik zutage, die er als „neuromantische […] Netzwerke“ bezeichnet.Footnote 237 Einer der diskussionswürdigsten Autoren, dessen Auseinandersetzung mit der Neoromantik erst in Ansätzen erschlossen ist, bleibt allerdings Hugo von Hofmannsthal. Anschließend an die Fundstellen, die Claudia Bamberg zusammengetragen hat,Footnote 238 lässt sich eine neoromantische Note bei Hofmannsthal noch enger an seine Lektüre Maeterlincks binden. Nach einer frühen Romantik-Rezeption Hofmannsthals um 1889, die dem Goethe’schen Verdikt von Romantik als „das Kranke“ folgt,Footnote 239 liest Hofmannsthal im Juni 1892 u. a. Maeterlincks Serres Chaudes und notiert einen Monat später folgende Aufzeichnung:

Die neue Technik. [...] jede Sensation findet ihren feinsten und eigensten Ausdruck nur in einem bestimmten Milieu; [...] unbestimmte Sehnsucht das Rauschen der Bäume und das unbestimmte Weben der Nacht (Eichendorff); es giebt namenlose Stimmungen, die man nur durch ein Local suggerieren kann: die Stimmung der klaren hohen Berge (Zarathustra), der stillen Zimmer der feuchtkalten Gewölbe (Maeterlinck ET.A Hoffmann)Footnote 240

Es ist keineswegs eine eigene „Technik“, die Hofmannsthal hier festhält, sondern die neuerdings angesagte Verfahrensstrategie nach Maeterlinck, mit dessen Brille er romantische Autoren erneut liest und auf ihre „namenlose[n] Stimmungen“ hin überprüft.Footnote 241 In einem Essay über Peter Altenberg (1896) äußert sich Hofmannsthal erstmals auch öffentlich über die Neoromantik: „Man steht in einer neuen Romantik, in der das Wesen der alten, Unzufriedenheit mit der Welt, aufgehoben erscheint“.Footnote 242

Bezeichnend für Hofmannsthals Verhältnis zur „neuen Romantik“ ist ein Changieren zwischen Affirmation und Distanz,Footnote 243 das sich schon früh äußert: Als Diagnose der aktuellen Literaturentwicklung weist auch Hofmannsthal eine neoromantische Tendenz nicht von der Hand, er selbst aber verbleibt zu diesem Zeitpunkt in einer distanzierten Beobachterrolle, sodass bezeichnenderweise kein ‚Wir‘, sondern ein „Man“ hier in den Fängen der Neoromantik steht. Hofmannsthal interessiert sich in diesen Jahren zunehmend für das Kindliche und Dilettantische an der Romantik, auch: für den „Volkston“, was sich schließlich zu einem eklatanten Streitpunkt zwischen ihm und Stefan George entwickelt.Footnote 244 Im Sommer 1899, in dem der Streit eskaliert, wendet sich Hofmannsthal „einem deutschen phantastischen Stoff“ zu, nämlich der Dramenadaption von E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun, sodass sich die Loslösung von George zugleich als Hinwendung zu Maeterlinck (und zur Neoromantik) gestaltet. In der Konzeptionsphase zum Bergwerk zu Falun (1900) schreibt er an Gertrud Schlesinger:

Ich brauch einen schönen Frauen oder Mädchennamen. Es ist ein Märchenstück, der Name muss also deutsch sein, gewöhnlich oder sonderbar, aber nicht südlich. [...] Maleine ist ein hübscher Name: er kommt auch in deutschen Märchen vor und wird dort Maleen oder Maleene geschrieben. Ist das schön? Achten Sie auf den Klang, nicht auf das geschriebene Wort.Footnote 245

Die Hauptfigur aus Maeterlincks Prinzessin Maleine wird bei Hofmannsthal noch dreizehn Jahre später zur möglichen Namenspatin für sein eigenes Märchendrama, das aufgrund seiner intertextuellen Romantik auch eine „deutsch[e]“ Note tragen soll (schließlich wird die Hauptfigur Anna heißen).Footnote 246

In Hofmannsthals Schaffen bleibt diese Neoromantik aber nur eine Episode: Nach der zügigen Fertigstellung aller fünf Akte des Bergwerks zu Falun hagelt es Kritik, als er das Stück im Winter 1899 vor den Kollegen Arthur Schnitzler, Hermann Bahr und Otto Brahm in Wien vorträgt. Womöglich kommt Ricarda Huchs Monographie zur Blüthezeit der Romantik eine Schlüsselrolle darin zu, dass Hofmannsthal die Überarbeitung des Stücks im Jahr 1900 wiederaufnahm und den ersten Akt in der Zeitschrift Die Insel zum Druck gab.Footnote 247 Spätestens im Jahr 1906 wird sich Hofmannsthal, wie einleitend gezeigt, von allen Neoromantik-Zuschreibungen distanzieren, die ihn nach dem Bergwerk zu Falun vermehrt erreichten. Er plant einen „Aufsatz“ mit dem „Vorschlag, den Namen Romantik außer Gebrauch zu setzen“ und erörtert in seinen Aufzeichnungen das „Versagen der Romantiker (außer Novalis)“.Footnote 248

Neben der ‚Neuromantik‘ im engen Sinne, die sich an den Eugen Diederichs-Verlag heftet, wird das Phänomen Neoromantik damit auch über das Schwellenjahr 1896 hinaus breit und ambivalent diskutiert. Gewisse Kernsemantiken aber verbinden den nationalpatriotischen Ansatz (nach Oppeln-Bronikowski oder Julius Hart) mit zeitgleichen Aneignungen bei Hofmannsthal oder Schmitz: Auch das literarische Wien konnotiert Neoromantik mit einer deutschkulturellen Tradition, und nicht zuletzt der schlichte Volkston sowie ein antirationalistischer Zugang gelten für beide Positionen als wiederkehrende Merkmale. In ihrer Hochphase zwischen 1896 und 1904 überlagern sich damit verschiedene Spielarten von Neoromantik, die sich jedoch in all ihrer Heterogenität gemeinsam auf Maurice Maeterlinck berufen. Anhand dessen weiterer Entwicklung und seiner Rezeption in Deutschland lässt sich idealtypisch nachverfolgen, inwiefern das neoromantische Schreiben um 1900 zu polarisieren beginnt.

Maurice Maeterlinck : Der Schatz der Armen (1896)

Im Jahr 1896 veröffentlicht Maurice Maeterlinck eine Essaysammlung mit dem Titel Le Trésor des humbles, der 1898 in aufwendiger Gestaltung von Melchior Lechter auch auf Deutsch (Der Schatz der Armen) im jungen Diederichs-Verlag erscheint. Aufgrund seiner Märchendramen ist Maeterlincks Name bereits seit den 1890er Jahren fest mit der Romantik verwoben; laut Samuel Lublinskis Bilanz der Moderne [1904] ist es „Maurice Maeterlinck, der einen so tiefgehenden Einfluß auf die deutsche Neu-Romantik genommen hat, daß er unbedingt in eine moderne deutsche Literaturgeschichte gehört“.Footnote 249 Forciert wird dieser Eindruck im deutschsprachigen Raum nicht zuletzt durch die Herausgabe seiner Werke bei Eugen Diederichs, der den Schatz der Armen im Herbst 1898 unter der Überschrift „Zu einer Neuromantik!“ bewirbt.Footnote 250

In der Essaysammlung findet sich auch eine Abhandlung über „Novalis“, die ursprünglich Maeterlincks französische Übersetzung der Disciples à Saïs (1895) einleitete.Footnote 251 Allerdings, und das ist charakteristisch für Maeterlincks Aktualisierung der Romantik, taucht der Name Novalis an keiner Stelle im Fließtext auf: „Die Menschen gehen verschiedene Wege, sagt unser Autor“, mit diesem Zitat aus den Lehrlingen zu Saïs eröffnet Maeterlinck seinen Novalis-Essay,Footnote 252 um sich anschließend vom Intertext zu lösen und über das Unbewusste und eine formlose „Sprache unsrer Seelen“ zu schreiben.Footnote 253 Dabei lenkt Maeterlinck den Fokus vor allem auf die Grenzen menschlicher Rede: „Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam“, so lautet die häufig variierte Grundformel im Schatz der Armen,Footnote 254 die sich analog auch im Eröffnungstext über Das Schweigen findet: „Das Wort gehört der Zeit, das Schweigen der Ewigkeit an.“Footnote 255 Entsprechend der charakteristischen Auslassungen in seinen Märchendramen („– – –“) ist es das Schweigen als Trope der Ewigkeit, das Maeterlinck als poetische Ausdrucksform interessiert.

Maeterlinck ist in seinem Frühwerk auf der Suche nach unaussprechlichen Ewigkeitswerten hinter den vergänglichen Worten, sodass auch die Essays im Schatz der Armen eine Apologie des Nicht-Redens anbieten. So auch der Novalis-Text:

Alles, was man sagen kann, ist nichts in sich. Man lege in Eine Wageschale alle Worte der grossen Weisen und in die andre die unbewusste Weisheit dieses vorübergehenden Kindes, und man wird sehen, dass die Enthüllungen Platons, Mark Aurels, Schopenhauers und Pascals nicht um Haaresbreite die grossen Schätze des Unbewussten überwiegen werden; denn das schweigende Kind ist tausendfach weiser als dieser redende Mark Aurel.Footnote 256

In vielfacher Variation wird dieser Grundgedanke durch die Einzeltexte hindurch gestaltet, wobei Maeterlinck keineswegs widerspruchsfreie Argumentationen verfolgt, sondern die „unbewusste Weisheit“ in ebenso unklare und offene Formen fasst.

Ein solches permanent metaphorisierendes Verfahren, das sich der rationalitätskritischen Semantik anpasst, wird im Text offen reflektiert: „Es ist vielleicht nicht möglich, von diesen Dingen klar zu sprechen; wer aber tief genug sich zu befragen und zu leben weiss, und wäre es nur für die Zeitdauer eines Blitzes, empfindet nach seinem unendlichen Wesen, dass dem so ist.“Footnote 257 Subjektive Ahnungen erfahren eine radikale Aufwertung gegenüber der „niedre[n] Notdurft des Denkens“.Footnote 258 Neben Ralph Waldo Emerson und dem niederländischen Mystiker Jan van Ruysbroek tritt auch Novalis als Vorbild für eine solche irrationale Gefühlspoetik auf, da er laut Maeterlinck einen Schriftsteller-Typus repräsentiert, „de[ss]en Werke fast ans Schweigen rühren.“Footnote 259 In der Novalis-Lektüre lasse sich implizit „eine Vorstellung von einem Bruder schöpfen, der zum Schweigen verdammt ist“.Footnote 260 Ganz konkret liegt der Schatz der Armen, den der Titel zur Disposition stellt, damit im Irrationalismus, in intuitiver Erkenntnis und im „Schweigen“.Footnote 261 Er offenbart sich zudem, so die Überschriften der einzelnen Abhandlungen, bei den „Weiber[n]“, den „Todgeweihten“ und in der „Tragik des Alltags“.Footnote 262

Maeterlincks Schatz der Armen in der deutschsprachigen Kritik

Sobald sich die deutschsprachigen Autoren und Kritiker über Maeterlincks Schatz der Armen äußern, tauschen sie implizit oder explizit auch Argumente für oder gegen die literarische Neoromantik aus, sodass sich einige wiederkehrende Positionen anhand dieser Rezeptionszeugnisse nachzeichnen lassen.Footnote 263 Bereits die ersten Rezensionen aus dem Jahr 1896, die noch auf den französischen Text zugreifen, spalten sich mit Blick auf die Romantik in zwei oppositionelle Lager, wobei die affirmative Richtung erneut von Hermann Bahr ausgeht: In seinem Essay Der neue Maeterlinck (1896) lobt er die „Gebete“ des Belgiers, die in ihrer aporetischen Form zugleich einen Rezeptionshinweis tragen.

Argumente darf man nicht von ihnen [den ‚Gebeten‘, R.S.] fordern, sie sprechen nicht zum Verstande. Dass man seine Sätze logisch anfechten kann, hat noch keinem Gebete geschadet; seine Sätze wollen gar nicht eine Kette von Beweisen schließen, sondern sie sind Stufen der Schwärmerei, auf ihnen steigt die Seele empor.Footnote 264

Gleichzeitig fällt in Bahrs Rezension eine implizite Verteidigungshaltung auf, die gewisse Mängel in der Performanz von Maeterlincks Dramen konstatiert: „Wir mußten bekennen, daß ihnen die dramatische Kraft fehlt“, so Bahr über Maeterlincks Märchendramen in der praktischen Aufführung, und auch konnte die Jugend „seine Werke nicht immer bewundern, wie man etwa einen köstlichen Dolch oder einen edlen Becher bewundert […]. Solche plastische Schönheit fehlte ihnen; kein ruhig lächelnder Apoll hatte sie gesegnet.“Footnote 265 Am Beispiel der Essaysammlung bilanziert Bahr, auf welche Weise die fragilen Stücke Maeterlincks stattdessen zu rezipieren seien: „Nicht was er sagte, nein, das Unausgesprochene und Unaussprechliche, das wir dabei empfanden, übte jenen großen Zauber aus.“Footnote 266 Bahr zieht die Essays aus dem Schatz der Armen damit als Poetologie für das dramatische Werk heran, welche auf neoromantische ‚Sensationen‘ der Nerven statt auf rationalistische Worte abzielen.

Parallel dazu richtet sich ein Publikum mit akademischem Hintergrund gegen die Thesen der Essaysammlung, wobei sich auch ausgewiesene Kenner der historischen Romantik zu Wort melden. Eine frühe Rezension übernimmt der spätere Novalis-Herausgeber Ernst Heilborn, seit 1890 promovierter Literaturwissenschaftler und nach 1900 Kritiker der ‚neuromantischen‘ Bewegung um Eugen Diederichs und deren Novalis-Rezeption.Footnote 267 Heilborn zeigt sich gegenüber des Antirationalismus im Schatz der Armen bestürzt: „Die ihn verstehen mögen ihm zweifelnd glauben! Die Stimmen der Nacht haben ihn taub gemacht gegen viele Stimmen des Tages. […] Seine Träume haben auch Taten tötende Kraft und seine Mystik birgt auch ein rohes Element: mißachte nur Vernunft und Wissenschaft!“Footnote 268 An der Verweigerung rationalistischer Kohärenz stößt sich auch Samuel Lublinski, demzufolge Maeterlincks semantische Ungenauigkeiten über eine inhaltliche Leere hinwegtäuschen: „Man hat diese Aussprüche, die Maeterlinck in verschiedenen Essays gebucht hat, für Offenbarungen voll mystischer Weisheit gehalten, während ihre Banalität nur durch den traumhaften Stimmungszauber verhüllt wird, den der Dichter aus seiner Seele holt“.Footnote 269 Auch der junge Karl Kraus äußert sich emphatisch gegen die irrationale Gefühlspoetik Maeterlincks und repräsentiert damit einen weiteren Akteur, der seine eigene Poetik in dezidierter Abgrenzung zur Neoromantik entwickelt (und zeitlebens in kritischer Distanz verbleibt).Footnote 270

Neben dieser Front gegen den Sensualismus wird Maeterlinck auch von seinen Befürwortern ein omnipräsenter „Pessimismus“ vorgeworfen, so durch den Kritiker Max Lorenz in seiner Theater-Korrespondenz (1899):

Tod und Vernichtung ist immer der Schicksalsschluß in Maeterlincks Dichtung. Warum eigentlich? Warum giebt es denn kein gütiges, gnädiges Schicksal? […] Eine Antwort darauf findet sich beim Dichter nicht. Es ist eben ein geschwächtes, ein nicht ganz gesundes Lebensgefühl, das dem Dichter seinen Pessimismus eingiebt.Footnote 271

In zahlreichen Besprechungen rund um Maeterlinck und die Neoromantik wird sich der Pessimismus-Vorwurf besonders hartnäckig verbreiten und so in das kulturelle Wissen über die Neoromantik insgesamt einfließen. Auch der Philosophieprofessor Arthur Drews greift ihn auf, der sich in den Preußischen Jahrbüchern ausgiebig über Maurice Maeterlinck als Philosoph (1900) äußert. Allerdings verteidigt er ihn gegen seine akademischen Kritiker: „So nimmt der mystische Pantheismus Maeterlincks die Gestalt eines düstern Fatalismus an […]. Aber“, und hierauf gründet Drews’ Begeisterung für Maeterlincks Werk, „ein solcher fatalistischer Pessimismus […] entspricht doch nicht der eigensten Natur Maeterlincks.“Footnote 272 Drews steht für eine andere Rezeptionsrichtung ein, die ebenfalls von einem intellektuellen Milieu ausgeht und den „Mystizismus“ MaeterlincksFootnote 273 als Ausdruck einer neuen Geisteshaltung versteht: „Die Menschen fangen wieder an, sich darauf zu besinnen, daß der Einzelne kein ‚Eigner‘ ist, daß er Glied und Organ einer übergreifenden Allgemeinheit und zum Uebermenschen nicht geschaffen ist.“Footnote 274 Ausgehend von einer scharfen Nietzsche-Kritik bezieht Drews Position für Maeterlincks transindividualistische „Achtung vor dem Unbewußten“, vor allem da die fatale, pessimistische Ohnmacht vor dem Schicksal in Maeterlincks jüngster Publikation La Sagesse et la Destinée (1898, dt.: Weisheit und Schicksal, 1900 im Diederichs-Verlag) in einem Schritt zum „konkreten Monismus“ überwunden werde. Demnach müsse man nicht mehr „in thatenlose Resignation“ verfallen, sondern könne „die Kraft zur Überwindung des Schicksals und des Unglücks“ aus dem Bewusstsein eines All-Zusammenhangs von Welt und Individuum schöpfen.Footnote 275 Zwar räumt Drews ein, dass den jungen „Modernen“ in Deutschland hierfür noch das Verständnis fehle, „[a]ber die geistige Entwicklung, die Maeterlinck, der Führer dieser romantischen Bewegung, durchgemacht hat, kann auch auf seine Gemeinde nicht ohne Einfluß bleiben.“Footnote 276

Wie kaum ein zweiter betont der Fichte-Experte Drews dabei die Parallelen zwischen Romantik und Maeterlinck, worin er ein Charakteristikum geistesgeschichtlicher Mentalität um 1900 erkennt: „Es kann ja für den Eingeweihten kein Zweifel sein und ist auch schon öfter ausgesprochen und bestätigt worden, daß wir uns, genau wie um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, wieder mitten in einer Periode der Romantik befinden“.Footnote 277 Für Drews „war [es] vorauszusehen, daß die Romantik unserer Tage auch wieder auf Novalis zurückgreifen und ihm ein erneutes Interesse entgegenbringen würde“,Footnote 278 und gerade Maeterlinck wird als Begründer und Vorreiter einer „neuromantischen Geistesrichtung“ ausgewiesen, die sich mithilfe von instinktiver Spekulation wieder auf ein Gefühl von Gemeinschaft besinne. Auch von akademischer Seite wird hier eine antirationalistische Neoromantik gefordert, die sich unter Berufung auf den „thatfreudigen Optimismus“ aus Weisheit und Schicksal ebenfalls auf Maeterlinck stützen kann.Footnote 279

Auch Ricarda Huch, die zu diesem Zeitpunkt bereits ihr erstes Buch über die Blüthezeit der Romantik (1899) verfasst hat, äußert sich öffentlich Über Maeterlincks Schatz der Armen (1900).Footnote 280 Trotz deutlicher Sympathien für Maeterlincks Essays sieht sich die Romantik-Spezialistin gedrängt, Einspruch gegen eine „Herabsetzung des bewußten Geisteslebens gegenüber dem Unbewußten“ zu erheben, was ihr geradezu „gefährlich“ erscheint.Footnote 281 In Maeterlinck habe „die Unterschätzung des Gedankens, des bewußten Geistes einen typischen, eines gewissen Zaubers nicht ermangelnden Ausdruck gefunden“, vor dem sie mithilfe eines fundierten Romantikvergleichs zu warnen versucht.Footnote 282 Laut Huch teile Maeterlinck die „Grundsätze der Romantiker“ zwar,Footnote 283 in gewissen Aspekten aber weiche seine Neoromantik von der Vorlage ab. Vor allem von Novalis:

Ich möchte nur hervorheben, wie anders sich zum Beispiele Novalis, den Maeterlinck mit so viel Liebe zitiert und der ebenso nach innen gewendet ist, sich zum Wissen und Denken stellte. Ein leidenschaftlicher Freund der Mathematik und der Naturwissenschaften, war er beständig bemüht, seinen Geist zu bilden und die Abgründe der Mystik mit diesem Lichte hell zu machen. Maeterlinck dagegen läßt sich selbst von dem Dunkel einhüllen […].Footnote 284

Mit Nachdruck rehabilitiert Huch die „strenge Denkarbeit“, die den Romantikern als Voraussetzung diente und der geistesgeschichtlichen Entwicklung zuträglicher sei als die spekulative Intuition, die nur „genialen Menschen eigen ist“.Footnote 285 Gerade aufgrund der hohen Attraktivität seiner Texte warnt sie vor Maeterlincks Proklamation eines monistischen Sensualismus:

Die Folgen dieser Unterschätzung des strengen Denkens zeigen sich an Maeterlincks Buch. Es hat einen starken Stimmungsgehalt, […] und es kann überhaupt nicht genug betont werden, wie dankenswert in unserer bekanntlich so materiellen Zeit solche Hinweise auf unsere Seele als unser Höchstes und Wichtigstes sind. Aber die Unklarheit und Verschwommenheit des Buches macht es andererseits gefährlich. Es herrscht darin eine schwüle, etwas betäubende Stimmung wie etwa in einem verhangenen Zimmer voll Blumen, das nie dem Tageslicht und der frischen Luft geöffnet ist.Footnote 286

Auch Huch wirft Maeterlinck eine lähmende Passivität vor, die sich in Anbetracht eines derart kosmisch-fatalen Weltenschicksals auf problematische Weise entfalte. Das Individuum sei nach Maeterlinck zur Tatenlosigkeit und zu sensualistischem Fühlen verdammt, um sich schließlich in der Betrachtung schwächlicher Seelenzustände zu verlieren. „[E]s würde doch für die Menschheit wenig förderlich sein“, so Huch (mit Verweis auf Goethes Naivitäts-Konzept), „wenn wir samt und sonders uns in Betrachtung von Schiffsjungen versenken wollten anstatt in die Werke unserer großen Denker“.Footnote 287 Wo schon die „erste Romantik“ in „gewöhnlichen Spukgeschichten“ endete, so plädiert Ricarda Huch mit Blick auf die neue Romantik für ein ausgewogeneres Verhältnis von ratio und emotio: „Die Aufgabe des Dichters ist es […] gerade, das Dunkle aufzuhellen, die Rätsel des Lebens zu lösen.“Footnote 288

Für die zeitgenössische Expertin fungiert Romantik damit keineswegs als das Weltfremde und Antirationalistische im Sinne der zeitgenössischen Lexika, sondern stattdessen als Versuch einer Erhellung des Dunklen, einer Aufdeckung der Mechanismen des Unbewussten. Sie begrüßt somit das Forschungsgebiet, auf dem sich Maeterlinck als Neoromantiker bewegt, plädiert aber für einen Ausgleich zwischen Sensualismus und Rationalismus und warnt vor einseitiger Verstandes- wie auch Gefühlskultur:

So notwendig es mir scheint, vor der Überschätzung des Unbewußten gegenüber dem Bewußten zu warnen, die sich bei Maeterlinck und den ihm Verwandten ausspricht, so empfehlenswert scheint mir doch sein „Schatz der Armen“ als Gegengewicht gegen Äußerlichkeit und als höchst charakteristisch für unsere Zeit, wo „die Seelen sich nicht mehr in dieselbe Zahl von Schleiern hüllen“.Footnote 289

Damit nimmt Huch eine ambivalente Position zur Neoromantik Maeterlincks ein: Zwar nimmt auch sie kritisch Stellung zum materialistischen Status Quo der modernen Gesellschaft, argumentiert aber zu sehr aus einem wissenschaftlichen Standpunkt heraus, um Bildung und strenges Denken zu verurteilen. Charakteristischerweise sind ihre Werke zur Romantik (1899, 1902) nicht im Eugen Diederichs-Verlag erschienen – trotz eines freundschaftlichen Kontakts zum Verleger sowie zweier fiktionaler Texte (das Märchendrama Dornröschen, 1902 sowie der Romans Aus der Triumphgasse, 1902), die beide im Jenaer Verlag veröffentlicht werden. Huchs eigene Neoromantik zeigt damit eine gewisse Distanz zur ‚neuromantischen‘ Ausrichtung (im engen Sinne), die sie mit wiederum eigenständiger, historisch informierter Neoromantik korrigiert. An Maeterlinck kritisiert sie entsprechend seine begriffliche wie historische Unschärfe: „Man wünschte sich in die unsicheren Regionen, die Maeterlinck betritt, einen klareren, kühleren, strengeren Führer.“Footnote 290

Was bei Huch allerdings nicht fehlt, und damit zeigt sich die literarische Neoromantik rekurrent als Verhandlung einer deutschsprachigen Tradition, ist die Auffassung romantischen Schreibens als ein Spezifikum deutscher Kunst und Kultur:

[W]enn ich mich darüber wundere, daß sich die Deutschen durch dasselbe, ausländisch eingekleidet [gemeint ist Maeterlinck, R.S.], so sehr imponieren lassen, was sie in den Schriften ihrer Romantiker an der Quelle genießen könnten, so erkenne ich es im ganzen doch als richtig an, daß man neu auftauchende Ideen auch in der Form liest, die ihnen die Zeitgenossen geben, denn schon allein dadurch, daß sie jahrzehntelang im Unterbewußtsein der Zeit geschlummert haben, werden sie gekräftigt, vertieft und verfeinert sein.Footnote 291

Auch dieser Aufsatz endet mit einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung: „Da die französische Sprache so wenig geeignet ist, das Tiefinnerliche, das Mystische auszudrücken, gereicht die Übersetzung ins Deutsche diesem Buche gewiß nicht zum Schaden.“Footnote 292 Ein solcher Einwand wird sich selbst bei Rainer Maria Rilke finden, der einen eigenen Essay über Maurice Maeterlinck mit dem symptomatischen Satz beginnen lässt: „Man könnte manchmal vergessen, daß Maurice Maeterlinck französisch schreibt“.Footnote 293 Neben der deutschkulturellen Semantik fördert die Rezeption Maeterlincks drei weitere Merkmale der Neoromantik zutage, wie sie im Diskurs immer wieder auftauchen: erstens einen skeptischen Vorbehalt gegenüber der rationalistischen Erschließung von Welt; zweitens eine passive Konzeption des Menschen, der sich einem determinierenden Weltenschicksal gegenübersieht; und drittens eine pessimistische, düstere Prognose darüber, ob sich einem vorherbestimmten Tod und Unglück entkommen lässt. Darüber hinaus zweifelt in diesen Kritiken niemand daran, dass die Neoromantik eine ernstzunehmende Tendenz der zeitgenössischen Gegenwart sei: Je nachdem, wie sich die Akteure zu diesen Aspekten verhalten, positionieren sie sich für oder gegen eine Neoromantik – oder nehmen eine abwägende Zwischenposition ein (Ricarda Huch).

