Aber nicht die blaue Blume will ich hier suchen gehen, alter

Tieck! […] Mich selbst will ich fühlen und entfalten.

Johannes Schlaf: In Dingsda (1892)Footnote 1

Im Literarischen Quartett vom 23. Februar 1995 tauschen sich die vier Diskutanten wie üblich über die Neuerscheinungen der literarischen Szene aus. Diesmal befindet sich darunter der Roman Mysterien (1892) des norwegischen Nobelpreisträgers Knut Hamsun, der in einer neuen Übersetzung von Siegfried Weibel auf den Markt kommt. Unerwartet hält Marcel Reich-Ranicki ein leidenschaftliches Plädoyer für das Werk des „widerwärtige[n] Nazi[s]“ Hamsun, der zur Jahrhundertwende Weltruhm erlangte und sich mit seinem Einsatz für den Nationalsozialismus nachträglich diskreditierte. „Ich rede hier über einen Autor, der mir nahestand und – was immer er später getan hat – mir nahesteht“, so Reich-Ranicki. Er sei „ein Autor, der für meine Generation eine enorme Rolle gespielt hat“.Footnote 2 Auf die Frage, weshalb sich eine jugendliche Leserschaft derart mit Hamsun identifizierte, kommt Reich-Ranicki auf eine rebellische Romantik zu sprechen: Im Mittelpunkt dieser Literatur stünden „in der Regel jüngere Menschen, die alle Aufrührer waren, romantische Rebellen gegen die Konvention, gegen die Autorität. Und das hat ganz Europa, das jüngere Europa, beeindruckt.“ Die eigenartige Attraktivität dieser Literatur, die auch über Hamsun hinaus internationale Erfolge feierte, bringt Reich-Ranicki abschließend auf eine Formel: „Wir haben in dieser Literatur eine Hinwendung zur Romantik. Das ist ein neuromantischer Protest.“Footnote 3

Aus dieser Fernsehausstrahlung lässt sich eine Rezeptionsgeschichte in der Nussschale ablesen. Eine neoromantische Literatur um 1900, zum Beispiel Hamsuns Mysterien, erreichte eine breite, internationale Leserschaft einerseits – und zwar nicht nur im ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern auch in Reich-Ranickis Generation, sozialisiert in der Weimarer Republik. Es handelt sich um eine Literatur von jungen Autoren für junge Leser, so Reich-Ranicki, und diese ‚Hinwendung zur Romantik‘ gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird von den Diskutanten insgesamt als rebellisch wahrgenommen: als aufmüpferischer Protest gegen den Status Quo.

Andererseits aber greife eine neoromantische Literatur auf einen festen Traditionsbestand zurück, nämlich: auf die Erzählstrategien der historischen Romantik, und besitze deshalb ein rückwärtsgewandtes Moment. Mehr noch: Die Diskutanten im Literarischen Quartett entdecken eine „antizivilisatorische Tendenz“ in Hamsuns Texten, sodass sich Hellmuth Karasek fragt, ob in dieser „Neoromantik“ schon der spätere Nationalsozialist angelegt sei.Footnote 4 Am Beispiel der Mysterien zeigt sich damit das janusköpfige Profil einer literarhistorischen Neoromantik, wie sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts diskutiert wurde: Zum einen repräsentiere sie ein innovatives Moment in der europäischen Literatur, das um 1900 mithilfe (oder trotz) der Romantik mitten im Diskurs der Moderne steht; und zum anderen spiegele sich in ihr eine Art gefährlicher Nostalgie, die antimoderne Tendenzen vorbereite und sich besonders im deutschen Sprachraum ausbreite. Nicht nur im Literarischen Quartett, sondern auch über wissenschaftliche Beiträge etabliert sich das Modell einer latent gefährlichen ‚Neuromantik‘, deren Nervosität, Vitalismus und Wandervogel-Begeisterung geradezu folgerichtig in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts umschlage.Footnote 5

Soweit die Bestandsaufnahme. Hinter dieser Geschichtsnarration tritt jedoch, so der erste Einwand, das tatsächliche Profil einer historisch verankerten Neoromantik – mit ihren Voraussetzungen, kanonischen Texten und Schreibweisen – in den Hintergrund. „Neuromantik“ im zeitgenössischen Sinne, wie sie in den literarischen Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnet wurde,Footnote 6 erfuhr eine rege Rezeption im literarischen Feld der Moderne – und erntete harsche Kritik sowohl bei den vitalistischen Jugendbewegungen als auch bei den Nationalsozialisten. Allzu „müde“ und „passiv“ sei diese kränkliche Literaturströmung,Footnote 7 die in der Regel zwischen den Jahren 1890 und 1914 datiert und von so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Ricarda Huch, Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal repräsentiert wurde.Footnote 8 Ihre heute vergessenen Vorbilder kamen nicht aus Deutschland, sondern aus der internationalen Moderne: Der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck sowie der Däne Jens Peter Jacobsen lassen sich als die wichtigsten Impulsgeber eines neoromantischen Schreibens ausmachen, das von Zeitgenossen wie Heinrich Mann, Hermann Hesse oder Samuel Lublinski eben nicht als schlichte Wiederholung alter Romantik, sondern als ihre Aktualisierung unter den Vorzeichen der Moderne gedeutet wurde. Mit Blick auf die historische Romantik beschäftigen sich junge Autorinnen und Autoren in diesem Zeitraum intensiv mit Novalis, der anhand von Editionen und Neuauflagen, ebenfalls auf internationaler Ebene, wiederentdeckt wird.Footnote 9 Kurz: Im kulturellen Wissen der Jahrhundertwende existiert noch ein vergleichsweise scharfes Profil neoromantischer Literatur, das eklatante Unterschiede zu unserem aktuellen Verständnis des historischen Phänomens aufweist. Ein solches Modell historisch fundierter Neoromantik zu rekonstruieren, nimmt sich die erste Hälfte der folgenden Untersuchung zur Aufgabe.Footnote 10

Dabei setzt sich die spezifische Wiederaufnahme von Romantik um 1900 nicht nur – und nicht einmal vorrangig – aus einer regen Diskussion in den zeitgenössischen Feuilletons zusammen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht lässt sich Neoromantik auch als eine Strategie literarischer Texte beschreiben, die in einem abgegrenzten historischen Zeitraum – von ca. 1890 bis 1910 – geradezu ubiquitär an romantische Erzählverfahren nach Novalis, Heine und Eichendorff anknüpfen. Ob Hugo von Hofmannsthal mit seinem Dramenfragment Bergwerk zu Falun (1900), Hermann Hesse in seiner ersten Publikation Romantische Lieder (1898) oder auch Thomas Mann mit dem Märchenroman Königliche Hoheit (1909): An der Romantik als Motivkomplex und literarische Formensprache geht in der deutschsprachigen Literatur von circa 1890 bis 1910 kaum ein Weg vorbei.Footnote 11 Die intertextuellen Analogien sind dabei derart offen ausgestellt, dass von einer aktiven Remodellierung von Romantik (unter den Vorzeichen der Jahrhundertwende) gesprochen werden kann. Eine literarische Neoromantik, danach forscht der zweite Teil dieser Untersuchung, aktualisiert und modifiziert die historische Romantik also in einer für die Jahrhundertwende charakteristischen Art und Weise.

Im Folgenden soll genau dieser Doppelcharakter berücksichtigt werden, um eine Neoromantik im Kontext der literarischen Moderne möglichst wertneutral zu beschreiben. Auf der einen Seite verbreiten sich um 1900 rege Diskussionen über eine „neue Romantik“, „Nervenromantik“ oder auch „Neuromantik“, angestoßen prominent von Hermann Bahr, literarhistorisch fundiert durch Ricarda Huch.Footnote 12 Auf der anderen Seite entstehen literarische Texte, die an diese Debatte anknüpfen und mit individuellen Erzählverfahren daran partizipieren. Ob sich wiederkehrende Merkmale bestimmen lassen, mit denen sich eine neoromantische Literatur von ca. 1890 bis 1910 gerade in ihrer Differenz zur historischen Romantik beschreiben lässt, das gilt es in exemplarischen, modelltheoretisch geleiteten Textanalysen herauszufinden.

Abbildung 1.1
figure 1

Links: Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818. Öl auf Leinwand. 74,8 × 94,8 cm. © bpk / Hamburger Kunsthalle / Elke Walford. Rechts: Willy Schlobach: Die Elemente in Bewegung, 1900. Öl auf Leinwand. 142,3 × 185,5 cm. Privatbesitz. © Foto: Franz Schachinger, Wien

Romantik und Neoromantik im Vergleich am Beispiel der bildenden Kunst.

Wie konkret neoromantische Literatur auf die historische Romantik des frühen 19. Jahrhunderts zurückgreift, lässt sich an einem einführenden Beispiel aus der bildenden Kunst (in Abb. 1.1) illustrieren. Der belgisch-deutsche Künstler Willy Schlobach (1864–1951) adaptiert in seinem Gemälde Die Elemente in Bewegung (1900) passgenau das motivische Setting aus Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (1818).Footnote 13 Doch während in dieser Wiederaufnahme das Bildzitat deutlich erkennbar bleibt, werden wichtige Elemente aktualisiert: Der junge Wanderer wird durch eine nackte Frauenfigur mit transparentem Schleier ersetzt, die lose an die Malerei der Präraffaeliten, z. B. Dante Gabriel Rossettis (Beata Beatrix, 1870) oder Edward Burne-Jones’ (The Depths of the Sea, 1887) erinnert. Neben ihrer Transformation in eine mythische Gestalt verändert sich auch die Möglichkeit der Figur, mit ihrer Natur zu interagieren: Wo bei Caspar David Friedrich perspektivisch offenbleibt, in welchem Verhältnis Wanderer und Nebelmeer zueinander stehen,Footnote 14 muss sich die bergige Wolkenlandschaft bei Schlobach einer Gestaltung durch die Hände der Frauenfigur beugen. Schlobach inszeniert, literaturwissenschaftlich ausgelegt, ein esoterisches ‚Wunder‘ (im Sinne Todorovs), das sich über seinen Titel – Die Elemente in Bewegung – auch als Allegorisierung eines naturwissenschaftlichen Vorgangs auslegen lässt. ‚In Bewegung‘ ist bei Schlobach auch das Bildverfahren: Dynamisch und mit einer unscharfen Linienführung verändert sich der Wanderer über dem Nebelmeer auch auf der Darstellungsebene, die bei Friedrich noch mithilfe von klaren Linien und geometrischen Formen das Verhältnis von Subjekt und Natur ergebnisoffen hinterfragt.

Mit Blick auf eine solche Neoromantik, wie sie transmedial in mehreren Künsten um 1900 auftritt,Footnote 15 illustriert der Bildvergleich bereits drei charakteristische Merkmale: Zum einen üben sich neoromantische Texte in einer klar erkennbaren Wiederaufnahme von Romantik, die im Zweifelsfall über ihre Motive einen Verweis auf die historische Romantik ausstellen. Zweitens verändert sich im neoromantischen Werk ein literarisches Verfahren auf der Darstellungsebene (wie bei Schlobach in der leicht verschwommenen Linienführung und der Dynamik), was im historischen Kontext als die wesentliche Innovation im Zeichen der Jahrhundertwende diskutiert wird. Drittens und schließlich ergeben sich aber auch weltanschauliche, semantische Modifikationen, die einem wiederkehrenden Modell historisch-romantischer Texte widersprechen können. Nimmt man an, dass sich romantische Literatur bzw. ein literarisches Subsystem ‚Romantik‘ durch rekurrente Erzählmuster und Weltentwürfe von anderen Literaturströmungen unterscheiden lässt,Footnote 16 dann kann auch die Veränderung eines romantischen Schreibens hin zu einem neoromantischen Schreiben um 1900 deskriptiv analysiert und beschrieben werden. Dieser Aufgabe widmet sich die zweite Hälfte der Untersuchung, die anhand von Textanalysen das Charakteristische einer neoromantischen Literatur auf Grundlage eines Modells von Romantik des frühen 19. Jahrhundert herauszuarbeiten sucht.

1.1 Fragestellung: Warum und mit welchem Ziel untersucht man die Neoromantik?

Ungeachtet einer florierenden Romantik-Forschung, die das kulturelle Wissen über die Genese und Entwicklung von Romantik in den letzten Jahrzehnten deutlich erweitert hat,Footnote 17 klafft in der wohl wichtigsten Periode der Romantik-Rezeption forschungsgeschichtlich eine Leerstelle. „[E]ine umfassende monographische Darstellung zur Genese und Struktur einer deutschsprachigen Neuromantik bildet bis heute ein Forschungsdesiderat“, konstatiert noch Claudia Lieb,Footnote 18 und vor allem in Einzelforschungen zu Autoren, deren Nähe zu einem Neuromantik-Diskurs der Jahrhundertwende unausweichlich ist, häufen sich die monierenden Fußnoten. „Der Begriff ‚Neuromantik‘ ist in seiner eigentlichen Bedeutung […] nicht detailliert erforscht“, pointiert Irmgard Heidler in ihrer Studie zu Eugen Diederichs,Footnote 19 und auch Günter Oesterle stellt fest, dass „die gesamte Breite neuromantischer literarischer Produktion […] literaturgeschichtlich bislang weder beschrieben noch charakterisiert worden“ sei.Footnote 20 Dabei zeichnen schon Heidler und Oesterle ein jeweils unterschiedliches Bild: Wo ‚Neuromantik‘ in der Diederichs-Forschung vor allem als Diskursbegriff behandelt wird, mit dem ein junger Verleger seine Bücher vermarktet, findet sich Neoromantik bei Oesterle auch in literarischen Texten wieder, sodass sie dort als ein Erzählverfahren zu bestimmen wäre.

Genau diesen Doppelcharakter als Diskurs- und als Textphänomen gilt es, für ein wertneutrales Verständnis der literarhistorischen Neoromantik produktiv zu wenden. Die folgende Untersuchung schlägt deshalb vor, einer Neoromantik der Jahrhundertwende auf zwei heuristischen Ebenen zu begegnen: Zum einen ist sie ein historischer Diskurs, genauer: die Rede über eine wiederkehrende Romantik, die ab dem Jahr 1890 in den deutschsprachigen Feuilletons auftaucht und nach einer Phase enormer Popularität um 1910 wieder verebbt. Zum anderen kann sie als literarische Strategie analysiert werden, die auftritt, sobald literarische Verfahren eine Analogie zwischen romantischen und neoromantischen Texten behaupten. Probiert sich Literatur zur Jahrhundertwende in der intertextuellen Aneignung von Romantik, dann evoziert sie unweigerlich die Frage nach Aktualisierungen und Transformationen: Was wird von der romantischen Vorlage übernommen, was wird verworfen und worin genau besteht das Neue eines neoromantischen Schreibens? Gegenüber den zahlreichen Subströmungen der Jahrhundertwende, so dem Ästhetizismus, dem Naturalismus, der Décadence usw.,Footnote 21 bietet die literarische Neoromantik genau in diesem Aspekt, also: in ihrer semantischen Transformation von Romantik, eine analytische, bisher wenig genutzte Chance.Footnote 22

Auch methodisch lässt sich diese Doppelvalenz von Neoromantik über zwei unterschiedliche Zugänge erfassen. Zuerst wird mithilfe einer historisch-kritischen Diskursanalyse aufgearbeitet, welches implizite Wissen mitschwingt, sobald Neoromantisches zwischen 1890 und 1910 in Literatur, Zeitschriften und Wissenschaft besprochen wird. Kanonische Texte, wiederkehrende Deutungsmuster und auch symbolisches Kapital rund um die Diskussion einer wiederkehrenden Romantik werden mit Blick auf das „Denksystem“ um 1900 ausgewertet,Footnote 23 um das eigenständige Profil der zeitgenössisch gewachsenen Diskursströmung zu rekonstruieren. Zweitens lässt sich in einem heuristischen Modellvergleich analysieren, wie sich eine solche Neoromantik in ihren literarischen Verfahren zur historischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts verhält. Um im Zuge dieses Modellvergleichs valide Erkenntnisse über das Literatursystem der Jahrhundertwende zu gewinnen, ist zum einen ein präzises, heuristisches Modell von Romantik notwendig, das eine Beschreibung der Transformationen und Übernahmen erst erlaubt. Zum anderen soll aber auch das kulturelle Wissen über Neoromantik berücksichtigt werden, um die Reichweite, Grenzen und einschlägigen Texte der Neoromantik auf der Folie des Denksystems (wie z. B. die Märchendramen Maurice Maeterlincks und den Einfluss von Nietzsche) abzustecken.Footnote 24 Die erkenntnisleitende Fragestellung lautet also wie folgt: Welche wiederkehrenden Merkmale kennzeichnen eine Neoromantik um 1900 und inwiefern übernimmt oder verändert sie zentrale Merkmale der romantischen Vorlage?