2.2.3 Universalität der Welterfassung: Neuromantik im Umfeld von Eugen Diederichs

„Als führender Verlag der Neuromantik“, so eröffnet Eugen Diederichs im Jahr 1900 sein Flugblatt Zur Jahrhundertwende, „möchte ich betonen, daß diese nicht mit der Dekadenzrichtung in der Literatur zu verwechseln ist“.Footnote 294 Schon im ersten Satz grenzt sich der junge Verleger von einer französischsprachigen Tradition ab, deren destruktiven Pessimismus er in seinem Verlagsprogramm ablehnt:

Nicht das Primitive, nicht weltfremde Träumerei bevorzugt diese neue Geistesrichtung [namens Neuromantik, R.S.], sondern nach dem Zeitalter des Spezialistentums, der einseitigen Verstandeskultur, will sie die Welt als etwas Ganzes genießen und betrachten. Indem sie das Weltbild wieder intuitiv erfaßt, überwindet sie die aus der Verstandeskultur hervorgegangenen Erscheinungen des Materialismus und Naturalismus.Footnote 295

In dieser Flugschrift lässt sich die Poetologie des jungen Verlags um Eugen Diederichs in nuce greifen: Intuition und ganzheitliche Erfassung von Welt, hier gegen die einseitige Verstandeskultur der Décadence positioniert, bilden die Grundpfeiler einer Neuromantik, die zwar von Akteuren wie Maurice Maeterlinck und Jens Peter Jacobsen inspiriert ist, diese aber durch einen tatkräftigen Optimismus korrigieren will. Neuromantik nach Diederichs soll damit an konkrete Praktiken geknüpft werden, um die Passivität der „Altromantiker“ zu überwinden und Wissen nach humanistischen Werten wieder in Lebenspraxis umzuwandeln.Footnote 296

Zwar ist die Forschung zu Eugen Diederichs vor allem im Bereich der Buchwissenschaften und der Kulturanthropologie rege und fortgeschritten, vor allem dank der einschlägigen Monographie von Irmgard Heidler zu Eugen Diederichs und seiner Welt (1998).Footnote 297 Trotz einzelner Untersuchungen herrscht jedoch weiterhin Unklarheit bezüglich Diederichs’ Rolle und Position im Diskurs über ‚Neuromantik‘:Footnote 298 Auch Heidler schlägt eine vorsichtige Distanzierung von dem diffamierenden Schlagwort vor, um die Modernität von Diederichs’ Forderungen zur Jahrhundertwende zu akzentuieren.Footnote 299 Der Schlüssel zu einem differenzierten Neoromantik-Verständnis liegt jedoch darin, Neuromantik nicht als „Wiedergeburt der ‚alten Romantik‘ unter veränderten geschichtlichen Vorzeichen“ aufzufassen,Footnote 300 sondern die neuromantische Bewegung vielmehr als Aktualisierung unter modernistischen Vorzeichen zu definieren, die einen deutschsprachigen Beitrag zur internationalen Gegenwartsliteratur auslotet.

Im Diederichs-Verlag soll die romantische Tradition damit zu einem optimistischen, ganzheitlichen Ausdruck kommen. Zu keinem Zeitpunkt versucht der junge Verlag, die Ideale der Romantik in einem antimodernistischen Sinne zu reaktivieren; vielmehr wendet sich das Verlagsprogramm dezidiert gegen die „weltfremde[n] Träumerei[en]“ und ästhetischen Brechungen der Romantik, um stattdessen einen holistischen Ansatz zu kultivieren. „Dieses Wort [Neuromantik, R.S.]“, so Diederichs in seinem späteren Lebensbericht, „bedeutete für mich weniger bewußte Anknüpfung an die Ziele der alten Romantik vor hundert Jahren, sondern Universalität der Welterfassung“.Footnote 301 Eugen Diederichs ist als Figur und Verlagsvorstand eine der prägenden Schnittstellen, an denen sich die Transformation von Romantik hin zu einer holistischen Kunsterfahrung öffentlich vollzieht.

Schon früh kommt der junge Eugen Diederichs, zunächst als Landwirt im thüringischen Naumburg ausgebildet,Footnote 302 mit der Romantik als geistesgeschichtliche Epoche in Kontakt: Im Zuge seiner Buchhändlerlehre, mit der er sich im Jahr 1888 vom väterlichen Landbetrieb abwendet, schreibt er sich als Gasthörer an der Universität Halle ein und hört dort die Romantik-Vorlesungen Rudolf Hayms, dem Verfasser einer der einschlägigen Romantik-Monographien des späten 19. Jahrhunderts. Zwei weitere Erlebnisse legen den Grundstein für sein Interesse an neuer Romantik in den 1890er Jahren: zum einen die stilprägende Lektüre von Jens Peter Jacobsens Erfolgsroman Niels Lyhne (1880), den er gemeinsam mit Elisabeth Dauthendey übersetzt und ausdeutet. Zum anderen setzte er sich in diesen Jahren intensiv mit dem Werk Nietzsches auseinander, wobei er eine changierende Haltung zwischen Affirmation und Kritik zu Nietzsches Übermensch-Konzeption einnimmt.Footnote 303 Sein persönliches Interesse geht in diesen Jahren so weit, dass er Nietzsche bei seinen desolaten Abendspaziergängen durch Naumburg heimlich auflauert.

Die Idee zur Verlagsgründung kommt ihm schließlich weniger in Auseinandersetzung mit romantischen Texten als im Zuge eines humanistischen Erweckungserlebnisses, das ihn während seiner Europareise im Jahr 1896 in einer gotischen Klosterkirche in Rimini überwältigt. „Ihn [den Tempio Malatestiano, R.S.] betrachte ich als den Empfängnisort meines Verlages“, so Diederichs in seinem späteren Lebensabriss, und emphatisch führt er fort:

Es war wie ein Rausch, der mich hier überkam, gegenüber dem Malatesta-Isottakult des Condottiere, das fast antikes Heidentum war. Ich fühlte, hier setzte ein Ketzer sein Ich der Welt entgegen. Und zu diesem trotzigen Individualismus gaben gleichsam als Sphärenmusik die außen rundum an den Kirchwänden befindlichen schweren steinernen Humanistensärge die Weite der Welt und der Zeiten.Footnote 304

Tatsächlich steht die Verlagsgründung damit vor allem im Zeichen der Renaissance und des Humanismus, was Diederichs auch in der Folgezeit als „neue Renaissance“ postuliert. Während sich das Neuromantik-Schlagwort im Diederichs-Verlags als diskursprägend und – im überschaubaren Rahmen der modernen Leserschaft – auch als verkaufsfördernd herausstellt, bleibt der Verlag ideell mit der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts verbunden, was sich nicht zuletzt in der Wahl des Marcozzo-Löwen von Donatello als Verlagssignet äußert. „Ich habe den kühnen Plan, ich möchte einen Versammlungsort moderner Geister haben“, so ein früher Brief zur Verlagsgründung an Ferdinand Avenarius. „Parole: Entwicklungsethik, Sozialaristokratie, gegen den Materialismus zur Romantik und zu neuer Renaissance. Auch für Mystik habe ich sehr viel übrig!“Footnote 305

Alle drei Schlagworte – Romantik, Renaissance, Mystik – sind für Diederichs in diesem Zeitraum verbunden, was die Werbetexte um 1900 in ihrem Changieren zwischen „Neuromantik“ und „neuer Renaissance“ offenlegen.Footnote 306 Mit Blick auf diese tendenziöse Flexibilität reiht sich Diederichs in die Tradition einer jungen ‚Moderne‘ ein, die im Zuge entwicklungsgeschichtlicher Betrachtungen geradezu experimentell nach dem aktuellsten Zeitgeist forscht – „immer in die Zukunft hinein“, wie Diederichs an verschiedenen Stellen äußert.Footnote 307 Schon während der Florenzreise im Jahr 1896 veröffentlicht Diederichs ein flammendes Plädoyer für die modernistischen Grundannahmen, die auch mit einer Affirmation des Naturalismus einhergehen:

Mit jedem Geschlecht kommen neue Wünsche, neue Ideen auf, wir denken anders, wir sehen anders, wir sprechen anders wie unsere Eltern […]. Da kam die Moderne mit neuen Zielen. Sie suchte eine größere psychologische Vertiefung, neue Ausdrucksmittel für unser verfeinertes Seelenleben und für die mit jeder Kulturentwicklung fortschreitenden Ideen zu erreichen, sie hat aufgeräumt mit veraltetem Wust. Der Naturalismus hat die Skizzen dafür geliefert.Footnote 308

Diederichs verortet sich und seinen Verlag damit im Kontext der zeitgenössischen Moderne, wobei auch hier die kritischen Werke Hermann Bahrs als prägende Intertexte durchscheinen. Exemplarisch greift eine Weihnachtsanzeige vom November 1897 unverstellt auf das Bahr’sche Vokabular zurück: „Unsere Litteraturentwicklung strebt jetzt nach Ueberwindung des Naturalismus zu neuer Romantik, und speziell die Novellen geben eine neue Dichtungsform.“Footnote 309 Bahrs Geschichtserzählung liefert damit ein ideelles Fundament des Verlags, wobei Diederichs nicht zuletzt aus verlegerischem Kalkül an das Vokabular aus der Überwindung des Naturalismus anknüpft: Die neue Romantik erkennt er als Trend seines Zeit- und Kulturraums, wobei die eigene Position schon früh zu einem „thatkräftigen Humanismus“ tendiert.Footnote 310

An Diederichs lässt sich somit exemplarisch nachverfolgen, inwiefern ein Akteur mit individueller Vorbildung an das Bahr’sche Modell anknüpft, um es nach eigenen Vorstellungen auszufüllen. Die Verlagsbemühungen in Richtung Romantik intensivieren sich vor allem im Jahr 1898, in dem Diederichs, in einer auf Lesefreundlichkeit ausgerichteten Ausgabe, die Werke Novalis herausgibt.Footnote 311 Auch Maurice Maeterlinck gewinnt er mit dem Schatz der Armen (dt. 1898) als bekannten Vertreter der neuen Romantik, den nach Aussage Diederichs bis dato „niemand in Deutschland haben wollte“.Footnote 312 Beide Bücher fallen durch ihre optische Gestaltung mit Jugendstil-Illustrationen auf, die dem verlegerischen Anspruch eines Gesamtkunstwerks zuarbeiteten und Diederichs seinen Platz in der Literaturgeschichte zusichern.Footnote 313 Auch die Prosa Jacobsens sowie die Visionen und Studien Julius Harts reihen sich früh in die Romantik-Sparte des Verlags ein, und von Carl Müller-Rastatt wird der Hölderlin-Roman In die Nacht! Ein Dichterleben (1898) in das Programm aufgenommen. Heute bekanntere Autoren hingegen erhalten in diesem Zeitraum eine Absage: so Christian Morgenstern und Max Dauthendey, später auch Else Lasker-Schüler und Robert Musil.Footnote 314 Hanns Heinz Ewers und Gustav Landauer suchen Diederichs um 1898 ebenfalls vergeblich auf, um ihre Texte im „Verlag der neuen Romantik“ erscheinen zu lassen.Footnote 315

Ein solcher Verzicht auf spätere Literaturgrößen, der besonders bei Dauthendey überrascht,Footnote 316 hat Irmgard Heidler zu dem Urteil verleitet, es fehle Diederichs „an sicherem Gespür für originären literarischen Wert“.Footnote 317 Allerdings zeigt sich in Diederichs Auslese auch eine spezifische Strategie der Abgrenzung, die er mit Blick auf das literarische Feld der 1898er Jahre verfolgt: Immer stärker spitzt er seine Auswahl auf die eigene Interpretation von neuer Romantik zu, die er erstens als Alternative zur Décadence, zweitens als ‚germanische‘ Literatur mit einer mystisch-innerlichen Tiefe aufstellt. „Hebung des Nationalbewußteins durch Kenntnis der deutschen Vergangenheit“, so lautet eine der Tendenzen des Verlags (1899),Footnote 318 und trotz der kritischen Spitzen gegen die französische Décadenceliteratur schließt diese Ausrichtung auch eine Aufnahme ausländischer Autoren nicht aus. Es geht Diederichs um eine ‚deutsche‘ Note in der internationalen Poesie, die beispielsweise aus der Beschäftigung mit Romantikern wie Novalis erwächst und eine ‚germanische‘ Tiefe und Innerlichkeit als Textqualität verspricht.

Als besonders hilfreich stellt sich in der Praxis auch hier der explizite Diskursverweis auf romantische Vorbilder heraus, wie ihn Maurice Maeterlinck in seinen Novalis-Essays vorlegt. Auch Hermann Hesse wird in diesem Zuge als unbekannter Autor in das Programm aufgenommen, dessen Publikation Eine Stunde hinter Mitternacht (1899) – nach einem kaum beachteten Gedichtband Romantische Lieder (1898) – ein Novalis-Zitat auf dem Frontumschlag trägt.Footnote 319 Als nicht unwesentlich erscheint als Voraussetzung dieser Abgrenzungsstrategie auch, dass der französische Symbolismus bereits prominent bei Samuel Fischer in Berlin verlegt wird, sodass sich Diederichs ein Alleinstellungsmerkmal im literarischen Feld erarbeitet. Tatsächlich formt Diederichs sein Verlagsprogramm damit auf Grundlage einer diskursiven Konstellation, die aus einer entwicklungsgeschichtlichen Ideologie heraus zugleich präfiguriert, inwiefern ein Text für die Literaturgeschichten der Zukunft bedeutsam sein könnte.

Für den zugespitzten Begriff der ‚Neuromantik‘, den Henri Albert in die Diskussion gebracht hat, entscheidet sich Diederichs dabei erst im Winter des Jahres 1899, nachdem er zu Weihnachten die Lektüre von Ricarda Huchs Blüthezeit der Romantik (1898) abgeschlossen hat.Footnote 320 Seine hierdurch geschärfte Auffassung schreibt er unmittelbar in das vielzitierte Prospekt Zur Jahrhundertwende (1900) ein:

Die Romantiker am Anfang des 19. Jahrhunderts bekämpften die kalte Glätte der Antike und glaubten im Mittelalter, zu dem sie Sang und Sage zurück brachte, eine natürlichere Menschheit zu finden. Wir Modernen suchen aber unsere Ideale in der Zeit, wo die Volkskraft sich in den ungebrochenen Naturen des humanistischen Zeitalters entfaltete.Footnote 321

Ganz wie bei Julius Hart sind es die „ungebrochenen Naturen“ – im Gegensatz zu den gebrochenen décadents –, auf die der neuromantische Verlag sein Interesse richtet. Als verbindendes Moment zwischen Romantik und Gegenwart behauptet der Werbetext zunächst nur eine analoge Suchbewegung, wobei das ‚neuromantische‘ Streben bezeichnenderweise auf Humanismus und Renaissance statt auf romantische Stoffe abzielt:

[I]n wenigen Jahren wird die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts nicht bloß in den Köpfen der Gelehrten sondern auch in denen des Volkes einen Platz haben. Die Altromantiker strebten nach viel Wissen, nach Universalmenschentum und indem sie ihre Ideale nicht bloß zu denken, sondern auch zu leben trachteten, beseelten sie ihre Kenntnisse. Auf gleichem Weg wird auch die Neuromantik wandeln, wenn sie wieder an die Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Kunst und Daseinsfreude der Menschen aus dem Zeitalter des Paracelsus und Dürer anknüpft.Footnote 322

Eine innere Verwandtschaft von Jahrhundertwende und Romantik muss Diederichs hier schon nicht mehr ausführlich begründen. Vielmehr nutzt er die diskursive Prämisse, um Romantik freizügig als Streben zu neuer Natürlichkeit umzuformen, die unter den Vorzeichen des beginnenden 20. Jahrhunderts wie zwangsläufig auch zu den Werken deutschsprachiger Renaissancekünstler führt. Im Aufbruch nach neuer Ganzheit und nach „Universalmenschentum“ sei laut Diederichs das Neoromantische in der Kultur um 1900 zu finden, womit er den Geschichtstopos Georg Brandes’ umkehrt: Die Romantik gräbt nun nicht mehr die Stoffe aus, sondern gerade in der emphatischen Suche nach neuer Erkenntnis, in der Methode also gibt die Romantik den Weg in die Renaissance vor.Footnote 323

Gute zehn Jahre nach Hermann Bahr – dieser hat sich bereits neuen Gebieten zugewandt –Footnote 324 spitzt Diederichs damit das Plädoyer zu einer Neuromantik zu, die nun statt einer „Nervenromantik“ vor allem Tatkraft, Universalismus und neues Leben verspricht. „Der Verlag vertritt in erster Linie die den Naturalismus ablösende Neuromantik in den Namen: J. Hart, Hesse, Jacobsen, Novalis, Maeterlinck, Leopold Weber und in Neuausgaben deutscher Mystiker des Mittelalters“, so Diederichs in einem Publikumsprospekt (1900).Footnote 325 Auch Kurd Laßwitz wird mit seinen „naturwissenschaftlichen Märchen“ Nie und Immer (1902) in die Verlagssparte „Romantik und Neuromantik“ aufgenommen, Ricarda Huchs Märchenspiel Dornröschen unterstützt ebenfalls das ‚neuromantische‘ Programm.Footnote 326 Um 1902 lässt sich allerdings eine wegweisende Neuausrichtung im Verlag feststellen: Die neuromantische Belletristik wird unter Anraten von Ricarda Huch auf den Berliner Insel-Verlag um Rudolf von Poellnitz, ehemaliger Mitarbeiter und enger Vertrauter Diederichs, ausgelagert, sodass sich der Diederichs-Verlag nach 1902 vor allem auf entwicklungsgeschichtliche Studien und populärwissenschaftliche Monographien spezialisiert.Footnote 327

Dabei wandelt sich nicht nur die Gattungsfrage nach einer vergleichsweise kurzen Hochphase neuromantischer Literatur, sondern auch dem Verleger selbst wird die Entwicklung zu einem einschlägigen Verlag der Neuromantik bald unheimlich. Schon im Jahr 1901 wachsen die Bedenken vor diesem erfolgreichen Schlagwort, wie sich in einem Brief über Ricarda Huchs Aus der Triumphgasse (1901) ankündigt:

[A]uf welche Bahn treibt es mich, wenn ich ein so ausgesprochen romantisches Buch bringe. Denn mein Verlag entwickelt sich wie unter einem unsichtbaren Former wirklich zu einem organischen Ganzen, das beweisen die Bücher, die ich gerade in nächster Zeit bringe.Footnote 328

In dieser Aussage verbirgt sich eine ambivalente Haltung zur neuromantischen Ausrichtung, die vom Diskurs stärker reproduziert wurde, als es seiner humanistischen Grundprägung recht ist. Im Briefverkehr der Folgezeit – nicht aber in den öffentlichen Prospekten – kündigt sich eine jähe Distanzierung von der Neuromantik an, wobei neuromantische Kunst zwar als notwendiger Schritt, nicht aber als Ziel der kulturellen Entwicklung stigmatisiert wird. „Glauben Sie nicht, daß ich Neuromantik als das Ziel aller Entwicklungen ansehe“, schreibt er an seinen Kritiker Arthur Bons, „ich glaube, wir sind uns darin sehr einig. Aber warum soll sie nicht mit zum Aufbauen des heutigen Menschen gehören? Ebenso wie die Mystik.“Footnote 329

Obwohl die öffentliche Distanzierung zunächst ausbleibt, verschwindet die Neuromantik als Schlagwort zunehmend aus den Verlagsprogrammen der 1900er Jahre. Für die weiterhin vertriebenen Werke und neuen Monographien zielen die Werbetexte nun stärker auf die Romantik als literarhistorische Epoche, wobei das ehemals Neuromantische nun unter den Vorzeichen einer vitalen und expansiven Ethik umgedeutet wird. „Romantik ist die Sehnsucht nach der Eroberung neuer Gebiete“, heißt es in der umformulierten Novalis-Werbung aus dem Verlagskatalog von 1904, und „Novalis sucht dies Gebiet in den schlummernden Tiefen des eigenen Ichs“.Footnote 330 Selbst für den Umzug des Verlagsstandortes nach Jena, der im selben Jahr mit großem Aufwand stattfindet, wird weniger die Romantik denn ein nationalsynthetisches Argument in Anschlag gebracht: Jena sei die Stadt der „Klassiker und Romantiker“, und laut Diederichs liege in „Jena […] der Mittelpunkt der Welt. Denn der Mittelpunkt der Weltteile ist Europa, der Mittelpunkt Europas ist Deutschland. In der Mitte von Ost und West, von Nord und Süd liegt aber Jena.“Footnote 331

Die völlige Abkehr von der Romantik erfolgt schließlich im Sommer 1909 im Zuge eines Wandererlebnisses durch den Thüringer Wald. In der jüngst gegründeten Gemeinschaft des Sera-Kreises findet Diederichs seine persönliche Realisierung des romantischen Strebens, und während der Waldwanderung fühlt er sich plötzlich in einer „unio mystica“ mit Goethe verbunden: Ein „ekstatisches Gefühl […] von kosmischer Verbundenheit und Leichtigkeit“ ergreift ihn, das ihn von „der seelisch-weiblichen Seite [s]eines Wesens, der Sehnsucht“, befreit – um nunmehr zu einer „in sich ruhenden Persönlichkeit“ mit „Sinn für Lebenswirklichkeiten“ gewachsen zu sein.Footnote 332 Das „zwiespältig romantische[] Wesen“ kommt für Diederichs zu einer Einheit in Goethe, sodass von nun an auch die Absage an die Neuromantik als abgeschlossene Zwischenstation deutlich artikuliert wird.

So sehr ich nun der Neuromantik nahestehe – ich steuere ja mit meinem Verlag immer in die Zukunft hinein – so muss ich gestehen, dass ich augenblicklich auf einen Realismus, der sich zum Symbolismus erweitert – sagen wir Richtung Kleist – hinausgehe. Wir brauchen Kraft und Willen und keine Gefühlsverfeinerung mehr. Unsere Nerven sind in dem letzten Jahrhundert so kultiviert worden, dass jetzt einmal eine Reaktion einsetzen muss.Footnote 333

Mit dieser „Reaktion“ ist die neuromantische Periode für den einschlägigen Vertreter der Literaturströmung vorüber. Noch im Jahr 1921 setzt Diederichs ein Motto über seinen autobiographischen Lebensaufbau, das die Überwindung des neuromantischen Strebens beinhaltet und sich später auch auf über seinem Grabstein finden lassen wird: „In Willen und in Sehnsucht“.Footnote 334

In diesem Sinne wird die neuromantische Periode laut Diederichs in einem starken und tatkräftigen Einheitswillen überwunden, der die romantische Sehnsucht mithilfe von Setzungen ausgleicht. Eine Verlagsnotiz, die Büchern aus dem Jahr 1902 beigelegt war, illustriert noch einmal summierend das Modell einer ‚Neuromantik‘, die bei Diederichs schon von Beginn an auf die Überwindung von Romantik zielt:

Der Verlag Eugen Diederichs in Leipzig stellt seine Kräfte allen jenen Bestrebungen zur Verfügung, die auf eine geistige Verjüngung unserer Zeit hindrängen. Ernste Menschen, die nach Verinnerlichung streben, nach einer Bejahung des Lebens durch künstlerische Kultur, nach einer entwicklungsgeschichtlichen Auffassung der Wissenschaft, nach einer Vertiefung germanischen Wesens durch Kenntnis seines Werdens, finden sicherlich unter den Büchern des Verlages viele Freunde.Footnote 335

Es sind „[e]rnste Menschen“, die durch ganzheitliche Bildung zu einem „germanischen Wesen“ gelangen sollen. Die Unmöglichkeit dieses Strebens nach einer neuen Einheit, welche die eher ‚ironischen‘ denn ‚ernsten‘ Romantiker um 1800 reflektieren, fällt aus diesem Modell von Romantik heraus – und bereitet den Weg für eine neue, in das 20. Jahrhundert weisende Romantik-Rezeption.

2.2.4 Wissenschaft unter neoromantischen Vorzeichen: Ricarda Huch und Oscar Walzel

„Das wichtigste Jahr der Neuromantik wurde 1899“, so Klaus Hilzheimer in seiner Dissertation über das Drama der deutschen Neuromantik (1952), „als Ricarda Huch ihr Werk Blütezeit der Romantik erschienen ließ“.Footnote 336 Nachdem der Leipziger Verlag um Eugen Diederichs bereits ein Jahr zuvor Novalis’ Werke neu aufgelegt und sein verlegerisches Profil auf die Neoromantik aufgebaut hatte, verleiht die zweibändige Romantik-Monographie Ricarda Huchs dem Diskurs tatsächlich eine neue Reichweite. Vor allem der erste Band über die Blüthezeit der Romantik (1899), in Leipzig bei Hermann Haessel erschienen,Footnote 337 legt einer nicht-akademischen Leserschaft die Romantik in einer subjektiv-psychologischen Perspektive nahe – genau so, wie es methodisch bereits Georg Brandes in seiner Romantischen Schule in Deutschland angeregt hatte.Footnote 338 Auf diese Weise erreicht ihr Buch zu einem günstigen Zeitpunkt nahezu alle der jungen, modernen Autorinnen und Autoren im deutschen Sprachraum – so exemplarisch auch Hugo von Hofmannsthal, der es im Jahr 1899 von Ria Schmujilow-Claasen geschickt bekommt. „Das Buch fiel mir im geisterhaft richtigen Augenblick in die Hände“, schreibt Hofmannsthal ihr zurück, „wie ein Zauberschlüssel. Ich sperre damit mehr unterirdische Säle auf, als ich zählen kann.“Footnote 339

Huch positioniert sich in ihrer Blüthezeit der Romantik nicht als distanzierte Beobachterin einer vergangenen Geistesströmung, wie es u. a. Rudolf Haym tat, sondern erschließt die Jenaer Frühromantik auf der Folie der zeitgenössischen Debatte und unter der Annahme einer ideengeschichtlichen Verwandtschaft. „Aus dem Gefühl einer Vertrautheit mit den Personen und ihrem Denken und Empfinden schrieb ich das Buch, ohne mich um das zu kümmern, was mir fehlte“, so Huch retrospektiv,Footnote 340 und in einer kurzen Vorrede des ersten Bandes spielt sie auf die verbreiteten Topoi der Überwindung des Naturalismus an.