Für die erste Aufgabe, die im ersten (von zwei) Hauptteilen unter der Überschrift Transformationen erörtert wird (Kap. 2), unternimmt die Arbeit deshalb eine Diskursanalyse im erweiterten Sinne. Die wichtigsten Texte rund um den ‚Neuromantik‘-Diskurs werden sondiert, eingeordnet und (wenn nötig) auch in ihren einschlägigen Semantiken analysiert, sodass ein scharfes Profil darüber hervortritt, was man als Zeitgenossin oder Zeitgenosse über die neoromantische Literaturbewegung wissen konnte. Der zweite Hauptteil analysiert, daran anschließend, unter dem Titel Erzählstrategien (Kap. 2) ausgewählte Kurzprosa, die eine jeweils individuelle Auffassung von Neoromantik mit literarästhetischen Mitteln inszeniert. Die Auswahl der Autoren mag auf den ersten Blick überraschen: Heinrich Mann, Hanns Heinz Ewers und Hermann Hesse produzieren nicht nur völlig unterschiedliche Arten von Prosa, sondern werden in der jüngeren Forschung vergleichsweise selten mit einer Neoromantik in Verbindung gebracht.Footnote 25 Dabei verbindet sie gerade dieses Merkmal auf der Folie des zeitgenössischen Diskurses: Alle drei wissen um die Debatten über neue Romantik, publizieren poetologische bzw. programmatische Schriften in diesem Kontext und knüpfen in ihren Werken explizit an den literarischen Trend an. Anders als im öffentlichen Diskurs über neue Romantik, in den beispielsweise Ricarda Huch als prominente Autorin eingreift, zeigt sich dieses affirmative Verhältnis zum Neoromantik-Trend literarästhetisch vor allem bei Männern, sodass eine offensive Aktualisierung von Romantik um 1900 auch eine gendertheoretische Implikation aufweist.Footnote 26

Mann, Ewers und Hesse lassen sich durchaus als repräsentative Vertreter dreier unterschiedlicher Spielarten neoromantischer Literatur untersuchen, zwischen denen sich dennoch unerwartete Schnittmengen im Hinblick auf ihren gemeinsamen Umgang mit Romantik ergeben. Methodisch unternimmt der zweite (von zwei) Hauptteilen damit eine kultursemiotisch geleitete Modellanalyse: Anhand literarischer Texte werden neoromantische Erzählstrategien analysiert, die in enger Wechselwirkung mit dem Diskurs entstehen und sich dem Vergleich mit einem Analysemodell von Romantik auf dem aktuellen Forschungsstand stellen müssen.

Ein modellhafter Fokus auf das Romantische eröffnet für ein Verständnis der Neoromantik gleich mehrere Chancen: Erstens lassen sich wissenschaftliche Fragen, die in der Romantik-Forschung bereits gut erschlossen (oder zumindest vieldiskutiert) wurden, auf die Literatur der Jahrhundertwende übertragen. Changiert neoromantische Prosa beispielsweise – nach romantischem Vorbild – ebenfalls zwischen verschiedenen Deutungsoptionen (im Sinne einer „unendliche[n] Annäherung“ an das Absolute)?Footnote 27 Teilen neoromantische Texte eine ähnliche Vorliebe zum Fragment oder zur Ironie, wie sie die romantische Literatur poetologisch entwirft? Zweitens ermöglicht ein solcher Suchbefehl einen systematischen Blick auf die Kernprobleme dieser Literatur, da die Spur zur Romantik über intertextuelle Referenzen selbst ausgelegt wird: Worin besteht der Reiz dieser Texte, überhaupt Romantik zu aktualisieren? Knüpfen sie an kulturgeschichtliche Probleme an, die auch in romantischen Texten inszeniert werden, oder stellen sich ihnen neue, veränderte Problemkonstellationen?Footnote 28 Drittens und letztens ermöglicht der modellgeleitete Vergleich zwischen Romantik und Neoromantik einen neuartigen Blick auf die Tradierungs- bzw. Rezeptionsmöglichkeiten des Romantischen: Welche Rückschlüsse lassen neoromantische Transformationen über ihr Ursprungsmodell, die historische Romantik, zu? Inwiefern hat eine neoromantische Literatur möglicherweise unser Verständnis von Romantik geprägt bzw. verändert?

Bevor mithilfe dieses zweistufigen Analyseverfahrens nun ein Modell von Neoromantik erarbeitet wird, gilt es in einem vorangestellten Schritt (Kap. 1), den aktuellen Forschungsstand und theoretische Grundlagen zum Modell zu klären. Was es mit den heuristischen Modellen in dieser Arbeit auf sich hat und wie genau ein analytisches Modell von Romantik konzipiert wird, arbeitet ein Kapitel zur Theoriereflexion hervor (Abschn. 1.3). Auch der bisherige Forschungsstand zur Neoromantik wird einführend überblickt und systematisiert (Abschn. 1.2). Auf diese Weise lässt sich zeigen, welchen Wandel ins Pejorative – bis hin zu einem „Redeverbot“ seit den 1990er JahrenFootnote 29 – die Neoromantik forschungsgeschichtlich durchlief und welche Gründe sich dafür ausmachen lassen.

Eine wichtige Prämisse setzt diese Untersuchung bereits in ihrer Begriffswahl. Nicht eine Neuromantik im objektsprachlichen Sinne wird im Folgenden beschrieben, sondern eine analytische Neoromantik, die in ihrem metasprachlichen Terminus Wertneutralität und Distanz zu den analysierten Phänomenen bewahrt. Auch um den Polemiken und Vorurteilen indifferent zu begegnen, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts am Begriff der ‚Neuromantik‘ abarbeiteten,Footnote 30 ist es methodologisch wertvoll, durch den metasprachlichen, historisch kaum verankerten Terminus ‚Neoromantik‘ Abstand zu wahren.Footnote 31 Auf diese Weise lassen sich die Mechanismen, mit denen ‚Neuromantik‘ als zeitgenössischer Diskurs schon früh negativ aufgeladen wurde, diskursanalytisch beschreiben, ohne den historisch umstrittenen Begriff unfreiwillig zu verteidigen. Statt also eine Neuromantik im objektsprachlichen Sinne aufzuwerten, soll im Folgenden ein wertneutrales Modell von Neoromantik angeboten werden, das die komplexen Phänomene rund um die Romantik-Aneignung in Texten und Diskursen um 1900 in ihren wesentlichen Charakteristika beschreibt.

Dabei stellt sich auch ein (vermeintlicher) Mehrwert des objektsprachlichen „Neuro-Mantik“-Begriffs, der in seiner Kombination von ‚Neuro‘ und ‚Romantik‘ die nervöse Seite der Strömung akzentuiert,Footnote 32 als irreführende Fährte heraus. Erstens taucht diese Begriffsverwendung erst in der späteren Forschungsgeschichte und nicht in den historischen Texten um 1900 auf; und zweitens wird damit eine Semantik der ‚Nerven‘ bzw. Nervosität aufgerufen, derer sich der Neuromantik-Diskurs schon früh zu entledigen sucht.Footnote 33 Wenn im Folgenden also der Terminus ‚Neuromantik‘ eingesetzt wird, dann ausschließlich zur deskriptiven Beschreibung jener diskursiven Ebene, auf der sich zwischen 1896 und 1910 Akteure über die ‚Neuromantik‘ austauschen (z. B. im Eugen-Diederichs-Verlag). Wenn hingegen von Regularitäten des Phänomens über den Einzeldiskurs hinaus, zum Beispiel in Form von literarischen Textstrategien, gesprochen wird, dann erfolgt dies unter dem übergeordneten, metasprachlichen Terminus der Neoromantik.

Auch in den drängenden Fragen zur Kartographierung der Moderne gilt es, mit Blick auf den untersuchten Zeitraum eine transparente Begriffsentscheidung zu treffen. Die vergleichende Untersuchung zwischen romantischer und neoromantischer Literatur bewegt sich notwendig zwischen den Stühlen, da sich forschungsgeschichtlich bekanntermaßen zwei Modernebegriffe durchgesetzt haben (und nach wie vor koexistieren). Eine makrohistorische Moderne setzt ihren Anfangspunkt symbolisch auf das Jahr 1800 und wird (in der Regel) bis in die Gegenwart fortdatiert.Footnote 34 In der Literaturwissenschaft vertreten verstärkt Forschungen zur Romantik diese Auffassung, wobei sich auch interdisziplinär das Modell einer Makro-Moderne als anschlussfähig erwiesen hat.Footnote 35 Eine mikrohistorische Moderne hingegen findet sich ausschließlich in den Kunst- und Literaturwissenschaften und beginnt aus germanistischer Sicht mit den Proklamationen von Eugen Wolff, der seine Epoche ab 1890 erstmals als „die Moderne“ tituliert.Footnote 36 Als metasprachlicher Begriff gewendet, geht dieser Terminus in einer literarischen Moderne von ca. 1890 bis 1933 auf, worauf der Nationalsozialismus, die Nachkriegszeit, die Postmoderne oder neuerdings eine Post-Postmoderne folgen. In Forschungen zur Literatur des frühen 20. Jahrhunderts wird diese mikrogeschichtliche Periodisierung – inklusive einer Differenzierung z. B. in frühe Moderne (1890–1910) und emphatische Moderne (1910–1920), manchmal auch klassische Moderne (1900–1930) – insgesamt bevorzugt.Footnote 37

In der analytischen Praxis ist diese Begriffsdopplung zunächst einmal unbefriedigend, da sie – trotz valider Argumente auf beiden Seiten – den wechselseitigen Austausch erschwert. Tatsächlich entwickelt der Modernebegriff, objektsprachlich betrachtet, mit dem Jahr 1890 eine neuartige Qualität, wohingegen sich metasprachliche Modernisierungsprozesse markant seit der ‚Sattelzeit‘ (mit ihrem Höhepunkt ungefähr um 1800) nachweisen lassen. Aufgrund ihrer interdisziplinären Anschlussfähigkeit soll hier die metasprachliche Option bevorzugt werden: Um nicht Semantiken der Objektsprache ungefiltert in ein analytisches Verständnis von Neoromantik zu übertragen, sondern um Modernisierungsprozesse im analytischen Sinn vergleichend in den Blick zu rücken, soll ‚die Moderne‘ hier vorrangig im Sinne einer makrogeschichtlichen Epoche von 1800 bis in die Gegenwart verstanden werden. Ist von einer ‚modernen‘ Literatur aus der Perspektive einer Objektsprache der 1890er und 1900er Jahre die Rede, dann befindet sich der Begriff zur Kennzeichnung der Objektsprache in einfachen Anführungszeichen. Gezielt werden die Fragen zur genuinen Modernität der Neoromantik im abschließenden Fazit evaluiert; bis dahin reicht es aus, dass die neoromantischen Texte aufgrund ihres Entstehungszeitraums nach 1800 als modern und aufgrund ihrer Position im literarischen Feld um 1900 als ‚modern‘ gelten können.

Mit der Entscheidung für einen makrohistorischen Modernebegriff fallen zugleich jene engeren Epochenbezeichnungen aus dem Raster, die mikrohistorische Periodisierungen in ihrem Namen tragen. Für die Literatur zwischen 1890 und 1910 betrifft das vor allem den Terminus der ‚frühen Moderne‘, der zurzeit eine kleine Konjunktur in der Jahrhundertwende-Forschung erlebt.Footnote 38 Unter Einbezug noch vorgelagerter Modernisierungsprozesse im metasprachlichen Sinn (z. B. in der Romantik), erscheint diese Akzentuierung einer Frühzeit der Moderne seit 1890 allerdings nicht überzeugend. Im Anschluss an Michael Titzmann und Marianne Wünsch, die den Begriff erstmals für ein literarisches Subsystem verwendeten,Footnote 39 soll dennoch im Folgenden die Hypothese aufgegriffen werden, dass sich Regularitäten bzw. verbindende Erzählmodelle in der Literatur von 1890 bis ca. 1910 nachweisen lassen, die auf ein übergreifendes Literatur(sub)system dieser Zeit hinweisen.Footnote 40 Da sich mit Blick auf die Neoromantik ein mikrohistorischer Modernebegriff als ungeeignet erweist, schlage ich vor, diesen Zeitraum wertneutral und heuristisch als Literatur der Jahrhundertwende zu bezeichnen. Vieles deutet darauf hin, dass es sich dabei um die erste Station eines größeren Literatursystems handelt, das Titzmann und Wünsch als ‚die Moderne‘ (im mikrohistorischen Sinn) betiteln und von 1890 bis 1930 datieren.Footnote 41 Eine wertneutrale, die beiden Forschungstraditionen verbindende Bezeichnung zu finden, ist hier nicht der Ort. Stattdessen lassen sich am Beispiel der Neoromantik neue Erkenntnisse über das Literatursystem der Jahrhundertwende gewinnen, dessen Erzählmodell es in den folgenden Analysen zu schärfen gilt.

1.2 Forschungen zur Neoromantik: Vier Phasen der Rezeptionsgeschichte

Bevor die bewegte Forschungsgeschichte der Neoromantik in ihren Grundzügen und wichtigsten Texten nachgezeichnet wird, lässt sich mithilfe einer (immer noch) unkonventionellen Methode ein erster Überblick über ihre Begriffskonjunktur gewinnen. Sucht man nach dem (objektsprachlich dominanten) Begriff der ‚Neuromantik‘ im Ngram Viewer von Google Books, dann zählt das Online-Tool die rein quantitative Häufigkeit des Neuromantik-Begriffs in einem enormen Korpus an deutschsprachigen Texten aus.Footnote 42 Für den Zeitraum von 1840 bis 2000 zeigt das Programm einen historischen Begriffsverlauf an, der in den Jahren um 1900 einen ersten Aufschwung erlebt, um anschließend in den 1930er Jahren zu einem Höhepunkt zu gelangen (siehe Abb. 1.2).

Abbildung 1.2
figure 2

https://books.google.com/ngrams/graph?content=Neuromantik&year_start=1840&year_end=2010&corpus=de-2012&smoothing=3 (letzter Aufruf am 30.5.2022, rote Markierung R.S.)

Verlaufskurve des Google Ngram Viewer: „Neuromantik“, Zeitraum: 1840-2010, Deutsch.

Auch wenn die Repräsentativität des Diagramms nur mit Vorsicht zu genießen ist,Footnote 43 deckt es sich in groben Zügen mit der qualitativen Auswertung, die im folgenden Forschungskapitel dargestellt wird. Der rot markierte Zeitraum umfasst die zwanzig Jahre zwischen 1890 und 1910, in denen die ‚Neuromantik‘ als Diskurs aufkommt und auf dem Höhepunkt ihrer kulturellen Relevanz steht.Footnote 44 Schon in den 1910er Jahren geht das Interesse an dem Diskurs auch laut des Diagramms merklich zurück, bis es zu einer Konjunktur in den 1930er Jahren anhebt. Diese lässt sich, wie zu zeigen sein wird, mit der Genese eines neuen Romantikbilds in der NS-Zeit erklären, das die Heidelberger bzw. mittlere Romantik zum Ausgangspunkt erhebt und korrigierende Forschungen fordert, welche die Verbindung zwischen Neoromantik und historischer Romantik auflockern. Das größte Interesse erfährt ‚Neuromantik‘ damit auf dem Weg in den Nationalsozialismus, allerdings in abwertender Funktion. In der Nachkriegszeit schließlich verschwindet der Begriffsgebrauch mehr und mehr aus dem öffentlichen Diskurs, wofür sich anhand der Forschungstexte auch zeithistorisch nachvollziehbare Gründe anführen lassen. Heute ist die ‚Neuromantik‘ als historisches Phänomen weitestgehend begriffsleer: Ein Konsens darüber, worauf die Neoromantik reagiert, was sie bezeichnet und welche Texte oder Autoren ihr zugerechnet werden könnten, ist mittlerweile verloren.Footnote 45

Die insgesamt durchaus rege Forschung zur Neu- bzw. Neoromantik der Jahrhundertwende, überblickt man ihre hundertjährige Geschichte, lässt sich grob in vier verschiedene Phasen einteilen. Zunächst kommt bereits um 1900 eine frühe Forschung mit intervenierendem Charakter auf, die – als einzige der vier Phasen – den Neuromantik-Begriff nicht abwertend gebraucht, sondern ihn zum Ausgangspunkt einer Entwicklungsgeschichte zeitgenössischer Kultur erhebt. Schon um das Jahr 1910 herum, spätestens dann nach dem Ersten Weltkrieg beginnen die Forschungen merklich, die neoromantische Phase um 1900 zu historisieren und als abgeschlossene, aber weiterhin interpretationswürdige Übergangsstation zu begreifen. Eine zweite Forschungsstation ab den 1920er Jahren zeichnet sich anschließend durch eine Abwertung von ‚Neuromantik‘ zugunsten eines gewandelten Romantik-Modells aus. In den 1930er Jahren kulminiert dieses Forschungsinteresse, um eine vermeintliche Verbindung von „müder“ Neoromantik und historischer Romantik aufzulösen.Footnote 46

Der dritte Einschnitt in der Forschungsgeschichte geschieht gegen Ende der 1960er Jahre, in denen – parallel zur allmählichen Wiederaufwertung der Frühromantik – ideologische Einwände gegen eine umdefinierte ‚Neuromantik‘ artikuliert werden. Der Typus des „neuromantische[n] Seelenvagabunden“ wird in dieser Phase eng mit der Wandervogel- und Jugendbewegung verknüpft, sodass die Forschungen eine „Suche nach dem authentischen Leben“ in der Jahrhundertwende-Kultur kritisch bearbeiten.Footnote 47 Ihren Höhepunkt findet diese dritte Periode der Ideologiekritik gegen Ende der 1980er Jahre, in denen die Abschaffung des Begriffs ‚Neuromantik‘ aus den Literaturgeschichten gefordert wird, da er „nichts bewirkt als Vernebelung und Geschichtsklitterei“.Footnote 48 In einer vierten und letzten Phase schließlich zeigt sich ab Mitte der 1990er Jahre einerseits die erfolgreiche Verdrängung des Terminus: „Die Verwendung des Ausdrucks Neuromantik als eines übergreifenden Sammelbegriffs […] sollte vermieden werden“,Footnote 49 so verhängt Jürgen Viering im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft sein „Redeverbot“,Footnote 50 und gleichzeitig kündigen sich kleinere Wiederentdeckungen in Einzelforschungen an, deren Autoren unweigerlich mit dem historischen Label der ‚Neuromantik‘ operieren (z. B. Eugen Diederichs, Maurice Maeterlinck, Ricarda Huch). Vor allem in Arbeiten zu diesen Autoren zeigt sich, dass ‚Neuromantik‘ als historischer Begriff klärungsbedürftig geworden ist und auf keinen forschungsgeschichtlichen Konsens mehr zugreifen kann.