Es sind jetzt gerade hundert Jahre her, daß eine Geistesrichtung sich in Deutschland zu entwickeln begann, zu der die in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts herrschende einen Gegensatz bildet, die aber seit etwa zwei Jahrzehnten einer Wiedergeburt entgegenzugehen scheint. Deshalb dürfte in unserer Zeit, wo man nach einer vorangegangenen gänzlichen Abwehr der romantischen Ideen sie um sich herum von Neuem aufleben sieht, ein größeres Verständnis dafür möglich sein, als eine frühere Generation haben konnte. (RO 21)Footnote 341

Huchs Texte eignen sich die historische Romantik aus einer vorsichtig affirmativen Perspektive an, um eine verbindende Gemeinschaft zwischen der Kultur um 1800 und 1900 zu behaupten. Gegen den Einwand, dass Huch in ihrem Buch auch die „Enkel“ der Romantik hätte besprechen können (konkret: Hugo von Hofmannsthal),Footnote 342 verteidigt sie ihr wissenschaftlicher Fürsprecher Oskar Walzel: „War es nötig? Nein! […] Sich selbst stellt sie, die neuromantische Künstlerin, der alten Romantik gegenüber.“Footnote 343 Durch den Einsatz des Romantik-Forschers erreicht Huchs Monographie auch die literaturwissenschaftliche Debatte der Zeit, was von einer älteren Forschergeneration argwöhnisch kommentiert wird: Huchs subjektivistische Aneignung des Stoffes, so Rudolf Haym, „macht ihr denn freilich ein kritisch-historisches Urteil unmöglich, ist aber, wie wenn ein altes Bild in erloschenen Farben wieder aufgefrischt würde, ein interessantes Phänomen“.Footnote 344

Ricarda Huch : Blüthezeit, Ausbreitung und Verfall der Romantik (1899–1902)

So wie die Ricarda-Huch-Forschung angesichts des umfangreichen und wirkmächtigen Gesamtwerks der Autorin florierender sein könnte,Footnote 345 so wurde auch die berühmte Romantik-Monographie bislang zwar in ihrer literaturgeschichtlichen Reichweite,Footnote 346 nicht aber mit Blick auf ihre Semantisierungsstrategien als literarischer Text untersucht. Mit Blick auf den Neoromantik-Diskurs sind vor allem drei Textstrategien charakteristisch, die auf ein neoromantisches Schreiben der Jahrhundertwende hindeuten.

Zuallererst fällt eine Charakterisierungsstrategie nach dem Muster eines naturwissenschaftlichen Monismus (z. B. nach Ernst Haeckel) auf, der als anthropologisches Paradigma um 1900 auch die Romantikerzählung Huchs durchwebt.Footnote 347 August Wilhelm Schlegel beispielsweise wird als „bewegliche[r]“, aber akribischer Geist beschrieben, (RO 24) und für sein fehlendes „Lodern allgewaltiger Leidenschaft“ (RO 23 f.) führt Huch einen physiognomischen Grund an:

Diese eigentümliche Mischung von Anmut, Oberflächlichkeit und Pedanterie beruht auf dem Mangel an Gewicht. Es fehlte ihm an Masse, an dem unbewußten Kern, der die Grundlage des Menschen bildet. Alles läßt sich daraus erklären; in seinen Beziehungen zu den Frauen die Unfähigkeit, große, stetige Leidenschaften zu erregen und zu empfinden. (RO 24)

Der hier monierte „Mangel an Gewicht“ lässt sich auch als Trope für eine vitalistische Kräftigkeit lesen, die August Wilhelm Schlegel in geistigen Belangen fehle. Vor allem aber referiert diese Formulierung auf die physische Magerkeit seiner Statur, die der Text mit August Wilhelms psychologischer Disposition in Verbindung bringt. Eine solche Äquivalenz zwischen Geist und Körper argumentiert auf der Höhe des Monismus-Diskurses der ZeitFootnote 348 und findet sich auch als literarisches Prinzip eingesetzt, um die einzelnen Akteure der Romantik sowohl in ihren Werken als auch in ihrer Gestalt – und damit als Gesamt-„Charakter[e]“ – darzustellen.Footnote 349 Friedrich Schlegel sei in diesem Sinne, anders als August Wilhelm, von „imponierender, aber nur schwer beweglicher Masse“, die eine „weibisch-träge Sinnlichkeit“ in seinen Charakter trägt: „Bewege, tummle dich, schaffe, handle, möchte man ihm immer zurufen, der nicht viel andres tat als lesen, lesen und lesen.“ (RO 32) Als Idealgestalt der Romantiker tritt schließlich Novalis auf, der den physiognomischen Gegenentwurf und die Synthese der beiden Schlegel-Brüder darstellt. „Novalis’ schlanke, geschmeidige, keusche Natur scheute manchmal vor Friedrichs schwerfälliger Üppigkeit zurück“ (RO 84), und mehr noch: „Novalis mochte wohl seine leichte Gestalt gern einmal an die untersetzte, irdischbreite des Freundes schmiegen.“ (RO 84 f.)

Diese Ausdeutung der Romantiker unter den Vorzeichen ihrer Körperlichkeit stellt einen ersten Aktualisierungsversuch dar, um das Romantische als relevante Geisteshaltung der Moderne neu auszuleuchten. Die zweite Strategie lässt sich als genuin neoromantisch betiteln und tritt in der offenen Wertung des Stoffes auf der Folie der Gegenwart zutage, mit der ein ganz bestimmtes – und postwendend einschlägiges – Modell von Romantik konstruiert wird. Huch definiert das Romantische in ihren Schriften als einen kämpferischen Ausgleich zwischen zwei widerstrebenden Polen: als Ausgleich von Schwere und Leichtigkeit, Bewusstsein und Unbewusstsein, männlicher und weiblicher Anlage. Besonders ausführlich entfaltet sie dieses Grundprinzip im Kapitel Apollo und Dionysos, das als poetologisches Kernstück des Bandes gelesen werden kann.Footnote 350 Ohne Nietzsche zu erwähnen, entnimmt sie die Antithese der „leise[n] Besonnenheit des Apollo und d[er] göttliche[n] Trunkenheit des Dionysos“ einem vorangestellten Friedrich-Schlegel-Zitat (RO 90), um den Nietzscheanischen Dualismus zu einer universalhistorischen „Seelenschlacht im Menschen“ auszuweiten (RO 92). Schon in der Entwicklung des Kindes, so Huch, lasse sich ein Kampf zwischen dem formenden Intellekt und dem unbewusst-natürlichen Trieb beobachten, der sich im Laufe der Jugend jeweils zu einer der beiden Seiten hin entscheidet. Das dualistische Prinzip beschränkt sich im Folgenden jedoch nicht auf die individuelle Ebene, sondern weitet sich zu einem universalistischen Grundkonflikt aus: „In der Völkergeschichte wiederholt sich derselbe Vorgang“, so Huch (RO 91), und auch die Menschheit spalte sich „in eine männliche und eine weibliche Hälfte“ – sodass die gesamte Menschheitsgeschichte von einem antithetischen Pendeln zwischen zwei Polen vorstrukturiert erscheint (RO 91).

Zu einer Versöhnung allerdings gelangt diese ewige Dichotomie nicht: „Der reine, harmonische Mensch des goldenen Zeitalters hat nie gelebt“, so Huch (RO 91), und genau hierin erkennt sie die Zukunftsvision und Aufgabe der Romantiker: in der mühsamen Herstellung einer Synthese zwischen Trieb und Intellekt. „Ob wir nun in der Romantik bald auf ein Ausschweifen in dunklen Gefühlen treffen, bald auf eine Vergötterung des Kunstverstandes und der Kritik, das möchte ich vor allem betonen, daß das Ideal der romantischen Ästhetik eine Vereinigung von Fühlen und Wissen war“ (RO 111). Im einleitenden Überblick des zweiten Bandes taucht dieses Leitprinzip noch einmal in seiner prägnantesten Formulierung auf: das Ziel aller Romantik sei demnach „eine Verbindung der entgegengesetzten Pole, nenne man sie Vernunft und Phantasie oder Geist und Trieb“ (RO 352).

Romantisches Leben und Schreiben verfolgen demnach ein großes Synthese-Projekt, was anhand einer Klapptür-Metapher veranschaulicht wird:

Man kann sich den Verkehr zwischen den beiden Welten [hier: Bewusstsein und Unbewusstsein, R.S.] etwa so vorstellen, als gäbe es eine Klappe, die die obere von der unteren trennte. Bei den gemeinen Durchschnittsmenschen öffnet sich die Klappe niemals von selbst, außer vielleicht im Traume. (RO 104)

Diesen „einfachen, handelnden Menschen“ bezeichnet der Text als den ‚männlichen‘ Typus; in Abgrenzung zu einem ‚weiblichen‘ oder ‚artistischen‘ Typ, „bei de[m] die Klappe immer offen steht oder eine Spalte hat“ (RO 104). „Der dritte Haupttypus“, so das romantische Ideal, „ist der die beiden früheren vereinigenden, der mannweibliche. Diesen Typus trägt das Genie. Hier ist die Verbindung zwischen beiden Welten durch eine Feder geregelt“ (RO 105). Ähnlich wie in den Essays von Hermann Hesse repräsentiert ausschließlich Novalis diesen Typus in Leben und Werk, wobei auch „Karoline“, i. e. Caroline Schelling, dem genialischen Typus in einer Vermischung von Handlungsfähigkeit und instinktiver Güte nahekommt (RO 44). „Trieb in Kunst zu verwandeln, das Unbewußte in Wissen, war das Studium der Romantiker“ (RO 100).

Wo einerseits die historische Romantik geschickt mit dem modernen Interesse am Unbewussten verknüpft wird,Footnote 351 da modelliert der Text das Romantische andererseits ganz im Zeichen einer dialektischen Methode, wie sie erst Hegel in Abgrenzung zu den Romantikern entwickelt.Footnote 352 Was Huchs Darstellung damit marginalisiert, ist das ständige Scheitern aller synthetischen Bemühungen, welches in der Romantik jedoch produktiv gewendet wird. Auf der Folie des aktuellen Modells unterschlägt Huchs Literaturgeschichte also die ironischen Brechungen und produktiven Schwebefiguren, um Romantik als ein – nur bei Novalis gelingendes – Synthese-Projekt umzudefinieren. Die Probleme einer solchen Remodellierung treten vor allem in ihren Ausführungen zur Romantischen Ironie zutage: Auch die Ironie verfolge laut Huch ein synthetisches Anliegen und wird in der Blüthezeit als „Sehnsucht, die Schwere des Stoffs zu überwinden“ definiert (RO 254). Die Funktion von Ironie liege somit darin, einen Ausgleich zwischen den Polen ‚Leichtigkeit‘ und ‚Schwere‘ herzustellen: „Leicht und schwer zugleich, […] das ist die paradoxe Aufgabe, die dem Künstler gestellt wird“, heißt es an einer zentrale Stelle, mit welcher der Text zu Friedrich Schlegels „dunkel klingende[m] Ausspruch“ über die Ironie als „die Form des Paradoxen“ überleitet (RO 256). Nicht aber die Affirmation der Paradoxie wird als produktive Schnittstelle des Ironischen aufgefasst, sondern vielmehr die Auflösung von Inkohärenz in Form einer Synthese.

Verbleibt der ironische Text in der paradoxalen Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Elemente, so ist dies vor allem auf die Unfähigkeit einzelner Dichter zurückzuführen, in persona: Ludwig Tieck.

Wenn man nun sagt, es sei, gerade bei Tieck, die Ironie schuld daran, daß er nichts recht ernst und gründlich habe erfassen können, oder die Ironie sei eigentlich nur Unfähigkeit, ein warmes, echtes Gefühl für irgendeinen Gegenstand zu haben, weswegen auch die romantischen Künstler sich bei dem tiefen deutschen Volke nie hätten einbürgern können, so ist daran soviel wahr, daß der tiefsinnige ernsthafte Geist selten so leicht und schnell ist wie der oberflächliche und darum oberflächlich, leicht und ironisch oft zusammengehen und vielfach als unzertrennlich betrachtet werden. (RO 256)

Leichtigkeit sei in der romantischen Praxis nur deshalb die bevorzugte Ausdrucksweise der Ironie, da sie als Gegenpol zu einer ‚deutschen Schwere‘ bei den Romantikern notwendigerweise zu leichten, spielerischen Verfahren führe. Zusammen stellen Schwere und Leichtigkeit aber den synthetischen Ausgleich her, welcher die Literatur in die gedankliche Freiheit der Ironie überführe; demnach lässt sich die Ironie, so der konkreteste Definitionsversuch des Textes, „am besten mit Geistesfreiheit übersetzen“ (RO 254).

Besonders in Tiecks Märchendramen aber misslinge ein solches Verschmelzungsprojekt der Ironie – und zwar aufgrund einer einseitigen Leichtigkeit, die im gesamten Band am häufigsten kritisiert wird. „Es lag […] auch an Tiecks Natur selbst, daß sich sein komisches Genie nur bis zur Grazie erhob“, so Huchs Fazit zum Autor (RO 258), und erneut ist Tiecks Disposition auch physischer Art: „Wenn man an Tieck die Gediegenheit, Schwere und Kraft vermißt, die im Charakter liegt, muß man daran denken, daß er eben diesem Mangel an Gewicht die entzückende Leichtigkeit verdankt, mit der er schweben konnte.“ (RO 266) Zum running gag des Buches wird schließlich der ‚schwere‘ Friedrich Schlegel, der die ironische Leichtigkeit nur aus theoretischer Distanz beobachten kann, ohne sie praktisch umzusetzen: „So hatte Friedrich Schlegel den Begriff der Ironie und Komödie gerade deswegen so durchdringen können, weil ihm, dem Schweren, alles fehlte, um ein Kunstwerk in diesem Geiste schaffen zu können.“ (RO 258)

Neben der Marginalisierung von ironischen Paradoxien findet als dritter und letzter Aspekt bei Ricarda Huch auch eine Aushandlung deutscher Kultur statt, was zur Jahrhundertwende konstitutiv zum Thema Romantik hinzugehört. „Eine Schar junger Männer und Frauen stürmt erobernd über die breite, träge Masse Deutschlands“, so lautet der (heute befremdliche) Anfang des ersten Bandes. „Sie kommen wie vor Jahrhunderten die blonden germanischen Stämme der Wanderung: abenteuerlich, siegesgewiß, heilig erfüllt von ihrer Sitte und ihrem Leben, mit übermütiger Verachtung die alte, morsche Kultur über den Haufen werfend.“ (RO 23) Es sind die Protagonisten der Frühromantik, die in dieser einleitenden Beschreibung nichts von jener ‚Krankheit‘ erkennen lassen, mit der sie Goethe und in seinen frühen Aufzeichnungen auch Hofmannsthal noch charakterisierten.Footnote 353 Analog hierzu endet der erste Band mit einem jähen Verschwinden der „stürmenden Eroberer“, die nach einer kurzen Periode des Kampfes wie die „blonden Vandalen“ wieder untertauchen (RO 348). Ein solches Narrativ dient der Rehabilitierung einer Jenaer Frühromantik, die nach dem Tod von Novalis und dem Umzug der Schlegels schließlich in Ausbreitung und Verfall mündet. Aus dem martialischen Motivarsenal stammt zugleich der bald verbreitete Topos, Romantik als Kampf bzw. als „Eroberung“ zu semantisieren (RO 173),Footnote 354 die emphatisch ausgetragen wird und dann zügig verebbt: „Für sie [die Romantiker, R.S.] war der Kampf die herrlichste Würze des Lebens“ (RO 222).Footnote 355

Schließlich endet der wirkmächtige erste Band zur Blüthezeit der Romantik mit einem Zitat von Novalis, das die neoromantische Wiederkehr zur Jahrhundertwende nach diesem tragisch vergessenen Aufbäumen geradezu prophetisch ankündigt:

Fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen sind der Stoff der Geschichte. Was jetzt nicht die Vollendung erreicht, wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen oder bei einem abermaligen; vergänglich ist nichts, was die Geschichte einmal ergriff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicherer Gestalt erneut wieder hervor. (RO 348)Footnote 356

Implizite Hinweise auf die Wiederkehr einer solchen Romantik bilden die Klammer der Romantik-Darstellungen Ricarda Huchs, die auf zahlreiche Akteure der Jahrhundertwende produktionsanregend gewirkt haben. Spezifisch neoromantisch an der Romantik-Darstellung als literarischer Text sind dabei erstens die monistisch angehauchten Figurenzeichnungen im Sinne einer Anthropologie um 1900; zweitens die Marginalisierung von romantischen Brechungen zugunsten einer Universalsynthese von Leben und Denken nach dem Vorbild von Novalis; und schließlich drittens die martialische Kampfesrhetorik, die Huchs Darstellung perpetuiert. Hier nur am Rande erwähnt, aber doch signifikant erscheinen zudem der subjektiv-modellierende Zugriff auf den Stoff, der weder die Quellen offenlegen noch den Forschungsstand erschöpfend bearbeiten will; sowie die zugelassenen Ambivalenzen zwischen den einzelnen Passagen, die zwar insgesamt an einem argumentativen Strang ziehen, sich aber doch im Einzelnen widersprechen können.

Neoromantik als Paradigmenwechsel im Wissenschaftsfeld um 1900

Aus einer Fülle an Material soll schließlich in einem punktuellen Zugriff die These belegt werden, dass auch das aufkeimende Interesse der Germanistik an der historischen Romantik, nach Jahren der Erforschung von Klassik unter dem Banner Wilhelm Scherers,Footnote 357 durch die neoromantische Bewegung mitbestimmt wird. „Kaum einer, der heute von deutscher Romantik spricht, läßt sich den Parallelismus [mit der modernen Dichtung, R.S.] entgehen“, so der jüngst habilitierte Romantik-Forscher einer neuen Generation, Oskar Walzel,Footnote 358 und vor allem in seinen Schriften und unter seinen Promovierenden entstehen zahlreiche Arbeiten, die ein literaturwissenschaftliches Interesse an der Neoromantik mit dem Studium der romantischen Intertexte verbinden. Dabei ist eine wissenschaftliche Erforschung zeitgenössischer ‚Gegenwartsliteratur‘ zwar, wie Annika Differing gezeigt hat, für manche Akteure um 1900 noch eine „Provokation“.Footnote 359 Allerdings kommt der Neoromantik hier eine entscheidende Funktion zu: Der Diskurs über eine neoromantische Bewegung initiiert zugleich einen Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft mit, die sich nun großflächiger mit der Romantik auseinandersetzt und in diesem Zuge auch die literarhistorische Verortung gegenwärtiger Erscheinungen in den Blick rückt.Footnote 360

Besonders ausführlich widmet sich Oskar Walzel dieser Wechselwirkung zwischen ‚Neuromantik‘ und germanistischer Forschung in einem Aufsatz über Romantik, Neuromantik, Frauenfrage (1901), in der er Huchs Blüthezeit der Romantik einer literaturwissenschaftlichen Forschungslandschaft empfiehlt. „Neuromantik, ein vielumstrittener Begriff!“, so lässt er seinen Aufsatz im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen beginnen, um anschließend einen Einblick in vier typologische Rezeptionsstrategien zu liefern, mit denen auf die gegenwärtige Neoromantik reagiert werde:Footnote 361

Die einen leugnen sie völlig; sie sehen nur vereinzelte romantische Züge in der Gegenwart [...]. Andere widmen diesen Zügen ein warmes Interesse, [...] verwerfen aber entweder den Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit oder verketzern, was sie an der Romantik von 1900 preisen, sobald das selbe ihnen die Jahreszahl 1800 weist. Wieder andere kämpfen hartnäckig gegen die alte und gegen die neue Schule und beweisen durch ihre Erbitterung am besten, wie eng sie den Zusammenhang der beiden Kulturmomente empfinden, und wie lebendig heute noch die Nachwirkungen der alten Romantik sind. Endlich ist eine letzte Gruppe bemüht, die Übereinstimmungen aufzudecken, das Verwandte herauszufühlen und den historischen Vorgang zu ergründen, durch den veranlasst am Ende des Jahrhunderts die Tendenzen seines Anfangs sich erneuern.Footnote 362

Laut Walzel gibt es eine skeptische Gruppe, die dem Phänomen keinen eigenen Begriff zugesteht; eine Gruppe von Interessierten an der Gegenwartskultur, die einen Zusammenhang mit der Romantik zurückweist; einen Typus emphatischer Verbitterung, der sich einer innerlich empfundenen Evidenz kämpferisch widersetzt; und schließlich eine zunehmende Gruppe „unvoreingenommene[r] Beobachter“, zu denen sich Walzel und seine Schüler zählen.Footnote 363 Tatsächlich spricht Walzel schon 1891 von einer Analogie zwischen Romantik und französischem Symbolismus, der sich „[m]erkwürdigerweise“ noch niemand angenommen habe;Footnote 364 um zehn Jahre später zu konstatieren, dass „objektive Vergleiche von Einst und Jetzt auf diesem Felde allmählich Mode werden“.Footnote 365

Die einschlägigen Publikationen führt der Romantik-Kenner, der selbst eine wirksame Monographie über Deutsche Romantik (1908) vorgelegt hat,Footnote 366 ebenfalls an: Nach der Bestätigung des Neoromantik-Verdachts durch die Novalis-Übersetzung von Maeterlinck (1895), so Walzel, nimmt in Deutschland zuerst Felix Poppenberg, „wissenschaftlich geschult“ in der Nachfolge Erich Schmidts, den neoromantischen Faden auf.Footnote 367 Auch die Dissertation des später berühmten Kritikers Alfred Kerr über Godwi. Ein Kapitel deutscher Romantik (1898) führt Walzel lobend an, die von der Fachwelt insgesamt positiv aufgenommen wurde. In Kerrs Einleitung findet sich dabei ein knapper, aber signifikanter Vergleich zwischen dem jungen Brentano und der Neoromantik à la „Loris und George“: „Und doch hat die Welt des Godwi mit der Gegenwart Berührungen. Künstler, am Ausgang des Jahrhunderts schaffen mit verwandten Mitteln wie an seinem Beginn die Romantiker. [...] Es wird kein Zufall sein, daß Maurice Maeterlinck heut den Novalis übersetzt hat.“Footnote 368 Vor allem in den Werken Nietzsches zeige sich für Kerr eine innere Verwandtschaft zwischen Romantik und gegenwärtiger Geistesströmung:

Man betrachte den Individualismus, wie er im Godwi leidenschaftlich und rücksichtslos auftritt, und die Verwandtschaft ist mit Händen zu greifen. [...] „Morgenröte, Gedanken über die Moral als Vorurteil“: das hätte der Titel einer romantischen Schrift sein können, wie es der Titel einer nietzscheschen ist. Daß es „nichtswürdig“ sei, „etwas zu bereuen“, steht nicht im Nietzsche, sondern wörtlich im Godwi. Und es folgt gleich der Zusatz: „– auf den Gräbern wollen wir tanzen.“Footnote 369

Zu diesen frühen Beispielen neoromantisch inspirierter Romantik-Forschung treten allein im Jahr 1898 mindestens drei weitere Monographien,Footnote 370 wobei kaum ein Forschungstext über Romantik den Vergleich zur literarischen Produktion der Gegenwart unterschlägt. So exemplarisch Carl Busse über Novalis’ Lyrik (1898):

[D]em heutigen jungen Geschlechte steht die Romantik näher als der älteren Generation. Der grosse Sehnsuchtszug, der durch die Zeit geht, […] der uns glücklich erlöst hat von dem Bann der allein seligmachenden Naturwissenschaften – er trägt auch die deutsche Romantik, die so lange verachtete, wieder empor. Immer tiefer versenkt man sich in sie, sie ist seit einigen Jahren nicht mehr das Stiefkind der Forschung, das sie einst war, in immer neuen Schriften bekundet sich das erwachte Interesse. Und naturgemäss feiert mit ihr vor allem ihr grösster Poet sein Auferstehn: Novalis.Footnote 371

Neoromantik avanciert damit, wie auch in der Historie des Diederichs-Verlags ersichtlich, genau im Jahr 1898 zu einem breitenwirksamen Mediendiskurs, der von der Literaturwissenschaft dankbar aufgenommen und zusätzlich perpetuiert wird.Footnote 372

Auch in anderen Wissenschaftsprofessionen findet sich der Vergleich zwischen Romantik und Neuromantik en passant thematisiert. Neben dem Philosophieprofessor Arthur Drews, der ebenfalls für ein „Wiederaufleben der alten Romantik mit all ihren Auswüchsen und Wunderlichkeiten“ aus philosophischer Perspektive eintritt,Footnote 373 reflektiert selbst der Historiker Karl Lamprecht über die Neuromantik der Gegenwart:

Man spricht wohl von dieser neuesten Poesie der Reizsamkeit als von einer Neuromantik. Sollte damit der Glaube angedeutet werden, daß sich in der Poesie unserer Tage die alte Romantik voll wiederhole, so würde die Entstehung des Wortes bei seinem Bildner einen bedenklichen Mangel geschichtlichen Denkens und eine schlimme Unkenntnis der litterargeschichtlichen Thatsachen voraussetzen. Denn der gradmäßige Unterschied der neuen Sichtung von der alten Romantik ist augenscheinlich […].Footnote 374

Zwar argumentiert Lamprecht im Folgenden gegen die Verwendung eines Neuromantik-Begriffs; dennoch zeigt sich, ganz nach Walzels drittem Typus, dass der Diskurs um eine neue Romantik von allen geisteswissenschaftlichen Debatten wahrgenommen und zumeist mitgetragen wird.