Prolegomena zu den frühen Forschungen mit intervenierendem Charakter (1890–1920)

Die erste Phase der Forschungsgeschichte, die um 1900 beginnt und ungefähr zu Beginn des Ersten Weltkriegs verebbt,Footnote 51 muss sich im Zuge dieser Arbeit noch einer genaueren (Diskurs-)Analyse stellen.Footnote 52 Die germanistische Forschung der Jahrhundertwende, die ebenfalls in diesem Zeitraum einen Paradigmenwechsel hin zur Romantikforschung unternimmt,Footnote 53 dient im Folgenden als Primärquelle, da sie den neoromantischen Modetrend aufnimmt und in ihren Schriften verstärkt. Vorwegnehmen lässt sich, dass Ludwig Coellen mit seinem Neuromantik-Band (1906) keineswegs die erste, nicht einmal eine frühe Bearbeitung des Neuromantik-Begriffs liefert.Footnote 54 Wichtigere und frühere Texte im wissenschaftlichen Umfeld lassen sich in den Arbeiten von Oskar Walzel und Ricarda Huch finden, die sich beide – neben bzw. in ihren einschlägigen Romantik-Forschungen – auch zur Neoromantik geäußert haben.Footnote 55 Als Experten zur neuen Romantik im Anschluss an Maeterlinck treten auch Marie Joachimi-Dege, Heinrich Meyer-Benfey oder Karl Joël in Erscheinung,Footnote 56 wobei Arbeiten zur historischen Romantik in dieser Phase eng mit dem ‚Neuromantik‘-Diskurs verknüpft sind – wie das Beispiel Alfred Kerrs zeigt, der seine Dissertation über Godwi (1898) mit dem Verweis auf die Neoromantik Maeterlincks und Nietzsches eröffnet.Footnote 57

Ein blinder Fleck der vorliegenden Arbeit (wie auch der germanistischen Forschung) liegt darüber hinaus im Romantik-Diskurs und den Neoromantik-Forschungen der 1920er Jahre. Aufbauend auf den Rezeptionsstudien von Karl Robert Mandelkow liegt es hier nahe, „eine Tendenz der Schwerpunktverlagerung des Interesses auf die staats- und gesellschaftspolitischen Schriften der mittleren und späten Romantik“ zu konstatieren, welche die spätere Umwertung vorbereiten und mitgestalten.Footnote 58 Eine vertiefende Untersuchung zum Romantikverständnis der Weimarer Republik, u. a. mit Blick auf das Zeitschriftenwesen und die Wissenschaft, könnte eine weiterhin bestehende Lücke in der Wirkungsgeschichte der Romantik schließen.Footnote 59

Um- und Abwertung einer passiven Neoromantik (bis 1945)

Für eine zweite Phase, die mit einer Abwertung passiver Neoromantik in die 1930er Jahre führt, lassen sich stellvertretend zwei Publikationen heranziehen, die sich einschlägig mit der neoromantischen Literatur um 1900 beschäftigen und dabei verlorenes Wissen aufarbeiten. Zum einen unternimmt Anne Kimmich in ihrer Dissertation eine Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Neuromantik‘ in der Literaturgeschichtsschreibung (1936), in der sie die Historiographie der Neoromantik bis zum Verfassungszeitpunkt sammelt, nachzeichnet und bewertet. Dankbar notieren lässt sich Kimmichs Auswertung literaturgeschichtlicher Beiträge; darüber hinaus trug ihre Dissertation allerdings auch zu einigen Mythen bei, die sich hartnäckig bis in jüngere Forschungsbeiträge halten. Zuallererst muss ihr Titel ernst genommen werden: Kimmich untersucht die Neoromantik in der „Literaturgeschichtsschreibung“ und zieht nur „[z]u einer gewissen Abrundung des Bildes“ ausgewählte Beiträge aus literarischen Zeitschriften herbei.Footnote 60 Diese Ausweitung auf den literarischen Diskurs geschieht oberflächlich und deduktiv, sodass Kimmichs Gesamtportrait der Neoromantik mit Blick auf das historische Material korrigiert werden muss. Zum Beispiel sind es nicht die (konservativen) Preußischen Jahrbücher im Jahr 1897, die „vorsichtig und tastend an[fangen], das Problem einer wiedererstehenden Romantik zu erörtern“,Footnote 61 sondern schon vorher bringen innerliterarische Kreise um Hermann Bahr, Leo Berg und Autoren wie Heinrich Mann und Hofmannsthal die neue Romantik ins Gespräch. Eine „wahre Balgerei um Neuromantik“ setzt tatsächlich erst kurz nach der Jahrhundertwende ein,Footnote 62 doch Kimmich verkennt, dass dieser Popularisierung eine binnenliterarische Diskussion um Maurice Maeterlinck vorausging.Footnote 63 Ein Problem in Kimmichs Historiographie liegt damit in der vorschnellen Deduktion: Ausgehend von der Literaturgeschichtsschreibung überträgt sie ihre Befunde auf den literarischen Diskurs um 1900, den sie damit verzerrt.Footnote 64

Es gibt aber noch weitere Probleme, anhand denen sich Kimmichs Dissertation – trotz ihrer stilistischen Objektivität – als zeitgebunden und auch als zeittypisch für die 1930er Jahre ausweist. Zwar räumt sie ihrer Auffassung von Romantik kein eigenes Kapitel ein und inszeniert auch ihre Bewertungen als objektiv-kritisch, doch innerhalb der einzelnen Analysen tritt ein normatives Anliegen zutage: Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, zweifelsohne ihr Lieblingsdichter,Footnote 65 haftet das Neuromantik-Label in den 1930er Jahren negativ an, da es ungeliebte Konnotationen wie Passivität, Relativismus und einem überschätzten Individualismus transportiert. „Nachgeben, Müdigkeit – das scheint der Hauptzug unserer Neuromantik zu sein“, resümiert Kimmich,Footnote 66 und diese Aspekte erkennt sie weder als konstitutiv für Hofmannsthal noch als Wesenszug der historischen Romantik an. „Wie konnte man das starke vitale Moment bei diesem Dichter derart übersehen“, führt sie mit Blick auf Hofmannsthal aus,Footnote 67 und auch die Romantik charakterisiert sie zu einem großen Teil über vitalistische Normen: „Romantik ist Vitalität, Gesundheit, Kraft – aber auch eine sentimentalische Sehnsucht nach Leben, Lebensdurst.“Footnote 68 Andere Autoren wie Hofmannsthal, Hesse etc. verkörpern entsprechend, und darin liegt das Anliegen ihrer Arbeit, eine adäquatere Romantik der Gegenwart als die „müde[] Neuromantik“ um 1900.Footnote 69

Dabei argumentiert Kimmich auf einem durchaus hohen Reflexionsniveau, indem sie die verschiedenen Argumente wechselseitig gegeneinander abwägt. „Es liegt auch durchaus nicht in unserer Absicht“, so Kimmich, „der Wiener Neuromantik eine gewisse Verwandtschaft mit der Romantik um 1800 abzusprechen. Gemeinsam ist beiden vor allem die ausgesprochene Rezeptivität und Sensibilität; die Fähigkeit, mit allen Sinnen zugleich zu begreifen, die Synästhesie; aber auch die Betonung des Unbewußten und Unterbewußten, des Traumhaften, des Symbolischen, und die hohe Würdigung des Künstlers.“Footnote 70 Doch „in ganz wesentlichen Punkten“ unterscheide sich die ‚Neuromantik‘ von einem transformierten Romantikmodell der (von Kimmich zitierten) Germanistik,Footnote 71 die sich nun stärker an der mittleren bzw. Heidelberger Romantik orientiert und hierfür den Begriff der „Hochromantik“ prägt.Footnote 72 „Die besondere Staatsauffassung der Romantik, die Idee der Gemeinschaft überhaupt“ übersehe die Neoromantik laut Kimmich zugunsten eines „übersteigerten Individualismus, den man der Romantik um 1800 so oft zu Unrecht vorgeworfen hat“; Religion und „wirkliche ethische Werte“ der Romantik seien auch dem „oberflächlichen Kenner selbstverständlich“ und fehlen der unentschlossenen Neoromantik ganz.Footnote 73 Positiv fällt ihr in den Literaturgeschichten auch eine „starke Betonung des völkischen Moments als eines der Hauptmerkmale der Romantik auf, was wir für eine durchaus richtige Beurteilung halten“.Footnote 74 All diese Säulen ihres Romantik-Modells führen schließlich zum Urteil, eine alternative Autorenriege (und eine andere Seite an Hofmannsthal) als romantisch zu klassifizieren, als sie im zeitgenössischen Kanon etabliert sind: „[E]s ist vor allem Eines“, konstatiert sie mit Blick auf den heimatverbundenen Charon-Kreis um Otto von der Linde, „das sie von der ‚Neuromantik‘ jener Wiener scheidet und dafür echter Romantik nähert: das neue Gefühl einer Verbundenheit mit der Welt, der Einkörperung in einen großen Zusammenhang und daraus entspringend ein neues Verantwortungsbewußtsein.“Footnote 75

Unter diesem Eindruck muss auch Kimmichs „Stellungnahme“ interpretiert werden, die am Ende ihrer Arbeit weit in die Forschungsgeschichte der Neoromantik hineinreicht:

Wir glauben mit einigem Recht die Bezeichnung Neuromantik als solche ablehnen zu dürfen. Der Ausdruck Romantik ist uns zu wertvoll, als daß wir ihn für die Gesamtheit einer Dichtung angewendet wissen wollten, die nach den verschiedensten Seiten hin mindestens ebenso stark und stärker gebunden ist als an die Romantik selbst.Footnote 76

Kimmichs Arbeit versucht sich – nicht ohne Erfolg – an einer Diskurskorrektur,Footnote 77 um die historische Romantik von den negativen Konnotationen der Neoromantik zu befreien. Auch ihre geradezu mathematische These: „Die Verwendung des Begriffs Neuromantik ist dem Fortschritt der Romantikforschung umgekehrt proportional“,Footnote 78 zielt auf eine Reinigung der Romantik von einer dekadenten Passivität: Je weniger man die Romantik (in ihrem ganzheitlichen und ethisch-politischen Anspruch nach Kimmich) verstand, desto reger ordnete auch die Forschung die Literatur der Jahrhundertwende einer ‚Neuromantik‘ zu.

Zwei andere, bislang unbeachtete Aspekte aber lassen sich darüber hinaus aus Kimmichs reflektierter, wenn auch zeitgebundener Arbeit entnehmen: Aus der Literaturgeschichte von Albert Soergel (Dichtung und Dichter der Zeit, 1911) übernimmt sie eine Unterscheidung „zwischen ‚neuer Romantik‘ und ‚Neuromantik‘“, wobei die müde ‚Neuromantik‘ den (kritisierten) Status Quo des Begriffsgebrauchs, ‚neue Romantik‘ aber „[e]ine echte neue Romantik“ bezeichnet.Footnote 79 Was Kimmich zum normativen Argument erhebt, lässt sich auch wertfrei formulieren: In neoromantischen Texten zeigt sich häufig eine Differenz zwischen „registrierte[r] und postulierte[r] Neuromantik“,Footnote 80 also zwischen einem bestehenden Diskurs einerseits und dem Anspruch andererseits, diesen mit einer besser verstandenen Romantik zu korrigieren. Gerade die Gleichzeitigkeit beider Ansätze weist Kimmich anhand mehrerer Literaturgeschichten nach und spiegelt beide Seiten schließlich in ihrer eigenen Arbeit. Als zweiten Aspekt führt Kimmich eine „doppelte Wurzel“ der deutschsprachigen ‚Neuromantik‘ an: Sie gehe gleichermaßen aus der „deutsche[n] Romantik und [der] französische[n] Neuromantik“ hervor.Footnote 81 Auch dieser zweigliedrigen Genese des Diskurses ist zuzustimmen, auch wenn es eine ‚französische Neuromantik‘ – wie zu zeigen sein wird – in dieser diskursiven Form nicht gegeben hat.Footnote 82 Während für Kimmich die französischen Impulse eine Verfälschung der ursprünglichen Romantik darstellen, lassen sie sich wertneutral auch als charakteristische Merkmale einer Neoromantik um 1900 identifizieren.

Weniger einschlägig und mit ganz anderem Ansatz nähert sich Klaus Hilzheimer in einer zeitgleichen Dissertation dem Drama der deutschen Neuromantik (1938). Wo Kimmich die Diskussion um die Neoromantik bis in ihre Gegenwart ausweitet, bleibt sie bei Hilzheimer eng auf den Zeitraum 1896 bis 1910 beschränktFootnote 83 und wird in einer historischen Entwicklungsgeschichte auf Stil und Weltanschauung geprüft. Hilzheimers kaum beachtete Monographie verdient es, neu gelesen zu werden: Nah am Textmaterial und aus analytischer Distanz entwickelt er einen brauchbaren Kriterienkatalog, um das neoromantische Drama anhand von Weltanschauung, Kunstverständnis, wesentlichen Motiven, Bühnengestaltung, Handlung und Sprache von anderen Stilen abzuheben. Schon im einführenden Kapitel führt Hilzheimer die historische Genese der Neoromantik mit Materialkenntnis vor: Den Publikumserfolg von Gerhart Hauptmanns Die versunkene Glocke (1896) notiert er als Beginn einer ‚neuromantischen‘ Phase im Drama, als deren Höhepunkt er Hofmannsthals Bergwerk zu Falun (1900) und als dessen Ende er den Kriegsausbruch bzw. den beginnenden Expressionismus ansetzt.Footnote 84 Hilzheimers Fokus auf „Weltanschauungen“ arbeitet auch den „naturwissenschaftlich geschulte[n] Monismus“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts heraus,Footnote 85 der sich vom Naturalismus in eine deterministische Weltanschauung der Neoromantiker überträgt:

Stand im Naturalismus der Mensch unter einem Schicksal, das von klar erkennbaren äußeren Umständen (soziale Unterschiede, Alkoholismus) bedingt war, so breitet Maeterlinck über das Schicksal einen Schleier und löst die Umwelt auf zum Unendlichen, das hinter allem waltet.Footnote 86

Maeterlinck wird als „Lehrer der Neuromantiker“ ausgewiesen,Footnote 87 deren typische Autoren am Ende von Hilzheimers Arbeit aufgelistet werden: Der (laut Hilzheimer unterschätzte) Eduard Stucken, Karl Gustav Vollmoeller, Ernst Hardt, in einer bestimmten Phase Gerhart Hauptmann und über allem als Wegbereiter, Prototyp und Überwinder Hugo von Hofmannsthal.

Auch Hilzheimers Monographie fokussiert vor allem auf Hofmannsthal, was in Teilen zu problematischen Zirkelschlüssen führt: In den 1930er Jahren gilt der frühe Hofmannsthal als Hauptvertreter der ‚Neuromantik‘, sodass Hilzheimer sein Neoromantik-Modell stark aus dessen Dramen und Essays entwickelt. So findet er – kaum überraschend – die ‚neuromantische‘ Weltanschauung vor allem bei Hofmannsthal. Hilzheimer aber konzeptualisiert Neoromantik ferner als „einheitlichen Stilwillen“,Footnote 88 der wesensähnliche Dramen auch bei anderen Autoren wie Hauptmann, Hardt und Vollmoeller in einem ähnlichen Zeitraum hervorbringt. Konkret kreist sein Kriterienkatalog zum neoromantischen Stil um folgende Aspekte: anspruchsvolle und detailverliebte (bis nicht realisierbare) Bühnenbilder; grelle Effekte und Prunk; eine lyrische Sprache, die notwendig auch Verse enthält; sehr knappe oder sehr breite Exposition; lose Aneinanderreihung heterogener Bühnenszenen; notwendige „Lösung“ am Schluss (häufig im Tod); und nicht zuletzt ein dramatischer Grundkonflikt zwischen „Wandlung und Beharrung“, welcher den Helden in eine tragisch endende Entscheidungsnot befördert.Footnote 89

All diese Stilmittel entspringen laut Hilzheimer einer spezifischen Weltanschauung des neoromantischen Dichtertypus, die sich in drei Schritten umreißen lässt: Erstens drücke sich in neoromantischen Werken ein „Weltgefühl“ des „Panta rhei“ aus, ein „Weltbild des ewigen Fließens“, denn für neoromantische Helden gebe es in einem „dauernden Wandel […] keine Ruhepunkte, überhaupt schließlich nichts Festes“.Footnote 90 Zweitens fungieren die Figuren als Spielbälle in einer „Welt der Bezüge“,Footnote 91 in der sie haltlos einem kosmischen Rätsel unterliegen. „[N]ichts vermag in Wahrheit darüber hinwegzutäuschen“, so Hilzheimer zur Figurensemantik in diesen Dramen, „daß der Mensch ein schwankendes Blatt im Winde ist“.Footnote 92 Drittens lauert hinter den fluiden Erscheinungen eine „unreine Mystik“, eine Art „schicksalhafte[s] unbestimmte[s] ‚Es‘“,Footnote 93 dem die Helden auf tragische Weise ausgeliefert sind, ohne ‚es‘ benennen oder fassen zu können. Hilzheimers Ausführungen zum Schicksal führen in den Kern seines ‚Neuromantik‘-Konzepts:

Der schwache, entzweite Neuromantiker [empfindet] vor allem das Walten eines überall gegenwärtigen Schicksals als tragisch [...]: er steht auf schwankendem Boden, in der Welt der Bezüge sieht er gewissermaßen nur Stücke des Gewebes, aber nicht die Enden und Verknotungen. [...] Seine einzige Schuld ist die Verstrickung im Netz des Schicksals.Footnote 94

Hinter der dargestellten Handlung lauert im neoromantischen Drama ein „Schicksalsrauschen“, dem der tragische Held nicht entkommen kann.Footnote 95 Mit kritischem Blick auf die technischen Fehler moniert Hilzheimer auch einige allzu überraschende, unmotivierte Wendungen, die als Zufälle konstruiert wirken und auf das omnipotente Walten eines schicksalhaften Plans hinter dem Handlungsgeschehen hinweisen.