Eine wichtige Sparte in der öffentlichen Wahrnehmung nehmen zusätzlich die populärwissenschaftlichen Romantik-Studien ein, die im Diederichs-Verlag publiziert wurden. Hier gehört die Proklamation einer Neoromantik zum unabdingbaren Repertoire, vor allem durch ihren Wortführer Friedrich von Oppeln-Bronikowski, den vielfach gelobten Maeterlinck-Übersetzer. „Wir stehen im Zeichen einer Neuromantik“, so eröffnet er die Lyrik-Anthologie Die Blaume Blume (1900); und für einen Einblick in den nationalpathetischen Duktus dieser vielgelesenen Publikation lässt sich ein längeres Zitat der ersten beiden Absätze anführen:

Die deutsche Poesie war, nachdem sie um die Mitte des scheidenden Jahrhunderts aus den Zaubergrotten der Romantik vertrieben worden, auf dem besten Wege, mit einer satt und prüde gewordenen Gesellschaft zu versimpeln und auf moralischer Langeweile umzukommen, – als sie plötzlich vor etwa zehn Jahren, aus dieser kunstmordenden Atmosphäre entwich und sich über unsaubere Hintertreppen [...] auf das offene, öde Blachfeld rettete, von wo sie sich allmählich wieder in das alte romantische Land zurücktastete... Heute begegnen wir überall dem Bestreben, die Romantik wiederzuerwecken und an dieselbe anzuknüpfen. Märchendramen und -Opern erzielen ungeahnte Bühnenerfolge, Neuausgaben der Romantiker machen ihr Glück auf dem Büchermarkt, und litterarhistorische Untersuchungen über diese schon längst totgesagte Kunstepoche schießen wie Pilze um die alten Stämme des deutschen Dichterwaldes auf…Footnote 375

Friedrich von Oppeln-Bronikowski verleiht der Diederichs’schen Verlagsausrichtung ihr eigentliches Profil: Der 33 Seiten starke Einleitungstext zeigt seinen Verfasser als profunden Kenner der Literaturgeschichte, der auf der Folie eines eigenen Modells von Romantik auch spätere Vertreter des 19. Jahrhunderts als Romantikerinnen und Romantiker ausweist. So exemplarisch Annette von Droste-Hülshoff:

Die romantische Ironie [...] tritt bei der Droste in ein neues Stadium ein und wird hier zur Skepsis eines starken Menschen, der aus berückenden Träumen zur rauhen Wirklichkeit erwacht [...]. Hätte dieser herbe, männliche Geist nicht in einem siechen Weibskörper gewohnt – vielleicht wäre ein Genie vom Wuchse Goethes daraus geworden. So aber schlägt die derbe und markige Sprachgewalt der Droste vielfach zur Ungeschliffenheit und Sprachversündigung um.Footnote 376

Oppeln-Bronikowskis Romantik strebt, wie auch Diederichs, zu einem ‚neuen, tatkräftigen Menschen‘, sodass ein patriotisches Moment der Romantik in den Vordergrund tritt: Erst durch die „Befreiungskriege“ sei „der ausgesprochen volkstümliche Ton, an dem es den in Schillerschem Aesthetizismus befangenen Schlegels noch sehr gebrach“, in die Romantik eingekehrt, sodass die erste patriotische Lyrik vom „einfache[n] und kunstlose[n], aber auch männlich kraftvolle[n] Ernst Moritz Arndt“ beigesteuert wurde.Footnote 377 „Unter den Anhängern der jüngeren Schule waren es namentlich Chamisso und Eichendorff, die den volkstümlichen Ton aus einem Postulat zur Thatsache machten“; Eichendorff sei dabei „der erste romantische Kunstdichter, dessen Lieder das Volk aufgenommen und dessen Namen es vergessen hat, – der höchste Triumph des Kunstdichters“.Footnote 378 Auf Grundlage des aktuellen Modells von Romantik ist diese Einschätzung mit Blick auf Eichendorff zwar nicht falsch, da er die romantische Poetologie mit Blick auf eine breite Wirksamkeit popularisierte;Footnote 379 die Wertung allerdings, die ihn auf der Folie des nationalen Interesses als ‚starken Charakter‘ nachzeichnet, steht ganz im Dienst eines ‚neuromantischen‘ Strebens nach einer „germanischen Rassenpoesie“.Footnote 380

Auch steht die wissenschaftliche Beschäftigung all dieser Institutionen ganz im Zeichen von Novalis: Eine Diederichs-Ausgabe von Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1904) beginnt mit folgender Einleitung von Karl Detlev Jessen aus Cambridge:

Kein Zweifel, daß Friedrich von Hardenberg die ungleich bedeutendere Persönlichkeit von den zweien war. Sein […] Lebenswerk, obwohl noch nicht in mustergültig abschließenden Ausgaben, liegt doch in brauchbarer Form vor uns, und seine Persönlichkeit ist in der deutschen Nation zu neuem triebkräftigen Leben erwacht. Für Wackenroder soll die vorliegende Neuausgabe seiner Herzensergießungen einem Bedürfnis entgegenkommen.Footnote 381

Schon diese ersten Sätze des Bandes stellen Wackenroder in den Schatten eines Novalis, vom dem auch Dilthey im Jahr 1905 konstatiert. „daß seine Schriften die weitaus verbreitetsten und gelesensten aus der romantischen Schule sind“.Footnote 382 Gleich mehrere Editionen seiner Werke kommen in diesem Zeitraum auf den Markt, so neben den von Carl Meissner besorgten und von Bruno Wille eingeleiteten Sämmtlichen Werken im Diederichs-Verlag (1898) eine kritische Revision von Ernst Heilborn, eine Reclam-Ausgabe der Gedichte sowie weitere Bände der Schriften, u. a. von Carl Minor und Wilhelm Bölsche.Footnote 383

Um und nach 1900 lässt sich die Liste an wissenschaftlichen Romantik-Publikationen schließlich kaum noch erschöpfend darstellen, wobei auffällt, dass erstmals auch eigenständige Monographien zur ‚Neuromantik‘ veröffentlicht werden.Footnote 384 Während mit Rudolf Haym und Wilhelm Dilthey, der mit Erlebnis und Dichtung (1905) einen auflagenstarken Essayband herausgibt,Footnote 385 zwei Bezugsgrößen in der Literaturwissenschaft konstant bleiben, werden vor allem Karl Joëls Nietzsche und die Romantik (1905), Marie Joachimi(-Deges) Weltanschauung der Romantik (1905) sowie Erwin Kirchers Fragment gebliebene Philosophie der Romantik (1906) in der Folgezeit als einschlägig angeführt.Footnote 386 Die Neuromantik-Bekundungen reißen dabei keineswegs ab, auch nicht beim Philosophen Karl Joël:

Es gibt ja nicht nur Tote in der Geschichte, es gibt da auch eine Auferstehung. Und eben die Romantiker feiern ja heute ihr Wiedererwachen. Es ist wie ein Wunder! Die alten Romantiker werden aus dem Staub der Bibliotheken hervorgeholt; eine anschwellende gelehrte und ungelehrte Literatur hat sich bereits ihrer bemächtigt, und Neuromantik nennt sich vielfach nicht ohne Grund unsere modernste Literatur und Kunst. Wir alle, die wir geistig, nicht bloß leiblich heute leben, wir alle spüren ja jenen romantischen Hauch, jenes Wiederanklingen alter Melodien, die vor hundert Jahren tönten.Footnote 387

Eine problemgeschichtliche, wenn auch zeitgenössisch verrissene Publikation liefert Oscar Ewald, der seine mehrbändig angelegte Reihe zu Romantik und Gegenwart mit dem ersten (und schließlich einzigen) Band Die Probleme der Romantik als Grundfragen der Gegenwart (1904) eröffnet. Im Zuge des problemgeschichtlichen Ansatzes behauptet Ewald aus philosophischer Sicht, die Gegenwart verwalte ein „Erbe der Romantik“,Footnote 388 denn auch aktuell „herrsch[e] jene Duplizität von Mystik und Realismus, von Intuition und Analyse vor, in der man nicht ganz mit Unrecht das Wesen der Romantik zu erblicken sich gewöhnt hat.“Footnote 389 Mit der Antithese von Naturalismus und Idealismus greift Ewald den einschlägigen Topos der Debatte auf, um zugleich Romantik und Gegenwart auf ein gemeinsames Hauptproblem zurückzuführen:

Alle aber ließ ich in dem gemeinsamen Grundproblem des Individualismus einmünden, da in ihm Gegenwart und Romantik am innigsten zusammenhängen. Dieses habe ich nacheinander im Staatsproblem, im Problem der Kunst, im Religionsproblem und im erotischen Problem zu erfassen gesucht. Sie alle sind die „Probleme der Romantik“, und das sind zugleich die Probleme der Gegenwart.Footnote 390

Ewald weist in seiner Problemanalyse vor allem auf das „Problem der Einsamkeit“ bzw. des „einsamen Menschen“ hin,Footnote 391 um den Individualismus der Gegenwart in neuen Gemeinschaftsformen aufgehen zu lassen. „Lange freilich war die Geschichte unserer Zeit die Krankheitsgeschichte dieses Ideals [Individualismus, R.S.]. Aber wo einmal die klärende Vernunft den Widerstand der Masse überwindet, da ist die Krisis überstanden. Denn es gibt keine Erkenntnis, die nicht zugleich Genesung wäre.“Footnote 392

In der Literaturwissenschaft um 1900 trifft geht die Neoromantik damit auf fruchtbaren Boden, da sie die wissenschaftliche Erforschung von Romantik auf der Folie eines aktuellen Interesses legitimiert. Gleichzeitig aber schreibt die Romantik-Forschung auch einen Methodenpluralismus in die Fachtradition ein, von der sie sich, so Ralf Klausnitzer, bis zu ihrer „Selbstgleichschaltung“ im Jahr 1933 nicht erholen wird.Footnote 393

Mit dem Gegenstand ‚Romantik‘ entwickeln sich auch neuartige Methoden der literaturwissenschaftlichen Forschung, die sich vor allem in der geistesgeschichtlichen Nachzeichnung von Ideengenese statt in Einfluss- und Textforschung nach dem Vorbild Wilhelm Scherers ausbreitet. Nicht zufällig widmet sich Diltheys früheste Monographie dem Leben Schleiermachers (1870); vielmehr betont auch der Begründer der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, dass erst der Gegenstand Romantik eine andere Art von wissenschaftlicher Methodik erfordere.Footnote 394 Mit Blick auf die Neoromantik bleibt schließlich nicht nur die Behauptung einer inneren Verwandtschaft konstant, sondern gleichzeitig soll zur Jahrhundertwende auch etwas Neues zu einer – häufig problembeladenen bzw. nicht beendeten – Romantik hinzugegeben werden. Das ‚Neue‘ ist somit auch hier das Interessante an neuer Romantik; und in diesem Sinne nennt Oskar Walzel Huchs Blüthezeit-Monographie ein „Denkmal der Neuromantik, aufgebaut auf dem stolzen Bewußtsein, daß Neuromantik eine neue, aber auch eine höhere Evolution der alten Romantik ist.“Footnote 395 In dieser knappen Beschreibung erfasst auch die Germanistik, die als junge Institution maßgeblich zum Erfolg der Strömung und zum Nachleben des Schlagwortes beiträgt, den Kern des neoromantischen Selbstanspruchs um 1900.

2.3 Neue Romantiken: Theoretisierung, Abkehr und Überwindung (1904–1910)

Während die Debatten rund um die Neoromantik kurz nach 1900 an ihrem Höhepunkt angelangt sind, werden ab dem Jahr 1904 kritische Gegenstimmen unüberhörbar lauter. „Sagen wir’s nur frei heraus“, so Kurt Walter Goldschmidt (1908), „die Romantik ist im Begriff und in Gefahr, Konvention – wenn nicht Schlimmeres: Konjunktur und Spekulation – zu werden“.Footnote 396 Damit verleiht Goldschmidt einerseits einer weiterhin wachsenden Verbreitung neoromantischer Literatur Ausdruck; andererseits kündigt sich im literaturkritischen Bereich seit circa drei Jahren der emphatische Wunsch nach einer neuen Art von Literatur an, welche die neoromantische Mode zugunsten von weniger tendenziösen Werken ersetzen soll. Manche Akteure, so Samuel Lublinski und Paul Ernst, fordern im Jahr 1907 bereits eine „Neuklassik“;Footnote 397 Johannes Schlaf, der dieser Weimarer Bewegung ebenfalls nahesteht, setzt alternativ auf eine Remodellierung von Neoromantik, die in ihrer aktuellen Ausprägung noch nicht zu ihrer „beste[n] und eigentlichste[n] Erneuerung“ gelangt sei.Footnote 398 Um 1904 wird damit flächendeckend deutlich: Die erste neoromantische Emphase hat ihr Versprechen einer „Synthese von Naturalismus und Romantik“ nicht einhalten können.Footnote 399 Stattdessen zeigt sich Ende der 1900er Jahre bereits zunehmend ihr überschrittenes Verfallsdatum.

Das Ziel aber, das schon die ‚neue Romantik‘ nach Bahr verfolgte, bleibt in seinen Grundzügen bestehen: das Erreichen eines ‚Goldenen Zeitalters‘ in der Literatur, in dem durch Vereinigung widersprüchlicher Gegensätze Texte geschaffen werden, die nicht mehr modisch-vergänglich, sondern universell-zeitenthoben in die Zukunft hineinragen. Auch die entwicklungsgeschichtlichen Ansätze werden weiterverfolgt, sodass die Neoromantik bei vielen Akteuren nun selbst historisierend behandelt wird: Wie schon am Beispiel Diederichs diskutiert, transformiert sich die literarische Neoromantik nun selbst zu einer geschichtlichen Episode, um die ‚Moderne‘ zu ihrem Finale, manchmal auch zu ihrem „Ausgang“ zu führen.Footnote 400 Bevor in einem letzten Unterkapitel die Stimmen zu diesem Neoromantik-Überdruss gegen Ende der 1900er Jahre und der Weg zu einer „dritte[n] Romantik“ in die 1910er Jahre verfolgt wird,Footnote 401 soll anhand von zwei exemplarischen Texten erörtert werden, inwiefern sich der Diskurs um die Neoromantik nunmehr in zwei widerstrebende Lager verhärtet. Auf der einen Seite formiert sich eine radikale Abwertung aller Romantik und Neuromantik, die dem linkssozialistischen Lager entspringt und die Entwicklung einer neuen Literaturperiode aus den Fehlern der ‚Neuromantik‘ proklamiert – Samuel Lublinskis Bücher über die Bilanz (1904) und den Ausgang der Moderne (1909) geben diesem verbreiteten Wunsch Ausdruck. Auf der anderen Seite hält ein deutschpatriotisches Lager am Begriff von Romantik fest, mit dem auf sozialdarwinistischer Grundlage weiterhin nach einer „germanischen Rassenkunst“ gegraben wirdFootnote 402 – allerdings ebenfalls, wie es Ludwig Coellen in seiner Monographie über Neuromantik (1906) theoretisiert, um anschließend in eine dritte, „klassische Stufe“ der Kultur einzutreten.Footnote 403 Insgesamt verliert die ‚Neuromantik‘ damit auf allen Seiten an Reputation und an symbolischem Kapital; zum Ende der neoromantischen Episode spaltet sich der Romantik-Begriff entsprechend in zwei unterschiedliche Auffassungsmodelle, die das Romantische als Phänomen für das gesamte 20. Jahrhundert entscheidend vorprägen werden.

2.3.1 Die Mode der Willensschwachen: Samuel Lublinskis Bilanzen gegen die Neoromantik

Als „eine[n] der erstaunlichsten Diagnostiker der Zeit“ bezeichnet Gotthart Wunberg den deutsch-jüdischen Literaturhistoriker und Schriftsteller Samuel Lublinski,Footnote 404 der mit seiner Bilanz der Moderne (1904) den ersten Versuch einer literatursoziologisch motivierten Geschichtsschreibung unternimmt – um diesen Ansatz in einem zweiten Band über den Ausgang der Moderne (1909) weiterzuentwickeln.Footnote 405 Gegen Ende des Jahres 1910 früh verstorben, ist Lublinski heute vor allem in zwei Zusammenhängen bekannt: zum einen aufgrund seiner Entdeckung von Thomas Manns Buddenbrooks, die er als einer der ersten in ihrer literarhistorischen Bedeutung würdigte.Footnote 406 Zum anderen verstrickten ihn seine zwei Bilanzen der Moderne in einen ausufernden Literaturstreit mit Theodor Lessing, der ihn in einer Spottschrift Samuel zieht die Bilanz (1910) öffentlich diffamierte. Hierbei bediente sich der Literaturkritiker Lessing, selbst jüdisch, explizit antijüdischer Klischees. Eine Ursache des Streits ist in den verschiedenen Positionen zur zeitgenössischen ‚Judenfrage‘ auszumachen, bei der Lublinski, anders als Lessing, gegen eine Assimilation an die deutsche Kultur und stattdessen für einen zionistischen Staat in Palästina eintrat.Footnote 407 Auch Thomas Mann bezieht in diesem Streit Partei für Lublinski und veröffentlicht ein harsches Pamphlet gegen Doktor Lessing (1910), das ihm sogar eine Duellaufforderung einbringt. Schließlich findet Manns Text Eingang in Lessings Spott-Anthologie Samuel zieht die Bilanz und Tomi melkt die Moralkuh (1910). Unberührt blieb in dieser öffentlichen Debatte (und in ihrer späteren Erforschung) allerdings der inhaltliche Kern, um den sich beide Bücher Lublinskis kreisen: um eine scharfe Kritik an der zeitgenössischen ‚Neuromantik‘, die laut Lublinski mit aller Kraft überwunden werden soll. „Die Neuromantik mag eine historische Notwendigkeit gewesen sein“, so Lublinskis These im Ausgang der Moderne, „was aber nicht abhält, festzustellen, dass es nunmehr zur Notwendigkeit geworden ist, sie zu bekämpfen.“ (AM 65)

Tatsächlich findet sich in Lublinkis soziologischer Analyse, ungeachtet ihrer streckenweise harschen Polemik, die wahrscheinlich ausführlichste Beschreibung des neoromantischen Phänomens aus zeitgenössischer Perspektive, weshalb es sich lohnt, die beiden Monographien systematisch zu rekonstruieren. Romantik stellt für Lublinski, und darin überschneiden sich die beiden Bilanzen im Abstand von fünf Jahren, das verpestende Moment der internationalen Kulturentwicklung seit den 1880er Jahren dar. Schon der frühe Naturalismus verrenne sich in einem eigentlich romantischen Verfahren, das Émile Zola in seinem Rougon-Macquart-Zyklus eröffne: „Moderne Warenhäuser, moderne Kneipen, moderne Eisenbahnen“ finden sich dort „eingehüllt in die Stimmungen einer diluvianischen Urzeit“, so Lublinski in der Bilanz, und Zola propagiere damit „die tollste Romantik im elektrisch grellen Tageslicht der Gegenwart“ (BM 51). Weniger stören Lublinski konkrete Motivreferenzen, wie sie auch Heinrich Mann bei Zola aufgefallen sind.Footnote 408 Stattdessen moniert er jene ‚romantische‘ Tendenz, laut der sich die Gesellschaftsentwürfe im Naturalismus auf jeweils ein (monistisches) Einzelproblem zurückführen lassen. „[D]ie Gesellschaft als Schenke und die Gesellschaft als Bordell“, so lauten die beiden omnipräsenten Problemdiagnosen des Naturalismus (BM 16), um alle Komplexität von Milieu und Gesellschaft in einem „drollig-großartige[n] Symbolismus“ herunterzubrechen (BM 13). Diesen „monistischen“ Zug naturalistischer Texte bezeichnet Lublinski in seinen Abhandlungen als ‚romantisch‘ (BM 167).Footnote 409

Das Romantische also – in der Bilanz der Moderne allgegenwärtig aufgerufen, aber nicht exakt definiert – bedeutet für Lublinski eine reduktionistisch-verklärende Sicht auf die Welt, welche die Gesellschaft auf ein monistisch-omnipräsentes Grundgesetz zurückführt (auch: „Symbol“ genannt, BM 22). Entsprechend richtet sich Lublinskis Polemik in besonderer Schärfe gegen einen populärwissenschaftlichen Darwinismus, dessen „Mystik der Rassen“ in eben jener ‚romantischen‘ Weise Komplexität nivelliert – und literarisch eine „Flucht zu den Nibelungen und Urariern“ predigt (BM 25). Romantik sei damit ein Weltverhältnis moderner Individuen, die sich einem mystischen oder wissenschaftlichen „Riesensymbol[]“ unterwerfen (BM 16). In seinem späteren Ausgang der Moderne schiebt Lublinski eine Romantik-Definition in genau diesem Sinne nach:

[S]o kristallisiert sich mit voller Deutlichkeit das Problem des romantischen Kunstwerkes: Das Allumfassende soll in eine einzelne Erscheinung eingeschlossen werden, in irgend eine Ecke, in einen Winkel, der plötzlich nicht nur im menschlichen sondern in einem mystischen Sinn die Welt bedeuten will. (AM 6)

Hier erkennt Lublinski zugleich seine eigene Rolle als Literatursoziologe: Der Reduktionismus der Romantik soll durch eine Rückkopplung an die Komplexität realer Gesellschaften überwunden werden, um zu einer Perspektivenöffnung in der Literatur – und damit zugleich im modernen Individuum – zu gelangen.

Während also schon der frühe Naturalismus sowie die darwinistischen Naturwissenschaften einer Romantik in Lublinskis Sinne verfallen seien, präge sich dieses Element in einer aktuellen ‚Neu-Romantik‘ in überbordender Weise aus. Lublinski erklärt die Entstehung der literarischen Neoromantik, die er in beiden Büchern als „Hauptströmung der Epoche“ behandelt,Footnote 410 wie auch andere Literaturgeschichten der Zeit morphologisch, lies: entwicklungsgeschichtlich.Footnote 411 Arno Holz und Johannes Schlaf haben demnach, als herausragende „Stürmer und Dränger“ (BM 85), die Romantik im Naturalismus schlaglichtartig überwunden und eine moderne Technik begründet, in der sich „ein starkes und subjektives Empfinden mit der Mikroskopie des Naturforschers“ vermengt – ohne dabei der romantischen Komplexitätsreduktion zu verfallen (BM 85 f.).Footnote 412 Die neu erfundenen Mittel dieses „naturalistisch-intimen Stil[s]“ wachsen den literarischen Nachfolgern allerdings bald „über den Kopf“ (BM 104), da er sie nicht aus der Kontingenz der modernen Welt herausführe:

Der Dichter überschaute seine Welt nicht mehr aus der Vogelschau, sondern er stand selbst mitten im Getümmel und Gewimmel, trat an jede Einzelerscheinung ganz nah heran und ließ sich von ihr gleichsam überwältigen. [...] Die Dichter fühlten, wie sie immer mehr die Sklaven ihrer Stimmung und ihrer Nerven wurden [...] und die schier überwundene naturwissenschaftliche Romantik aus der Frühzeit der Moderne kehrte in verfeinerter Form wieder zurück. (BM 104)

Das Schlagwort der „naturwissenschaftlichen Romantik“, hier auch „Rassenunfug“ genannt (BM 105), wird mit der größten Verachtung beladen: Im Niels Lyhne von Jens Peter Jacobsen, in dessen Reclam-Vorwort diese Redewendung erstmals zu finden ist,Footnote 413 erkennt Lublinski einen „furchtbar verhaltene[n] Pessimismus“ (BM 105), zu dem die literarische Neoromantik ihre Leser verleite. In ihr vermenge sich, so Lublinski, die feine poetische Technik à la Schlaf und Holz mit einem biologisch-romantischen Rassenmythos, in dem sich das Individuum fluchtartig aufhebe:

Jacobsen hatte seinen Helden vor der Übergewalt der Natur vergehen lassen, und es erhob sich die Frage: hat denn die menschliche Individualität gar keinen Wert gegenüber dem Universum? […] Solche Fragen führten einen vollkommenen Szenenwechsel herbei, und man stand nicht mehr vor der sozialen Frage sondern dem Welträtsel gegenüber. Der Naturalismus verwandelte sich in Neu-Romantik, Zola wurde abgelöst von Maeterlinck. (BM 106)

Aus dem passiv-forschenden Helden des naturalistischen Dramas erwachsen nun „Helden der Willenlosigkeit“, was Lublinski als Soziologe scharf kritisiert. Die neoromantische Literatur wirke schädigend auf den Fortschrittswillen einer Gesellschaft, da sie aus der verfeinerten Stimmungstechnik heraus eine völlige „Hingabe an die Natur“ propagiere (BM 178).

Im Zentrum von Lublinskis Entwicklungsgeschichte der Neoromantik steht dabei Friedrich Nietzsche. „Nietzsches Zarathustra ist ein durch und durch romantisches Werk, ein Gipfel der modernen Romantik“, und genauer: „Einem Nietzsche ist gelungen, was ein Novalis vergeblich erstrebte: als ein Einzelner eine Mythologie, eine Symbolik, eine Religion zu erzeugen“ (BM 127). Vor allem dank der strengen, elegischen Form sei ihm eine „Mystik aus Marmor“ gelungen (BM 130), die Lublinski nur gelten lässt, da sie eine „stilistische Synthese“ schlägt: „Zum erstenmal in der deutschen Literatur und, mit Ausnahme von Dante, zum erstenmal überhaupt geschah es, daß ein großer Romantiker ein großer und herber Stilkünstler gewesen ist“ (BM 130). Im Zarathustra findet sich also das Manko des zeitgenössischen Romantik-Modells nach Georg Brandes, die fehlende Entsprechung von Inhalt und Form, produktiv aufgehoben. Allerdings fordert Lublinski nun eine Soziologisierung der Kunst, genauer: eine Annäherung von Literatur und Gesellschaft, mit der alle Romantik vom Naturalismus abgelöst werde. Nietzsche erklärt er somit zum Ausgangs- und Höhepunkt der modernen ‚Neuromantik‘, sie selbst führe die Moderne aber auf einen falschen Weg.