Zwar stützt sich die Textauswahl seiner Untersuchung stark auf das kulturelle Wissen der späten 1930er Jahre, doch immerhin entsteht bei Hilzheimer ein scharfes Bild der Neoromantik im Drama, das er mit einem offengelegten Romantik-Modell fruchtbar vergleicht.Footnote 96 Eine weltanschauliche Übereinstimmung zwischen Romantik und ‚Neuromantik‘ sieht Hilzheimer vor allem in der „Entzweiung“ von einer ehemals „lebendige[n] Einheit“, zu der schon die Romantiker in einer „Sehnsucht nach Vervollkommnung und Einswerdung“ strebten.Footnote 97 Der Neoromantiker-Typus aber „verwässert, verflüssigt und verflüchtigt“ das romantische Einheitskonzept, das nun einerseits jeden Augenblick und jede Erscheinung durchwebt, andererseits niemals bzw. nur im Tod greifbar wird.Footnote 98 Ein Aktionismus der Romantiker, deren „unerreichtes Ziel“ eine „Vereinigung von Kunst und Wissenschaft“ war, werde ersetzt durch eine Passivität des Neoromantikers, der eine „Flucht in die Schönheit“ vor dem überwältigenden Weltgesetz antritt.Footnote 99 Auch Hilzheimer zeichnet ein eher negatives Bild der neoromantischen Literatur im Vergleich zur historischen Romantik,Footnote 100 nimmt sie aber als einheitlichen und vorherrschenden Stil zur Jahrhundertwende analytisch ernst.

Besonders interessant treten schließlich zwei konkrete Stilunterschiede hervor, die Hilzheimer zwischen Romantik und Neoromantik aufzeigt. Zum einen arbeitet er eine Differenz im Verhältnis zur Fragmentform heraus:

Es gehört zu den kennzeichnenden äußeren Unterscheidungsmerkmalen der beiden Romantiken, daß es um 1900 fast kein Fragment gibt. Selbst wenn man ein Drama nicht veröffentlicht, läßt man es doch vollendet in der Schublade liegen, wie Hofmannsthal mit dem „Bergwerk zu Falun“ beweist. […] Die Macht der das Chaos bindenden, selbstschützenden Form ist doch zu groß.Footnote 101

Fragmente fehlen tatsächlich in den Texten um 1900, und auch seine zweite Diagnose benennt einen nachweisbaren Formunterschied im Verhältnis zur Ironie:

In der [romantischen, R.S.] Ironie erhebt sich der Mensch über die Dinge und Verhältnisse. Sie erfordert einen überlegenen Geist, der sich und die Welt im Abstand betrachten, der auf Grund seiner Meisterschaft das Ernste spielerisch handhaben kann. […] Die geistreichen Romantiker konnten drum ironisch sein […]. Der neuromantische Dichter hingegen schwimmt zu sehr im Gefühlsstrom der Welt, als daß er des Abstandes zu sich fähig wäre.Footnote 102

Überblickt man die Forschungsgeschichte zur Neoromantik, dann erreicht der Unterschied zwischen Romantik und ‚Neuromantik‘ hier ihre bislang nachvollziehbarste Definition. Problematisch bleibt bei Hilzheimer das subjektiv gewählte Korpus, das sich auf vergleichsweise wenige Dramen stützt; dennoch ist es gerade die offengelegte Modellbildung, die auf wesentliche Formunterschiede (z. B. in Ironie und Fragment) aufmerksam macht. Leider verschwanden Hilzheimers Ergebnisse im Forschungsdiskurs: Unmittelbar nach der Veröffentlichung seiner Dissertation erhielt Hilzheimer in Deutschland ein „Verbot jeglicher Arbeit im kulturellen Sektor“ und wurde aus der NS-Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen.Footnote 103 Noch im selben Jahr (1938) emigrierte er in die USA und wurde erst nach dem Krieg und unter geändertem Namen (Claude Hill) Professor in New Brunswick. Seine Arbeit zur Neoromantik blieb wenig rezipiertFootnote 104 und verdient es, anstelle von Kimmichs Dissertation als früher, wichtiger Beitrag zum Forschungsdiskurs wahrgenommen zu werden.

Ideologiekritik an einer vitalophilen ‚Neuromantik‘ (1945–1990)

Weniger inhaltliche Impulse können die Arbeiten aus einer dritten Phase der Forschungsgeschichte liefern, die sich als Ideologiekritik an der ‚Neuromantik‘ von der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre zusammenfassen lässt. Plastisch lässt sich in dieser Phase beobachten, wie das Modell einer Neoromantik um 1900, der bis dahin konstitutiv der Vorwurf von Passivität anhaftete, zugunsten einer vitalistischen Auffassung überschrieben wird. Heimat- und Wanderromane wie Zwölf aus der Steiermark (1908) von Rudolf Hans Bartsch, Ingeborg (1906) von Bernhard Kellermann und vor allem Hermann Hesses Romane zählen nun zu einer transformierten ‚Neuromantik‘, zu der Hofmannsthals Frühwerk, Vollmoeller oder Leopold von Andrian nicht mehr gehören.Footnote 105 Erst in der Nachkriegszeit etabliert sich schrittweise das Modell einer Neoromantik der Jugendbewegung, die jetzt von den 1900ern bis in die 1920er Jahre datiert wird. Erklärbar ist dieses Phänomen durch die Aneignung und Verwandlung des Romantik-Modells im Nationalsozialismus: Da Romantik im kulturellen Wissen der Nachkriegszeit in eine gewisse Allianz bzw. folgerichtige Entwicklungsgeschichte zur NS-Ideologie rückt, wird auch die ‚Neuromantik‘ (kurioserweise ganz im Sinne Kimmichs) postwendend mit Heimatkult und völkischer Jugendbewegung identifiziert. Gemeinsam ist beiden Phasen die Verdammung von Neoromantik zugunsten eines wiederum neuen, diesmal „progressive[n]“ Romantikbildes, das schon früh mit Fokus auf die Frühromantik rehabilitiert wird.Footnote 106

Der Übergang zu einem heimatverbundenen Neoromantik-Modell geschieht nach 1945 keineswegs plötzlich, sondern lässt sich als ein schrittweises Verschwinden bzw. Umdefinieren mit einem Wendepunkt in den späten 1960er Jahren beschreiben. Vor allem in Literaturgeschichten der 1950er Jahre findet sich der etablierte Begriff ‚Neuromantik‘ noch eingeschrieben: „Die sogenannte Neuromantik ist nur dem Scheine nach eine Renaissance der alten Romantik, deren Universalismus ihr allerdings fehlt“,Footnote 107 heißt es in Wege und Wandlungen moderner Dichtung (1957) des vielgelesenen Literarhistorikers Adalbert Schmidt, womit einerseits das vergangene Narrativ der NS-Zeit nachwirkt, andererseits aber schon die Relativierung des Begriffs durchscheint („sogenannte“, „dem Scheine nach“).Footnote 108 Vor allem Literaturgeschichten, die nah am historischen Material arbeiten, halten in dieser Periode noch lange am ungeliebten Terminus fest: „‚Neu-Romantik‘ ist eine etablierte Wortbildung und bezeichnet die Hauptströmung der Epoche“, konstatieren Erich Ruprecht und Dieter Bänsch im Kommentar zur Forschungsanthologie Literarische Manifeste der Jahrhundertwende (1970) am Beispiel von Samuel Lublinski.Footnote 109 Zwar ist Helmut Motekats späterem Beitrag nicht zuzustimmen, demzufolge „Neuromantik […] von 1945 bis 1980 für deutsche und nichtdeutsche Germanisten kein Thema“ war,Footnote 110 in der frühen Nachkriegszeit aber wird sie in Einzelanalysen insgesamt seltener thematisiert.

Einschlägig prägen in diesem Vakuum die Aufsätze von Theodore Ziolkowski, Reinhold Grimm und Jost Hermand den weiteren Verlauf der Neoromantik-Forschungen. In einem sichtbaren Sammelband über Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur (1969) nehmen sie sich dem Thema einer neuen Romantik an, um den Neuromantik-Begriff als „Oxymoron“ bereits in den Methodologischen Überlegungen zu verwerfen:

Wenn man schließlich unsere Differenzierung akzeptiert, dann stellt sich der Begriff ‚Neuromantik‘ als irreführend heraus. [...] Insofern die historische Romantik eine zeitlich begrenzte Bewegung ist, kann es keine neue Romantik geben. Und insofern die typologische Romantik zeitlos ist, kann es keine neue Romantik geben. Vom Standpunkt der heutigen Kritik ist der Begriff ‚Neuromantik‘ also ein Oxymoron, das lieber zu vermeiden wäre.Footnote 111

Theodore Ziolkowski unternimmt in seinem – ansonsten nüchternen – Beitrag die Unterscheidung zwischen einem „Nachwirken der historischen Romantik“ (durch Zitate, Parodie, Motive etc.) und einem „Nachleben der typologischen Romantik“ (durch eine ähnliche „Geisteshaltung“).Footnote 112 In seiner Ablehnung des Neuromantik-Begriffs aber zeigt sich eine zeittypische Negativwertung, denn gerade eine Neoromantik zur Jahrhundertwende ließe sich naheliegend auf „Nachwirken ohne Nachleben, Nachleben ohne Nachwirken oder Synthese von Nachwirken und Nachleben“ untersuchen, also auf jene Differenzierungen, die Ziolkowski vorschlägt.Footnote 113 Auf seinen methodologischen Überlegungen aufbauend, könnte es sehr wohl einen historischen Zeitraum geben, der sich selbst als neue Romantik tituliert, anschließend aber auf Nachwirken oder Nachleben geprüft werden muss. Da Ziolkowski aber annimmt, dass Neuromantik „eher zur negativen Abgrenzung als zur positiven Bestimmung“ diente,Footnote 114 bereitet sein Urteil ein Redeverbot über den Begriff vor, das bis in die Gegenwart nachhallt.

Über Neoromantik kann in der Nachkriegszeit nicht wertfrei gesprochen werden; stattdessen müssen Autoren wie Hermann Hesse oder Hofmannsthal, falls die Forschung sie jeweils positiv bewertet, vom Neuromantik-Begriff befreit werden. Wo Ziolkowski gerade bei Hesse eine „Synthese von Nachwirken und Nachleben“ der Romantik erkennt, was er – als einschlägiger Hesse-Forscher – positiv anführt,Footnote 115 unternimmt Jost Hermand in selbigem Band eine harsche Schelte des „neuromantische[n] Seelenvagabund[en]“, den er u. a. an den frühen Hesse-Figuren anprangert.Footnote 116 Polemisch kartographiert Hermand eine eigenwillige Neoromantik als „schwelgerisch pornographische[] Literatur“, indem er populäre Heimatromane der 1900er und 1910er Jahre anhand ihrer Wanderfiguren aneinanderreiht.Footnote 117 „Wo bei anderen die Moral sitzt, herrscht bei diesen Seelenstrolchen ein totales Vakuum“, so Hermand,Footnote 118 und seine Schelte des neuromantischen Wanderers mündet in einen gegenwartspolitischen Kommentar:

Niemand wird den romantischen Taugenichtsen und den heutigen Flower people verübeln, daß die [sic] den verheerenden Folgen der modernen Wirtschaftswelt immer wieder die Sehnsucht nach einem ‚echteren Menschentum‘ entgegensetzen [...]. Wenn man nur endlich erkennen würde, wie antiquiert diese Proteste sind, mit denen soviel echter Idealismus vergeudet wird. Denn die Lösung der technisch-sozialen Frage, die uns allen aufgegeben ist, läßt sich nicht durch eine Sympathie mit dem Asozialen erzwingen.Footnote 119

Auch die typologische Romantik, wie sie Ziolkowski beschreibt, wird hier negativ besetzt und als unzeitgemäße Haltung einigen „Flower People“ vorgeworfen. Eine zurechtgestutzte ‚Neuromantik‘ fungiert laut Hermand damit als Destillation aller epigonalen Momente von Romantik mit einem Fluchtpunkt in den Jugendbewegungen nach 1900, sodass die vitalophilen Jünglingsbilder von Fidus nun als Prototypen neuromantischer Kunst angeführt werden. „Einmal ganz grob gesprochen“, so summiert Hermand seine Polemik gegen die – angeblich – verwöhnten und faulen Neuromantiker aus reichem Elternhaus, „verbergen sich in ihnen die raffiniertesten Schmarotzer der heutigen Industriegesellschaft.“Footnote 120

Eine starke Rezeption erfuhr darüber hinaus auch Reinhold Grimms nicht minder pejorativer Beitrag Zur Vorgeschichte des Begriffs ‚Neuromantik‘, der ebenfalls in dem Nachleben-Band erschien.Footnote 121 Anhand einiger Fundstellen argumentiert er darin, dass der Terminus ‚Neuromantik‘ schon vor den 1890er Jahren verwendet wurde und somit an Schärfe für die Literatur der Jahrhundertwende verliert. Grob unterscheidet Grimm die Vorgeschichte in drei Phasen: Erstens wurde ‚Neuromantik‘ schon innerhalb der historischen Romantik für einen „neuen Styl der romantischen Kunst“ gebraucht;Footnote 122 zweitens nutze ihn Heine für die neueste französische Romantik in Abgrenzung zu der deutschen;Footnote 123 und drittens finden sich ab den 1850er Jahren Abwertungen eines „neuromantische[n] Märchenquark[s]“, um eine „sentimentale Kostüm- und Butzenscheibenromantik“ als Trivialliteratur zu diffamieren.Footnote 124 Ohne den zeittypischen Negativkonsens laufen Grimms Argumente allerdings ins Leere: Dass u. a. schon in der historischen Romantik von einer „neuen, sogenannten romantischen Poesie“ gesprochen wurde,Footnote 125 widerlegt keineswegs, dass der Terminus ‚Neuromantik‘ ab den 1890er Jahren remodelliert und als kurzweiliger Modebegriff neu besetzt wurde.Footnote 126 Grimm erzählt entsprechend nur die Vorgeschichte des Begriffs, der in den zwei Jahrzehnten um die Jahrhundertwende herum eine neue, hier ausgeklammerte Kontur und Konjunktur erfährt.

Insgesamt führen die Forschungen dieses Zeitraums wenig plausible Argumente für ihre teils polemische Verdammung der Neoromantik ins Feld. Dennoch lässt sich eine intellektuelle Abneigung gegen den Neuromantik-Begriff als Folge der nationalsozialistischen Kunstpolitik erklären und nachvollziehen. Durch ihre Instrumentalisierung in der NS-Diktatur ist die Romantik in diesen Jahren ideologisch verdächtig geworden, sodass die Neoromantik um 1900 als prä-katastrophale, teils auch die Romantik entlastete Rezeptionsepisode aufgestellt wird. Dass sich sowohl die engagierte Nachkriegsforschung als auch die nationalsozialistische Germanistik in ihrer Abwertung von Neoromantik um 1900 kurioserweise einig sind, wurde von den Akteuren selbst nicht notiert. Die modellbildenden Autoren und Texte, die eine ‚Neuromantik‘ jeweils ausmachen sollten, wurden unterschwellig und in jeweils abwertender Funktion komplett neu besetzt.Footnote 127 In seinem einschlägigen Sachwörterbuch der Literatur (1979) zieht Gero von Wilpert die entsprechend logische Konsequenz: Neuromantik erklärt er hierin zu einer „umstrittene[n] Sammelb[ezeichnung] für die lit[erarischen] Gegenströmungen zum materialistischen Nihilismus […] 1890–1920“ und argumentiert, dass die Zuordnung heterogener Autoren zu dieser „Strömung“ zu einer „Verunklarung des Begriffs geführt hat, die seine Vermeidung wünschenswert macht.“Footnote 128

Am Endpunkt dieser Ideologiekritik stehen zwei Publikationen der späten 1980er Jahre, welche die Abwertung des Begriffs noch einmal radikalisieren. Einerseits platziert Walter Müller-Seidel einen einschlägigen Beitrag zur Epochenverwandtschaft (1988) zwischen Moderne und Romantik, in dem er das inzwischen eingeübte Urteil wiederholt:

Daher sollte man endlich übereinkommen, den Begriff „Neuromantik“ aus Literaturgeschichten zu entfernen, ihn am besten ganz aus dem Verkehr zu ziehen, weil er nichts bewirkt als Vernebelung und Geschichtsklitterei. Es ist ein gänzlich irreführender Begriff, ein Begriffsgespenst und nichts anderes!Footnote 129

Bei Müller-Seidel werden auch die Gründe für eine normative Verdrängung des Terminus reflektiert: „[S]o gänzlich wertneutral wird dieses Wort zumeist nicht gebraucht“, belegt er mit Blick auf die älteren und teils neueren Literaturgeschichten, denn: „Etwas Pejoratives mischt sich ein, Flucht in die Vergangenheit, konservative Denkweise oder Verwandtes.“Footnote 130 Für die späten 1980er Jahre verstelle der Neuromantik-Begriff den Blick auf die genuine Modernität der Jahrhundertwende, die gerade in diesen Jahren an Einzelautoren wieder aufgewertet wird. Als Paradebeispiel zieht er Ricarda Huch heran, die es Müller-Seidel zufolge „am schwersten hat, das Etikett ‚Neuromantik‘ wieder los zu werden“: Ihr Gesamtwerk, so auch die vielgelesenen Romantik-Monographien, sei Teil der „ästhetische[n] Moderne“ und habe „mit Romantik in dem Maße zu tun, als diese das Moderne an der Romantik wahrnimmt und zu schätzen weiß. Aber nicht diese Seite sieht man, wenn man ihr Neuromantik unterstellt, sondern Regression, Flucht und Konservatismus, womit gerade jene ‚andere‘ Romantik denunziert wird.“Footnote 131 ‚Neuromantik‘, so lässt sich schlussfolgern, deckt in diesem kulturgeschichtlichen Kontext eine rückwärtsgewandte und eskapistische Seite auf, was laut Walter Müller-Seidel das historische Verständnis dieser Literatur verfälscht. Ein solches Narrativ stützt auch der Band Echoes und Influences of German Romanticism (1987), der mithilfe der Frühromantik Autoren wie Nietzsche, Musil und Hesse als genuin ‚modern‘ aufwertet, mit Blick auf das frühe 20. Jahrhundert aber die „Deutschromantik“ der Wandervogel-Bewegungen als eine antimoderne „Politisierung“ von Romantik kritisch behandelt.Footnote 132

Dieselbe wissensgeschichtliche Basis, aber eine ganz andere Ausformung erhält die Ideologiekritik in einer Monographie zur Wilhelminischen Neuromantik (1987) von Reinhild Schwede.Footnote 133 An den Brüdern Mann, Hesse und Hauptmann moniert Schwedes Dissertation variantenreich, dass sowohl die Forschung als auch der öffentliche Diskurs eine neoromantische Strömung ausblende und dass deshalb ein falsches Bild dieser (nur vermeintlich gesellschaftskritischen) Autoren vorherrsche. Über den erhofften Eklat, die vier renommierten Autoren auch als „realitätsscheue Romantiker“ auszuweisen, kommt Schwedes Pamphlet allerdings nicht hinaus.Footnote 134 Schon der Untertitel – „Flucht oder Zuflucht?“ – konstruiert keinen ergebnisoffenen Widerspruch, sodass der Text seine Scheinfrage schon auf den ersten Seiten beantwortet.Footnote 135Flucht in die Kunst“ und „Zuflucht vor der Realität“ kennzeichnen eine wilhelminische Neuromantik demnach gleichwertig und ohne typologischen Unterschied,Footnote 136 sodass die Funktion dieser Arbeit vorrangig in einer Um- und Abwertung etablierter Autoren mithilfe des (ausnehmend pejorativen) Neuromantik-Begriffs besteht. Neoromantik sei demnach Eskapismus in verschiedenen Spielarten,Footnote 137 doch aus welchen kulturgeschichtlichen Gründen eskapistische Bewegungen in den Texten vollzogen werden, dieser Ansatz wird als Chance der als „soziologisch“ angekündigten Studie verpasst.Footnote 138 Wo Müller-Seidel Ende der 1980er Jahre also prominent und unter Angabe von plausiblen Gründe den Neuromantik-Terminus ablehnt, nutzt ihn Schwede in einem weniger beachteten Kraftakt umgekehrt zur Diffamierung von Autoren, die sich in ihrer Frühphase einer gesellschaftspolitischen Verantwortung entzogen.

Geschichtsloser Begriff und Wiederentdeckung in Einzelforschung (ab 1990)

Gegen Anfang der 1990er Jahre weicht diese streckenweise polemische Kritik an der ‚Neuromantik‘ einer letzten Phase der nüchternen Übernahme des erarbeiteten Status Quo einerseits, der fragenden Wiederentdeckung in Einzelforschungen andererseits. Wie stark sich die Ideologiekritik der Nachkriegsjahrzehnte in das wissenschaftliche Bild einer Neoromantik eingeschrieben hat, lässt sich an den einschlägigen Lemmata zum Begriff in den Fachlexika ablesen. Wo Helmut Prang in der zweiten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte (1959) Neuromantik noch als eine „oberflächliche und behelfsmäßige, daher auch sehr umstrittene Bezeichnung für eine durchaus ernstzunehmende Erscheinung“ bezeichnet,Footnote 139 verhängt Jürgen Viering in der dritten Auflage sein Redeverbot:

Die Verwendung des Ausdrucks Neuromantik als eines übergreifenden Sammelbegriffs […] sollte vermieden werden. Denn durch solche Dominantsetzung von Teilaspekten wird eine genauer differenzierte Bestimmung unterschiedlicher Möglichkeiten der gegennaturalistischen Moderne eher verhindert; deren innovative Kraft und Zukunftsbedeutung werden mit der – schon im Begriffsnamen ausgedrückten – Rückbindung an die Vergangenheit negiert.Footnote 140

Viering schließt in seiner Begriffs- und Sachgeschichte an die Forschungen Jost Hermands und den Band über das Nachleben der Romantik an, wie auch die Auswahl seiner Autoren belegt (z. B. Börries von Münchhausen, Lulu von Strauß und Torney, Agnes Miegel, auch: Hesse). Neuromantik rutscht bei ihm einerseits in die Nähe zur „Heimatkunst-Bewegung“,Footnote 141 während andererseits Hofmannsthals Bergwerk zu Falun wie auch Hauptmanns Märchendramen als exemplarische Werke notiert werden. Vierings abschließende Bemerkung, dass der „Begriff Neuromantik“ um die Jahrtausendwende wider besseres Wissen immer noch nicht „gänzlich obsolet geworden“ sei,Footnote 142 fungiert hier als kritischer Forschungskommentar, der an derart einschlägiger Stelle weiterführende Untersuchungen unterbindet. Auch die Neuauflagen von Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur wiederholen über den Begriff bis heute nach oben angeführtem Muster, dass „seine Vermeidung wünschenswert“ sei.Footnote 143

Differenzierter und mit neuen Impulsen umreißt dagegen Peter Sprengel die „Neuromantik“ in seinem verbreiteten Nachschlagewerk Moderne Literatur in Grundbegriffen (1994).Footnote 144 Mit Blick auf Reinhild Schwede konstatiert er „neuerdings“ wieder eine „stärkere Beachtung“ des Phänomens, und zwar vor allem „unter literatursoziologischen und ideologiekritischen Gesichtspunkten“.Footnote 145 Eskapismus und Antirationalismus stellen auch für Sprengel zentrale Charakteristika einer Neuromantik dar, die er klar auf den Zeitraum der Jahrhundertwende eingrenzt und als literaturkritischen und -historiographischen Begriff bis in die 1930er Jahre nachwirken lässt. In seiner breiten Auswahl der Autoren überlagern sich die heterogenen Neuromantik-Modelle bisheriger Forschungen, was Sprengel in eine Geschichte flächendeckender „Aktualisierung und Popularisierung romantischen Ideenguts“ zur deutschsprachigen Jahrhundertwende überführt.Footnote 146 Erstmals erhält die Neuromantik hier auch den Anstrich einer modischen Tendenz: „Unübersehbar war der Bewegungs-, ja Mode-Charakter der N[euromantik]“, so Sprengel, die auch „ökonomische[n] Motive[n]“ unterworfen war.Footnote 147 Indem er u. a. Eugen Diederichs als „Trendsetter“ beschreibt,Footnote 148 greift Sprengel über die bisherigen Forschungen hinaus und stößt auf innovative Funde wie eine „Neigung zu einem historischen Eklektizismus“, die er zurecht bei Vollmoeller und Stucken, aber auch intermedial bei Franz von Stuck und Böcklin erkennt.Footnote 149 Neuromantik ist damit für Sprengel ein transmediales, soziologisch interessantes Kulturphänomen eines bestimmten Zeitraums, woran bislang – wohl aufgrund der Vielzahl negativer Polemiken im Forschungsarchiv – nicht im breiteren Sinne angeknüpft wurde.

Stattdessen verliert sich in diesen Jahren ein kulturelles Wissen über die Neuromantik der Jahrhundertwende mehr und mehr. In den Forschungen Ralf Klausnitzers zeigt sich exemplarisch, dass ein Experte für die Romantik-Rezeption im Nationalsozialismus nicht auf gesichertes Forschungswissen über die Neuromantik um 1900 zurückgreifen kann.Footnote 150 Auch in den Rezeptionsstudien von Karl Robert Mandelkow bleibt Neuromantik eine kurze, mit anderen Aktualisierungsversuchen tendenziell gleichwertige Station ohne klare Umrisse – so wird vor allem Stefan George dort als Wiederaufnahme von Romantik beschrieben, der sowohl historisch als auch forschungsgeschichtlich gerade als ein Gegenpol zur neoromantischen Bewegung nach Maeterlinck herangezogen wurde.Footnote 151 Auch Sammelbände wie Romantik und Ästhetizismus (1999) umgehen programmatisch die ‚Neuromantik‘ als historischen Diskurs, um innerhalb der Beiträge spätere Randautoren wie Ludwig Klages mit dem Begriff zu verbinden.Footnote 152 In jüngsten Studien wird entsprechend ein blinder Fleck moniert, der rund um den historisch verankerten Begriff der Neuromantik entstanden ist.Footnote 153

Gegenläufig zum Verschwinden des Neuromantik-Begriffs aus dem literaturwissenschaftlichen Konsens lässt sich dabei eine Wiederentdeckung in jenen Einzelforschungen feststellen, die den Terminus aufgrund ihres Gegenstandes nicht ignorieren können. Ein Beispiel hierfür liefern Beiträge zu Ricarda Huch, die weiterhin implizit darum bemüht sind, die Autorin nicht zu stark an eine pejorative ‚Neuromantik‘ zu binden.Footnote 154 Auch Forschungen über Die Rezeption Maurice Maeterlincks in den deutschsprachigen Ländern (1891–1914), so der Titel einer umfangreichen Monographie von Dirk Strohmann, probieren sich aufgrund historischer Nachweise in einer groben, leider in diesem Aspekt unzureichenden Definition.Footnote 155 Die stärkste Erforschung erfährt Neoromantik seit den 1990er Jahren aber im Fachbereich der Kulturanthropologie und am Gegenstand des Verlegers Eugen Diederichs. Anhand seines Verlagsprogramms zeichnet Irmgard Heidler in ihrer materialreichen Monographie über Den Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1998) erste Ansätze eines Neuromantik-Diskurses um 1900 nach, womit sie Pionierarbeit leistet. „Der Begriff ‚Neuromantik‘ ist in seiner eigentlichen Bedeutung […] nicht detailliert erforscht“, stellt sie unter Zugabe von bislang unentdecktem Material fest, und dieser lose Faden wurde anschließend von Diederichs-Forschern wie Justus H. Ulbricht und Meike G. Werner weitergeführt.Footnote 156 Da diese Forschungsrichtung ihr Neuromantik-Modell eng an den Diederichs-Verlag und seine (nur kurze) ‚neuromantische‘ Phase von ca. 1898 bis 1906 bindet, liefert sie einen historisch fundierten wie auch plausiblen Zugang zum Neoromantik-Phänomen, an den diese Studie im weiteren Verlauf anknüpfen kann.

Ein weiteres Interesse geht neuerdings auch von der etablierten Romantik-Forschung aus, die sich – ausgehend von der historischen Romantik – für deren Wiederaufnahme und literarische Strahlkraft interessiert. Erste Anregungen hierfür gingen von Detlev Kremer aus, der im E.T.A. Hoffmann-Handbuch (2010) sowie in einem Jahrbuchsbeitrag (2009) einer „Prager Neuromantik“ um Gustav Meyrink und Leo Perutz nachging.Footnote 157 Kremer nutzt Neuromantik dabei ausschließlich als typologischen Begriff, mit dem er literarästhetische Verbindungslinien von der Romantik – und hier besonders ausgehend von Hoffmann – ins frühe 20. Jahrhundert aufdeckt. Ausgeklammert bzw. implizit vorausgesetzt werden dabei diskursive Prozesse, die belegen könnten, wie und weshalb Hoffmanns Erzählverfahren gerade an diesem Ort und zu dieser Zeit attraktiv werden. Claudia Lieb führt Kremers Forschungen zur typologischen Neuromantik fort, wobei ihre Gegenstände wie Oskar Panizza und eine „Münchener Neuromantik“ einige Jahre früher datieren (ab den 1890er Jahren) und damit historisch plausibler an einen regen ‚Neuromantik‘-Diskurs anknüpfen.Footnote 158 In Liebs jüngerem Beitrag zur Rezeptionsgeschichte E.T.A. Hoffmanns lässt sich transparent ablesen, inwiefern ein diskursiver Trend um Hoffmann bereits um 1890 ansetzt, zum Beispiel in Biographien und Werkeditionen, um mit den 1910er Jahren in eine verselbstständigt literarische, nicht mehr diskursiv gestützte Nachwirkung Hoffmanns zu münden.Footnote 159

Zuletzt widmete sich auch die Friedrich-Schlegel-Gesellschaft dem Thema „Wie romantisch ist die Neuromantik?“, die – schon ihrem Titel gemäß – jene von Kremer angestoßene typologische Evaluierung von Romantik im frühen 20. Jahrhundert vertiefend in den Blick rückte. Die einzelnen Beiträge im Athenäum (2017) zeigen anschaulich, dass mit dieser Fragestellung in ein hoch komplexes, aktuell kaum erschlossenes Feld gezielt wurde: „Als Ausblick bleibt anzumerken: die gesamte Breite neuromantischer literarischer Produktion ist literaturgeschichtlich bislang weder beschrieben noch charakterisiert worden“, so Günter Oesterle,Footnote 160 und auch Claudia Bamberg betont im letzten Satz ihres Beitrags die Notwendigkeit „eine[r] vertiefende Untersuchung“ zur Neuromantik bei Hofmannsthal.Footnote 161 Ein wiederkehrendes Problem, mit dem alle fünf Analysen mehr oder minder ausgestellt hadern, wirft die Doppelbödigkeit des Neuromantik-Begriffs auf, der eben nicht ausschließlich typologisch und damit geschichtsfrei angewandt werden kann, sondern zugleich zur Jahrhundertwende diskutiert wurde und eine eigene historische Semantik mitbringt. Vor allem in einer Prämisse weicht die folgende Untersuchung damit von den Grundannahmen ab, die Ulrich Breuer und Nikolaus Wegmann in ihrer Einführung offenlegen: Neuromantik sollte im Sinne der beiden Romantik-Forscher nicht „für ein singuläres historisches Phänomen“ reserviert werden, sondern sie schließen „die Möglichkeit, dass es sich bei der Neuromantik um eine zyklische Wiederkehr der Romantik handeln könnte, zumindest nicht aus“.Footnote 162 Der hier vertretene Ansatz ist ein anderer: Zuerst soll die Neuromantik als „singuläres historisches Phänomen“ genau erschlossen werden, um anschließend zu evaluieren, ob und was es mit der historischen Romantik zu tun hat. Die Probleme einer vorschnellen Typologisierung zeigen sich in Breuers und Wegmanns historischer Skizze: Im Anschluss an die (problembehaftete) Analyse Kimmichs wird Neuromantik darin als „im Kern unliterarische[r] Begriff“ aufgestellt, der „weder von den bis heute ihr zugerechneten Autoren […], noch von den damals führenden literarischen Zeitschriften […] und auch nicht von den literaturwissenschaftlichen Fachorganen“ aufgebracht worden sei.Footnote 163 Dass diese Vorannahmen mit historisch-kritischem Blick nicht zu halten sind, gilt es im diskursanalytischen Kapitel zu klären. Dennoch beleuchten Breuer und Wegmann auch den ergiebigen Ansatz, ‚Neuromantik‘ als „ein kultur- und medienhistorisch noch unterbelichtetes, im Kern modernekritisches Massenphänomen“ wahrzunehmenFootnote 164 – wobei die These einer konstitutiv modernekritischen Haltung noch zu überprüfen wäre. Ohne eine historische Verortung der diskursiven Neuromantik jedoch, so der Ansatz der vorliegenden Untersuchung, lässt sich das Romantische an der ‚Neuromantik‘ nicht evaluieren, sodass ein Strukturvergleich erst in einem nachgeordneten, zweiten Schritt erfolgen kann.