Damit verfolgt Lublinski eine (offen ausgestellt) politische Agenda, die selbst keineswegs frei von reduktionistischen Zuspitzungen bleibt, wie er sie an der Neoromantik scharf kritisiert. „Dieses Buch versucht sich an einer Aufgabe“, lässt er die Leser der Bilanz in einer Vorrede wissen:

Die letzten zwanzig Jahre der modernen Literatur sollen nicht nur ästhetisch abgeschätzt, [...] sondern vor allem auf ihr unbewußt waltendes Grundgesetz zurückgeführt und an diesem Maßstab gemessen und kritisiert werden. […] Es wird die Hoffnung, ja sogar der ziemlich dringende Wunsch ausgesprochen, die Moderne möchte zur Selbstbesinnung gelangen, sich ihres Grundproblems bewußt werden. (BM V)

Es ist bezeichnend, dass Lublinskis Monographien in ihren Problemdiagnosen zu zwei jeweils unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. In der Bilanz der Moderne, dem früheren und deutlich reflektierteren Text, problematisiert er eine wachsende Differenz zwischen den Paradigmen ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘, deren Gegensatz laut Stephan Stachorski eine Art „Modethema“ seit den 1880er Jahren darstellt.Footnote 414 Nach Karl Lamprecht, dessen Definition Lublinski in seinem Buch aufgreift (BM 109 f.),Footnote 415 umfasst der Zivilisationsbegriff jeden rationalistisch-technischen Zugriff zur Welt, während der Kulturbegriff ihren jeweils geistig-künstlerischen Anteil benennt.Footnote 416 Lublinski nun, in seiner Bilanz-Schrift noch erklärter Marxist und Verfechter des Klassenkampf-Ansatzes, setzt sich emphatisch für ein „Verschmelzen der beiden Elemente“ ein: Geistiges und politisch-ökonomisches Handeln sollen ineinander verflochten werden, sodass „die Seelenstimmung einer stark subjektiven Generation“, wie sie die junge Moderne kennzeichnet, mit der „Ehrfurcht für die schlichte Sachlichkeit des Lebens“ synthetisiert wird (BM 114). „Künstler-Politiker“ und „Kulturpolitik“ lauten seine konkreten Vorschläge, um das Grundproblem der Moderne, den Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation, zu überwinden (BM 114, 116).Footnote 417

Neoromantik aber fördere ausschließlich eine einseitige ‚Kultur‘, da sie die ökonomische und politische Komplexität notorisch ausklammere.Footnote 418 Paul Scheerbart erhält als „gewalttätiger und leidenschaftlicher Europäer“ noch das wohlwollendste Urteil unter den frühen Neoromantikern (BM 137), während Frank Wedekind, Peter Hille, Wilhelm Bölsche, Alfred Mombert und Johannes Schlaf entweder Form- und Willenlosigkeit oder „Blut- und Rassenmystizismus“ vorgeworfen werden (BM 163). Maurice Maeterlinck schließlich erkenne am deutlichsten „das Problem, daß der ganzen Neu-Romantik und der Moderne überhaupt zugrunde liegt: das Verhältnis des Individuums zum Kosmos, zur Weltstimmung“ (BM 174); auch wenn er sich auf dieser Basis fatalerweise für eine märchenhafte ‚Weltflucht‘ entscheide. Zwar ist der Bilanz-Text bei jedem Autor um ein differenziertes Urteil bemüht und erkennt auch die Stärke der Neoromantiker auf dem Gebiet der kleinen Formen an; am Ende gelinge es der Strömung aber nicht, „für das Verhältnis zwischen Mensch und Welt die ausgleichende Formel zu finden“ (BM 180).

Fünf Jahre später weitet sich diese Forderung nach einer Synthese von Kultur und Zivilisation im Ausgang der Moderne zu einem universalistischen Grundgesetz aus, das in seiner Polemik deutlich an Reflexionsniveau verliert. „Vorläufig füllen seine Bastarde den Vordergrund aus“, so ein neuer Passus über Nietzsche, „diese Neuromantiker, die Schädlinge sind und sterben müssen, damit die gebührende und legitime Nachkommenschaft den Platz an der Sonne gewinnt. Darum, im Namen Nietzsches, gegen Nietzsche und gegen die Neuromantik!“ (AM 73) Der Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation wird im Ausgang der Moderne zu einem unter vielen,Footnote 419 wie auch die marxistische Position im Zuge einer „Kritik meiner ‚Bilanz der Moderne‘“ aufgegeben wird (AM 225). Stattdessen modifiziert Lublinski seinen Appell zu einer großflächigen „Kultursynthese“, in der alle möglichen polaren Gegensätze auf Grundlage eines strengen Formwillens vereint werden sollen: „[E]rst wenn die moderne Kultursynthese geschaffen ist, früher keineswegs, dann haben wir auch die moderne grosse Kunst, die über ihre Zeiten hinweg in alle Zeiten hineinzuwachsen vermag.“ (AM 43) Diese zeitunabhängige Kunst nennt Lublinski nun „klassisch“, sodass er zusammen mit ihrem Hauptvertreter Paul Ernst auch einer ‚Neuklassik‘ der späten 1900er Jahre zugerechnet wird.Footnote 420

Wiederum im Sinne eines dialektischen Prinzips (und damit durchaus nah an Ricarda Huch) deutet Lublinski die Moderne als ein ausdifferenziertes System von Gegensätzen, die allesamt noch zu ihrer Vereinigung geführt werden müssen. „Der tiefste Grund für die ungenügende Leistung der Moderne“, so Lublinskis Angebot, „liegt in ihrer Unfähigkeit zur Synthese begründet, weil sie bisher nicht jene Kultur- und Zauberformel fand, die gleichsam das ganze Leben mit einem Grundgedanken erfüllte, der kraft der Notwendigkeit herrschte anstatt aus Willkür und Laune.“ (AM 294) An diesem wiederkehrenden Argument lässt sich die implizite Nähe zu ebenjenem Diskurs nachweisen, den Lublinski mit aller Emphase angreifen möchte: Auch die neue Romantik nach Hermann Bahr strebte zu einer Vereinigung der gegensätzlichen Pole, zu einer „Synthese des Individualistischen und Sozialistischen“;Footnote 421 Ricarda Huch definierte Romantik als „Vereinigung von Fühlen und Wissen“ (RO 111); und auch Eugen Diederichs fordert eine „Universalität der Welterfassung“, um „die Welt als etwas Ganzes genießen und betrachten zu können“.Footnote 422 Vor allem in ihren Anforderungen an die moderne Literatur decken sich Lublinski und Diederichs ohne Zugeständnisse: „Welcher Glaube“, so Lublinski, „hat gegenwärtig Anspruch auf die Oberherrschaft, unsere Kultur zur Synthese gelangen zu lassen? Darauf muss die Antwort lauten: der unerschütterliche Glaube an eine universale Humanität, der aber, besser als im achtzehnten Jahrhundert, um die ewigen Zwiespältigkeiten Bescheid weiss.“ (AM 307)

Lediglich in der Auswahl des historischen Vorbilds findet von der Neoromantik zu Lublinskis neuklassischen Synthese-Bestrebungen eine Verschiebung statt, nicht aber in ihrem universalistischen, kultursynthetischen Programm. Die Probleme der ‚alten Romantik‘ tauchen bei Lublinski als Manko der ‚Neuromantik‘ wieder auf, obwohl Aspekte wie Formschwäche und Syntheseschwierigkeiten schon bei Hermann Bahr überwunden werden sollten. Lublinskis Bilanzen lassen sich damit als Hinweis dafür heranziehen, dass die Ziele der literarischen Neoromantik bislang nicht eingelöst werden konnten und lediglich in neuem Gewand wiederkehren: Die triadische Geschichtserzählung der Moderne wird dergestalt reformuliert, dass nicht mehr Romantik und Naturalismus, sondern stattdessen Naturalismus und ‚Neuromantik‘ synthetisiert werden müssen. Für Paul Ernst, Samuel Lublinski und Wilhelm von Scholz lautet das Label für ein Goldenes Zeitalter nun ‚Neuklassik‘, in der eine zeitenthobene Literatur zum Ausgang (aus) der Moderne führt.

‚Neuklassik‘ und ‚Neuromantik‘ sind somit in ihren Forderungen an die Literatur, in ihrer diskursiven Anlage und ihrer Feldposition strukturell homolog. Hanns Heinz Ewers wird beide Strömungen in seinem zeitgenössischen Führer durch die moderne Literatur (1906) entsprechend unter dem Stichwort „Renaissanceromantik“ subsumieren, da sie gleichermaßen das „Abdanken des Naturalismus zugunsten selbstgewählter Erben“ fordern und einlösen:Footnote 423

Renaissanceromantik‘ schrie man, und wieder war ein neues Schlagwort geprägt, die neue Richtung getauft. [...] Die Renaissancemenschen schossen und schießen wie Pilze aus dem Boden. Überall witterte man Schätze, überall grub man. Selbst in dem gottverlassenen siebzehnten Jahrhundert fand man moderne Geister, und Christian Günther mußte sich auf Büttenpapier bequemen. Heinse, Jean Paul und noch so mancher der armen Vergessenen bestieg wieder das Piedestal.Footnote 424

Ob also neue Romantik, neue Klassik oder hysterische Renaissance: Tatsächlich liegt es auch mit Blick auf Samuel Lublinski nahe, die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen den konkurrierenden Subströmungen zu betonen, die sich zwar unterschiedliche Bezugssysteme (bzw. „Erben“) auf die Fahnen schreiben, sich aber programmatisch nur in Nuancen unterschieden. Auch die beiden Bilanzen der Moderne wiederholen ein triadisches Entwicklungsmodell und die Versöhnungshoffnungen zwischen zwei antagonistischen Gesellschaftsbereichen, sodass sich in Lublinskis Analyse (im Vergleich mit Bahr) lediglich das Feindbild vom Naturalismus zur Neoromantik verschoben hat.

Immerhin findet mit der Abkehr von den explizit romantischen Vorbildern auch eine Verschärfung einiger Kernaspekte statt, nachdem der Markt mit neoromantischer Literatur gesättigt erscheint. Zuerst verschwindet in dieser Spätphase, ganz basal, manche intertextuelle Romantik-Referenz zugunsten alternativer Vorbilder, was aber an den zugrundeliegenden Erzählstrategien häufig wenig verändert. Zweitens wird die Forderung nach einer größeren Formstrenge in der Literatur lauter, die sich nur mithilfe eines „starken Willen[s]“ der Literaturproduzenten realisieren lasse (AM 48). Der größte Kritikpunkt in Lublinskis Ausgang der Moderne richtet sich in diesem Sinne gegen die neoromantische Willensschwäche, die flächendeckend in dieser späten Phase überwunden werden soll:

Somit muss bei den Neuromantikern unserer Epoche gerade der Wille nicht besonders entwickelt sein, und was ihnen davon allenfalls beschieden ist, gebrauchen sie nicht, um zu erobern und zu handeln, sondern um die Aussenwelt abzuhalten und sich in das Reich ihrer Träume innig einzuspinnen. Die Passivität wird ein Prinzip, und weil in ihrem Blut kein Eisen ist, so halten sie Grösse für Heuchelei und glauben nur an die Zartheit, die sie in jedem Fall weit über Kraft und Willen stellen. (AM 53)

Vor allem auf Hugo von Hofmannsthal münzt Lublinski seine Kritik an der Willensschwäche, „weil er die Neuromantik vielfach in seiner Person zusammenfaßt und in einer typischen Weise ihre Vorzüge, Mängel und Schicksale repräsentiert“.Footnote 425 Hofmannsthal und die Neoromantik haben demnach nur als entwicklungsgeschichtliche Durchgangsstation ihre Berechtigung, da sie die Stimmungs- und Ahnungstechniken verfeinert haben. Nun aber müsse man Hofmannsthal bekämpfen, auf dass, so Lublinski, „hoffentlich seine Gegenwart von der Zukunft verleugnet wird“ (AM 92)

An Lublinski als schärfstem Kritiker der Neoromantik zeigt sich, dass auch ein selbsterklärter ‚Neuklassiker‘ die wesentlichen Forderungen der Neoromantik reproduziert und strukturell weiterführt – in seinem Spätwerk sogar bis in die biologistisch-monistische Argumentation hinein. Ungeachtet der aufschlussreichen Entwicklungsgeschichte, die Lublinski formuliert, zeigen sich alternative Traditionsaneignungen (wie ‚Renaissancismus‘ und ‚Neuklassik‘ um 1900) lediglich als Verschärfungen der Neoromantik. Zwar wird der Begriff von ‚Romantik‘ abgestreift und harsch kritisiert, was u. a. auf seinen Verlust an symbolischem Kapital hinweist, um mithilfe von neuen Bezugsgrößen wie ‚Klassik‘ einen formalästhetischen Innovationsdruck an Literatur nur noch drastischer zu formulieren. Mit romantischen Motiven möchte diese neue Tendenz nun nichts mehr zu tun haben, womit die Neoromantik (im hier definierten Sinne) ihrem Ende entgegen geht – ohne dass eine ‚Neuklassik‘ sie langfristig überdauern würde.

2.3.2 Überwindung der Ironie: Neuromantik (1906) als Entwicklungsstation bei Ludwig Coellen

Nachdem ‚Romantik‘ im Eugen Diederichs-Verlag bereits kämpferisch als eine „Sehnsucht nach der Eroberung neuer Gebiete“ definiert wurde,Footnote 426 erscheint im Jahr 1906 eine Monographie im selbigen Verlag unter dem kurzen Titel Neuromantik, die diesen Topos in eine kulturphilosophische Entwicklungsgeschichte einbettet.Footnote 427 Auf den ersten Blick kann diese Essaysammlung, die eine These der Kulturschwankung ausbreitet, als emphatische Verteidigung des Maeterlinck’schen Mystizismus gelesen werden. Auf den zweiten Blick aber legt Coellen eine Kulturmorphologie vor, die populärphilosophisch an die zeitgenössischen Debatten anschließt und ein in sich kohärentes Entwicklungsmodell anbietet, das tatsächlich einige Hauptprobleme der Neoromantik aufdecken kann. Wo Samuel Lublinski als schärfster Kritiker der Neoromantik auftritt, da ist Coellen ihr emphatischer Verteidiger, der mit offengelegten Prämissen die geschichtsphilosophische Legitimation wiederkehrender Romantik-Aneignungen nachreicht.

Über den Autor Coellen ist insgesamt wenig bekannt; vor allem in der Forschungsliteratur ist kaum eine sichere Information über den publikationsfreudigen Kunsthistoriker und Philosophen zu finden.Footnote 428 Lediglich auf Grundlage seiner Schriften lässt sich das Werk Dr. Ludwig Coellens (1875–1945) grob kontextualisieren: Nach einer Promotion im Fachbereich der Geologie (Der Gegensatz in den aussertropischen Klimaten der Continentalen West-und Ostküsten auf der Nordhemisphäre, 1901) wendet sich Coellen bald der modernen Literatur und vor allem dem Drama zu, das er aus einer philosophischen Perspektive einzuordnen versucht (Modernes Drama und Weltanschauung, 1903). Coellen gibt sich als literarisch kundiger Philosoph zu erkennen, dessen eigene Weltanschauung stark auf der Lektüre Hegels fußt – was sich auch im anschließenden Neuromantik-Essayband niederschlägt.Footnote 429 Coellen kommt das philosophiegeschichtliche Verdienst zu, Hegels Ansatz neu zu lesen und auf die zeitgenössische Kulturlandschaft anzuwenden. Mit Blick auf die Hegelrezeption der Moderne gelangt er dabei zu der These, „daß man über Darwin Hegel […] vergaß“, obwohl Darwins Entwicklungslehre das dialektische Prinzip eigentlich empirisch bestätige (NR 63). Die Unpopularität Hegels fällt schließlich auch Coellens morphologischen Studien zur Last: Über eine produktive Rezeption des Neuromantik-Bandes lassen sich zeitgenössisch kaum Nachweise finden;Footnote 430 und auch Coellens spätere Monographien zur Kunst- und Kulturgeschichte, die den Hegelianischen Ansatz weiterverfolgen, nehmen in den 1910er und 1920er Jahren eine Randstellung ein.Footnote 431 Zwar ist Coellen damit heute ein Vergessener der Wissenschaftsgeschichte; allerdings liefert er im Neuromantik-Band ein konzises Modell von Neoromantik, das einen unerwartet erhellenden Blick auf die Prozesse rund um die Wiederaufnahme der Romantik anbietet.

Prämissen: Coellens Theorie der zyklischen Kulturschwankung

Die Aufsatzsammlung zur Neuromantik, in der – dem Vorwort zufolge – bereits erschienene Essays zu einer „organische[n] Einheit“ zusammengefasst werden,Footnote 432 eröffnet mit der selbstbewussten Verteidigung eines unvernünftigen „Mystizismus“ (NR 3). Intuition einerseits und rationalistische Logik andererseits werden vom Text nicht als gleichwertige Mittel der Welterkenntnis behandelt. Stattdessen stellt der intuitive, mystizistische Zugriff laut Coellen, anschließend an Maeterlincks Schatz der Armen, eine höhere Entwicklungsstufe im Vergleich zum Vernunftdenken dar. Ein Zugang zur Welt über Intuition, wie ihn Kunst und Literatur anwenden, führe zu einer fortschreitenden Bewusstwerdung über das eigene „Sein“, welches wiederum als die höchste göttlich-biologische Entität definiert wird.Footnote 433 Um sich dem ‚Sein‘ also bewusst zu werden, müssen die jeweiligen Tendenzen im künstlerischen Bereich ernst genommen werden. Denn: Jede ethische Kunst vermittelt eine „rätselhafte Ahnung der Weltseele“, bei Coellen: „Stimmung“ genannt, und im Studium der Kunst lassen sich Ziel und Symptom eines ‚Seins‘ im Sinne der Weltseele erkennen, was als „Kulturentwickelung“ definiert wird (NR 18). So weit, so esoterisch.

Die Begründung dieser mystizistischen Annahmen aber geschieht über eine Rekalibrierung des ‚Entwicklungs‘-Begriff und steht so mit beiden Füßen in der zeitgenössischen Wissenslandschaft. „Welches ist denn das rechte Verhältnis zwischen dem logischen Erkennen und der Intuition?“ (NR 11), fragt Coellen und referiert damit auf eine erkenntnistheoretische Debatte, die viele Akteure zur Jahrhundertwende umtreibt.Footnote 434 Er liefert folgende Antwort: „Diese Frage, deren Lösung die Grundfrage der modernen Weltanschauung ist, hat uns Hegel beantwortet; er hat das Dilemma beseitigt durch die Entwickelungsidee: dem allgemeinen Sein ist die Entwickelung immanent.“ (NR 11 f.) Die Kulturentwicklung sei „der wahre Sinn unseres Lebens“, so Coellen, und sie beruhe auf einem beständigen „Fortschritt, der ein bestimmtes Ziel in sich schließt, eine Entwickelung in meliorem partem“ (NR 12).Footnote 435 Ernst Haeckels Bestseller über die Welträtsel (1899) bleibt zwar unerwähnt, allerdings liefern Haeckels Werke die wissensgeschichtliche Grundlage für den hier verwendeten Entwicklungsbegriffs, der zur Jahrhundertwende kursiert und von Coellen nun auf einen früheren Urheber, nämlich Hegel statt Haeckel, umgemünzt wird.Footnote 436

In einer solchen Geschichtserzählung wird das „Mysterium der Einheit des Seins“ in das Fortschrittsmodell der Moderne eingebettet (NR 12). Die Intuition als Erkenntnismethode erfährt bei Coellen eine doppelte Rechtfertigung: Zum einen sei die intuitive ‚Ahnung‘ von Entwicklungsprozessen der logischen Erkenntnis vorgelagert, da der Prozess der rationalen Bewusstwerdung selbst im Werden begriffen ist; die Intuition reagiert demnach schlicht zügiger auf Veränderungen als die Vernunft. Zum anderen zeige sich in den aktuellsten Kulturströmungen, so auch in der ‚Neuromantik‘, per se die am höchsten entwickelte Bewusstseinsstufe einer Kultur, was der Intuition nach Maeterlinck allein aufgrund ihrer Aktualität im Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsdiskurs eine historische Legitimität verschafft. Modernisierung wird als ein Prozess der Bewusstwerdung verstanden, und so „verschwindet der Dualismus zwischen dem logischen und dem intuitiven Erkennen, soweit er verschwinden kann: die Entwickelung der Vernunftkultur ist eine stetige Eroberung im Reiche des reinen Seins, ist ein Werden des logischen Erkennens zur Intuition.“ (NR 14)

Dieser historische Wandel von der Vorherrschaft der Vernunft zur Intuition, vom Naturalismus zur Neoromantik, vollzieht sich laut Coellen in der jüngsten Geistesgeschichte nicht zum ersten Mal, sondern erscheint stattdessen als ein ewig wiederkehrender Prozess, der – nach dem bekannten romantischen Prinzip – selbst einem triadischen Schema folgt. Jede „Kulturschwankung“, so bezeichnet Coellen die Genese einer neuen „Periode“ mit einem einheitlichem „Stil“ (NR 27), wird eingeleitet durch eine Zeit des Naturalismus, der die vorherrschenden Normen, Stilregeln und Wahrheiten außer Kraft setzt. „Überschätzung der dialektischen Erkenntnisse, Abweisung des Metaphysisch-Religiösen sind die Zeichen eines solchen Naturalismus.“ (NR 28) In einem zweiten Schritt wird die naturalistische Zersetzung durch eine Romantik abgelöst, die eine kompetitive Suche nach „neue[n] Form[en] der Erscheinung“ darstellt: „[D]ie romantische Kunst ist eine Kunst des Kampfes, der Eroberung“, so Coellen deutlich, und es ist ein „Kampf, der auf Stilbildung hinausläuft“ (NR 29):

Erfahrung und Seinsidee sind nicht harmonisiert, ja bilden vielfach unvermittelbare Gegensätze. Der Künstler, den das ungebändigte, unnormierte Chaos der Dinge bedrängt, […] sucht die künstlerische Form als die Harmonie von Erfahrung und Seinsidee; er sucht das Chaotisch-Mystische, das alles Leben durchsetzt, in den dialektischen Prozeß des Bewußtseins zu fassen. Und da die Kunst ihre Normen erst gewinnen muß, so gehört es zum Wesen des Romantischen, ein Unfertiges, unbegrenzt und ungemessen Schweifendes zu sein. (NR 29f.)

Sobald feste Stilnormen nach den Kämpfen der Romantik gefunden sind, folgt die dritte und finale Phase: Die Romantik wird abgelöst durch eine Klassik, welche Kunstwerke „in vollendete[r] Harmonie“ und nach stabilen Prämissen erschafft. „Klassische Kunst ist eine Kunst des Friedens, des ruhigen Besitzes“ (NR 30). Allerdings, und in diesem Aspekt unterscheidet sich Coellens Geschichtsteleologie von anderen zeitgenössischen Ansätzen, ist die Kulturentwicklung mit der Etablierung einer neuen Klassik keineswegs abgeschlossen: Die klassische Periode „trägt immer schon […] den Keim des Zerfalles“ in sich (NR 31), da ein neuerlicher Naturalismus ihre etablierten Normen angreifen und im Zuge der romantischen Eroberung durch einen aktuelleren Stil ersetzen wird.

Naturalismus, Romantik und Klassik also bilden jeweils eine abgeschlossene Stilperiode, die auf ihrem Höhepunkt von einer neuen Periode abgelöst wird.Footnote 437 Coellen fasst ein solches „Idealschema“ des Kulturverlaufes in wenigen Sätzen zusammen:

Eine naturalistische Epoche vernichtet eine bestehende Stilharmonie; sie ist in gleicher Weise die Zeit des Kunstverfalles und der Vorbereitung einer neuen Kunst, einer neuen romantischen Stufe, einer Stufe der Stilbildung. Klassizität ist die Vollendung dieses Stils zu festem Maß und fester Umgrenzung: so wird das Klassische jeweils das Ende einer Romantik. (NR 30f.)

Mit der folgenden Revision des Klassischen durch einen Naturalismus beginne die Kulturschwankung von neuem, was Coellen an drei historischen Beispielen vorführt: am „Übergang zum Christentum“ (NR 35);Footnote 438 am Periodenwechsel „vom Mittelalter zur Neuzeit“, der Renaissance (NR 37);Footnote 439 und an der romantischen Schule um 1800. In jeder dieser historischen Ausprägungen offenbart sich wiederum das einheitliche Telos der Kulturentwicklung: Das Wesen des ‚Seins‘ zielt konsequent auf die „Steigerung des Bewußtseins“ (NR 26), genauer: auf „die Erhebung des Unbewußten ins Bewußte“ (NR 61). Eine eigene romantische Note liegt in der tendenziellen Unabschließbarkeit dieses Vorgangs: Indem das Ziel des Seins ausschließlich als Entwicklung definiert wird, erfüllt es sich in jedem kulturellen Fortschritt und formuliert sich dennoch in jeder Periode neu. Das Coellen’sche Modell der Kulturentwicklung bleibt damit unabschließbar, was es selbst zum Ausdruck eines neoromantischen Denkmodells macht.

Diagnose: Coellens Problemdifferenz zwischen alter und neuer Romantik

„Soll denn die romantische ‚Blaue Blume‘ wieder zu einer phantastischen Blüte erstehen?“, fragt Coellen mit Blick auf die gegenwärtige Neuromantik (NR 26), um die Frage entschieden zu verneinen. Auf Grundlage des Entwicklungsmodells beweise eine neue Romantik nur, „daß auch die Gegenwart eine Zeit der Kulturschwankung, eine Zeit der Stilbildung ist, daß auch wir wieder in einer romantischen Stufe begriffen sind, die zur Klassizität drängt.“ (NR 39) ‚Neuromantik‘ ist für Coellen somit keine epigonale Auferstehung der alten Romantik; vielmehr handelt es sich um eine weiterentwickelte Nachkommenschaft:

Wenn wir […] die alte Romantik untersuchen und mit der Gegenwart vergleichen, dann freilich werden sich Vergleichspunkte die Fülle bieten. Dann wird sich zeigen, daß ihre Probleme die Grundlage zu den unseren bilden, daß die Gegenwart dort ansetzt, wo diese Zeit endete, mit einem Wort, daß die alte Romantik das Fundament der Gegenwart darstellt. (NR 39f.)

Die beiden Epochen verbindet zum einen eine strukturelle Verwandtschaft; zum anderen hebt sich Coellens Neuromantik durch eine höhere Entwicklungsstufe von der alten Romantik ab, sodass umgekehrt zeittypische Differenzen zutage treten.