Am methodologischen Endpunkt dieser Forschungsgeschichte unternimmt Stefan Tetzlaff im Hofmannsthal-Jahrbuch einen (etwas untergegangenen) Vorschlag zu einer Bestimmung des Begriffs ‚Neoromantik‘ (2010), den er an der Prosa Paul Scheerbarts exemplifiziert. Tetzlaff versucht, so legt er es in einer Fußnote dar, „ein mehrdimensionales Gesamtkonzept einer Neoromantik zu entwerfen, das sich (1) über das Zusammenspiel und (2) die Weiterentwicklung verschiedener romantischer Verfahren definiert“.Footnote 165 In seiner Motiv- und Verfahrensanalyse kann er entsprechend „neoromantische Modifikation[en]“ (im Gegensatz zur Romantik) bei Scheerbart beschreiben, die er vor allem in einem „Aufscheinen der Textur“ diagnostiziert.Footnote 166 Tetzlaff trifft damit einen wunden Punkt: Tatsächlich sind gerade die Transformationen zwischen Romantik und Neoromantik forschungsgeschichtlich weitgehend aus dem Blick gerückt, um stattdessen eine (epigonale) Ähnlichkeit als diffamierendes Argument zu betonen. Das genuin ‚Neue‘ an der Neoromantik blieb in den letzten Jahrzehnten wenig beachtet, da typologische Untersuchungen zum ‚Nachleben der Romantik‘ dazu tendieren, Wiederkehrendes zu akzentuieren, ohne Entwicklungen und Veränderungen einzufangen. Dabei definiert sich ein neoromantisches Schreiben zur Jahrhundertwende gerade nicht über die Wiederholung, sondern über die programmatische Neuerung einer Romantik unter veränderten Vorzeichen, sodass diese Neoromantik auch eine genuin modernitätsaffine Note trägt. Tetzlaffs Ansatz ist gerade in diesem Aspekt innovativ, auch wenn sein Vorschlag, „die Neoromantik als eigene Epoche“ der Literatur zwischen 1900 bis 1910 zu definieren,Footnote 167 pragmatisch zu weit greift: Eingebunden in ein verfahrensgeschichtliches Narrativ nach Moritz Baßler,Footnote 168 positioniert Tetzlaff seine neoromantischen Autoren wie Otto Julius Bierbaum, Meyrink, Mynona, Peter Hille und Christian Morgenstern als eine literarische Prä-Avantgarde,Footnote 169 womit ihm eine gegenläufige Variante neoromantischen Schreibens aus dem Blick gerät, die zur selben Zeit und ohne selbstreferentielle Textur (bspw.) populäre Märchendramen mit patriotischem Kniff erzählt. Auch hier ließe sich durch Diskursanalysen ergänzen, dass eine Neoromantik um 1900 allmählich die Konnotation von Popularität und ‚Volksnähe‘ erhält und sich somit nur partiell für die avancierten Phänomene eignet, die Tetzlaff beschreibt.Footnote 170

1.3 Romantik als Modell: Problemhorizont und Textstrategien des Romantischen

„Was das Wort romantisch eigentlich bedeute, weiß niemand“, so schon Hermann Hesse im Jahr 1900,Footnote 171 und in der Literaturwissenschaft hinreichend bekannt ist Arthur O. Lovejoys kritische Anmerkung: „The word romantic has come to mean so many things that, by itself, it means nothing“.Footnote 172 Ohne hinter diese Errungenschaft der internationalen Romantikforschung zurückfallen zu wollen, lässt sich zugleich ein gegenläufiges Phänomen beobachten, das sich im wissenschaftlichen Umgang mit der Romantik zeigt. Theodore Ziolkowski bringt es in seinen methodologischen Überlegungen zum Nachleben der Romantik auf den Punkt:

Selbstverständlich hat jeder, der von Romantik redet, eine gewisse Definition im Sinne – ob er es sich eingesteht oder nicht, ob er sie ausdrücklich formuliert oder nicht. Aber [...] wenn man seine eigene Auffassung nicht deutlich zu erkennen gibt, kann es zu den gröbsten und albernsten Mißverständnissen kommen. Mit anderen Worten: Wenn man vom Nachleben der Romantik redet, läßt sich wohl über die Definition hadern, keineswegs aber über die Notwendigkeit einer Definition.Footnote 173

In diesem Aspekt behält Ziolkowski recht: Selbst im ubiquitären Versuch, eine Definition zu umgehen, mogeln sich regelmäßig implizite Vorannahmen über Romantik hinein, die je nach Forschungszusammenhang variieren und die Untersuchungsprämissen notwendig subjektiv färben.Footnote 174 Noch dazu scheint es, als provoziere gerade der Romantik-Begriff den Versuch einer Definition – wohl auch deshalb, da ein gewisser Kernbestand des Romantischen nach wie vor nicht konsequent abgestritten wird. In jüngster Zeit häufen sich Romantikbestimmungen dieser Art: Christoph Bode spricht von „Familienähnlichkeiten“ innerhalb der internationalen Romantik;Footnote 175 Christoph Reinfandt hebt strukturell ähnliche Einheitssemantiken in romantischen Texten hervor;Footnote 176 und nicht zuletzt postulieren aktuelle Überblicksdarstellungen weiterhin Modelle eines irgendwie kohärenten, wenn auch je nach Forschungssozialisation unterschiedlichen Romantik-Verständnisses.Footnote 177

Eine Möglichkeit, die Fallstricke vorschneller Romantik-Definitionen zu umgehen, bestünde darin, unterschiedliche Romantikkonzepte möglichst deskriptiv aus diskursiven wie literarischen Texten herauszufiltern und jeden normativen Vergleich als ahistorisch zu verwerfen. In der Praxis müssten solche Analysen darauf verzichten, eigene Vorannahmen über Romantik aufzustellen, um ‚Post-Romantiken‘ (wie z. B. die Neoromantik oder Romantik im Nationalsozialismus) in ihrer semantischen Eigenqualität beschreibbar zu machen. Der im Folgenden vertretene Ansatz ist ein anderer: Gerade da neoromantische Texte qua intertextueller Referenz den Vergleich mit der historischen Romantik selbst aufwerfen (z. B. durch Kunstmärchen oder romantische Motive), greift eine reine Diskursanalyse postromantischer Semantiken zu kurz, weil sie auf eine vom Text evozierte Frage keine Antwort bereitstellt (z. B.: Wie verhält sich der neoromantische Text zu seinem Ausgangssystem der historischen Romantik?). Zum einen verschenkt der rein diskursdeskriptive Ansatz somit das vom Text angebotene Potenzial, Aktualisierungen von Romantik vergleichend zu beschreiben;Footnote 178 und zum anderen ist es methodologisch genau genommen nicht möglich, ohne Vorannahmen über Romantik etwas (Post-)Romantisches im Text zu entdecken, da der differenzierte Suchbefehl fehlt.

Während die vorliegende Untersuchung durchaus an den Impuls anknüpft, möglichst wertneutral die semantischen Zuschreibungen einer neuen Romantik um 1900 zu rekonstruieren,Footnote 179 sollen auch eigene, immer vorhandene Vorannahmen über Romantik offengelegt werden, die einen transparenten Strukturvergleich zwischen Romantik und Neoromantik ermöglichen. Aushelfen soll dabei ein Modell von Romantik, das auf den Implikationen jüngerer Modelltheorie aufbaut und damit die Gefahr eines heimlichen oder nicht-konsensfähigen Definitionsversuches umgeht. Ein Modell, wie es im zweiten Kapitel dieses Theorie-Teils auch kritisch reflektiert wird,Footnote 180 konstituiert sich vor allem anhand von drei Prämissen: Erstens abstrahiert eine modellhafte Aneignung aus dem überkomplexen Phänomen ‚Romantik‘ eine Reihe als wesentlich erachteter Merkmale, die in Form offengelegter Suchbefehle auf etwas (modellhaft) Romantisches im neoromantischen Text aufmerksam machen. Zweitens steht dieses Modell immer unter dem Vorbehalt einer Potenzialität, da je nach Konstrukteur auch ein anderes Modell an die Matrix historischer Romantik angelegt werden kann. Es rechtfertigt sich aber, drittens, über seine Pragmatik: Das folgende Modell Romantik wurde konstruiert, um eine spezifische Aufgabe zu erfüllen, nämlich: um die Transformation von Romantik in der Neoromantik um 1900 zu beschreiben. Gelingt es, dank dieses Hilfsmodells valide Ergebnisse zu erhalten, die sich idealiter auch mithilfe anderer Romantik-Modelle aus dem historischen Material herausarbeiten lassen, dann hat das Modell seine Funktion erfüllt.

1.3.1 Fragmentierung, Synthese und Kippfigur: Die Säulen eines Modells von Romantik

Wie lässt sich ein solches Modell von Romantik inhaltlich aufstellen, das zwar einerseits in seiner Dynamik und nicht-ontologischen Potenzialität erkennbar bleiben, andererseits aber doch als valider Vergleichsparameter fungieren soll? Ein solches Romantik-Modell muss zwei zentrale Voraussetzungen erfüllen: Erstens sollte es auf dem Stand aktueller Forschungen operieren, um im wissenschaftlichen Diskurs möglichst anschlussfähig und interdisziplinär plausibel zu sein; und zweitens sollte es sich für die Aufgabe eignen, für die das Modell konstruiert wurde, nämlich: um die Neoromantik um 1900 mit einer Romantik als literarhistorischem Phänomen zu vergleichen. Neben der modellkonstitutiven Abstraktion sollte es darüber hinaus ausreichend differenzierte Beschreibungsmöglichkeiten anbieten, um sowohl Wiederholungen als auch Transformationen sichtbar zu machen – und somit Ergebnisse zu produzieren, die im Idealfall auch ohne Annahme der Modellimplikationen nachweisbar sind. Ein Modell, so Bernd Mahr, muss in jedem Fall funktionieren, sonst ist es allenfalls ein nutzloses oder irreführendes Hilfsmittel.Footnote 181

Um diese Mammutaufgabe zu stemmen, lässt sich auf ein aktuelles Modell von Romantik zurückgreifen, wie es Sandra Kerschbaumer und Stefan Matuschek aus der langen Forschungstradition zur Romantik herausdestillieren. In heterogenen Theorieschulen wie der Luhmann’schen Soziologie (inklusive ihrer literaturwissenschaftlichen Nachfolger) und der angelsächsischen Philosophie entdecken sie neuerdings einen Konsens: Romantik lasse sich demnach, so das Substrat jüngerer Romantikforschungen, „als integraler Sinnstiftungsversuch unter der Bedingung tatsächlicher Desintegration und Partikularisierung“ begreifen.Footnote 182 Diesen eigentlich soziologischen Ansatz, der auf ganzheitliche Sinnstiftungsexperimente unter selbstreflexivem Vorbehalt zielt, erheben Matuschek und Kerschbaumer zur Stütze ihres Modells von Romantik: Aufkommend im Zuge einer funktionalen Ausdifferenzierung der (zuvor statisch-ständischen) Gesellschaft um 1800, die sich interdisziplinär als Beginn der Makroepoche ‚Moderne‘ etabliert hat,Footnote 183 fungiert Romantik nun als diejenige Strategie, „die vom künstlerisch-literarischen Teilsystem aus alle ausdifferenzierten Teile weiterhin als Ganzes, als Einheit zu sehen und zu verstehen beansprucht.“Footnote 184 Romantik behauptet also ein „Universalitätspostulat zu Zeiten unhintergehbar gewordener Partialität; sie ist die tatsächlich verlorene, doch mit sprachlich-künstlerischen Mitteln weiterhin simulierte Einheits- und Ganzheitsperspektive“.Footnote 185 Für Kerschbaumer und Matuschek fußt Romantik damit auf einem innovativen Widerspruch: Die moderne Gesellschaft und ihre Sinninstanzen begeben sich ab 1800 in einen beschleunigten Prozess der Partikularisierung, gegen den die romantische Literatur im Bewusstsein auflösender Deutungsmonopole und aus einem bereits differenzierten Teilsystem (der ‚Kunst‘) heraus anschreibt.Footnote 186

Das Zauberwort dieses Modells liegt im Begriff der „Kippfigur“, welche Matuschek als „epochemachende ästhetische Innovation“ der Romantik postuliert.Footnote 187 „Das beständige Kippen zwischen holistischen Sinnentwürfen und modernem Kontingenzbewusstsein lässt sich als ‚Modell Romantik‘ fassen“, so bringt es Kerschbaumer in ihrer Einzelstudie auf den Punkt, und ferner blickt sie auch auf die ästhetischen Konsequenzen:

Strukturell wesentliche Merkmale der Romantik bestehen demnach darin, Ganzheitsaussagen zu formulieren und zugleich zurückzunehmen; darin, Lebenssinn zu entwerfen und zugleich zu zeigen, dass dieser subjektiv (ästhetisch) gemacht ist; darin, eine Einheits- und Sinnstiftungssemantik anzubieten, deren Status so ambivalent ist, dass er zwischen Behauptung und Widerruf schwankt.Footnote 188

In diesem Modellangebot verbindet Kerschbaumer die soziologische Perspektive mit möglichen Darstellungsverfahren. Romantische Literatur oder überhaupt romantische Kommunikation, so auch Christoph Reinfandt, simulieren eine eigentlich verlorene Ganzheit,Footnote 189 um zugleich deren Bindung an das unhintergehbar partikularisierte Subjekt mit ästhetischen Mitteln auszustellen. Auf eine „Formel“ gebracht, identifiziert Matuschek das Romantische mit jener „Kippfigur zwischen Ganzheits- und Partialitätsbewusstsein“,Footnote 190 die sich ganz materiell in bildender Kunst, Musik oder eben in literarischen Texten äußert: „Wie in der Zeichnung, in der man wechselweise zwei Gesichter oder eine Vase sieht, liest man in den an dieser Innovation teilhabenden Texten mal den alten Glauben und mal die nur individuelle Schriftstellerphantasie: Romantik als Kippfigur.“Footnote 191

Als Suchbefehl für neoromantische Texte allerdings ist der Terminus der Kippfigur nicht ausreichend präzise, da er sich im Zweifelsfall zu weit ausdehnen lässt. Auch die Münsteraner Forschergruppe um Moritz Baßler definiert den Poetischen Realismus neuerdings über seine „Zeichen auf der Kippe“,Footnote 192 und mit Blick auf das 20. Jahrhundert liegt der Verdacht nahe, dass sich ‚moderne Literatur‘ im Allgemeinen durch die Existenz einer irgendwie gearteten Kippfigur konstituiert. Mit Blick auf die genuin romantische Literatur gilt es deshalb zu bestimmen, was genau darin ‚kippt‘: Auf der einen Seite, so formuliert es Kerschbaumer, werden „holistische[] Sinnentwürfe[]“ in romantischen Texten angeboten, die auf der anderen Seite mit einem „moderne[n] Kontingenzbewusstsein“ in Verschränkung geraten.Footnote 193 Hieraus entsteht eine aporetische Doppelvalenz des Romantischen, die Matthias Löwe im Anschluss an die Forschungen Ludwig Stockingers neu formuliert:

Die Romantiker halten an der Vorstellung eines Absoluten, einer letztgültigen Wahrheit fest, beschreiben diese aber nicht als Kollektivwissen, sondern als ein reflexiv nicht einholbares subjektives Gefühl. Das Absolute, also kontrafaktische Ideen wie Gott, Totalität oder Freiheit bzw. die Autonomie des eigenen Selbst sind für das empirische Ich nur als deren ewiges Verfehlen erfahrbar: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“.Footnote 194

Gerade im Festhalten an etwas ‚Absolutem‘, das inhaltlich unbestimmt bleibt, aber doch eine epistemologische Letztbegründbarkeit verspricht, lässt sich mit Löwe eine konstitutive Strategie romantischer Ästhetik fassen, die erst in neueren Forschungen auch mit Blick auf die Frühromantik stärker herausgearbeitet wurde.Footnote 195 Ein gleichwertiges Fundament stellt dabei nach wie vor die radikale Aufwertung des Subjekts in der Romantik dar, das – nach Kant und Fichte – in seinen individuellen Erkenntnisbedingungen zum Gegenstand epistemologischer Reflexionen wird.Footnote 196 Romantische Kunst sucht also das Absolute, landet aber immer wieder beim Individuellen: In dieser Spannung entfaltet eine romantische Kunst- und Literaturstrategie, dem Modell zufolge, seine konstitutive „Kippfigur aus Fortschreibung und individualistischer Aufhebung tradierter kollektiver Glaubensmotive“.Footnote 197

Begreift man Romantik in diesem Sinne als „Säkularisat“ bzw. als „künstlerische[] Formensprache, die dem unendlichen Mangel und der Sehnsucht nach dem Absoluten Ausdruck gibt“,Footnote 198 dann lassen sich drei Prämissen hierfür in ein analytisches Romantik-Modell überführen. Um Transformationen von Romantik auch in späteren, neoromantischen Texten sichtbar zu machen, fußt das Modell von Romantik, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, auf folgenden drei Säulen: Erstens formulieren modellhaft romantische Texte eine Diagnose der Fragmentierung bzw. der Partikularisierung von Subjekten, was soziologische Studien als Ausdruck einer modernen, gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierung gedeutet haben.Footnote 199 Zweitens inszenieren sie den Versuch einer synthetischen Aufhebung dieser modernen Desintegration, z. B. im Konzept des ‚Absoluten‘, in einem verbindenden ‚Naturschlüssel‘ oder in der ‚Universalpoesie‘. Und drittens evozieren sie mithilfe ästhetischer Verfahren ein kippfigurhaftes Wechselspiel, das die Möglichkeit, einen synthetischen Zustand zu erreichen oder zu verifizieren, zu jeweils gleichwertigen Anteilen behauptet und widerruft.

Diese drei Kriterien sollen im Folgenden erfüllt sein, um einen literarischen Text als modellhaft romantisch zu klassifizieren:

Fragmentierung: Eingeschriebene Diagnose der funktionsdifferenzierten Gesellschaft, in der Regel anhand der Partikularisierung des Subjekts bzw. der Desintegration

Synthese: Angestrebtes Ziel eines transindividuellen Zustandes mit letztbegründbaren Normen; die Simulation von Einheit bzw. eines ‚Absoluten‘

Kippfigur: Behauptung und Widerruf der Möglichkeit, die Fragmentierung durch die Synthese zu überwinden

Im Grunde findet sich in diesem Dreischritt die Bewegung einer romantischen Sehnsucht genauer ausdifferenziert: Ein isoliertes Individuum sehnt sich in der entstehenden Moderne nach überindividueller Verbindlichkeit, die sich aber faktisch in Auflösung befindet. Aus diesem Streben nach absoluter Letztbegründbarkeit entsteht in romantischen Texten eine schillernde und produktive Sehnsucht, die gerade in ihrem notorisch unerfüllbaren Willen nach Synthese eine intersubjektive Gemeinsamkeit erkundet.Footnote 200 Auch in dem vorliegenden Modell von Romantik fungiert die Kippfigur damit als der analytische Schlüssel zu romantischen Textphänomenen. Allerdings bleibt sie an eine notwendige Bedingung geknüpft: Die Kippfigur der Romantik muss auf die Möglichkeit zielen, das (inszenierte) Problem einer modernen Partikularisierung durch das Synthese-Angebot zu überwinden. Auf diese Weise changiert der romantische Text zwischen Behauptung und Widerruf, z. B. eines ‚Goldenen Zeitalters‘, und versetzt den Text damit in eine typisch romantische Schwebe der Unentscheidbarkeit.Footnote 201

Eine solche Modellheuristik liefert gegenüber vorherigen Analysen zur Neoromantik eine ganze Reihe von Vorteilen. Sie schließt in ihrem konstitutiven Dreischritt an problemgeschichtliche Ansätze der jüngeren Forschung an, da sie Romantik als literarische Strategie begreift, um auf konkrete Probleme von bestimmten Subjekten in historischen Konstellationen zu reagieren.Footnote 202 Dank ihrer eigentlich soziologischen Ausrichtung bleibt die Modellanalyse dabei offen genug, um auf dynamische Textprozesse und eigenwillige Veränderungen im Erzählverfahren über verschiedene Epochen hinaus zu reagieren. Gleichzeitig aber tritt sie geschlossen genug auf, um alternative Aneignungen von ‚Moderne‘ auszuschließen: Ein Text des Poetischen Realismus beispielsweise verstrickt sich nicht in die Behauptungen und Widerrufe einer Synthese, sondern entscheidet sich in der Regel für eine (bürgerliche) ‚Entsagung‘, die jedes transzendentale Konzept auf der Handlungsebene zurückweist.Footnote 203 Auch die Spätaufklärung, so Matthias Löwe, wählt zur selben Zeit wie die Romantik eine alternative Strategie, indem sie monistische Lösungsangebote inszeniert und säkulare Normen – in der Regel auf Basis der Vernunft – auf ihre Gültigkeit hin überprüft.Footnote 204

Die drei problemgeschichtlichen Säulen der Romantik können somit als epochenüberwindender Suchbefehl mit Blick auf jene Texte fungieren, die sich zur Jahrhundertwende als neoromantisch positionieren – sei es durch das Label einer neuen Romantik, das sie diskutieren (Kapitel 2) oder durch intertextuelle Aneignungen und Aktualisierungen romantischer Topoi (Kapitel 3). Dabei lassen sich die Strategieprämissen des Modells auch in konkrete Darstellungsverfahren überführen, zu denen modellhaft romantische Texte eine Affinität aufweisen: Die Gattung des Fragments beispielsweise steht in enger Korrelation mit der modernen Fragmentierung; allegorisches oder metaphorisches Erzählen kann einen synthetischen Eindruck des Textes erzeugen; und die romantische Ironie ist schließlich der Ort, an dem die Kippfigur ihre Effekte ausspielt. Verändert sich eines dieser Darstellungsverfahren im neoromantischen Text, so gilt es zu klären, inwiefern es vom romantischen Modell abweicht und was an ihre Stelle tritt. Auf diese Weise eröffnet die Modellanalyse, veranschaulicht in Abb. 1.3, den Zugriff sowohl auf konkrete Motive und Erzählverfahren als auch auf analoge und transformierte Problemstrategien eines Textes.

Abbildung 1.3
figure 3

Heuristisches Analysemodell von Romantik

Auf dem Prüfstand der gegenwärtigen Romantik-Forschungen muss sich ein solches Modellangebot vor allem dem Vorwurf stellen, seine Prämissen vergleichsweise stark an der Jenaer Frühromantik zu entwickeln. Im Zuge einer Aufwertung der theologischen Stoßrichtung auch frühromantischer Literatur aber, welche in der Forschung jüngst im Anschluss an Stockinger angeregt wird (und die sich hier im Konzept der Synthese verbirgt), lässt sich eine „Einheit“ zumindest der deutschsprachigen Romantik von Novalis bis Eichendorff plausibilisieren.Footnote 205 Dirk von Petersdorff hat gezeigt, inwiefern gerade Eichendorff die Genieästhetik der Frühromantik aufgibt und stattdessen an volksnahe Vermittelbarkeit appelliert, gleichzeitig aber den epistemologischen Vorbehalt zur Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis weiterführt:Footnote 206 „Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort“, heißt es in Eichendorffs Wünschelrute, womit – wie auch in der berühmten Mondnacht – die Synthese von Individuum und Welt an konjunktivische Bedingungen geknüpft wird.Footnote 207 Auch die Märchen der Brüder Grimm, das belegt u. a. die Vorrede der Kinder- und Hausmärchen,Footnote 208 entrücken ihre wunderbaren Geschichten in ein fernes ‚Es war einmal‘, dessen ontologischer Status stets im Optativen einer erinnerten Vergangenheit verbleibt.

Schwieriger wird es, das Modell im internationalen Vergleich aufrecht zu erhalten und damit einen gemeinsamen Nenner zwischen französischer, italienischer, spanischer und deutscher Romantik et. al. zu behaupten.Footnote 209 Zwar versuchen neueste Forschungspositionen, eine internationale Romantik als kulturgeschichtlichen „Gründungsmythos“ Europas zu positionieren und dabei auch „konfliktgeschichtlich“ die gemeinsamen Nenner der europäischen Moderne herauszuarbeiten;Footnote 210 die Tauglichkeit des oben beschriebenen Modells für ein solches Unterfangen aber gilt es in weiterer Perspektive noch zu prüfen.Footnote 211 In diesem Rahmen rechtfertigt sich der Fokus auf eine deutschsprachige Romantik zunächst dadurch, dass in den 1890er Jahren vor allem Novalis international wiederentdeckt wird und zu einer Neoromantik unter den Vorzeichen einer deutschsprachigen (Früh-)Romantik führt. Die Frage nach der Nationalität fungiert im Neuromantik-Diskurs zugleich als wiederkehrendes Argument, sodass mit der Neuauflage von Novalis, wie zu zeigen sein wird,Footnote 212 auch eine romantisch-deutsche Wurzel in der zeitgenössisch ‚modernen‘ Literatur behauptet wird. Diese Transformation von Romantik in ein nationales Argument darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Neoromantik um 1900 ihre wichtigsten Impulse aus der internationalen Literatur empfängt, konkret: aus Frankreich (Maeterlinck) und Dänemark (Jacobsen). Auch die Neoromantik ist damit zunächst ein europäisches Literaturphänomen, auf dessen Grundlage einige deutschsprachige Akteure beginnen werden, eine besondere Eignung neoromantischer Literatur durch deutschsprachige Schriftsteller zu propagieren.

Ein Forschungsmodell von Romantik, wie es diese Untersuchung auf Basis des aktuellen Wissenstandes konstruiert, muss damit keine erschöpfende Definition anbieten. Vielmehr akzentuiert es durch eine begründete Auswahl einige charakteristische Momente, die einen produktiven Vergleich mit der Neoromantik erlauben. Ein solches Modell von Romantik wird, so die untersuchungsleitende Hypothese, im Zuge der Neoromantik um 1900 um etwas wesentlich Neues transformiert. Das hier aufgestellte Modell soll mithilfe seiner drei Säulen von Fragmentierung, Synthese und Kippfigur erlauben, diese Veränderung sowohl mit Blick auf literarische Verfahren als auch mit Blick auf „Problemhypotheken“ zu beschreiben,Footnote 213 die zur Jahrhundertwende aus den literarischen Texten der Romantik adaptiert, überwunden oder verändert werden.

1.3.2 Theorie und ihre Fallstricke: Zum Nutzen und Nachteil des Modell-Ansatzes

Nachdem die Vorteile der Modellheuristik benannt wurden, die im Wesentlichen in ihrer Abstraktion, Potenzialität und Pragmatik liegen, soll im Folgenden anhand einer möglichen Kritik am pragmatischen Ansatz tiefer in das Theoriefundament des Modells geblickt werden. Als erstes soll in diesem Sinne seine Pragmatik als modisch-verdächtiges Leitparadigma kritisch beleuchtet werden. Zweitens wird eine Evidenzfalle modellhafter Analysearbeit problematisiert, für die gerade eine modellhafte Abstraktion verantwortlich ist. Und drittens muss, als Folge der vorangegangenen Punkte, der ontologische Status des Modells hinterfragt werden, da seine dynamische Potenzialität nicht mit einer historischen Tatsache verwechselt werden darf. Am Ende aber, so viel sei mit Blick auf das folgende Unterkapitel vorweggenommen, ermöglicht die Unterscheidung zwischen zwei grundverschiedenen Modelloperationen einen differenzierten, historisch fundierten Methodenapparat zur Analyse der Neoromantik um 1900.

Eine modelltheoretisch arbeitende Literaturwissenschaft befindet sich gerade deshalb auf der Höhe der Theoriedebatte, da sie auf pragmatischen und geradezu technokratischen Prämissen aufbaut. Eine Modelltheorie, wie sie von Bernd Mahr konzeptualisiert wurde,Footnote 214 schlägt eine Brücke zwischen technologischen Modellen aus der Informatik einerseits und künstlerischen Modellsituationen andererseits, zum Beispiel durch Analysen einer Relation zwischen bildendem Künstler, abzubildendem Modell und Portrait. Dabei lässt sich Mahrs Modellbegriff auch als epistemologisches Äquivalent zum Suchbefehl bzw. zum Algorithmus verstehen: Über ein „Urteil“, so Mahrs Modell des Modellseins, abstrahiert ein kontextabhängiges Subjekt ein „Modell von“ einer überkomplexen Matrix (hier: Romantik), um es gleichzeitig als ein „Modell für“ ein Applikat zu formen (hier: Neoromantik). In dieser doppelten Abhängigkeit konstruiert ein Modellsubjekt in der Regel ein materielles Modellobjekt (hier: das oben formulierte Modell Romantik), das sich über den Transport eines „Cargo“ rechtfertigt, also einer Funktion oder ‚Ladung‘ (hier: den Vergleich von Romantik und Neoromantik).Footnote 215 „Im Allgemeinen“, so Mahr, „wird das Funktionieren eines Modells wesentlich danach beurteilt, wie gut es diese Transportfunktion erfüllt, wie gut es also als Medium funktioniert.“Footnote 216 Eingebunden ist eine solche Modelltheorie in die Hoffnung, mithilfe ihres Pragmatismus die beiden Wirklichkeitsbereiche von Theorie und Empirie zu vernetzen: „Mit Modellen nehmen wir urteilend, handelnd und gestaltend auf die Welt Bezug, auf die Welt, die uns als Realität entgegentritt und auf die Welt unserer Gefühle und Gedanken“, so lautet der erste Satz in Mahrs Grundlagen einer allgemeinen Modelltheorie, womit implizit auch der Anspruch einer paradigmatischen Erkenntnistheorie anklingt: „Mit Modellen machen wir uns die Wirklichkeit des Vergangenen und die Möglichkeiten des Zukünftigen zur Gegenwart.“Footnote 217

Wie stark eine allgemeine Modelltheorie damit auch epistemologische Grundüberzeugungen tradiert, lässt sich in der Lektüre einer frühen Modelltheorie des Kybernetikers Herbert Stachowiak greifen. Seine Gedanken zu einer allgemeinen Modelltheorie (1965) beginnen mit der Verteidigung eines philosophischen „Neopragmatismus“, den er als „Wiederentdeckung der anthropologisch ursprünglichen Funktion der Wissenschaft als eines Instrumentes menschlicher Daseinsbewältigung“ beschreibt.Footnote 218 In anthropologisierender Wortwahl verklärt Stachowiak die Modelltheorie zum erkenntnistheoretischen ‚Naturzustand‘ der Wissenschaften, um dabei recht skrupellos mit der Möglichkeit empirischer Welterschließung abzurechnen: Objektivität wird bei Stachowiak ersetzt durch eine kontextgebundene Intersubjektivität,Footnote 219 die ausschließlich in einem „Bewährungsnachweis“ hergestellt wird und „wesentlich auf der Meinungsübereinstimmung der Sachverständigen beruht.“Footnote 220 Die „Brauchbarkeit“ eines Modells fungiert dabei als wichtigstes Argument für die Validierung wissenschaftlicher Theorien,Footnote 221 die im Sinne Stachowiaks „heuristisch liberal“ und „verifikationstheoretisch in gewisser Weise indifferent“ sind: „Jeder Weg, der zu einer für die praktische Daseinsbewältigung brauchbaren wissenschaftlichen Theorie führt, ist erlaubt.“Footnote 222 Damit handelt sich die Pragmatik des Modells nach Stachowiak ein ethisches Problem ein: Ob das konstruierte Modell etwas mit objektiver Wirklichkeit zu tun hat, ist für die Modelltheorie im Grunde nicht relevant, solange seine Prämissen von möglichst vielen „Sachverständigen“ geteilt werden.Footnote 223

Noch dazu fußt Stachowiaks Modelltheorie auf einer ausgestellt funktionalistischen Anthropologie, die rationale Entscheidungen und, noch konkreter, das „Motiv der Arterhaltung“ zur „biologischen Grundkonditionierung“ des Menschen erklärt: Neopragmatisches Wissen existiert nur, so Stachowiak,

als vorläufiges Ergebnis eines Ausleseprozesses [...], dessen generelle Richtung vor allem durch praktisch-ökonomische Gründe bestimmt ist und letztlich durch das Motiv der Arterhaltung. [...] Erfahrungswissenschaftliche Theorien [wie der Neopragmatismus, R.S.] gelten daher immer nur „bis auf Abruf“. Sie erschließen nicht ewige Wahrheiten, sondern sind darauf angelegt, dem rational handelnden, d.h. ein Maximum an Nutzen, Gewinn, Motiverfüllung usw. anstrebenden Menschen je nach Situationen, in die er sich gestellt sieht, funktionstüchtige Handlungsantizipationen zu vermitteln.Footnote 224

Auch wenn jüngere Modelltheorien diese problematischen Implikationen glücklicherweise aussparen, weist die Arbeit mit Modellen doch weiterhin eine gewisse Affinität zum ökonomischen Funktionalismus auf: Der „Modellbegriff ist deshalb erfolgreich, weil Modellen ein gemeinsames Funktionieren zugrunde liegt“, so Mahr, und die Dynamik des Modells lässt sich mit Stachowiak auch als ein „spekulationsfreudige[r] Optimismus“ beschreiben, „ohne welchen es Fortschritt in Dingen der Wissenschaft nicht geben kann.“Footnote 225 Das Modell, so lässt sich überspitzt formulieren, ist die Übersetzung des rational choice in die Epistemologie.

Stachowiaks „Modellismus“, wie er ihn später nennt,Footnote 226 hält der aktuellen Theoriedebatte über Modelle in Kunst und Wissenschaft damit unfreiwillig einen Spiegel vor. An dieser Stelle gilt es zunächst zu summieren, auf welchen funktionalistischen Prämissen die Modelltheorie aufbaut: Streng genommen kennt sie weder historisch-kritische Objektivität noch ethische Verpflichtungen außer einer Maxime der Konsensfähigkeit.Footnote 227 Zwei praktische Einwände lassen sich daraus für die folgende Untersuchung ableiten: Es gilt zum einen, das pragmatische Modell möglichst nah an das geschichtliche, tatsächliche Material zu binden und seine Struktur immer wieder am historischen Einzeltext zu prüfen; und zum anderen gilt es, die Konsensfähigkeit nicht als Zwang zur größtmöglichen Verbreitung leicht konsumierbarer Inhalte aufzufassen, sondern sie stattdessen als Anschluss an eine ideelle kritische Expertise zu präzisieren, welche die fachliche und auch ethische Tauglichkeit von Modellen im Blick hat.Footnote 228 Auch soll in diesem Rahmen vermieden werden, der Anthropologisierung des Modellbegriffs zu folgen: Dem Approximationsproblem von Modellen, die sich objektiven Tatsachen ja immer nur (wenn überhaupt) annähern, wird in der Regel dadurch begegnet, dass modellhaftes Verstehen selbst als neuronaler Prozess und damit als anthropologische Grundvoraussetzung aufgefasst wird.Footnote 229 So schlüssig dieses Argument mit Blick auf die aktuellen Neurowissenschaften auch klingt,Footnote 230 so gibt es für literaturwissenschaftliche Arbeiten keinen Grund, diesen universalistischen Zirkelschluss zu übernehmen: Zur Funktionsweise menschlicher Wahrnehmung gibt die folgende Untersuchung kein Werturteil ab.

Als Konsequenz ihrer pragmatischen Ausrichtung ergibt sich für die Arbeit mit Modellen, so der zweite hier diskutierte Aspekt, aber auch ein ganz praktisches Problem der Evidenzfalle. Der Kunsthistoriker Reinhard Wendler hat die Funktionsweise eines Modells auf einer mikrostrukturellen Ebene herausgearbeitet: Mithilfe gezielter Prämissen, die das Modellsubjekt auf der Basis eines Urteils aufstellt, sammelt das Modell eine Reihe von Merkmalen, indem es wie ein Suchfilter mit einer überkomplexen Matrix interagiert.Footnote 231 Blickt man zum Beispiel mit dem oben konstruierten Modell von Romantik auf romantische Texte, dann leuchten genau jene Textstellen auf, welche die jeweiligen Prämissen von Fragmentierung, Synthese und Kippfigur erfüllen. Als Ergebnis erhält man eine begrenzte Menge von Textstellen, die in genau diesen Merkmalen übereinstimmen und (wie nach einem Suchlauf) eine Äquivalenzreihe bilden. Ein solches Paradigma, denn nichts anderes hat man durch den modellhaften Suchbefehl konstruiert, muss zwangsläufig evident erscheinen, da alle Textstellen durch einen kleinsten gemeinsamen Nenner verbunden sind und dieser in der Ergebnisliste offen hervortritt. Mithilfe des Suchfilters aber wurde zugleich eine große Menge an Text ausgeblendet, die auf andersartige Prämissen reagieren und potenziell eine ebenso evidente Modellreihe ausgeben könnte. Die Evidenzfalle ist also folgende: Durch die urteilsbasierte Abstraktion des Materials erzeugt das Modell einen Effekt der Evidenz, der darüber hinwegtäuscht, dass auch alternative Äquivalenzreihungen möglich sind. Man kann dieses Modellierungsverfahren auch als Effekt der Blase bezeichnen: Wendet man einen modellhaften Suchfilter an, tritt man damit in eine hermetische Blase, über deren Ränder hinaus der Blick schwammig wird.