Die strukturelle Verwandtschaft zur „alten Romantik“ (NR 39) führt der Text in einer ausführlichen Analyse der Kulturschwankung um 1800 vor. Erneut wird die kulturelle Situation des frühen 19. Jahrhunderts mithilfe zeitgenössisch-‚moderner‘ Vokabeln revitalisiert, um die Gemeinsamkeiten grell aufleuchten zu lassen: „Eine nervös gesteigerte Empfindsamkeit wird zur Zeitkrankheit“, lautet die Diagnose für eine „verzweifelnde Dekadence“ um 1800 (NR 42), und exemplarisch charakterisiert Hölderlin „am besten den Typus des dekadenten Ästheten“ (NR 48).Footnote 440 Allerdings wird Romantik nicht nur als Phase der Kulturschwankung, sondern auch als Periode definiert: Im Zuge einer problematischen Begriffsdopplung bezeichnet Coellen ‚die romantische Schule‘ zum einen als die gesamte Stilperiode von der zweiten Hälfte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, zum anderen besitzt die historische Romantik selbst eine naturalistische, eine romantische und eine klassische Phase. Aufklärung und Sturm und Drang stellen einen ‚Naturalismus‘ der Romantik dar, als deren Vertreter Lessing, Winckelmann, Goethes Götz von Berlichingen und Schillers Räuber angeführt werden. Vornehmlich die ‚romantische Romantik‘ muss sich bei Coellen dem Vergleich mit der Gegenwart stellen: Hier koexistiert der „Typus des Übergangsmenschen, […] des Dekadenten“ (NR 41) mit einem „wirklichkeitsfremde[n] Ästhetentum“ (NR 44), denen die kämpferischen Romantiker jeweils zugeordnet werden.Footnote 441 Die Klassik der Romantik schließlich lasse sich vor allem bei Schopenhauer und Goethe seit der Iphigenie fassen, in welcher „die romantische Leidenschaftlichkeit, das romantische Übermaß zur hellen Klarheit einer poetisch-erhabenen Seelenruhe“ gezähmt werde. (NR 58)

Alle drei Phasen aber verbindet ein gemeinsames Problem, das auch in der Klassik (der romantischen Periode) nicht gelöst, sondern lediglich in Form gepresst wird. Das grundlegende „Dilemma […], das den romantischen Kampf herausbeschwört“, lautet wie folgt: „[D]as Bewußte steht starr gegen das Unbewußte, […] der Individualismus gegen die Hingabe an das All.“ (NR 52) Das Hauptproblem der romantischen Schule bestehe demnach aus einem Konflikt zwischen dem autonomen Subjekt und seiner Abhängigkeit von der Welt, was Coellen als Problem des „absolute[n] Individualismus“ (NR 62) gegen einen „bewußten Pantheismus“ beschreibt (NR 51). Diese Krux könne die romantische Schule von Kant bis Schopenhauer nicht lösen:

Das ist der Fortschritt und die Signatur dieser Kulturperiode: das Bewußtsein hat sich des Gegensatzes von Bewußtem und Unbewußtem bemächtigt. Und das ist die Schranke, die den Stil der Periode, auch in seiner klassischen Ausbildung durch Goethe, zum zeitlich-vergänglichen macht: für die Versöhnung des Gegensatzes fehlt die Lösung[.] (NR 53)

Durch die ständige Unerreichbarkeit einer Versöhnung wird „die Weltanschauung der Romantiker“, so Coellen, „zur tragischen“ (NR 53): Die Suchbewegung der Romantik wird ständig enttäuscht, da sie in ihrem starken Subjektivismus zugleich einen „unerfüllbare[n] Wille[n] zum Absoluten“ trägt und ihm entsagen muss (NR 54).

In diesem Aspekt lässt sich dem Romantik-Konzept Coellens, ungeachtet seiner mystizistischen Prämissen, eine gewisse Nähe zu aktuelleren Forschungsmodellen von Romantik zugestehen, wie sie auch dieser Arbeit zugrunde liegen.Footnote 442 „Die unüberbrückbare Dualität von Individuum und Allheit, diese höchste immanente Tragik“, so Coellen, „war für diese romantische Kunst das Gestaltungsprinzip“ (NR 55): Mit diesen Worten ließe sich die Kippfigur zwischen Partikularisierung und Synthesebemühung auch im Sinne des pragmatischen Romantik-Modells reformulieren.Footnote 443 Nur trägt die Beschreibung bei Coellen eine pejorative Note: Vor allem die Phase der ‚romantischen Romantik‘ flüchte sich aufgrund des unüberwindbaren Widerspruchs schließlich in „Traum“ und in „Ironie“, die als Textphänomene abgewertet werden (NR 54). Die Periode der romantischen Schule beendet in dieser Geschichtserzählung erst Richard Wagner, der Tristan und Isolde im Liebestod „zur Erlösung“ führt: „So wird Wagner der Vollstrecker der Romantik. Die Idee der Erlösung ist ihr Ende.“ Damit sei die Romantik zugleich die letzte abgeschlossene Periode der Kulturschwankungen, bevor eine „neue Kultur“ mit dem Naturalismus eingesetzt hat (NR 56).

In diesem Punkt zeigt sich für Coellen auch die fundamentale Differenz zwischen alter und neuer Romantik, welche an das ungelöste Problem ihrer Vorgängerperiode anknüpft. „Eine unendlich bedeutsame Aufgabe, die die romantische Schule zurückließ, hat die Gegenwart gelöst“, so Coellen (NR 60), und ihre Lösung besteht in der Überwindung der als tragisch empfundenen Ironie:

In der Romantik war das Individuum absolut gesetzt, und es war ihr Schicksal, daß ihr alle Betätigungen des realen Lebens, alle Beschränkungen des Individuums zur „Ironie“ wurden. Die Gegenwart hat diese Ironie überwunden; sie hat das Individuum wieder in der Wirklichkeit verankert, indem sie es als ein Glied in der Entwickelungsreihe der Organismen erkannt hat, indem sie ihm eine aus der Entwickelung folgende Zielstrebigkeit zuschreibt. (NR 62)

Statt eines absoluten Individualismus, wie ihn Coellen bei Fichte findet, herrsche in der Neoromantik um 1900 ein „bewusste[r] Relativismus“ vor, der keine Ironie mehr benötige. In der Kulturperiode ‚Moderne‘ habe sich demnach die Grundkonstellation verändert: Die Abhängigkeit des Individuums von der Welt wird als unhintergehbar anerkannt und um den Entwicklungsgedanken (als das wesentliche Grundprinzip von ‚Sein‘) bereichert. Als Folge lässt sich Fichtes Konzept des allmächtigen Ichs zu einem abhängigen Ich umdeuten, was Coellen jedoch als Chance versteht: Das Subjekt kann die Weltenseele, das Absolute oder das Sein aktiv gestalten, indem es eigenmächtig zu seiner Entwicklung beiträgt, indem es also sich selbst entwickelt. Das neoromantische Streben nach ‚Entwicklung‘ bedeutet für Coellen die Lösung des romantischen Problems und trägt zugleich eine neue Signatur: „Die Erkenntnis der Zielstrebigkeit des Weltgeschehens ist uns ein Agens für die Entwickelung der Persönlichkeit geworden“, so Coellen (NR 64), und der moderne Mensch will nicht mehr „die absolute Erkenntnis, er sucht das Glück nicht mehr als eine im Absoluten ruhende Seligkeit. Er kennt den eigenen relativen Wert als Glied einer Entwickelung, die über ihn hinaus will; er findet sein Glück und einen zureichenden Lebenssinn in der Erhöhung der Eigenpersönlichkeit, auf daß sich die Menschheit erfülle.“ (NR 62)

Das Individuum findet sich in der modernen Periode also unabdingbar mit der Wirklichkeit vernetzt und strebt in einer neuen Romantik nach Weiterentwicklung der Persönlichkeit und des ‚Lebens‘. Hofmannsthal, Stefan George, Maeterlinck (trotz mangelnder „Gestaltungskraft“, NR 97 f.), und nun auch Herbert Eulenberg und Ernst Hardt tragen zu diesem Vorhaben bei, sodass die Neoromantik für Coellen keine Einzelströmung darstellt, sondern als Haupttendenz der Gegenwart alle Künstler implizit oder explizit beschäftigt. Ein anschauliches Beispiel für die Aktualität und die Differenz der beiden Romantiken liefert Coellen in der neoromantischen Liebesdarstellung: Erotik und Liebe wurden in der romantischen Schule noch als „gesonderte Dinge“ behandelt, sodass die Liebe zu einer abstrakten, unerfüllbaren „Idee“ versank (NR 65). Erst ein neoromantisches Werk wie Richard Dehmels Zwei Menschen (1903), das „so typisch romantisch den Charakter des Kampfes und der Eroberung“ trage (NR 108), fügt die erotische Leiblichkeit zur Liebe hinzu und „erkennt die Liebe als die lebendige Erfüllung ihrer Sehnsucht nach dem All, als ein Ideal, das dem Leben immanent ist“ (NR 65). Die ‚Neuromantik‘, so das Fazit, löst den Antagonismus der alten Romantik zwischen Welt und Individuum zugunsten eines in der Welt verankerten Individuums auf.

Diskussion: Die Überwindung der Ironie als Signatur der Neoromantik?

Indem Coellen diese Annäherung von Individuum und Welt ganz konkret als ‚Überwindung der Ironie‘ beschreibt, bringt er einen gemeinsamen Impuls aller neoromantischen Bemühungen der Jahrhundertwende auf eine Formel. In einer Forderung scheinen sich die neoromantischen Ansätze und ihre Kritiker einig: Der Eskapismus in fremde Welten, der einer ‚alten Romantik‘ noch attestiert wird, soll in der neoromantischen Gegenwart zugunsten einer Orientierung an lebendiger Wirklichkeit überwunden werden. Die Vernetzung von Subjekt und Welt also, die Coellen als Grundfrage anführt, lässt sich retrospektiv als eine der zentralen Forderung des Romantik-Diskurses zur Jahrhundertwende belegen: Schon Hermann Bahr fordert die naturalistische Romantik als eine „Synthese des Individualistischen und Sozialistischen“;Footnote 444 bei Heinrich Mann sind es die Stimmungen, die auf den Nerven erzeugt werden und damit einen biologischen Eindruck im Menschen hinterlassen;Footnote 445 und vor allem seit den Werken von Ricarda Huch haftet dem Romantik-Verständnis der Jahrhundertwende ein Antagonismus von Kunst vs. Leben an, der in der romantischen Periode angeblich nicht aufgelöst wurde. Eine zentrale Forderung der Neoromantik lässt sich damit wie folgt beschreiben: Ein sensualistischer Idealismus (der Romantik) soll mit dem monistischen Naturwissen der Jahrhundertwende vernetzt werden, um den Weltfluchtreflex der Romantik zu überwinden und vice versa einer als materialistisch empfundenen ‚Moderne‘ zu einem ausgeglichenen Verhältnis von Gefühl und Verstand zu verhelfen.

Gerade der Begriff der Ironie aber wird schon zur Jahrhundertwende verschiedenartig ausgelegt. Wo Huch die Ironie noch als synthetischen Versuch interpretiert, dient sie Coellen als konkretes Symptom für das gescheiterte Romantik-Projekt: Ironie stelle demnach die in Form gegossene Unmöglichkeit einer Versöhnung von Leben und Subjekt dar und liefere ein Anzeichen der einseitigen Überschätzung von Traum, Mystik und Subjekt.

Das Leben war ihnen, den Mystisch-Sehnsüchtigen [Romantikern, R.S.], ein Schein, eine mindere Wirklichkeit als der Traum. So träumten sie im Leben, träumten in der stillen, romantischen Mondscheinnacht und träumten im Dunkel des Waldes und in der Einsamkeit des Gebirges. Wie anders aber konnte man das Leben überwinden als durch die „Ironie“? Mußte denn nicht die Betrachtung jedes Handelns, jedes Gedankens und jeder Empfindung, die sich auf das reale Leben bezogen, sich dem zur „Ironie“ wenden, der nur das letzte Sein ersehnte? (NR 54)

Für Coellen stellt Ironie damit nicht nur ein konkretes Formverfahren, sondern eine Realitätsflucht in abstrakte Selbstbezüglichkeit dar (die Anführungszeichen zeugen von dieser abwertenden Note). Die Synthese von Subjekt und Welt scheitere also in der historischen Romantik und könne erst in der jüngeren „Gegenwart […] überwunden“ werden (NR 62).

Neoromantik im Sinne Coellens wäre damit eine Romantik ohne Ironie. Blickt man auf Grundlage dieses Hinweises und mithilfe eines geschärften, textanalytischen Ironie-Begriffs zurück,Footnote 446 dann fällt auf, dass gerade ironische Brechungen oder auch poetologische Verteidigungen von Ironie in den Aussagen z. B. der Diederichs-Akteure signifikant fehlen. „Ernste Menschen, die nach Verinnerlichung streben, […] finden sicherlich unter den Büchern des Verlages viele Freunde“, so lautet ein Diederichs-Werbetext von 1902,Footnote 447 und auch für Hermann Hesse blüht „[d]ie blaue Blume […] auf dem Grund jeder ernsten und sehnsüchtigen Seele“.Footnote 448 Der ‚Neuromantiker‘ im Diederichs-Sinne definiert sich als ‚ernst‘ statt ironisch – was allerdings nicht auf alle Autoren neoromantischer Texte zutrifft (so z. B. nicht auf Paul Scheerbart, Otto Julius Bierbaum und auch für die Brüder Mann). Gerade im Aspekt der Ironie zeigt sich mithilfe von Coellen eine heuristische Trennlinie, welche die Unterscheidung zwischen einer ‚ernsten‘ und einer ‚ironischen‘ Neoromantik, zumindest ihrem diskursiven Selbstverständnis zufolge, ermöglicht. Auffällig ist zudem, dass sich gerade eine neoromantische Ernsthaftigkeit, die sich in holistischen und monistisch grundierten Weltmodellen äußert, an den Begriff der Romantik heftet, während ironisch verfahrende Autoren zwar Märchen und intertextuelle Romantik-Wiederaufnahmen produzieren, von der ‚Neuromantik‘ als Diskursoperation aber mehr und mehr ausgeschlossen werden. In der Ironie, die unweigerlich zu den Texten der historischen Romantik hinzugehört (und dort Scherz und Ernst zum Oszillieren bringt), lässt sich ein trennendes Moment zwischen dem anti-ironischen ‚Neuromantik‘-Diskurs und alternativen Neoromantiken ausmachen, die sich vor allem in der Frühzeit des Diskurses noch zeigen.Footnote 449

Obwohl Coellens Kulturmorphologie eine plausible Romantik-Definition liefert, lässt sich sein Konzept von anti-ironischer Neoromantik vor allem den Texten und Autoren des Diederichs-Verlags zuordnen. Signifikant ist schlussendlich auch die Nähe dieser ‚Neuromantik‘-Apologie zu den Argumenten ihrer Kritiker: Eine Weltferne moniert auch Samuel Lublinski an der ‚Neuromantik‘, und beide prognostizieren in erstaunlicher Übereinstimmung eine baldige ‚klassische‘ Phase moderner Literatur mit fester Verankerung von Kunst in der Wirklichkeit.Footnote 450 Die Diagnose, dass „die Welt […] wieder romantisch geworden“ sei und sich unter dieser Voraussetzung dem ‚Leben‘ annähern soll (NR 69), teilen somit beide, nur ergibt sich für Coellen auf dem Hintergrund des Entwicklungsmodells eine andere Bewertung der Neoromantik und ihres Übergangscharakter:

Sollen wir es bedauern? Sollen wir nur die klassische Kunstform lieben und sie darum die höhere nennen, weil sie scheinbar allein das Wesen der Kunst erfüllt, in den Dingen die Harmonie der Erscheinung und ihres immanenten Wesens zu zeigen? Können wir nicht ebensowohl sagen: alle Kunst ist Sehnsucht nach unerreichtem Leben, und darum ist das wahre Wesen der Kunst romantisch? Entspricht nicht das Unvollendete, Unbegrenzte des Romantischen dem Wesen der Welt, deren Geschehen ein fortdauernd unvollendetes, unbegrenztes, werdendes ist, und das die Kunst abbildet? Wir haben keinen Grund, die eine Kunstform über die andere zu stellen. […] Wir haben zu bedenken, daß jede Zeit ihre Wahrheit und ihr Recht hat. (NR 69f.)

Neoromantik ist also um 1906 selbst bei ihren Verteidigern im Begriff, historisch zu werden und durch eine neue Klassik überwunden zu werden. Das Synthese-Versprechen der ursprünglichen „Mystik der Nerven“ konnte mithilfe der Neoromantik nicht eingelöst werden und hofft weiterhin auf seine Realisation.Footnote 451 Die Forderungen nach dieser Synthese aber grundiert die literarische Landschaft der Jahrhundertwende über die Neoromantik hinaus – auch wenn sich die Romantik weiterhin als geeigneter und beliebter Gegenstand anbietet, die Frage nach dem idealistischen Subjekt in einer materialisierten Welt zu diskutieren.

2.3.3 Das Ende der Neoromantik: Abwendung, Historisierung und Überwindung

Im Folgenden soll die These plausibilisiert werden, dass die Neoromantik in den Jahren zwischen 1904 und 1910 einerseits auf dem Höhepunkt ihrer medialen Verbreitung angekommen ist, andererseits aber ihr Innovationspotenzial und symbolisches Kapital deutlich verbraucht hat. Das Jahr 1910 kann damit als Endpunkt des Diskurses datiert werden: Die affirmativen Aussagen über eine neue Romantik der Gegenwart verschwinden zunehmend aus den literarischen Zeitschriften, um radikalen Kritiken zu weichen. Auch zentrale Akteure wenden sich von der Neoromantik als einer vergangenen Episode ab: „Wir brauchen Kraft und Willen und keine Gefühlsverfeinerung mehr“, so Eugen Diederichs in Distanz zu seiner eigenen ‚neuromantischen‘ Ausrichtung. „Unsere Nerven sind in dem letzten Jahrhundert so kultiviert worden, dass jetzt einmal eine Reaktion einsetzen muss.“Footnote 452 Es sind vor allem drei Argumente, die im Diskurs dieser letzten Phase dominieren und zu einem baldigen Verschwinden der Neoromantik aus der kulturellen Selbstdefinition der Jahrhundertwende führen: erstens die explizit geäußerte Abwertung von ‚Neuromantik‘ als literarische Mode; zweitens eine Historisierung der Neoromantik als auslaufende oder bereits vergangene Station; und drittens die Ankündigungen sich anschließender Überwindungsansätze, die mal in eine neue Klassik, mal in eine „dritte Romantik“ münden.

Alle drei Argumente lassen sich bis in die Tagespresse verfolgen. Im Mährischen Tagblatt vom 13. Januar 1909 erscheint eine Rezension von Emanuel Ulrich, der Ernst Hardts Drama Tantris, der Narr (1907, UA: 1908) zum Anlass einer Reflexion über die Neoromantik und ihren gegenwärtigen Status Quo nimmt. Der folgende Ausschnitt illustriert zum einen die Popularisierung der Neoromantik bis auf die lokale Ebene; zugleich kündigen sich auch hier die Tendenzen der Abwendung, Historisierung und Überwindung an:

Die ewige blaue Blume der Romantik ist in diesem Stücke aufs neue aufgeblüht […]. Wir stehen mitten drin in der literarischen Epoche der Neu-Romantik, deren kräftige Keime im Boden des Naturalismus nicht nur versteckt lagen, sondern aus ihm heraus auch schon nicht nur saftige Triebe, sondern auch einige Frühlingsboten der neuen Aera herauswachsen ließen. […] Aber es zeigt sich schon da ganz deutlich, daß diese Neuromantik eben nur eine Phase der Entwicklung, daß sie ein Kind des Naturalismus ist und seine Familienzüge trägt, – nicht, daß sie ihn bloß abgelöst hätte, wie auf einem Throne, dessen Geschlecht ausgestorben, eine fremde Dynastie. Nein, sie übernahm die Regentschaft erblich als des Naturalismus jugendliche Primogenitur, Fleisch von seinem Fleische und Geist von seinem Geiste. Deshalb unterscheidet sich aber auch die Neu-Romantik, die Romantik des 20. Jahrhunderts, von jener des 19. Jahrhundertes. Also, wenn „romantisch“ – nach einer Schlegel’schen Definition – so viel heißt als: „wunderbar, mit einem poetischen Zauber umgeben, die Phantasie anregend“, so gebühren der Neu-Romantik alle die aufgezählten Schlegel’schen Attribute mit dem Zusatze: „und psychologisch begründet“. Das ist der Unterschied. Eine Romantik von heute, der die psychologische Begründung ermangelte, wäre kein Fortschritt in der Entwicklung, sondern eine literaturhistorische Reaktion. Erscheint somit in unseren Tagen ein Kunstwerk, dem der Stempel der Romantik aufgedrückt ist, dann wird es das oberste und wichtigste Kriterium sein, zu untersuchen, ob und wie weit es der neuen Forderung nach psychologischer Begründung gerecht wird.Footnote 453

Im Jahr 1909 stecken die Zeitgenossen und ihre literarischen Werke, Ulrich zufolge, noch „mitten drin“ in einer Phase der Neoromantik, von der allerdings schon „saftige Triebe“ zu einer „neuen Aera“ herauswachsen. Die ‚Neuromantik‘, das kündigt auch Lublinskis Ausgang der Moderne an, wird als ein Ende und eine letzte Phase von ‚Moderne‘ überhaupt gedeutet: „Unser eigenes Erkennen sagt uns mit Bestimmtheit“, so Willy Rath im Anschluss an Lublinski, „daß die literarische Bewegung, die wir (ich glaube, nach Hermann Bahrs Beispiel) mit dem allzu relativen Namen der Moderne kennzeichnen, nunmehr abgelaufen ist.“Footnote 454 Eine Überwindung der Moderne wäre hierbei, so auch das Programm der Neuklassik,Footnote 455 eine Abkehr von der Anfälligkeit für modische Tendenzen – hin zu einem ‚starken Willen‘, der sich jenseits von Märkten und Moden in festen Formen ausdrückt.

Omnipräsente Gegenstimmen: Abwertungen und Historisierungen

In den etablierten Organen zu aktueller Kunst und Literatur finden sich nach 1904 kaum noch ernstzunehmende Verteidigungen einer neoromantischen Gegenwartskultur. Die einschlägigste Kritik legt Kurt Walter Goldschmidt vor, ein ebenfalls publikationsfreudiger und heute unbekannter Philosoph mit literarischen Ambitionen.Footnote 456 „Wie rasch in unsern Zeitläuften die literarischen Moden wechseln“, so Goldschmidt einleitend, „das hat jedem Beobachter moderner Geistesentwicklungen die einigermaßen sprunghafte Ablösung des radikalsten Naturalismus durch eine ebenso einseitige und diktatorisch auftretende ‚Neu-Romantik‘ schlagend dargetan.“Footnote 457 Dass Goldschmidt vor allem Einwände gegen die letztere Richtung vorzubringen hat, obgleich er sich als „Freund und Bewunderer der Romantik“ zu erkennen gibt,Footnote 458 wird schnell deutlich: In der neuromantischen Bewegung drücke sich „ein gut Teil moderner Lebenshast, Sensationssucht, Kritiklosigkeit und Ungründlichkeit“ aus, die im Verzerren der alten Romantik „Kunst als eine Art ästhetischen Sport“ betreibe.Footnote 459 Der Grund für Goldschmidts radikale Abwertung liegt vor allem in ihrer Popularität: Ein Romantiker sei ein „Misch-, Grenz, Übergangs- und Vorläufermensch […] jenseits aller Märkte“, und „[d]iesen Typus popularisieren wollen heißt soviel wie die Romantiker entromantisieren“.Footnote 460 Die Neuromantik ist damit schon aufgrund ihrer Verbreitung verdächtig geworden, da das Label ‚Romantik‘ auf einem modernen Werk dieses Zeitraums eine Steigerung der Verkaufszahlen garantiere.

Dieselbe Diagnose teilt prominent auch Franz Mehring, marxistischer Politiker und Soziologe älteren Jahrgangs,Footnote 461 der darüber hinaus Goldschmidts Essay einer scharfen Kritik unterzieht. Bei Goldschmidt komme „nichts heraus als ein Wirrwarr von sechs eng gedruckten Spalten“, so Mehring, „aus dem vielleicht der Verfasser selbst klug geworden ist, aber schwerlich einer seiner Leser klug werden wird“.Footnote 462 Auf die Neuromantik als Gegner aber können sich beide einigen:

Was uns an diesem Artikel bemerkenswert genug erscheint, um ihn zu beachten, das ist die ehrliche Verzweiflung des Verfassers über den ästhetisch-literarischen Bankrott sowohl des Naturalismus wie der Neuromantik. [...] Herr Goldschmidt sieht wenigstens, daß die literarische Produktion der kapitalistischen Gesellschaft verfällt, und soweit er die Mache und Mode geißelt, die in diese Produktion eingerissen ist, so weit findet er ganz treffende Worte. Aber er versagt völlig, sobald er die Ursachen dieser Entwicklung zu ergründen sucht.Footnote 463

Goldschmidts Gründe für eine Verurteilung der Neuromantik lagen einerseits in der (für Mehring inadäquaten) Deutung einer alten, besseren Romantik („Besinnen wir uns doch gefälligst einmal, wie der Romantiker auszusehen pflegt!“) sowie andererseits im starren Festhalten der Neuromantiker an einem überreifen Modephänomen, das längst zu seiner „Entwicklung“ strebt.Footnote 464 Mehring aber verurteilt die Neuromantik – simultan mit jeder modernen Kunst – als Ausdruck eines kapitalistischen Marktsystems, das Kunst und Literatur per se dem Schema von Angebot und Nachfrage unterwirft. „Historisch ist die Neuromantik nichts anderes als ein ohnmächtiges Abzappeln von Kunst und Literatur in den erstickenden Armen des Kapitalismus“ – so findet Mehring die wohl deutlichsten Worte zur Abwertung der Neuromantik in diesem Zeitraum.Footnote 465

Neben dem Philosophen Goldschmidt und dem marxistischen Hardliner Mehring wendet sich auch eine jüdische Publizistik gegen die Neuromantik. „Die Romantiker reizt nicht das Ziel: der Friede, sondern der Weg: der Kampf“, so der Soziologe, Rabbiner und Philosoph Ludwig Stein in einem Artikel über Die neuromantische Bewegung (1908),Footnote 466 weshalb er aus einer „grundsätzlichen Gegnerschaft“ heraus dafür plädiert, die Neuromantik selbst zu „bekämpfen“.Footnote 467 „Die Romantik ist augenblicklich wieder obenauf“, diagnostiziert Stein, um zu prognostizieren, dass ihre „mystischen Prämissen“ ausweglos „nach Rom“ führen,Footnote 468 in die Arme der katholischen Kirche.