Dieser Nachteil des Modells ist zugleich sein Vorteil, da die Perspektive gezielt auf einander äquivalente Phänomene ausgerichtet wird und stringente Argumentationen möglich werden. Theoretisch aber gilt es zu reflektieren, dass der Modellfilter immer nur ein potenzieller unter unzähligen Alternativmodellen ist, auch wenn die Äquivalenzreihung des Modells in ihrem Verfahren darüber hinwegtäuscht. Dieses Problem berührt im Rahmen dieser Untersuchung nichts Geringeres als die Frage, ob man mit dem obigen Modell einen ‚Kern‘ des Romantischen gefunden oder nur einen gut funktionierenden Suchbefehl aufgestellt hat. Sandra Kerschbaumer widmet diesem dritten zu diskutierenden Aspekt, dem „epistemologischen Status des Modells“, ein aufschlussreiches Kapitel: „Wie real ist ein theoretisches Modell eigentlich?“, fragt KerschbaumerFootnote 232 und kommt nach Abwägung der verschiedenen Positionen – einer konstruktivistischen und einer ontologischen Argumentation – zu einer „komplexe[n] Antwort“, laut der sich „die Prozesse überschneiden“:

Das im Modell Romantik Beschriebene wird einerseits konstruktiv-kreativ produziert, diese Konstruktion rekurriert aber zugleich auf einen Objektbereich, eine um 1800 in Phänomenen auffindbare Denk- und Handlungsfigur. Das Modell ist also einerseits in den Phänomenen der historischen Romantik wirksam vorhanden und wird zugleich gemacht. Man könnte auch sagen, ein Modell wird gefunden. Denn im Finden klingt zweierlei an: das Aufspüren und das Hervorheben einer Struktur in der Welt der Phänomene durch einen geschärften, suchenden Blick.Footnote 233

Plausibel werden diese Argumente vor allem, wenn man Mahrs Definition eines Modells als Brücke zwischen Induktion und Deduktion hinzuzieht: In der Operation, „Modell von“ einer Matrix zu sein, zeigt das Modell seine induktive Seite, als „Modell für“ ein Applikat arbeitet es deduktiv.Footnote 234 In diesem Sinne fungiert das Modell tatsächlich als ein Mittler zwischen Theorie und Empirie, das nicht objektfrei in der Luft schwebt. Nur rückt die Frage nach der Pluralität des Modells bei Kerschbaumer aus dem Fokus: Ihre Conclusio wie auch die praktischen Analysen zielen vor allem darauf, „wesentliche[]“ von „unwesentliche[n]“ Aspekten der Romantik zu unterscheiden.Footnote 235 Das Modell zeigt in all seiner Konstruiertheit also doch auf eine ‚wesentliche‘ Strukturqualität des Romantischen, nämlich auf die Kippfigur, die entgegen anderer Romantik-Modelle behauptet werden soll.

An diesem Punkt, so lässt sich argumentieren, schlägt das diagnostizierte Evidenzproblem zu und die Modelltheorie verwandelt sich in klassischen Strukturalismus. Ein Modell entdeckt eben keine verborgene Struktur innerhalb von Texten oder innerhalb eines Literatursystems, sondern es richtet einen potenziellen, im glücklichsten Fall konsensfähigen Suchbefehl an einen Text. Auch Luis Arata weist deutlich darauf hin, die Ontologie des Modells nicht zu überschätzen:

A model is a model. It should not be confused with a truthful representation of something beyond itself: nothing can do that, not even a theoretical model. Modeling should not be diminished as an incomplete aspect of something more profound or more real.Footnote 236

‚Findet‘ man also Modelle im Text, dann setzt man sich der poststrukturalistischen Kritik aus, mithilfe von selbstgemachten Strukturen die „unendliche[] Semiose“ von Texten zu begrenzen.Footnote 237 Der Mehrwert modelltheoretischen Arbeitens aber kann vielmehr darin liegen, nicht das Modell selbst validieren zu wollen, sondern ausschließlich seine Ergebnisse. Erst wenn sich mithilfe von verschiedenen Hilfsmodellen ähnliche Erkenntnisse über ein Ausgangssystem erlangen lassen, so lautet die modelltheoretisch valide Operation, dann kann eine gültige These über die Ausgangsmatrix formuliert werden. „Es ist ein Götzendienst, im weitern Sinn, wenn ich diesen Mittler in der That für Gott selbst ansehe“, lässt sich auch mit Novalis einwenden: Modelle sind und bleiben pragmatische Mediatoren.Footnote 238

Modelle sollen in dieser Untersuchung entsprechend als Konstrukte aufgefasst werden, die im Idealfall intersubjektiv nachweisbare Ergebnisse mit Blick auf eine transparente Fragestellung produzieren. Mit pragmatischem Zugriff abstrahiert das Modellsubjekt aus der Überfülle eines Ausgangsystems ein potenzielles Modell, das sich bestmöglich für eine spezifische Aufgabe eignet. In diesem Sinne soll das obige Modell Romantik mit seinen drei Säulen als Suchbefehl dienen, um neoromantische Texte mit der literarischen Romantik zu vergleichen. Am Ende der Arbeit entsteht selbst ein Modell von Neoromantik, welches das Phänomen neoromantischer Literatur um 1900 im Idealfall konsensfähig beschreibt. Dieses Modell ist allerdings selbst nur ein potenzielles Konstrukt unter anderen Optionen, mit dem sich (hoffentlich) neue Fragestellungen erarbeiten lassen und das sich für weitere literaturwissenschaftliche Hypothesenbildung eignet.

1.3.3 Diskursanalyse als Korrektur: Zur Klassifizierung und Auswahl neoromantischer Texte

Wie lässt sich auf modelltheoretischer Grundlage nun ein Korpus an Texten auswählen, das sich konsensfähig als ‚neoromantisch‘ klassifizieren lässt? Eine Antwort, die als Entscheidung den folgenden Analysen zugrunde liegt, lautet: Für diese historisch-kritische Aufgabe bietet sich der reine Modellzugriff nicht an. Zwar kann eine Modellanalyse die Frage beantworten, wie ‚romantisch‘ eine Neoromantik um 1900 sei; doch welche Texte überhaupt zu einer Neoromantik hinzugehören und welche nicht, lässt sich mit Blick auf das historische Phänomen nicht bzw. nur unzureichend beantworten.Footnote 239 Eine rein modellgeleitete Definition von Neoromantik müsste all jene Texte auswählen, die innerhalb des untersuchten Zeitraums mit dem eigenen, modellhaften Verständnis von Romantik kongruieren. So würde beispielsweise Thomas Mann aufgrund seiner literarischen Ironie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Prototypen eines neoromantischen Autors erklärt werden;Footnote 240 Hermann Hesse hingegen müsste nach aktuellem Forschungsstand aus dieser Kategorie herausfallen.Footnote 241 Dies aber widerspricht dem historischen Wissen über Neoromantik: Mit seinen Veröffentlichung im Eugen-Diederichs-Verlag und seiner regen Romantik-Rezeption steht Hesse einer Diskursströmung ‚Neuromantik‘ näher als Mann, der sich erst in seinem Märchenroman Königliche Hoheit (1908) vergleichsweise spät und aus kritischer Distanz mit der zeitgenössischen Tendenz beschäftigt.Footnote 242 Neoromantik ist also nicht nur die rein typologische Wiederaufnahme von Romantik, sondern sie entwickelt ihr eigenes Profil mit kanonischen Texten, Schreibverfahren und mit eigenen Modelloperationen.

In diesem Problem zwischen typologischer Romantik einerseits und historisch geprägter Neoromantik andererseits lässt sich der wesentliche Grund dafür ausmachen, weshalb das Phänomen bis heute nur unscharf erfasst wurde. Beide Ebenen gleichzeitig bearbeiten zu wollen, führt notwendigerweise zu Widersprüchen – da eine historische Neoromantik nicht den jüngeren Forschungsmodellen von Romantik idealtypisch entspricht, sondern auf ein ganz eigenes Romantikverständnis zurückgreift. Um der komplexen Verschränkung von heutigem Romantikmodell, damaligem Romantikwissen und zeitgenössischem Neoromantik-Profil produktiv zu begegnen, hilft die schlichte, aber konsequente Trennung der zwei analytischen Operationen: Zuerst kann ein historisches Diskurswissen über Neoromantik aufbereitet und rekonstruiert werden, um anschließend – und auf Grundlage dieses Profils – den modellhaften Vergleich mit der Romantik zu initiieren. Die erste Operation, die auch den ersten Hauptteil der Untersuchung ausmacht, lässt sich als eine Transformationsanalyse bezeichnen, die zweite als ein Modellvergleich.

Transformationsanalyse: Ich rekonstruiere ein zeitgenössisches Profil von Neoromantik (z.B. einer bestimmten Gruppe) und prüfe die Veränderungen und Aktualisierungen, welche ihr die Zeitgenossen im Vergleich zu ihrem Romantik-Verständnis zuschreiben.

Modellvergleich: Ich konstruiere ein Modell von Romantik auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes und prüfe auf dieser Folie, inwiefern die Untersuchungsgegenstände romantische Elemente aufgreifen und modifizieren.

Diese beiden Operationen entsprechen dem sukzessiven Vorgehen dieser Arbeit: Während die erste Hälfte diskursanalytisch operiert, um historisches Wissen auszugraben, widmet sich die zweite Hälfte der Untersuchung literarischer Texte und prüft sie mithilfe des Modells auf ihre Aktualisierung von Romantik.

Nachdem die Grundlagen für die methodisch avancierte Modellanalyse bereits gelegt wurden, bedarf es auch zur historisch-kritischen Transformationsanalyse einiger klärender Prämissen. In der folgenden Analysepraxis wird sie als eine spezifische, pragmatisch geöffnete Auslegung der Diskursanalyse angewandt. Insgesamt ist die Methode der Diskursanalyse (im Anschluss an Foucault) in den Kulturwissenschaften nach wie vor so verbreitet wie schillernd, da sie von den unterschiedlichsten Disziplinen variabel verwendet wird. Die dominante literaturwissenschaftliche Auslegung ähnelt der Diskursanalyse der Geschichtswissenschaft: Diskurse sind demnach historisch gebundene Wissenscluster, die sich in Redebeiträgen (fr. discours) manifestieren, einem jeweils spezifischen Set von Regeln folgen und sich über Texte bzw. Quellen erschließen lassen.Footnote 243 Wissen, so eine epistemologische Grundannahme dieses Ansatzes, sei demnach historisch veränderbar und lässt sich über seine Repräsentationen kritisch analysieren.Footnote 244

Allerdings ergeben sich aus dieser Prämisse auch Probleme. Kämper, Warnke und Schmidt-Brücken weisen in ihrer methodologischen Reflexion auf ein implizites Problem der ubiquitären Historizität hin, die dem diskursanalytischen Ansatz zum Verhängnis werden kann. Wenn sich alles Wissen in Form vergänglicher Diskurse organisiert, so müssen auch die eigenen Forschungsergebnisse als diskursive Ereignisse aufgefasst werden, die fest in der Gegenwart verankert und somit in ihrem erkenntnistheoretischen Gehalt fluide sind. Mit Blick auf die Gebundenheit an „Zeitumstände“ diskursanalytischer Forschungen kommen die Verfasser zu einem ernstzunehmenden Fazit: „In diesem Sinn möchten wir dafür plädieren, Diskursanalyse stärker als bisher als ein aussagenhistorisches Projekt zu betreiben: als Verfahren der Vergegenwärtigung vergangener Gewissheiten ebenso wie als Historisierung und damit Relativierung von Gegenwart.“Footnote 245

Wie schon in Foucaults Antrittsvorlesung zur Ordnung des Diskurses (1970) angedeutet, gibt es auch in der Wissenschaft kein Entkommen aus den fluiden Diskursen.Footnote 246 Die präsentistische Verortung von Forschungsergebnissen muss aber kein Manko sein: Nutzt man das kulturelle Wissen der Gegenwart als kritische Vergleichsfolie, nicht um zyklische Wiederholungen zu bestätigen, sondern um Bruchstellen und Unwahrscheinlichkeiten aufzudecken, kann gerade der Kontrast zwischen vergangenem und aktuellem Wissen (z. B. über Romantik) Dissonanzen aufdecken, die als historische Erkenntnis valide sind. Ähnlichkeiten zwischen der Gegenwart und einer historischen Epoche aufzuzeigen, ist – streng methodologisch betrachtet – anspruchsvoller, da sich der eigene subjektive Eindruck im Äquivalenzvergleich nicht vollständig tilgen lässt.Footnote 247 Eine materialbasierte Suche nach Differenzen aber kann in einem ergebnisoffenen Prozess auf Funde stoßen, die nicht aus subjektiven Vorannahmen, sondern aus den historischen Texten selbst entwickelt werden. Deshalb wird im Folgenden eine Transformationsanalyse dem Modellvergleich vorangestellt: Erst arbeitet der kritische Blick in das Material gezielt Unterschiede im Neoromantik-Diskurs heraus, um anschließend – mithilfe des Modells – auch mögliche Ähnlichkeiten zwischen einem aktuellen Romantik-Verständnis und der Neoromantik um 1900 zu beschreiben. Der Fokus auf Transformationen liefert also die Basis, auf dessen Folie mögliche Ähnlichkeiten neu bewertet werden können.Footnote 248

Neben diesem Akzent auf Transformationen zeichnet sich die folgende Diskurs- bzw. Transformationsanalyse zusätzlich durch eine weitere Besonderheit aus. Während literaturwissenschaftliche oder auch linguistische Diskursanalysen sich häufig auf eine mediale Gattung konzentrieren – zum Beispiel auf Romantik-Diskurse in literarischen Zeitschriften –, probiert die folgende Methode, Mediengrenzen zu überschreiten und einen transmedialen Diskurs über Neoromantik einzufangen. Manche Auslegungen der klassischen Diskursanalyse tendieren wiederum dazu, in diesem Zuge die Grenzen zwischen fiktionalen und faktualen Texten einzuebnen und faktuales Wissen zu bevorzugen, womit die ästhetische Eigenqualität literarischer Texte in den Hintergrund rückt. Jürgen Link ist diesem Problem mit dem Interdiskurs-Begriff begegnet: Gerade Literatur fungiere als Vermittlungsinstanz zwischen Spezialdiskursen und Öffentlichkeiten, weshalb ihre ästhetischen Übersetzungsprozesse als Quelle für ein kulturelles, interdiskursives Wissen taugen.Footnote 249 Eigenlogiken ästhetischer Strategien bleiben aber im Forschungsinteresse des Interdiskurs-Begriffs tendenziell nachgeordnet. Um im Folgenden ein möglichst belastbares Bild eines literarhistorischen Phänomens zu gewinnen, bilden kontextuelle Wissensbestände die notwendige Basis, um anschließend auch die spezifische Historizität der literarischen Formstrategien aufschließen zu können. Aus diesem Grund werden die essayistischen und analytischen Äußerungen der Autoren in dieser Untersuchung unmittelbar vor den Modellanalysen geklärt. Das Ziel soll es sein, etwas über die historisch verortete Funktionsweise dieser literarischen Texte zu erfahren; und dafür sind die Essays und Einschätzungen der einzelnen Autoren zur Neoromantik unverzichtbar.

Einer drohenden Überkomplexität des Materials können in diesem Fall zwei Argumente entgegenwirken: Erstens ist die Neoromantik bereits ein innerliterarischer Diskurs, dessen Virulenz zwar im Laufe der 1900er Jahre zunimmt, aber dennoch im Wesentlichen auf Zeitschriften, wissenschaftliche Abhandlungen und literarische Texte begrenzt ist. Die Höhe der Prozentzahlen im Google NGram Viewer (s. oben, Abb. 1.2) zeigt an, dass es sich um einen Subdiskurs handelt, der – anders als Romantik als Gesamtkomplex – überschaubar und im Rahmen einer solchen Arbeit behandelbar ist. Zweitens wird das Diskursmaterial mithilfe eines abstrahierenden Zugriffs gesichtet und derart ausgewertet, dass die als wesentlich erachteten Texte und Argumente angeführt werden, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu gewähren. Statt also jeden einzelnen Redebeitrag im Kontext der Neoromantik anführen zu müssen, werden diejenigen Texte analysiert, die besonders häufig besprochen bzw. auf Grundlage der Textzeugnisse rege rezipiert wurden. Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne (dt. 1889) beispielsweise wird nachweislich, vor allem aufgrund eines Vorworts von Theodor Wolff, als Impulstext neoromantischer Literatur gelesen, weshalb er als kanonischer Roman in der Transformationsanalyse ausgewertet wird; ebenso partizipiert Ricarda Huchs wissenschaftliche Romantik-Monographie an diesem transmedialen Gesamtdiskurs.Footnote 250 Die Modellvergleiche hingegen, wie sie im zweiten Teil der Untersuchung an Mann, Ewers und Hesse durchgeführt werden, erheben nicht den Anspruch, einem diskursiven Stellenwert der Werke gerecht zu werden. Dort finden stattdessen Stichproben unter dem Brennglas aktueller Romantikforschung statt, um modellhafte Schnittmengen literarischer Einzeltexte auszuwerten.

Die Transformationsanalyse dient also dazu, mit kritischem Blick die Entstehung und den Wandel von Neoromantik zu beschreiben, wie sie sich auf ihrer historisch-diskursiven Ebene entwickelt. An ihrem Ende steht ein historisches Deutungsangebot, das es ermöglicht, wiederkehrende Argumentationsmuster zu erkennen und Einzelaussagen wie Akteure auf ihrem Hintergrund zu klassifizieren. Als ein „aussagenhistorisches Projekt“ betrieben,Footnote 251 wird entsprechend das diskursive Wissen über Neoromantik zwischen 1890 und 1910 rekonstruiert. Erst auf dieser Grundlage kann eine historisch informierte Modellanalyse erfolgen.