[S]o vermöchte ich [in] der neuromantischen Bewegung unserer Tage, die ich psychologisch sehr wohl begreife und würdige, nicht mehr und nicht weniger erblicken als eine schwere geistige Krise, eine tiefgehende seelische Verstimmung unseres gesamten Kulturkreises. Die Neuromantik ist der Ausdruck des Kulturüberdrusses nach der negativen, der Erlösungsbedürftigkeit nach der positiven Seite.Footnote 469

Auch für Stein gilt es, eine solche Krisenbewegung zu überwinden und durch eine Synthese mit dem Klassischen in eine neue Periode hinüberzuführen.Footnote 470

In diesem Querschnitt durch Aussagen verschiedener Akteure zeigen sich die vielfältigen Hintergründe und Interessen, aus denen gegen Ende der 1900er Jahre eine scharfe Kritik an der Neoromantik formuliert wird. Als populäres Phänomen verliert sie ihren ehemals innovativen Gehalt nach vergleichsweise kurzer Dauer, sodass nun die historischen Wissenschaften verstärkt zu einer Aufarbeitung der neoromantischen Entwicklungsperiode ansetzen.Footnote 471 In der „Tagesliteratur“, wie Joachimi-Dege die literarischen Feuilletons abschätzig bezeichnet,Footnote 472 wird die Neuromantik nun selbst als eine zu überwindende Station auf dem Weg zu einer „neuen Aera“ ausgerufen,Footnote 473 womit sie an die zügige Historisierung des Naturalismus in den 1890er Jahren anknüpft. Die Neoromantik ist nun allerdings selbst zum Feindbild mutiert, das die Probleme der alten Romantik adaptiert und sie in Willensschwäche, Formlosigkeit und in ein Modephänomen mit hohen Verkaufspotenzial überführt hat. Das baldige Ende der Neoromantik erzeugt bei manchen Akteuren damit auch Hoffnungen auf ein Ende des Kontingenz-Wirrwarrs der Moderne: „Wir können uns nur daran halten“, so Willy Rath, „daß mit der vorübergehenden Eroberung der – großstädtischen – Bühne durch die Neuromantik auch der zweite Teilstrom der modernen Bewegung sein Ziel erreicht hat und alsbald im Sande verlaufen wird“.Footnote 474 Alle neuen Werke, die bis 1910 noch mit der Neoromantik verbunden bleiben, tragen für Rath deshalb die Note des Epigonalen: „Was wir jedoch von neuer Dichtung dieser Art noch etwa sehen, erscheint uns nicht mehr als Strömung, sondern als belangloses Rinnsal oder stillstehendes Wasser.“Footnote 475

Heimatkunst, Neuklassik und Okkultismus als Überwindungsvorschläge

Der Name Ernst Hardt steht für einen dieser späten Neoromantiker, und anschließend an den Publikumserfolg von Tantris, der Narr (1907) ist die kritische Gegenwehr zu seinem Drama enorm. „Es arbeitet mit längst überholten Mitteln, […] es ist ein eigenartiges Stück literarischer Reaktion“, so schon Ulrich im Mährischen Tagblatt, und Harry Schumann schreibt eigens eine polemische Monographie über Ernst Hardt und die Neuromantik. Ein Mahnruf an die Gegenwart (1912). Sein unmissverständliches Plädoyer lautet: „Soll das Volk erstarken, so gibt es dazu nur einen Weg: Überwindung der Neuromantik.“Footnote 476 An diesem Buch zeigt sich exemplarisch ein weiteres Argument: Ein Ende der Neoromantik als Eliten- und Aristokratenphänomen verspricht für viele Akteure auch eine Kunst, die dem „Volk“ einen neuen Ausdruck verleiht.

Die heterogenen Positionen, wie genau diese Überwindung der Neoromantik aussehen soll, fasst wiederum Kurt Walter Goldschmidt zusammen:

Von der Überwindung der Romantik haben wir ja nun auch gerade genug singen und sagen gehört – aber zumeist von Draußenstehenden, in ihrer Art gleichfalls und in einem schlimmeren und niederen Sinne fossilen literarischen Primitiven […] (‚Heimatkunst‘, Familienblätter und ihr ihnen wahlverwandter Anhang von Kunst- und Literaturgeschichten). Wir haben andererseits auch viel von einer Neuklassik fabeln gehört – ungefähr von den gleichen Leuten –, und es ist nicht zu leugnen, daß damit ein tatsächlicher Zug der neuesten Entwicklung richtig gewittert ist. Aber dieser Weg führt, wie ich schon früher einmal andeutete, nicht an der Romantik vorüber, sondern durch sie hindurch[.]Footnote 477

Damit eröffnen sich im Jahr 1908 zwei konkrete Optionen als Überwindungen der Neoromantik: zum einen die Neuklassik, mit der auch Goldschmidt sympathisiert und die, ausgehend vom Standort Weimar, mit Lublinski, Paul Ernst und Wilhelm von Scholz eine formstarke, zeitunabhängige, ‚marmorne‘ Kunstrichtung fordert.Footnote 478 Selbst bei Diederichs, der während seiner Wanderung durch den Thüringer Wald die besagte „unio mystica“ mit Goethe erlebt,Footnote 479 kann die Abkehr von der Romantik als eine Hinwendung zur Klassik gedeutet werden – was für Akteure wie Lublinski eine Überwindung der Willensschwäche, erkennbare Formstrukturen und Orientierung an festen Gattungen bedeutet. Zum anderen aber, und dieser Weg wird für den Diskurs über Romantik folgenreich, liefert die Heimatkunst ein konkretes Angebot, über die Neoromantik der Jahrhundertwende hinauszugreifen.

Als kritischer Beobachter betitelt Hermann Friedemann jene „Deutschlandsucher“, die völkische Bewegung, im März als Die dritte Romantik (1912):

Über den Namen lässt sich ja streiten. Man könnte, anstatt von einer selbstständigen, dritten, auch von einer, freilich sehr abweichenden, Fortsetzung der „Neuromantik“ sprechen. Wir hätten dann zwei Epochen romantischen Empfindens in Deutschland: Die erste, die von Novalis und Friedrich Schlegel bis zu den Jungdeutschen reicht; die zweite, die mit neuen Dichtungsformen anhob und heute mit veränderten Zielen fortdauert. Die Träger der heutigen Bewegung werden von einer Gemeinschaft mit der „Neuromantik“ nicht viel wissen wollen; sie seien daran erinnert, daß auch die alte, geschichtlich überblickbare Romantik ganz anders aufhörte als sie begonnen hatte.Footnote 480

Als Germanist und Mitherausgeber einer Heinrich-Heine-Werkausgabe verbleibt Friedemann in analytischer Distanz, bemüht sich aber um ein rekonstruierendes Verständnis für jene heimatverbundene und nationale Literatur. „Was in der Dichtung um 1900 ‚romantisch‘ hieß, hat ziemlich abgewirtschaftet“, stellt Friedemann fest, und stattdessen entdeckt er einen veränderten Zugang zur Romantik, der eine Nähe zur „frommen Schlichtheit Fouqués“ aufweist.Footnote 481 Sozialismus und Moderne lauten die Feindbilder, gegen welche die dritte Romantik in eine idealisierte, „freilich erträumte Vergangenheit“ zurückgreift, um einen neuen Nerv der Zeit zu treffen.

Wie dem sei: Die Bewegung strömt tief und stark. Sogar auch schon breit. Sie hat, was die Ihren freilich nicht zugeben, alle Anwartschaft, als „Zeitgeist“ das Denken einer Generation zu beherrschen. Was will sie? Ihr Grundwort ist: Bindung. Bindung des rasselos, volklos, bestimmungslos gewordenen Allerweltsmenschen an ursprüngliche, klarumgrenzte Gebilde. Diese Denkweise verachtet den Verstand und verehrt den Instinkt. Sie will nicht die Leistung, sondern den Leistenden. Nicht Abstimmung, sondern Herrschaft. […] Nicht Anpassung, sondern Art. Nicht das Individuum, sondern den Stamm.Footnote 482

Genauer erkennt Friedemann diese „Geisterbewegung“ in einem vorgelagerten Essay über die Deutschlandsucher (1912) in Kurt Breysig, Hermann Burte (Roman: Wiltfeber der ewige Deutsche, 1912) und August Keim – allesamt Autoren eines nationalen Standpunktes.Footnote 483 Obwohl der Rückbezug auf eine idealisierte Vergangenheit von ihm verurteilt wird, versteht Friedemann doch den kulturkritischen Impetus dieser dritten Romantik:

Lebt einer, der diese Zeit aufrichtig liebt? Ist nicht der Mensch mit all seinem Sozialismus vereinsamt? Sind Halt und Sinn des Daseins noch anders als bei toten Geschlechtern zu finden? Weiß irgendeiner, wohin er gehört? […] Nein. Die Werte sind echt, und die Entbehrungen auch. Kaum einer ist unter uns, den diese Sehnsucht nicht streifte. Und doch…Footnote 484

Erst ab diesem Zeitpunkt, so meine These, tritt die Wiederaufnahme von Romantik in eine ausgestellte Opposition zur literarischen ‚Moderne‘ ein. Zwar wird es noch einige Jahre dauern, bis sich das kulturelle Interesse an der Wiederentdeckung von Frühromantik flächendeckend zugunsten einer korrigierenden, auch patriotisch gewendeten „Hochromantik“ aufgebraucht hat.Footnote 485 Wo eine Neoromantik der Jahrhundertwende aber noch die Prämissen moderner Literatur affirmierte (und sich selbst als genuin ‚moderne‘ Bewegung positionierte), verortet sich erst die Abkehr von Neoromantik außerhalb des modernen Literaturfeldes – was freilich von der Neoromantik vorbereitet wurde.

Es existiert aber noch eine dritte Möglichkeit im Diskurs, um zeitgenössisch an die Neoromantik anzuknüpfen. Hanns Heinz Ewers und Victor Hadwiger kündigen in einem Führer durch die moderne Literatur (1906) ebenfalls das Ende einer „Renaissanceromantik“ an, womit sie alle Bewegungen bezeichnen, welche den Naturalismus „zugunsten selbstgewählter Erben“ überwinden wollen.Footnote 486 Mit ihrem „unbestrittene[n] Erfolg bei Kritik und Publikum“ aber provoziere die Renaissanceromantik eine neue, weiterentwickelte Bewegung:

In jüngster Zeit scheint sich wieder eine neuere Richtung heranzubilden, die man vielleicht als die okkultistisch-experimentelle bezeichnen könnte, obwohl dieses Wort, wie wir uns nicht verhehlen, durchaus nicht völlig zutrifft. […] Sie ziehen das Unmöglichste, Geheimnisvollste und Unbewußte in den Bereich der künstlerischen Produktion und bedienen sich in bewußter Weise der verschiedenen Rauschzustände als Mittel zum künstlerischen Schaffen. Ihre Lehrmeister sind E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, Baudelaire, Edgar Allan Poe und Carducci[.]Footnote 487

Als Vorreiter dieser okkultistisch-experimentellen Phase werden Gustav Meyrink, Theodor Etzel, Oscar A.H. Schmitz sowie Ewers selbst angeführt.Footnote 488 Tatsächlich ist hiermit eine Sparte genannt, die in der heutigen Forschung als „Prager Neuromantik“ ein Schattendasein fristet und mit Meyrinks Golem (1914) zu einem Höhepunkt gelangt.Footnote 489 Diese Bewegung, wie Hanns Heinz Ewers in seinem Führer durch die moderne Literatur argumentiert, möchte zwar von der „Renaissanceromantik“ und ihren Vertretern (wie Hofmannsthal) gelernt haben, sich aber gleichzeitig von ihr abgegrenzt wissen. Mit Blick auf das literarhistorische Feld überzeugt diese Abgrenzung wenig: Weder der Strömungsbegriff noch die Gruppierung von Autoren können sich diskursiv in Abgrenzung zur Neoromantik etablieren. Dennoch überführen sie die Neoromantik in populäre Subgenres, die später unter dem Begriff gothic Karriere machen. Ewers zum Beispiel knüpft weiterhin, wie in den Analysen zu zeigen sein wird, auf neoromantische Weise an die romantische Literatur an und beschäftigt sich auch textintern weiterhin mit der ‚Neuromantik‘ – wie er auch bis in das Jahr 1910 als Neoromantiker rezipiert wird.Footnote 490 Durch die Behauptung einer eigenen Subströmung distanzieren sich Ewers, Meyrink und Co. auch von der bereits populär werdenden Heimatkunst, zu der sie u. a. Hermann Hesse rechnen – auf einer Stufe mit Gustav Frenssen, dem mit Jörn Uhl (1909) ein patriotischer Besteller gelang.Footnote 491

Auf dem Hintergrund dieses Diskursmaterials erscheint es somit sinnvoll, die Neoromantik als literarische Strömung ungefähr mit dem Jahr 1910 enden zu lassen und alle weiteren Ausformungen, die sich aktualisierend mit romantischen Autoren und Schreibverfahren beschäftigen, als Nachfolger des neoromantischen Diskurses auszuweisen. Alle drei Richtungen – Heimatkunst, Neuklassik und Okkultismus (bzw. gothic) – organisieren sich in dezidierter Abgrenzung und Weiterentwicklung einer zeitgenössisch wahrgenommenen Neoromantik, sodass sie zugleich neue literarische Strategien entwickeln. Eine diskursive Nähe zur Neoromantik besitzt dabei besonders die Neuklassik, die mit identischen Argumenten ein anderes Erbe statt der Romantik auswählt – und bezeichnenderweise ebenfalls um 1910 zu verebben beginnt.Footnote 492 Der ‚Okkultismus‘ nach Ewers hingegen führt die Textverfahren der Neoromantik fort, um abseits des Romantik-Begriffs in Subkultur und Spartenliteratur fortzuwirken. Einen kurzfristigen Siegeszug legt anschließend die Heimatkunst vor, an die sich der Begriff der Romantik heften und ihn in Umdeutung zur Neoromantik als nationale Sehnsuchtsliteratur funktionalisieren wird. Alle drei Richtungen konstituieren sich auf der Folie einer Neoromantik der Jahrhundertwende – aber alle drei knüpfen spätestens mit dem Jahr 1910 auf eine veränderte Weise an die Literatur der Romantik an, sodass es sinnvoll erscheint, zur Rekonstruktion eines Neoromantik-Begriffs im engeren Sinne mit dem Jahr 1910 zu schließen.

2.4 Zwischenfazit: Vom Problem einer neuen Romantik zum Doppelweg des Romantischen

Wie lässt sich eine Neoromantik der Jahrhundertwende definieren, wenn man den literarischen Diskurs dieses Zeitraums zugrunde legt? Nachdem die heterogenen Argumente von einem breiten Kreis an Akteuren gesammelt, geordnet und in eine zusammenhängende Diskursgeschichte gebracht wurden, soll im Folgenden mit stärkerer Abstraktion auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf Diskursebene geblickt werden: Wo lassen sich erstens Konstanten in der Rede über neue Romantik feststellen; wo finden zweitens eklatante Transformationen innerhalb des Diskurses statt?

Den historischen Rahmen für den abstrahierenden Zugriff liefert, durch das Material nahegelegt, der Zeitraum zwischen 1890 bis 1910, der sich wiederum in drei Binnenphasen einteilen lässt. Zuerst entsteht eine Debatte über neue Romantik in der deutschsprachigen Literaturlandschaft, die ihre Impulse aus der internationalen ‚Moderne‘ empfängt (1890–1896). Zeitgleich mit der Erfindung des Neuromantik-Begriffs gelangt der Diskurs zu einem Höhepunkt an Relevanz und symbolischem Kapital (1896–1904). Ab 1904 verbreitet sich schließlich die Rede über Neoromantik weiterhin, ihre pejorative Note lässt sich allerdings nicht mehr übersehen (1904–1910): Das symbolische Kapital der Neoromantik hat sich zügig verbraucht, was sich in einer Abwendung zahlreicher Akteure und an der scharfen Kritik aus dem Feuilleton äußert. Aufgrund dieser vergleichsweise schnellen Transformation lässt sich Neoromantik als ein frühes Modephänomen charakterisieren: Anders als der Naturalismus, der in Deutschland innerhalb des Literaturbetriebs als (ebenfalls kurzlebiges) Ereignis diskutiert wurde, feierte die Neoromantik mithilfe bekannter Märchensujets und nicht zuletzt einer nationalsemantischen Note auch Publikumserfolge – und wurde so innerhalb literarischer Kreise bald als Trend verdächtig.

Im Folgenden werden die wesentlichen Konstanten und Transformationen des Neoromantik-Diskurses in möglichst knappen Leitsätzen ausgedrückt, von denen sich versteht, dass sie eine Abstraktion aus der Fülle des Materials vornehmen. Als Grundlage für die folgenden Thesen dient die vorangegangene Analyse, aus der induktiv nun ein scharfes, kontrastreiches Bild der Neoromantik gezeichnet wird. In diesem Zuge wird abschließend der Versuch unternommen, die neoromantischen Bestrebungen auf eine inhaltliche Grundfrage zurückzuführen: Worin liegt die Motivation der Akteure, der diskursiven Ebene zufolge, im literarischen Feld der Jahrhundertwende Romantik aufzugreifen und im Zuge einer Neoromantik zu aktualisieren?

Vier Konstanten im Diskurs um neue Romantik

Zunächst werden vier Leitsätze aufgestellt, die den Redebeiträgen über neue Romantik, Neuromantik oder Neoromantik implizit oder explizit phasenübergreifend zugrunde liegen. Der erste Leitsatz ordnet die zahlreichen intertextuellen Vorbilder, auf die sich im neoromantischen Diskurs berufen wird, und nennt zwei Akteure als die zentralen Figuren:

  1. I.

    Als impulsgebende Leitfiguren fungieren Maurice Maeterlinck für die neue, Novalis für die historische Romantik

Unter den verschiedenen Akteuren, die als Paten einer Neoromantik vorgestellt werden, stechen zwei als die wichtigsten Figuren heraus. Maurice Maeterlinck ist nicht nur der zentrale Impulsgeber aus den Reihen der zeitgenössischen Moderne, der mit seinen erfolgreichen Märchendramen Romantik aus internationaler Perspektive wieder salonfähig macht. Auch vollzieht er in seinem Werk selbst die Wandlungen des Neoromantik-Diskurses mit: Ob von einer unspezifischen ‚Nervenromantik‘ nach Hermann Bahr in der ersten Phase; ob von einem neuen ‚Mystizismus‘ nach dem Vorbild des Schatzes der Armen, der im Diederichs-Verlag erscheint; oder schließlich von einer Willensphilosophie bzw. einer eigenmächtigen Gestaltung des Schicksals, auf die sich verschiedene Akteure durch den Essayband Weisheit und Schicksal berufen können: Maeterlinck eröffnet in einer ständigen Weiterentwicklung des eigenen Standpunktes eine breite Mehrfachadressierung, die sich im deutschsprachigen Diskurs zu keinem Zeitpunkt vom Schlagwort der neuen Romantik loslösen wird. Die Entwicklung der Neoromantik und die deutschsprachige Rezeption von Maeterlincks Werken sind nicht voneinander zu trennen. Samuel Lublinskis Diagnose damit ist zuzustimmen, dass „Maurice Maeterlinck, der einen so tiefgehenden Einfluß auf die deutsche Neu-Romantik genommen hat, […] unbedingt in eine moderne deutsche Literaturgeschichte gehört“ (BM 171). Schlussendlich übt auch der internationale Standpunkt Maeterlincks einen Reiz auf die deutschsprachige Jahrhundertwende aus, da sich die französische Sprache, die belgische Herkunft und die deutschsprachigen Stoffe aus der Romantik in seinen Werken synthetisch vermengen.

Die Hauptfigur aus der historischen Romantik aber ist zweifelsfrei Novalis, auf den sich auch die verschiedensten Akteure einigen und berufen können. Neu eingeführt durch die Wiederaufnahme bei Maeterlinck, fasziniert sich eine junge ‚Moderne‘ für das fragmentarische Werk Hardenbergs ebenso wie für seine überlieferte Lebensgeschichte. In Novalis zeige sich – so die 1900-Erzählung – eine biographische Synthese aus Kunst und Leben, die neben so rätselhaften wie poetischen Aphorismen auch seinen frühen Tod herbeiführte.Footnote 493 Auch Hölderlin erreicht – unter der Voraussetzung seines biographisch überlieferten Wahnsinns – einen hohen Bekanntheitsgrad, während Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel zumeist Spott und Abgrenzung erfahren.Footnote 494 Eine Heidelberger Romantik, zum Beispiel Brentanos Godwi und Texte von Achim von Arnim, wird nicht derart flächendeckend, aber immerhin von einigen interessierten Experten neu gelesen.Footnote 495 In der Spätromantik rund um die Brüder Grimm und in Eichendorff, mit dem die jungen Autoren auch schulisch sozialisiert wurden, erkennen die Zeitgenossen eine andersartige, bereits kanonisierte Ausprägung von Romantik, die ebenfalls neu evaluiert wird – fast immer mit meliorativem Ergebnis.Footnote 496 Heinrich Heine schließlich wird von nahezu allen Autoren neoromantischer Texte als „[d]er große Moderne“ verehrt, sodass es häufig zu Überschneidungen im Bild des literarischen Vormärz bzw. Biedermeier mit der Romantik kommt.Footnote 497 Novalis aber ist es, der mit seiner Biographie und in seinem Werk zur Impulsfigur wird: Sein biographischer Versuch eines geistigen, künstlerischen Lebens (mit tödlichem Ausgang) stellt für viele Autoren der Jahrhundertwende die Grundidee von Romantik überhaupt dar.

Direkt in der zweiten Reihe der zeitgenössischen Impulsgeber müssen (neben der herausragenden Rolle Hermann Bahrs) auch Jens Peter Jacobsen und Friedrich Nietzsche angeführt werden. Das Urteil Theodor Wolffs, dessen Schlagwort einer „naturwissenschaftliche[n] Romantik[]“ die Reclam-Ausgabe des Niels Lyhne (1880) schmückt,Footnote 498 ist in seiner Wirkung kaum zu überschätzen: Von ihr lässt sich u. a. ein biologistischer Rezeptionsstrang der Neoromantik inspirieren, der die Romantikerzählung mit einem zeitgenössischen Monismus vernetzt. Romantik heftet sich demnach an einen bestimmten Typus, und zwar an ein aristokratisch-sentimentales Milieu ohne Arbeit, mit Sehnsucht zum ‚Leben‘ und einem Hang zu deutsch-germanischen Stoffen. Nietzsche fungiert als wichtiger theoretischer Wegbereiter, wobei der Einfluss seiner Willensmetaphysik auf die Neoromantik nach dem Jahr 1900 noch einmal zunimmt – gleichzeitig mit einer (von Lublinski konstatierten) Popularisierung des Übermenschen-Konzepts.Footnote 499

Im Anschluss an Maeterlinck und Jacobsen lässt sich der zweite Leitsatz formulieren, der die Neoromantik im internationalen Wettstreit der Moderne verortet:

  1. II.

    Neoromantisches Schreiben in der zeitgenössischen Literatur referiert auf einen genuin ‚deutschen‘ Beitrag in einem internationalen Kontext

Mit der Romantik bei Maeterlinck tauche zugleich etwas genuin ‚Deutsches‘ in der internationalen Literatur auf. Diese Semantik stellt sich als so grundlegend für die Attraktivität der literarischen Neoromantik heraus, dass sie als kulturelle Prämisse nicht übersehen werden darf. Kaum ein Rezeptionsdokument verzichtet darauf, eine Affinität der Neoromantik zu etwas typologisch ‚Germanischem‘ oder ‚Deutschem‘ hervorzuheben. Rilke notiert: „Man könnte manchmal vergessen, daß Maurice Maeterlinck französisch schreibt“;Footnote 500 auch für Heinrich Mann „könnte diese Romantik vielleicht ein geeigneter Anlaß werden, die Entwickelung der Literatur einmal wieder auf deutschen Boden zu verpflanzen“;Footnote 501 und weitere Referenzen auf den ‚germanischen‘ Anstrich der Neoromantik konnten bei Ricarda Huch, Eugen Diederichs, Johannes Schlaf, Samuel Lublinski, Ludwig Coellen usw. nachgewiesen werden.Footnote 502 Im französischen Feuilleton hingegen wird das ‚Germanische‘ an Maeterlincks Dramen als fremdartig wahrgenommen; und selbst für Hofmannsthal in Wien ist sein Dramenprojekt Bergwerk zu Falun (1900) eine Auseinandersetzung mit deutscher Kultur.Footnote 503

Die Arbeit am Romantischen um 1900 setzt sich also implizit mit einem ‚deutschen‘ Denken und ‚deutscher‘ Tradition auseinander, was schließlich in den Forderungen nach einer „germanischen Rassenpoesie“ im Umfeld des Eugen Diederichs-Verlags kulminiert.Footnote 504 Auch in diesem Fall darf allerdings die Einbettung in den internationalen Kontext nicht übersehen werden, aus dem heraus die zeitgenössische Attraktivität von Romantik erst wiederhergestellt wird. Vor allem in der frühen Diskursphase liegt die artikulierte Hoffnung keineswegs darin, die internationale Moderne durch ein deutsch-romantisches Schreiben zu überfluten oder zu okkupieren. Vielmehr zeigt sich hierin ein strategischer, durchaus epochentypischer Hang zur Typologisierung: Die Suche nach einer deutschkulturellen Note in der ‚modernen‘ Literatur, die zuerst in der französischen Literatur auftauche und sowohl rassisch, milieutypisch oder auch rein ideengeschichtlich interpretiert werden kann, stützt sich nicht zuletzt auf die Hoffnung, den internationalen Trend der skandinavischen Literaturen im auslaufenden 19. Jahrhundert abzulösen. Anders als bei der Literatur aus Skandinavien aber weisen die deutschsprachigen Autoren und Kritiker dem (angeblich typologisch ‚deutschen‘) Phänomen der Neoromantik einen höheren Stellenwert zu als die Rezipienten aus dem Ausland. Selbst im Diederichs-Verlag sind dabei keine Aussagen überliefert, die eine universelle Dominanz von romantischem Schreibformen gegenüber anderen Nationalkulturen behaupten. Vielmehr sei Neoromantik eine internationale, gerade zeitaktuelle Erscheinung – und stelle deshalb die aktuellste Entwicklungsstufe moderner Kultur dar, die es weiterhin zu verfeinern gilt. Damit zeigt sich zugleich ein wesentliches Moment zur Einschätzung des Stellenwertes von Neoromantik im Strömungspluralismus um 1900: Neoromantik liefert einen genuin deutschsprachigen Zugang zum Moderne-Projekt, während andere Strömungen auf andere Länder und Kulturen zurückgehen.

Die historische Romantik bringt gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber bereits eine spezifische Eignung für ihre eigene Wiederaufnahme mit, da sie auf Basis der zeitgenössischen Literaturgeschichten folgendermaßen interpretiert wird:

  1. III.

    Die historische Romantik hinterlässt ein defizitäres, unvollendetes Projekt und wird zugleich als Ausdruck einer geschichtlichen Übergangsepoche wahrgenommen

In diesem Leitsatz findet sich als Konstante eingeschrieben, dass die historische Romantik zur Jahrhundertwende flächendeckend als eine unfertige, nicht vollendete Kulturperiode aufgefasst wird. Schon für Hermann Bahr bringe Romantik ein Element in die Geistesgeschichte hinein, das es noch zu komplettieren gilt; er beruft sich dabei auf Georg Brandes, laut dem deutscher Romantik noch die künstlerische Form fehle, zu der ihr erst die dänische Literatur verhalf. Noch für Ricarda Huch ist der rauschende Kampf der jungen Romantiker letztlich gescheitert. Das Modell der historischen Romantik, auf das die Jahrhundertwende damit zugreift, trägt in seiner Anlage etwas Defizitäres: Vor allem im fragmentarischen Leben und Werk von Novalis drückt sich diese Unfertigkeit der Romantik in nuce aus.

Aus diesem Romantik-Verständnis entwickelt sich schließlich die zeitgenössische Geschichtsnarration, laut der Romantik in drei Epochen einzuteilen sei: Nach einer kurzen Blüthezeit, in der vielversprechende „Keime“ spießen (RO 68),Footnote 505 folgt eine ideengeschichtliche Ausbreitung und ihr Verfall. Diese Semantik des Scheiterns liefert eine wichtige Voraussetzung für die folgenden Aktualisierungsversuche: Auf welche Weise man ihre ‚Fehler‘ auch zu überwinden gedenkt, man ist sich darüber einig, dass die Romantik ein gescheitertes Geistesprojekt darstellt, das über eine unfertige Frühphase nicht wesentlich hinauskam. Auch bei den Spätromantikern wie Eichendorff oder Hoffmann wiederhole bzw. verfeinere sich lediglich ein strukturelles Darstellungsproblem, das es mit Blick auf die zeitgenössische Literatur zu beheben gilt.

Eine Neoromantik kann schließlich nur dann nicht epigonal sein, wenn sie etwas ‚Neues‘ zu der missglückten Romantik hinzufügt, um ihre Probleme zu überwinden. In diesem Sinne umschreibt die folgende, letzte Konstante das strukturelle Anliegen jeder Neoromantik:

  1. IV.

    Neoromantik probiert sich an einer Überwindung von Defiziten aus der Romantik mithilfe ihrer Aktualisierung bzw. Vollendung

Hier findet sich der kleinste gemeinsame Nenner, mit dem eine poetologische Prämisse der heterogenen Romantik-Aneignungen der Jahrhundertwende bestimmt werden kann. Nicht einmal Samuel Lublinski, der die Probleme der historischen Romantik auf die Neoromantik transponiert, spricht dem neoromantischen Schreiben seinen Anspruch ab, die ‚alte‘ Romantik mithilfe moderner Technik zu aktualisieren – auch, wenn sich dieser Versuch letztlich in eine biologistische Einseitigkeit verirre. Damit hebt dieser abschließende Leitsatz hervor, worin die zeitgenössische Innovation innerhalb des neoromantischen Literaturprojekts gesehen wurde: Neoromantik sei „weniger bewußte Anknüpfung an die Ziele der alten Romantik vor hundert Jahren“, so Eugen Diederichs; kein „Wiederaufleben der alten Romantik mit all ihren Auswüchsen und Wunderlichkeiten“, so Arthur Drews;Footnote 506 stattdessen behaupten Akteure wie Ludwig Coellen, „daß ihre Probleme die Grundlage zu den unseren bilden, daß die Gegenwart dort ansetzt, wo diese Zeit endete, mit einem Wort, daß die alte Romantik das Fundament der Gegenwart darstellt“ (NR 39). Löst man dabei die Probleme der romantischen Weltanschauung, zum Beispiel in einer „Synthese von Naturalismus und Romantik“,Footnote 507 dann stehe ein ‚Goldenes Zeitalter‘ mindestens der deutschsprachigen Literatur in Aussicht.

Drei Transformationen im Diskurs um neue Romantik

Nun lassen sich im Verlauf des Diskurses zugleich eklatante Veränderungen feststellen, welche die zeitgenössischen Modelle von neuer und alter Romantik transformieren. Die These lautet folgendermaßen: Mit der Etablierung einer neuen Romantik, die sich die historische Romantik als Material aneignet, verändert sich auch das Modell der historischen Romantik und wird für die Folgezeit nachhaltig geprägt. Diese Transformation vollzieht sich anhand der folgenden drei Leitsätze, die auf die wesentlichen Veränderungen im Neoromantik-Diskurs hinweisen.

Der erste Leitsatz diagnostiziert die zügige Verbreitung des Phänomens und beschreibt die Stellung der Neoromantik im literarischen Feld:

  1. I.

    Neoromantische Literatur erfährt eine rasche Popularisierung von einem Expertendiskurs zu einem erfolgreichen, massetauglichen Modephänomen

Kurt Walter Goldschmidts Essay über die Romantik-Epigonen (1908) greift eindrücklich auf, was sich bereits in Peter Altenbergs Prosaskizze zur Neu-Romantik (1901) ankündigt: An alles Romantische heftet sich im Laufe der zwanzig Jahre die Konnotation von Marktförmigkeit, „Konjunktur und Spekulation“.Footnote 508 Diese Entwicklung war in den Auslegungen Leo Bergs oder Hermann Bahrs noch nicht abzusehen. Zwar beginnt der Neoromantik-Diskurs mit einem Knall, indem Octave Mirbeau Maeterlinck zum „belgische[n] Shakespeare“ erklärt und ihn damit über Nacht berühmt macht;Footnote 509 allerdings geschieht dies innerhalb eines Kreises moderner Kritiker und Autoren, die ihren Blick auf die internationalen Entwicklungen richten. Schon kurz nach 1900 schafft es die Neoromantik schließlich bis in die Lokalpresse, sodass diese Strömung alle Kennzeichen eines kurzfristigen modischen Trends erhält: So schnell sie aus einem internationalen Impuls aufgetaucht ist, so schnell nutzt sich ihr symbolisches Kapital wiederum ab. Dennoch hinterlässt die Neoromantik deutliche Spuren im Diskurs, indem sie das Romantische im Zuge eines schlaglichtartigen Masseninteresses um eine pejorative Note und neue Kernsemantiken ergänzt.

Der zweite Aspekt ist brisant, da er eine der Semantiken beschreibt, die um 1900 neu in das Romantik-Modell hineingetragen werden:

  1. II.

    Neoromantische Literatur amalgamiert die Romantik mit einem anthropologischen Rassen- bzw. Typendiskurs

Obwohl dem Neoromantik-Diskurs ein nationaltypologisches Interesse seit Beginn anheftet, ist es keineswegs selbstverständlich, dass auch der anthropologische Monismus mit dem Romantik-Modell amalgamiert. Spätere neoromantische Märchen, so exemplarisch Otto Julius Bierbaum mit seinem Hauptwerk Prinz Kuckuck (1906–1908), arbeiten sich satirisch an den verbreiteten Rassestereotypen ab, da der Rassediskurs nach 1900 bereits fest an den Kanon neoromantischer Schreibweisen angelagert ist.Footnote 510 Nach der Neoromantik aber, die u. a. von den Autoren im Diederichs-Verlag geprägt wurde, lässt sich auch die Romantik nicht mehr als Gegenteil von Monismus, Naturwissenschaften und ‚Leben‘ verstehen,Footnote 511 sondern findet sich stattdessen eng mit diesen Paradigmen verwoben. Die historische Romantik wurde von Ricarda Huch physiognomisch ausgeleuchtet; die romantischen Textverfahren wurden in zahlreichen Kritiken als pathologische Nervosität ausgelegt; und eine problematische Willensschwäche kristallisiert sich als Folge von erhöhtem romantischen Textkonsum heraus. Mithilfe all dieser Konnotationen wird Romantik um 1900 zu einer Wurzel „germanische[r] Rassenpoesie“ transformiert,Footnote 512 die an den Ursprung von deutscher ‚Natur‘ heranführe. Diese Semantik lagert sich erst im Laufe der Jahrhundertwende an das Modell Romantik an und wird sich als hartnäckig erweisen, da die Monographien und Schriften der Jahrhundertwende für lange Zeit als Standardwerke zur Romantik verfügbar bleiben.

Dasselbe gilt für die letzte Transformation, die zugleich die schwerwiegendste darstellt, da sie nicht nur neue Semantiken zur historischen Romantik hinzufügt, sondern einen wesentlichen, erzählstrategischen Aspekt überschreibt.

  1. III.

    Im Diskurs über neoromantische Literatur entwickelt sich eine konkrete Abwertung der romantischen Ironie, die durch einen ‚Willen zur Synthese‘ abgelöst wird

Zum Grundvokabular der Neoromantik gehören Synthese-Forderungen in verschiedenen Variationen: Ob Naturalismus und Romantik, Kultur und Zivilisation, Mystizismus und Rationalismus, Logik und Intuition – immer wieder taucht die Forderung auf, eine defizitäre Romantik durch eine Verschmelzung mit ihrem (vermeintlichen) Antagonisten zu ihrer Vollendung zu führen. Synthetische Forderung stellen zugleich einen wesentlichen Aspekt der Romantik um 1800 dar, in der säkulare Normen jenseits der Partikularisierung von Gesellschaft ästhetisch erforscht werden. Allerdings verbleiben die Synthese-Konstruktionen der Romantik stets in einem Modus der Potenzialität, der sich in den eindeutigkeitsbrechenden Verfahren der romantischen Ironie äußert. „Es bleibt ambivalent, welcher Status der romantischen Einheits-Sinnstiftungssemantik zukommt“,Footnote 513 so lautet eine mögliche Beschreibung der Funktion von romantischer Ironie; und diese lässt sich in romantischen Texte von Novalis bis Eichendorff als ein konstitutives Moment nachweisen.Footnote 514

„Die Gegenwart hat diese Ironie überwunden“, äußert Ludwig Coellen in seiner Monographie über Neuromantik, „sie hat das Individuum wieder in der Wirklichkeit verankert“ (NR 62). Die kritischen Spitzen gegen die romantische Ironie, wie sie Publikationen nicht nur im Diederichs-Verlag formulieren, finden im Neoromantik-Diskurs der Jahrhundertwende ihren exemplarischen Ausdruck: Für Friedrich von Oppeln-Bronikowski bedeutet Ironie „Ungeschliffenheit und Sprachversündigung“;Footnote 515 und auch Ricarda Huch lehnt die Widersprüchlichkeit des Ironischen ab, indem sie Ironie als synthetisierendes Moment zwischen den antagonistischen Polen deutet (RO 254).Footnote 516 Die Syntheseforderungen der Romantik, so die Idee im Neoromantik-Diskurs, müssen in einem ‚modernen‘ Anlauf eingelöst werden und dürfen nicht in paradoxaler, lebensferner Ironie enden. Das Problem der historischen Romantik also, das sich anschaulich im frühen Tod Hardenbergs und im Wahnsinn Hölderlins äußere, wird mit den künstlerischen Schleifen einer Ironie gleichgesetzt, die es als Geisteshaltung, aber auch als konkrete Textverfahren zu vermeiden gilt.

Resümee: Attraktivität, Problem und Lösungsstrategie im neoromantischen Diskurs

„Wer braucht eigentlich Romantik und wozu?“, fragt Matthias Löwe in einem problemgeschichtlichen Zugriff und versucht, das literarische Projekt der Romantik mit konkreten, historischen Interessen spezifischer Zeit- und Kulturräume zu verbinden.Footnote 517 Während die jüngere Romantik-Forschung hierzu einige Erklärungsmöglichkeiten vorgelegt hat, zum Beispiel im „Problem säkularer Normbegründung“ nach dem Verbindlichkeitsverlust religiöser Deutungsangebote,Footnote 518 eröffnet der problemgeschichtliche Zugang zur Neoromantik eine ähnlich konkrete Fragestellung: Wer braucht eigentlich Neoromantik und wozu? Als Abschluss der Transformationsanalyse eignet sich dieser „unorthodoxe“ Zugang,Footnote 519 um Hypothesenbildung auf drei Ebenen zu betreiben: Im Diskurs transportiert die Neoromantik eine spezifische Attraktivität; im Kontext dieser Strömung wird auf ein wiederkehrendes Problem referiert, das die Subjekte offenbar beschäftigt; und schließlich setzt sich eine dominante Lösungsstrategie durch, auf dieses Problem im neoromantischen Sinne zu reagieren. Dabei gilt für die folgenden Ausführungen, dass sie sich zunächst vorrangig auf die diskursive Ebene beziehen und anschließend mit den Ergebnissen aus den Textanalysen abgeglichen werden müssen.

Überblickt man die insgesamt sieben Leitsätze zum Diskurs, dann fällt zuerst eine diskursive Attraktivität auf, welche die Neoromantik ausschließlich im deutschsprachigen Kontext besitzt. Der Vorteil, den die neoromantische Literaturdebatte verspricht, liegt in der Behauptung eines spezifisch ‚deutschen‘ Beitrags zum internationalen Moderneprojekt um 1900. Hiermit lässt sich noch einmal die Bedeutung der zweiten, oben beschriebenen Konstante unterstreichen: Jeder deutschsprachige Text, der sich um 1900 in aktualisierender Weise mit Romantik beschäftigt, interessiert sich für einen ‚germanischen‘ Typus, dem postwendend eine gewisse Attraktivität im internationalen Wettstreit der Kulturen zugetraut wird. Dieser Aspekt ist zu Beginn der Jahrhundertwende noch ergebnisoffener und toleranter zu denken, als es der weitere Verlauf der deutschen Kulturgeschichte nahelegt. Die internationale Literatur der Jahrhundertwende interessiert sich für markante Typologisierungen, zum Beispiel für das spezifisch Skandinavische, das typisch Französische oder spezifisch Russische, das sich in der jeweiligen Literatur zeige.Footnote 520 Im Umfeld der Neoromantik probieren deutschsprachige Akteure nun, von Lesern dieser Texte zu ihren Mitproduzenten zu werden. Die Spannweite, wie genau dieses Attraktionspotenzial praktisch ausgelegt bzw. umgesetzt wird, ist enorm: Während Peter Altenberg und Hugo von Hofmannsthal aus geographischer Distanz die typischen Merkmale deutscher Literaturtradition ästhetisch erkunden (und teilweise ironisieren), erheben Julius Hart und Friedrich von Oppeln-Bronikowski eine „germanische[] Rassenpoesie“ zur Zukunft der internationalen Literaturentwicklung. Erst das Interesse am Typus macht die Neoromantik um 1900 attraktiv; in ihrer Spätphase entwickelt sie dabei eine imperialistische Normativität, in dessen Folge sich einige Akteure von neoromantischer Literatur abwenden.

Eine solche Attraktivität berührt jedoch nur oberflächlich ein kulturgeschichtliches Problem, auf das mehrere Texte aus dem Umkreis der Neoromantik reagieren. Auf der diskursiven Ebene lässt sich eine solche Problemdiagnose gesondert beobachten, da der methodische Ansatz der Problemgeschichte bereits um 1900 entsteht – und deshalb schon zeitgenössisch Untersuchungen z. B. über Die Probleme der Romantik als Grundfragen der Gegenwart (Oscar Ewald, 1904) hervorbringt. Die Deutungsangebote solcher Monographien, wie sie auch Samuel Lublinskis Bilanzen der Moderne (1904) offerieren, lassen sich weniger als objektive Romantikanalysen denn als kritische Problemreflexionen der eigenen Jahrhundertwende-Kultur lesen. Folgendes Grundproblem von Neoromantik, wie es Lublinski beschreibt, kann dabei als besonders plausibel nachgewiesen werden: „Das Problem war“, so Lublinski, „zwischen Individualismus und Universum das richtige Verhältnis zu finden“ (BM 178). Diese Formel diagnostiziert zum einen die Partikularisierung des Individuums auf der Folie einer fortschreitenden wissenschaftlichen Erschließung des Universums; zum anderen probiere eine Neoromantik, den „Ausgleich“ zwischen Individuum und überkomplexem Universum anzuvisieren (woran sie laut Lublinski schlussendlich scheitert, BM 178). Ähnlich konstatiert Oscar Ewald in seiner Monographie ein „Grundproblem des Individualismus“ als Ursprung allen Übels,Footnote 521 womit er einem analogen Problem immerhin von einer Seite auf der Spur ist. Anders lautet die Diagnose bei Eugen Diederichs: Für ihn strebten die Romantiker „nach Universalmenschentum und indem sie ihre Ideale nicht bloß zu denken, sondern auch zu leben trachteten, beseelten sie ihre Kenntnisse“.Footnote 522 Die Synthese-Bestrebungen treten im Diederichs-Verlag, oppositionell zu Ewalds Fokus auf den Individualismus, in den Vordergrund. Eine Konstante zeigt sich in den Problemdiagnosen dennoch: Die Akteure um 1900 entdecken in der historischen Romantik einen ungelösten Antagonismus, an den die Neoromantik konkret anknüpfe und der sich anhand von zwei oppositionellen Feldern als die Felder von ‚Subjekt / Kunst / Individuum‘ gegen ‚Welt / Leben / Universum‘ beschreiben lässt. Auf der einen Seite stehe das Subjekt, das einen intuitiven, sensualistischen und damit: ‚künstlerischen‘ Zugriff zu den Dingen habe; und auf der anderen Seite die Welt bzw. das Universum, in denen rationalistische, materialistische und (bio-)logische Gesetze vorherrschen. Das Problem des Individuums gegen die Welt wird mit einem Problem von Kunst gegen Leben gleichgesetzt, für das die historische Romantik – und vor allem: Novalis – eine relevante Vergleichsfolie bietet. Damit erarbeitet sich die Neoromantik der Jahrhundertwende auf der Folie der Romantik eine eigene, vor allem auf ihren Zeitraum abzielende Problemgeschichte.

Das Problem der innerweltlichen Sinnstiftung, auch: „die Suche nach einem archimedischen Punkt“ in einer säkularisierten und beschleunigten Moderne,Footnote 523 ist somit auch für die Literatur der Jahrhundertwende von höchster Relevanz. Allerdings haben sich ihre Strategien, darauf zu reagieren, verändert: „Von dem vielbeschworenen Sinnverlust der Moderne kann im frühen 20. Jahrhundert kaum eine Rede sein“, konstatiert Matthias Löwe, „eher von einer Überproduktion von neuem Sinn im Rahmen eines weltanschaulichen Monismus und seiner unzähligen inhaltlichen Konkretionen.“Footnote 524 Diese Diagnose stützen die kulturwissenschaftlichen Monographien aus dem Diederichs-Verlag: Ob Julius Harts Ausführungen über Den neuen Gott (1899), Ludwig Coellens geschichtliches Universalmodell oder Johannes Schlafs Ausführungen über Christus und Sophie (1906), in denen aus einer physiognomischen Ähnlichkeit zwischen Leonardo da Vinci und seiner Mona Lisa ein weltstrukturierendes Prinzip der Anziehung abgeleitet wird.Footnote 525 Alle drei Monographien liefern in sich kohärente (wenn auch nicht notwendigermaßen überzeugende) Deutungsmodelle eines strukturierenden Grundprinzips von Welt, das jeweils mit dem Gestus der bahnbrechenden Neuentdeckung postuliert wird.

Der für die Neoromantik einschlägigste Monismus findet sich jedoch bei Charles Darwin (bzw. in seiner popularisierten Variante von Ernst Haeckel),Footnote 526 wobei vor allem die Vorbehalte produktionsanregend wirken, die sich im Diskurs der Jahrhundertwende ebenfalls äußern. Den Kampf ums Dasein zur absoluten Grundregel zu erheben, widerspricht nicht nur den ethischen Prinzipien vieler Akteure, sondern auch ihrer sozialen Komplexitätserfahrung der Moderne – sodass das Normangebot Darwins den Neoromantikern zwar logisch einleuchtet, in der Praxis jedoch nicht befriedigt. Eugen Diederichs beispielsweise wendet sich, nach der intensiven Auseinandersetzung mit Darwin und Nietzsche, einem ethischen „Humanismus“ als Regulativ zu, den er ebenfalls im historischen Archiv aufbewahrt findet.Footnote 527 Auch Wilhelm Bölsches Studien zum Liebesleben in der Natur lassen sich als Gegenkonzept zu einem kompetitiven Darwinismus lesen, der um die ‚Liebe‘ als natureigenes Grundprinzip ergänzt wird. Zur Jahrhundertwende werden also tatsächlich etliche Monismen produziert, konkreter: typologische Weltdeutungen auf Basis nur eines alldurchflutenden Grundprinzips, von denen aber keiner in Gänze überzeugt, sondern vielmehr zu Korrekturen anregt.Footnote 528 Auch hierin lassen sich, auf Basis der Problemgeschichte Löwes, Parallelen zur kulturellen Situation des frühen 19. Jahrhunderts ziehen, in der bspw. die Spätaufklärung auf eine analoge Weise monistische Welterklärungsmodelle literarisch inszeniert.Footnote 529

Tatsächlich können die Akteure im Umkreis der Neoromantik damit auf analoge Problemkonstellationen zugreifen, die sie auch in den Texten der historischen Romantik auffinden. Die Strategie allerdings, die sich zur Problemlösung in den Diskursbeiträgen der Neoromantik artikuliert, nimmt markante Veränderungen vor. Romantik, so argumentieren einschlägige Literaturgeschichten um 1900, verfolge das Projekt einer Synthese der antagonistischen Pole – zum Beispiel, so Ricarda Huch, einen Ausgleich des Apollinischen und Dionysischen. Die Ironie, mit Novalis gefasst als „qualitative Potenzierung“ oder als ewiges „Approxomationsprinzipe“,Footnote 530 tritt dabei entweder als systemischer Ausgabefehler oder als notwendiges Übel hervor, um die unausgeglichenen Pole einander anzunähern. Niemals aber wird die ewige Prozessualisierung, wie in der historischen Romantik, als produktiver Fluchtpunkt von Kunst und Literatur bewertet, mit dem sich etwas Unendliches spiegeln bzw. prozessieren lässt. Vielmehr verwandelt sich die ‚unendliche Annäherung‘ der Romantiker in eine endliche, potenziell einlösbare Synthese, da die ironischen Brechungen und selbstreflexiven Schleifen als Enttäuschung erlebt werden. Neoromantik sei damit nicht mehr „progressive Universalpoesie“,Footnote 531 sondern eine Poesie des universellen Ausgleichs.

Der Diskurs rund um die Neoromantik also, vor allem in seiner Spätphase, akzentuiert die Synthesebestrebungen der Romantiker derart neu, dass deren ewig fortgeschriebener Annäherungscharakter an das Absolute überlesen bzw. abgewertet wird. Programmatisch sucht die Neoromantik also den Ausgleich bzw. die Synthese zwischen (in der Regel zwei) konfligierenden Polen. Hierbei gilt es drei Aspekte zu beachten: Erstens muss diese diskursiv artikulierte Strategie nicht zwingend mit den literarischen Texten übereinstimmen, die im Folgenden kritisch geprüft werden. Zweitens wird das Ironie-Problem erst in der späten Phase der Neoromantik vermehrt reflektiert und artikuliert, womit in diesem Aspekt ein Unterschied zwischen der frühen (vor 1900) und der späten Phase (nach 1900) des Diskurses ausgemacht werden kann. Drittens aber übertragen die Akteure im Umfeld der Neoromantik ihren eigenen Problemhorizont derart stark auf ihr Bild von historischer Romantik, dass auch das Romantikverständnis um 1900 einen beobachtbaren Bedeutungswandel erfährt. Im Zuge der Neoromantik, welche die zahlreichen Neubetrachtungen von Romantik erst antreibt, verschiebt sich auch das Verständnis von Romantik hin zu einer Akzentuierung der ausgleichenden Synthese.

Abbildung 2.2
figure 2

Schaubild zur zeitlichen Transformation der Diskursbestände: Ablösung von Romantik-Begriff und Romantik-Modell zwischen 1890 und 1910

Ein Entwicklungsmodell soll abschließend diese Transformation illustrieren, die sich durch den Diskurs der Neoromantik auch mit Blick auf ein Modell von Romantik vollzieht. In stark abstrahierendem Zugriff akzentuiert Abb. 2.2 die Ablösung eines Neoromantik-Diskurses von den wesentlichen Charakteristika eines romantischen Programms. Wo zwischen 1890 und 1896 – zumindest auf Diskursebene – noch keine Trennung zwischen Ironie und historischer Romantik nachweisbar ist, werden im Diskurs nach 1900 jene Stimmen dominant, die eine Überwindung der romantischen Ironie unter den Vorzeichen einer Neoromantik fordern. Dabei lässt sich bis in das Jahr 1904 eine Phase des Übergangs behaupten (in Abb. 2.2 lila eingefärbt), in der sich beide Positionen noch überschneiden. Die These, welche im obigen Entwicklungsmodell illustriert wird, lautet, dass die Romantik als Begriff spätestens mit dem Jahr 1904 dem (oben rot markierten) Diskursweg der ‚Neuromantik‘ folgt. Von dem neuromantischen Literaturdiskurs bleibt die Vorstellung der historischen Romantik demnach nicht unbeeindruckt, sondern im kulturellen Wissen um das Romantische treten nun ebenfalls die synthetischen, Ausgleich suchenden Aspekte hervor. Die Ironie trennt sich in diesen Jahren also vom Diskurs über Romantik ab; in diesem Punkt kann eine der wesentlichen Transformationen beschrieben werden, welche die Neoromantik für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlässt.