1.1 Was ist Integritätsmanagement?

1.1.1 Verantwortung im Unternehmen

Individuelle Personen tragen Verantwortung für ihr Handeln. Sie richten ihr Handeln nach moralischen oder ethischen Grundsätzen aus und ermöglichen so ein gutes Zusammenleben mit anderen Personen. Wenn sie gegen herrschende Regeln oder Gesetze verstoßen, werden sie zur Verantwortung gezogen, bei einem rechtlichen Vergehen auch bestraft. Inwiefern trägt nun eine Institution wie ein Unternehmen eine Verantwortung?

Noch vor wenigen Jahren galt es unter vielen Ökonomen als selbstverständlich, dass Unternehmen keine direkte Verantwortung tragen. So vertrat beispielsweise Milton Friedman, Nobelpreisträger der Ökonomie, die Ansicht, die einzige moralische Verantwortung des Managements bestehe darin, den Unternehmensgewinn zu steigern (Friedman, 1970, S. 17). Seit ökologische, ökonomische und soziale Krisen zunehmen, stellt sich auch für Unternehmen verstärkt die Frage nach der Verantwortung für ihr Handeln. Unternehmen sind nicht nur juristische Personen, sondern sollen auch ethisch zur Verantwortung gezogen werden. Vernachlässigte Unternehmensverantwortung führte in den letzten Jahren wiederholt zu großen ökologischen und sozialen Schäden, aber auch zu Reputationsverlusten und damit zu Wertverlusten. Inzwischen sehen viele Unternehmen Unternehmensverantwortung als einen Aufgabenbereich, der genauso gemanagt werden muss wie etwa der Einkauf, die Produktion, das Marketing oder die Kommunikation – nicht zuletzt auch aus eigenen ökonomischen Interessen.

Worin besteht nun aber die Verantwortung eines Unternehmens? Diese grundsätzliche Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Verantwortung zu tragen heißt, für eine Person oder eine Sache einzustehen und auch kritische Fragen zu beantworten. Die Verantwortungsbeziehung enthält mindesten drei Elemente: Ein Subjekt trägt für ein Objekt die Verantwortung und hat sich vor einer Instanz für seine Entscheidungen und Handlungen zu verantworten. Die Subjekte der Verantwortung können dabei die Führungskräfte, die Mitarbeitenden oder das Unternehmen selbst sein. Die Objekte der Verantwortung können sehr vielfältig sein und Aufgaben, Entscheidungen, Handlungen, Folgen Adressaten, Güter und Werte umfassen. Und die Instanzen der Verantwortung können Gerichte, die Öffentlichkeit oder auch das persönliche Gewissen sein (Göbel, 2017, S. 116). Es ist eine Aufgabe der Unternehmen die Verantwortungsbeziehungen zu erfassen und in Strukturen und Prozessen abzubilden.

So trägt beispielsweise das Management die Verantwortung für das Erreichen der Jahresziele, aber auch für gute Produkte, faire Zusammenarbeit mit Partnerfirmen, für gerechte Entlohnung der Mitarbeitenden, für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der Zulieferkette usw. Die Beziehung zwischen Verantwortungssubjekt und -objekt kann mehr oder weniger direkt sein, wie das Beispiel der Zulieferkette zeigt. Die Instanz, vor der sich das Management verantworten muss, sind nicht nur die Eigentümer des Unternehmens, sondern die verschiedenen Anspruchsgruppen wie Mitarbeitende, Zulieferfirmen, Partnerfirmen, Öffentlichkeit. Konflikte zwischen den Ansprüchen verschiedener Gruppen sind der Normalfall, und das Management bedarf eines guten Urteilsvermögens, um gerechte Entscheidungen zu fällen und umsetzbare Lösungen zu finden.

Verantwortung von und in Unternehmen kann theoretisch unterschiedlich gefasst werden. Im Folgenden soll die hier vertretene Konzeption von Unternehmensethik kurz einigen anderen Ansätzen gegenübergestellt werden. Unternehmen versuchen mit Ethikprogrammen ethische Probleme zu vermeiden oder zu lösen. Vereinfachend kann man dabei zwischen Compliance- und Integritätsprogrammen unterscheiden. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Typen besteht darin, dass Complianceprogramme detaillierte Regelungen vorgeben und diese durchsetzen und Integritätsprogramme bei der moralischen Kompetenz der Mitarbeitenden ansetzen (vgl. Abschn. 4.2.4). Compliance-Management ist mittlerweile eine etablierte Managementaufgabe in vielen Unternehmen und es gibt dazu mehrere umfassende Handbücher (Petsche et al., 2019; Wieland et al., 2020; Sokol & Rooij, 2021). Das vorliegende Buch versteht sich hingegen als Beitrag zum Integritätsmanagement und versucht, die ethische Kompetenz von Mitarbeitenden und Führungskräften zu verbessern, indem ethische Dilemmas diskutiert werden.

Ein häufig verwendeter Begriff für die Unternehmensverantwortung ist der englische Ausdruck Corporate Social Responsibility (CSR). Darunter versteht man normalerweise die umfassende Verantwortung von Unternehmen in Bezug auf ökologische, ökonomische und soziale Zielsetzungen (Brühl, 2018, S. 19 ff.). Corporate Social Responsibility (CSR) ist auch der Gegenstand des internationalen Standards ISO 26000, der allerdings nicht zertifizierbar ist (ISO, 2010) (vgl. Abschn. 4.2.5). Im Gegensatz zum umfassenden Begriff der Corporate Social Responsibility (CSR) fokussiert das vorliegende Buch auf die ethischen Entscheidungssituationen von Mitarbeitenden und Führungskräften und bietet ein Modell an, wie sich ethische Dilemmas auf der individuellen und der organisationalen Ebene erfassen und lösen lassen.

1.1.2 Die drei Ebenen der Wirtschafts- und Unternehmensethik

Um ein unternehmensethisches Problem besser analysieren zu können, ist es hilfreich, drei Ebenen zu unterscheiden:

  • die Makroebene, die gesellschaftliche Rahmenordnung,

  • die Mesoebene, das Unternehmen bzw. die Organisation, und

  • die Mikroebene, die Individuen.

Die drei Ebenen beeinflussen sich gegenseitig. Individuen gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und entwickeln sie weiter. Die Persönlichkeit einer Gründerperson prägt das Unternehmen nachhaltig. Umgekehrt beeinflusst auch ein Unternehmen die darin tätigen Individuen. Die Unternehmensstruktur und -kultur wirken sich auf die Entscheidungen der Mitarbeitenden aus. Zahlreiche informelle und formelle Verhaltenserwartungen kanalisieren die Handlungen von Mitgliedern eines Unternehmens (Göbel, 2017, S. 109 ff.).

Unternehmen beeinflussen aber auch die gesellschaftliche Rahmenordnung. Als Beispiel ist die Lobbying-Arbeit eines Unternehmens zu nennen, die Gesetzgebungsprozesse beeinflusst. Die vorhandene Rahmenordnung prägt andererseits auch die Entscheidungen der Unternehmen. Es gibt Gesetze und Branchenspielregeln, an die sich das Unternehmen zu halten hat. Zudem übt auch die Öffentlichkeit einen Legitimationsdruck auf die Unternehmen aus (Göbel, 2017, S. 109 ff.).

1.1.3 Provisorische Definition der Integrität

Das Wort „Integrität“ bzw. „integer“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „unbescholten“, „makellos“, „unberührt“, „unversehrt“, „rein“ (Duden, 2006, S. 365). Neben dieser alltäglichen Bedeutung hat das Wort auch eine moralische Bedeutung, welche als „Wahrhaftigkeit“ oder „Stimmigkeit“ umschrieben werden kann. Sowohl die „Ganzheit“ als auch die „moralische Stimmigkeit“ sind für ein Unternehmen in einem Umfeld, das von verschiedensten Anspruchsgruppen geprägt wird, oft schwierig zu realisieren. Denn ob ein Unternehmen „integer“ ist, hängt nicht nur von dem eigenen moralisch konsistenten Verhalten ab, sondern auch davon, ob die Unternehmensintegrität von den Anspruchsgruppen als solche anerkannt wird. Dies bedeutet, dass ein Unternehmen Integrität nicht einfach hat, sondern dass Integrität aus einer gelebten und gepflegten Wechselbeziehung mit anderen entsteht (Maak & Ulrich, 2007, S. 6–11).

Integrität kann nun auf den drei Ebenen der Wirtschafts- und Unternehmensethik betrachtet werden (vgl. Abb. 1.1):

Abb. 1.1
figure 1

Integrität auf den Ebenen der Wirtschafts- und Unternehmensethik

Bei der Integrität der Gesellschaft geht es darum, dass ein Land eine rechtsstaatliche Ordnung hat und diese auch tatsächlich umsetzt. Unter der Integrität einer Organisation bzw. eines Unternehmens wird die Wahrnehmung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Verantwortung eines Unternehmens gegenüber verschiedenen Anspruchsgruppen verstanden. Integrität der Individuen schließlich bedeutet, dass diese als moralische Personen respektiert werden. Auf allen drei Ebenen spielt die Übereinstimmung von Denken, Sagen und Tun die entscheidende Rolle. Ein Unternehmen, das sich selber ein ethisch anspruchsvolles Leitbild und einen Code of Conduct gibt, in der Praxis aber völlig anders handelt, wird schnell unglaubwürdig und verliert seine Integrität.

Das Integritätsmanagement eines Unternehmens hat zum Ziel, Situationen zu erkennen, welche die Integrität des Unternehmens herausfordern, diese mit einer verständlichen Sprache zu analysieren und als Teil der normalen Managementverantwortung zu lösen.

1.1.4 Die drei Bereiche einer integren Unternehmensführung

Die professionelle Wahrnehmung der Unternehmensverantwortung ist eine Managementaufgabe. Maak und Ulrich unterscheiden vier Bereiche eines ganzheitlichen Integritätsmanagements: Principles, Policies, Processes und People. Im Folgenden werden die vier P’s einer integren Unternehmensführung kurz erläutert (Maak & Ulrich, 2007, S. 14).

Unter „Principles“ verstehen Maak und Ulrich die obersten Grundsätze des unternehmerischen Handelns, deren Geltung bedingungslos festgeschrieben ist. Dazu gehören beispielsweise Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Fairness, Gerechtigkeit, Respekt, Offenheit, Transparenz oder Verlässlichkeit (Maak & Ulrich, 2007, S. 15).

Unter „Policies“ fassen Maak und Ulrich strategische Vorgaben zusammen, mit denen Unternehmen ihre soziale und ökologische Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehören beispielsweise unternehmenspolitische Handlungsgrundsätze und Richtlinien, die den Umgang mit verschiedenen Anspruchsgruppen konkretisieren (Maak & Ulrich, 2007, S. 15).

Unter „Processes“ fassen Maak und Ulrich Maßnahmen zusammen, mit denen Unternehmen anhand organisatorischer Strukturen und Prozesse die Integrität nach innen sicherstellen. Dazu gehören verantwortbare Zulieferketten, Produktionsprozesse und Marketingmaßnahmen sowie auch Ethikprogramme und eine gelebte Integritätskultur (Maak & Ulrich, 2007, S. 18).

Unter „People“ verstehen Maak und Ulrich personenbezogene Aspekte einer integren Unternehmensführung. Dazu gehören eine verantwortliche Führung, die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die Ausbildung von Ethikkompetenzen, aber auch eine Stelle, die mit ethischen Problemen fachlich kompetent umgehen kann (Maak & Ulrich, 2007, S. 20).

Für diese Einführung in das Integritätsmanagement unterscheiden wir in Anlehnung an Maak und Ulrich drei Bereiche einer integren Unternehmensführung: „Prinzipien“ („Principles“ und „Policies“), Prozesse („Processes“) und Menschen („People“) (vgl. Abb. 1.2).

Abb. 1.2
figure 2

Die drei Bereiche einer integren Unternehmensführung

Die drei Bereiche einer integren Unternehmensführung dienen auch der Gliederung der Fallbeispiele im zweiten Kapitel und der Good Practices im vierten Kapitel.

Diese ersten provisorischen Erläuterungen zu den Begriffen der Integrität und des Integritätsmanagements sollen den Gegenstand der vorliegenden Einführung umreißen. Der Integritätsbegriff bedarf aber einer philosophischen Fundierung, die im nächsten Kapitel folgt.

1.2 Die Grundbegriffe und Paradigmen der Ethik

1.2.1 Grundbegriffe und Definitionen

Schon seit Jahrtausenden haben Menschen über das Gute und das Böse, über das Richtige und Falsche nachgedacht. Die Philosophie und Theologie haben dies systematisch betrieben, ohne dass dieser Prozess bis heute abgeschlossen wäre. Über die Zeit sind auch Theorien und Ansätze entwickelt worden, die bei der ethischen Reflektion im betrieblichen Alltag wertvolle Hinweise geben können (Maak & Ulrich, 2007, S. 22). Eine philosophische Fundierung der Diskussion um ethisch richtige und falsche Entscheidungen im Unternehmensalltag bietet einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert. In diesem Kapitel werden daher einige grundlegende Begriffe und Paradigmen der Ethik eingeführt und geklärt.

Die Grundfrage der Ethik lautet: „Wie soll ich handeln?“. Diese Grundfrage der Ethik bringt zweierlei zum Ausdruck, nämlich Freiheit und Verpflichtung. Einerseits hat der Mensch Handlungsalternativen. Er ist nicht durch Instinkte zu einem bestimmten Verhalten gezwungen, sondern hat die Freiheit, eine Entscheidung zu treffen. Andrerseits ist es nicht beliebig, was wir tun, sondern es gibt bessere und schlechtere Handlungsalternativen. Natürlich sollen Menschen die gute Variante wählen. Doch was ist die gute Handlung, die gute Ordnung oder das gute Leben? Die Handlungsfreiheit bringt auch Unsicherheit mit sich, die nach einer ethischen Orientierung verlangt (Göbel, 2017, S. 25 ff.).

Im Alltag werden die Begriffe „Moral“ und „Ethik“ oft unterschiedslos verwendet. Im Zusammenhang mit einer unternehmensethischen Reflexion ist es jedoch sinnvoll, die beiden Begriffe zu unterscheiden und beide auch vom „Recht“ abzugrenzen.

Unter „Moral“ verstehen wir die Verhaltensregeln, die zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur als gut oder wünschenswert bezeichnet werden. Es ist jeweils die herrschende Moral einer Gesellschaft (Göbel, 2017, S. 27). Erkennbar wird Moral in geltenden Handlungsnormen wie Regeln oder Vorschriften. Zudem geben aber auch Wertmaßstäbe, Vorbilder und Sinnvorstellungen Hinweise darauf, was in einer bestimmten Gesellschaft als moralisch gilt. Letztlich ist die Moral ein soziologisches Phänomen.

In einer modernen Gesellschaft wird ein großer Teil der geltenden Handlungsnormen in Gesetzen festgehalten, wodurch er zu geltendem Recht wird. Recht und Moral sind jedoch nicht deckungsgleich, denn eine Gesellschaft entwickelt sich fortlaufend, und somit ändert sich auch deren Vorstellung von Moral. Gesetzgebungsprozesse hinken diesen Entwicklungen oft hinterher. Zudem werden nicht alle Handlungsnormen in Gesetzen formalisiert. Unter „Recht“ verstehen wir das System von Normen in einer Gesellschaft, die sich an Menschen richten und die auch durch Sanktionen durchgesetzt werden (Göbel, 2017, S. 27).

Die Normen von Moral und Recht können sich decken, aber auch auseinanderfallen. So gelten Diebstahl, Fälschung oder Mord sowohl moralisch als auch rechtlich als schlecht bzw. illegal. Andrerseits kann es Gesetze ohne moralischen Gehalt geben wie etwa die Enteignung der Juden im Dritten Reich, oder auch moralische Normen, die keinen Gesetzescharakter haben, wie etwa Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit oder Toleranz. Zusammen bilden Moral und Recht die normativen Grundlagen einer Gesellschaft (Göbel, 2017, S. 27 ff.).

Ein Mensch, der in eine bestimmte Gesellschaft geboren und darin erzogen wird, übernimmt eine Vielzahl von geltenden Werten und Regeln für sich. Unter „Ethos“ verstehen wir die Werte und Handlungsregeln einer Moral, die ein Subjekt für sein Handeln dauerhaft anerkennt (Göbel, 2017, S. 30). Das Ethos ist quasi die innere Moral eines Menschen. Es umfasst die persönlichen Überzeugungen, Wertmaßstäbe, Haltungen, Tugenden und Sinnvorstellungen einer Person. Ethos ist die innere Triebfeder, die einen Menschen auch ohne äußeren Zwang bzw. Angst vor Strafen dazu veranlasst, moralisch zu handeln. Die innere Moral, also das Ethos, und die äußere Moral, der Ordnungsrahmen, beeinflussen sich gegenseitig. Der Begriff „Ethos“ wird auch für die Regeln benutzt, die sich eine Berufsgruppe selber auferlegt, wie zum Beispiel das Ethos des Mediziners oder das Ethos des Kaufmanns (Göbel, 2017, S. 31).

Der Begriff der „Ethik“ ist nun von den bisher eingeführten Begriffen zu unterscheiden. Unter „Ethik“ verstehen wir die die Lehre oder die Wissenschaft vom menschlichen Handeln unter dem Aspekt der Bewertung nach gut/richtig und böse/falsch (Göbel, 2017, S. 31). Ethik ist ein Teil der praktischen Philosophie. Diese untersucht, im Gegensatz zur theoretischen Philosophie, die menschliche Praxis bzw. das menschliche Handeln. Sie will durch ihre praktische Orientierung dieses Handeln mit Blick auf die Erreichung eines Ziels verbessern. Ethik kann deskriptiv oder normativ ausgerichtet sein. Die deskriptive Ethik beschreibt, was bei bestimmten Kulturen, Völkern, Gruppen, Schichten usw. als „moralisch“ gilt bzw. früher als „moralisch“ galt. Die normative Ethik hingegen sucht nach einem verbindlichen Maßstab für das Gute. Sie will begründete Aussagen dazu machen, was ein Mensch anstreben, wie er handeln und wie er sein soll. Ein weiterer Bereich der Ethik ist die Methodenlehre. Dabei steht die Frage nach der „Implementierung von Moral“ im Mittelpunkt: Wie kann man Menschen lehren, „moralisch“ zu handeln? Ein letzter Bereich der Ethik ist schließlich die Metaethik. Sie untersucht die Ethik selber und möchte herausfinden, ob Aussagen über das Gute wahrheitsfähig sind (Göbel, 2017, S. 31 ff.).

1.2.2 Überblick über die ethischen Paradigmen

Philosophinnen und Theologen haben auf die Grundfrage der Ethik verschiedene Antworten und Argumentationen entwickelt. Diese Ansätze der Ethik nennen wir hier ethische Paradigmen. Fünf wichtige ethische Paradigmen werden wir in den folgenden Kapiteln kurz darstellen und kommentieren. Die Tab. 1.1 zeigt, was die einzelnen Paradigmen jeweils unter moralisch gut oder richtig verstehen.

Tab. 1.1 Übersicht der Typen ethischen Argumentierens. (Erweitert nach Göbel, 2017, S. 45 ff.)

1.2.3 Tugendethik

Die Tugendethik ist das älteste ethische Paradigma der westlichen Philosophie. Eine Tugend ist ein Charakterzug eines Menschen, der sich in seinem Handeln immer wieder zeigt. Bereits Aristoteles hat eine Vielzahl von Tugenden in seiner Ethik detailliert beschrieben. So bedeutet Ehrlichkeit nicht, dass eine Person die Wahrheit sagt, sondern dass es vielmehr der Charakterzug einer Person ist, die Wahrheit zu sagen. In der westlichen, christlich geprägten Welt galten sieben Tugenden als Haupt- oder Kardinaltugenden , wobei die ersten vier von Platon und die folgenden drei von Paulus stammen (vgl. Tab. 1.2).

Tab. 1.2 Die sieben Kardinaltugenden. (Nach Schockenhoff, 2007, S. 113 ff., 169 ff.)

Der Begriff der „Tugend“ klingt vielleicht altmodisch. Fragt man allerdings nach den Charaktereigenschaften einer guten Führungsperson, so werden oft gerade diese Tugenden genannt. Gute Führungspersonen sollen Sachverhalte und Konflikte ausgewogen beurteilen, ihre Erfahrung in die Beurteilung einfließen lassen und mutige Entscheidungen fällen. Es wird ihnen zum Vorwurf gemacht, wenn sie maßlos sind. Klassische Tugenden haben also durchaus auch in der heutigen Wirtschaftswelt ihre Bedeutung.

Die Tugendethik bringt aber auch einige Probleme mit sich. Würde man ein Verhalten alleine nach der dahinterstehenden Gesinnung beurteilen, müsste man z. B. das Verhalten eines Selbstmordattentäters rechtfertigen. Gibt ein Selbstmordattentäter doch sogar sein eigenes Leben hin, um die in seinen Augen einzig richtige Tat zu begehen. Man muss sich also fragen, ob jemand wirklich alles tun kann, was er will, solange er es nur selbst gut findet (Göbel, 2017, S. 36).

1.2.4 Pflichtenethik

Die Pflichtenethik (auch deontologische Ethik genannt; griech. „deon“ = Pflicht) geht vor allem auf den Philosophen Kant zurück. Nach Kant ist die Befolgung der Pflichten dann moralisch gut, wenn die innere Einstellung für die Befolgung entscheidend war und nicht etwa die Angst vor Strafe oder der eigene Nutzen. Pflicht ist nach Kant, was einer allgemein gültigen Handlungsnorm entsprich, nämlich dem kategorischen Imperativ (Göbel, 2017, S. 37 ff.). In der bekanntesten Formulierung lautet der kategorische Imperativ folgendermaßen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant, 1785, S. 51). Der kategorische Imperativ kann praktisch wie ein Test eingesetzt werden. Angenommen, jemand befindet sich in einer Zwickmühle und überlegt sich, eine Notlüge anzuwenden. Nach dem kategorischen Imperativ muss er sich dann fragen: Kann ich wollen, dass alle Menschen Notlügen einsetzen, wenn es für sie eng wird? Ein vernünftiger Mensch kann das nicht wollen, da das gegenseitige Vertrauen die Grundlage der Kommunikation ist. Also darf auch in einer Zwickmühle nicht gelogen werden.

Kant hat noch eine weitere Version des kategorischen Imperativs formuliert, die er für gleichwertig hielt: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant, 1785, S. 61). Demnach widerspricht es dem kategorischen Imperativ, wenn Menschen bloß als billige Produktionskräfte behandelt werden, ohne dass sie menschenwürdig leben können.

Der kategorische Imperativ hat Ähnlichkeiten mit der Goldenen Regel des Volksmunds „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Allerdings legt der kategorische Imperativ den Fokus auf die Verallgemeinerbarkeit einer Handlungsnorm.

Das Gedankengut der Pflichtenethik ist die Basis für die Menschenrechtsbewegung, die nach dem zweiten Weltkrieg ihren Anfang nahm. Um für alle Menschen gültige Grundrechte zu definieren, wurde 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“ formuliert (United Nations, 1948). Artikel 1 lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Menschenrechte stehen jedem Menschen von Natur aus zu und gelten unabhängig von Ort und Zeit.

Das Problem einer im engeren Sinne verstandenen Pflichtenethik besteht darin, dass sie verbindliche Handlungsnormen festlegt, ohne deren Folgen zu beachten. Würde man streng nach der Pflichtenethik handeln, müsste man also z. B. dem potentiellen Mörder das Versteck seines Opfers verraten, um nicht gegen das Verbot des Lügens zu verstoßen. Die Pflichtenethik misst dem konkreten Handlungskontext und den Folgen zu wenig Bedeutung zu und bleibt oft relativ abstrakt und allgemein.

1.2.5 Folgenethik

Für die Folgenethik (auch konsequentialistische Ethik genannt) sind die Folgen aus einer Handlung für die moralische Bewertung entscheidend. Moralisch ist also, das Gute als Ergebnis des Handelns zu erreichen. Demnach ist es zum Beispiel erlaubt, zu lügen oder sogar zu töten, wenn sich auf andere Art und Weise schlimme Folgen nicht abwenden lassen. Gemäß Max Weber, einem prominenten Verfechter der Folgenethik, müssen Menschen für die voraussehbaren Folgen ihres Handelns Verantwortung tragen. Weber spricht daher bei der Folgenethik auch von Verantwortungsethik (Göbel, 2017, S. 41).

Eine spezielle Form der Folgenethik ist der Utilitarismus (lat. „utilis“ = nützlich). Als Gründervater gilt Jeremy Bentham. Von ihm stammt das sog. „Nützlichkeitsprinzip“, wonach all jene Handlungen moralisch gut sind, welche das allgemeine Glück vermehren. Das größte Glück für die größte Zahl ist dabei das Kriterium (Göbel, 2017, S. 42).

Die Folgenethik und auch der Utilitarismus sind in der Politik, aber auch in der Wirtschaft weit verbreitet. Ein Beispiel kann dies illustrieren: Angenommen, in einem Dorf soll eine Straße gebaut werden, welche durch Land, das Privateigentum ist, führt. Die Straße kann auch gegen den Willen des Eigentümers gebaut werden mit der Begründung „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. In einem Rechtsstaat muss der bisherige Eigentümer allerdings dafür fair entschädigt werden.

Auch eine reine Folgenethik weist Probleme auf. So ist es oft schwierig, die genauen Folgen einer Handlung abzuschätzen, und auch die Berechnung des allgemeinen Glücks ist praktisch sehr schwierig umzusetzen. Der Fokus auf das gute Ergebnis kann auch zu einer zynischen Einstellung im Sinne von „Der Zweck heiligt die Mittel“ führen, die gesellschaftlich destruktiv ist. Insbesondere sind Menschenrechte nicht verhandelbar.

1.2.6 Anerkennungsethik

Die Anerkennungsethik geht von der Grundannahme aus, dass Individuen durch wechselseitige Anerkennung zu Mitgliedern einer Gemeinschaft oder Gesellschaft werden. In Anlehnung an Hegel unterscheidet Honneth drei Arten der Anerkennung: 1.) emotionale Zuwendung, 2.) kognitive Achtung, 3.) soziale Wertschätzung (Honneth, 1994, S. 211).

  1. 1.

    Die emotionale Zuwendung nennt Honneth auch Liebe . Bei der emotionalen Zuwendung wird eine Person als einzigartiges Wesen anerkannt. Exemplarische Formen der emotionalen Zuwendung sind Primärbeziehungen wie die Eltern-Kind-Beziehungen, Paarbeziehungen oder auch Freundschaften. Menschen wollen von ihren Familienmitgliedern, von ihren Partnerinnen und Partnern und von Freundinnen und Freunden geliebt und respektiert werden. Die Liebe von vertrauten Personen bildet die Grundlage, auf der eine Person ihre Selbstvertrauen aufbaut (Honneth, 1994, S. 153 ff.).

  2. 2.

    Unter der kognitiven Achtung versteht Honneth auch Recht . Bei der kognitiven Achtung wird eine Person als freies Wesen und Träger von gleichen Rechten anerkannt. Die kognitive Achtung beruht auf verallgemeinerbaren Moralprinzipien und entspricht dem kategorischen Imperativ bei Kant. Die kognitive Achtung hat sich geschichtlich entwickelt, indem einem wachsenden Kreis von Personen gleiche Rechte zugesprochen wurden. Letztlich führt die kognitive Anerkennung zu den allgemeinen Menschenrechten, die für alle Menschen unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder ihrer Religion gelten. Die rechtliche Anerkennung und die Teilnahme an der politischen Willensbildung bilden eine weitere Grundlage, auf der eine Person ihre Selbstachtung aufbaut (Honneth, 1994, S. 177 ff.).

  3. 3.

    Mit sozialer Wertschätzung meint Honneth auch Solidarität . Bei der sozialen Wertschätzung wird eine Person als Mitglied und wertvoller Teil einer Gemeinschaft anerkannt. Die soziale Wertschätzung hängt vom kulturellen Selbstverständnis der Gemeinschaft ab. Die Entwicklung der sozialen Wertschätzung ist ein zäher, konflikthafter Prozess in einem umkämpften Feld. Die gesellschaftlichen Entwicklungen führen häufig auch in modernen Organisationen zu Spannungen, die auf angemessene Weise zu lösen sind. Soziale Wertschätzung meint eine symmetrische Beziehung zwischen den Individuen, die gegenseitig ihre unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten schätzen und für die gemeinsame Praxis als bedeutsam anerkennen. Auch die soziale Wertschätzung bildet eine weitere Grundlage, auf der eine Person ihr Selbstwertgefühl aufbaut (Honneth, 1994, S. 197 ff.).

Das Bewusstsein einer Person von sich selber, ihren Fähigkeiten und ihren Rechten nennt Honneth die Selbstbeziehung . Er unterscheidet entsprechend den drei Arten der Anerkennung auch drei Weisen der Selbstbeziehung: 1.) Selbstvertrauen, 2.) Selbstachtung, 3.) Selbstwertgefühl. Das Verhältnis zwischen den drei Weisen der Selbstbeziehung ist kein harmonisches, vielmehr besteht eine stete Spannung zwischen ihnen. Die Integrität einer Person anzuerkennen heißt, Einstellungen anzunehmen und Handlungen zu vollziehen, die die Person bei der Entwicklung ihres Selbstverständnisses in den genannten drei Dimensionen unterstützen (Honneth, 2000, S. 188).

Auch zentrale ethische Begriffe wie „Gerechtigkeit“ oder „Freiheit“ sind nach Honneth von Anerkennungsbeziehungen geprägt. Einerseits besteht Gerechtigkeit formal in der Gewährleistung von persönlichen, individuellen Freiheiten; andrerseits stellt Gerechtigkeit aber auch das Ergebnis einer gemeinsamen Willensbildung dar, die durch die Kooperation von Personen zustande kommt. Freiheit entsteht auf intersubjektiven Wegen, indem die Bedürfnisse, Überzeugungen und Fähigkeiten von anderen Personen anerkannt und verwirklicht werden (Honneth, 2010, S. 51, S. 61).

Der Staat hat die Aufgabe, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung durch Gesetze und Institutionen zu sichern. Allerdings sind seine Eingriffsmöglichkeiten beschränkt, insbesondere im Bereich der Familien- und Arbeitsbeziehungen. Die Tätigkeit des Rechtsstaates soll deshalb durch nichtstaatliche Institutionen und Organisationen ergänzt werden, die ebenfalls auf gegenseitiger Anerkennung beruhen.

Damit Anerkennung nicht nur zu einer billigen Ideologie verkommt, listet Honneth eine Reihe von Bedingungen auf, die an Anerkennung geknüpft sind. Anerkennung tritt in unterschiedlichen Arten auf: als Liebe, Recht und Wertschätzung. Sie bedeutet eine Würdigung der positiven Eigenschaften von Personen und Gruppen. Sie ist eine handlungswirksame Einstellung und zeigt sich in Gesten, Sprechhandlungen und institutionellen Vorkehrungen. Anerkennung ist unvollständig, solange sie nicht in konkrete Handlungen mündet, die bestimmte Werte auch tatsächlich zum Ausdruck bringen (Honneth, 2010, S. 111, S. 128).

Maak konkretisiert die Prinzipien der Anerkennungsethik für den wirtschafts-ethischen Kontext (Maak, 1999, S. 99). Er unterscheidet in Anlehnung an Honneths drei Arten der Anerkennung:

  • R1: Emotionale Anerkennung (emotionale Zuwendung)

  • R2: Rechtlich-politische Anerkennung (kognitive Achtung)

  • R3: Soziale Anerkennung (soziale Wertschätzung)

Die Anerkennungsethik dient im vorliegenden Modell des Integritätsmanagements als Wertebasis. Die einzelnen Leitideen werden in Abschn. 1.4 genauer erläutert.

1.2.7 Diskursethik

Die bisher beschriebenen Ansätze der Ethik versuchen, das moralisch Gute oder ethisch Richtige inhaltlich zu konkretisieren. Die Tugendethik nimmt positive Charaktereigenschaften als Ausgangspunkt der Ethik. Die Pflichtenethik begründet richtige Handlungsnormen, wie etwa das Gebot, nicht zu lügen. Die Folgenethik strebt das allgemeine Glück als guten Zweck an. Die Anerkennungsethik schlussendlich verlangt nach gegenseitigem Respekt als Grundlage für jede Gemeinschaft.

In modernen, pluralistischen Gesellschaften trifft eine Vielzahl von unterschiedlichen Wertesystemen zusammen, die für sich Geltung beanspruchen und teilweise in Konflikt zueinander stehen. Auch die Ethikparadigmen behandeln unterschiedliche Aspekte des moralisch Guten oder ethisch Richtigen und haben ihre Stärken und Schwächen. Einzelne Ethikparadigmen wie zum Beispiel die Pflichtenethik und die Folgenethik können in einer konkreten Entscheidungssituation durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen führen. Oft ist für eine ausgewogene Entscheidung eine Kombination von mehreren Gesichtspunkten notwendig. Doch wie könnte eine solche Vermittlung zwischen verschiedenen Wertesystem oder Ethikparadigmen aussehen?

Die Diskursethik nach Habermas beschreibt nun die Grundlagen, wie man in einer moralischen Dilemma-Situation zu einem ausgewogenen Urteil kommt. Die Diskursethik legt den Fokus nicht auf die inhaltliche Begründung, sondern auf die Vorgehensweise, weshalb die Diskursethik auch als prozedurale Ethik bezeichnet wird (Habermas, 1983, S. 113).

Gemäß Habermas beanspruchen im Alltag verschiedene Personen für ihre Aussagen Geltungsansprüche, die dann mit Argumentationen begründet und verteidigt werden. Bei der verständigungsorientierten Kommunikation koordinieren die Beteiligten ihre Handlungspläne einvernehmlich und kommen so im Diskurs zu einer intersubjektiven Anerkennung ihrer Geltungsansprüche (Habermas, 1983, S. 66). Der diskursethische Grundsatz besagt, dass nur jene Norm gelten soll, auf die sich die Betroffenen als Teilnehmende eines praktischen Diskurses geeinigt haben (Habermas, 1983, S. 76).

Nur ein intersubjektiver Verständigungsprozess kann zu einem Einverständnis der Betroffenen führen. Die Festlegung von Normen und Geboten verlangt letztlich nach einem realen Dialog aller Betroffenen. Die Beteiligten dürfen den Kampf um Anerkennung ihres Anspruchs nur mit den Mitteln des Diskurses, keinesfalls mit Machtmitteln führen. Sie müssen sich durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments über ihre gemeinsame Lebensform verständigen (Habermas, 1991, S. 116, S. 123).

Für Habermas gibt es einen Vorrang des Gerechten vor dem Guten. Eine Norm ist nur dann im moralischen Sinn gültig, wenn sie aus der Perspektive eines jeden Beteiligten von allen akzeptiert werden könnte. Um ein Problem im gleichmäßigen Interesse aller zu regeln, braucht es praktische Vernunft, die prüft, ob die eingesetzte Norm verallgemeinerungsfähig ist (Habermas, 1999, S. 46).

Auch die Diskursethik ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. So darf niemand, der einen relevanten Beitrag machen könnte, vom Diskurs ausgeschlossen werden. Alle müssen die gleiche Chance erhalten, Beiträge zu leisten. Die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen, d. h. die Zustimmung der übrigen Teilnehmenden darf nicht durch Falschinformation oder Täuschung erreicht werden. Zudem muss die Kommunikation frei von äußeren und inneren Zwängen sein, so dass eine Stellungnahme allein durch die Überzeugungskraft besserer Argumente begründet ist (Habermas, 1999, S. 62).

Das Problem der Diskursethik liegt in ihrer praktischen Umsetzbarkeit. Wie bekommt man z. B. bei einem komplexen Problem alle Betroffenen an einen Tisch? Wie grenzt man den Kreis der Betroffenen überhaupt ein? Wie verhindert man, dass die Teilnehmenden nicht nur strategisch für sich, sondern konsensorientiert argumentieren? (Göbel, 2017, S. 55 ff.).

Trotz diesen Umsetzungsschwierigkeiten bietet die Diskursethik ein Ideal, an dem praktische Diskurse im Alltag gemessen werden können. Die Prinzipien der Diskursethik für die wirtschafts- und unternehmensethische Praxis werden von Ulrich konkretisiert (Ulrich, 2016, S. 81 ff.). Das vorliegende Modell des Integritätsmanagements unterscheidet im Sinne Ulrichs folgende vier Leitideen (vgl. Abschn. 1.4):

  • D1: Verständigungsorientierte Einstellung aller Beteiligten

  • D2: Vorbehaltloses Interesse zu legitimem Handeln

  • D3: Differenzierte Verantwortung

  • D4: Sicherstellung eines öffentlichen Diskurses

Die Diskursethik dient im vorliegenden Modell des Integritätsmanagements als ethische Basis für eine lösungsorientierte Kommunikation. Die einzelnen Leitlinien werden in Abschn. 1.4 genauer erläutert.

1.3 Spannungsfelder und Dilemmas in Organisationen

1.3.1 Zum Begriff „Spannungsfeld“

Ethische Herausforderungen kommen oft subtil daher; es muss ein Gespür dafür entwickelt werden, um sie bewusst zu erfassen. Man sagt vielleicht: „Ich habe ein ungutes Gefühl“, oder man spricht vom „komischen Bauchgefühl“ oder von „einem Dilemma, in welchem man sich befindet“. Wie gelangt man aber vom eigenartigen Bauchgefühl zur klaren Erkenntnis, dass man es mit einem ethischen Problem zu tun hat? Dazu soll der Begriff des Spannungsfeldes eingeführt werden. Spannungsfelder sind ein zentrales Konzept bei der Lösung ethischer Probleme. Das Konzept „Spannungsfeld“ hilft, ein ungutes Bauchgefühl an die Oberfläche zu bringen, etwas Diffuses mit Worten gezielt zu fassen.

Zur Illustration eine Analogie aus der Physik: Ziehen Kräfte aus verschiedenen Seiten an einer Materie, so steht diese unter Spannung – sie droht gar auseinanderzureißen. Die Materie befindet sich in einem Spannungsfeld verschiedener auf sie einwirkender Kräfte. Wird die Wirkung der Kräfte zu einseitig oder zu groß, entsteht ein Riss in der Materie. Es gilt, diese Kräfte frühzeitig zu erkennen, bevor irreparable Schäden entstehen.

Aus der Analogie zur Physik lässt sich auch schließen, dass es Spannungsfelder gibt, welche keine ethische Dimension beinhalten, sondern einfach ein Problem darstellen. Bei der Tagesplanung ist man vielleicht hin- und hergerissen, ob man eine bestimmte Aufgabe heute oder morgen erledigen soll. Das ist wohl primär ein organisatorisches Problem. Geht es aber zum Beispiel darum, abzuwägen, welche Erwartungen man zuerst erfüllt, diejenigen der Chefin oder diejenigen des Kunden, beinhaltet das Spannungsfeld auch eine ethische Dimension. Spannungsfelder setzen sich oft aus einer Vielzahl von Einflussfaktoren zusammen, aus ethischen wie nicht-ethischen.

1.3.2 Beispiele ethischer Spannungsfelder

Anhand konkreter Beispiele soll nachfolgend das Verständnis des Konzepts der Spannungsfelder vertieft werden.

Beispiel 1: Der Verhaltenskodex

Heute existieren in vielen Organisationen Verhaltenskodizes (Code of Conduct, Code of Ethics etc.). Abb. 1.3 zeigt ein Beispiel, in welchem zentrale Werte eines Unternehmens festgehalten und beschrieben werden.

Abb. 1.3
figure 3

Verhaltenskodex eines internationalen Unternehmens

Das Beispiel stammt vom amerikanischen Unternehmen ENRON, das 2001 Konkurs anmeldete. Gegen die Verantwortlichen aus Topmanagement und Verwaltungsrat wurden wegen fortgesetzter Bilanzfälschung und Verschwörung Strafen von bis zu 24 Jahren Gefängnis verhängt. Das Beispiel zeigt ein sehr eklatantes Spannungsfeld: Einerseits verlangt der Kodex von ENRON-Mitarbeitenden Werte wie Ehrlichkeit und Respekt, die kriminellen Machenschaften des Topmanagements strotzen aber gerade vor schamloser und systematischer Rücksichtslosigkeit. Es existiert ein offensichtliches Spannungsfeld, nämlich zwischen den hehren Vorgaben der Mitglieder des Topmanagements und dem, wie sie sich selbst verhalten. Verhaltenskodizes werden sicher nicht bei allen Unternehmen derart mit den Füssen getreten. Aber subtile Unterschiede zwischen dem, was gesagt und dem, was getan oder vorgelebt wird, existieren öfters. Mitarbeitende sind im Einzelfall im Dilemma, ob sie sich an vorgegebene oder vorgelebte Werte halten wollen: Sollen sie den Vorgaben gerecht werden oder diese verletzen, so wie es alle tun?

Beispiel 2: Informelle Kanäle

Wer kennt sie nicht, die informellen Kanäle, die Quellen für vorzeitige oder indiskrete Informationen? In jeder Organisation bilden sich früher oder später informelle Kanäle, mehr noch, sie existieren bereits, bevor ein Verantwortlicher ein Organigramm entwirft oder anpasst. Existieren in einer Organisation zahlreiche informelle Kanäle und Informationsflüsse, im Sinne einer Gewohnheit, sich auf informelle Art zu informieren, kann man von ineffizienten Abläufen ausgehen. Das ist primär ein organisatorisches (Sach-)Problem: Die vorgegebenen Kommunikationskanäle funktionieren nicht, oder die gemäss Organigramm definierten Dienstwege sind zu langsam. Dieses Problem könnte relativ einfach gelöst werden und indem Informationskanäle verbessert oder gewisse Abläufe gestrafft werden und möglicherweise auch das Organigramm angepasst wird. Im Extremfall könnte man ein Organigramm gar abschaffen; die informellen Kanäle würden dann zu den offiziellen Kanälen.

Inwiefern zeigt dieses Beispiel aber ein Spannungsfeld oder gar ein ethisches Dilemma auf? Informelle Kanäle sind ja eigentlich der Normalfall! Man stelle sich folgende Situation vor: Ein neuer Mitarbeiter, der bei der Einführung auf die Regeln und Abläufe aufmerksam gemacht wurde, merkt mit der Zeit, dass nicht alle Mitarbeitenden dieselben Abläufe befolgen, dass die Informationen auch anders verlaufen. Verspürt er da nicht ein Dilemma? Soll er, den Erwartungen seiner Chefin folgend, die normalen Abläufe befolgen oder so, wie es einige andere tun, den „Latrinenweg“ benutzen? Je mehr seine Chefin die Abläufe hochhält, desto gespaltener wird er sein, ob er offizielle oder inoffizielle Wege nutzen soll. Hier existiert also ein Spannungsfeld zwischen der Realität und einem als gültig erklärten Organigramm (vgl. Abb. 1.4).

Abb. 1.4
figure 4

Formelle und informelle Kanäle

Je öfter Verantwortliche das offizielle Organigramm als die gültige Richtlinie definieren, während die Dinge offensichtlich anders laufen, und je weniger Verantwortliche diese Diskrepanz mit Führungswille angehen, desto mehr handelt es sich um ein ethisches Problem und nicht nur um eine Sachfrage. Als direkte Folge solcher Zustände leidet sowohl die Glaubwürdigkeit der Verantwortlichen als auch der Organisation.

Durch das Konstrukt von Spannungsfeldern kann das Problem gezielter analysiert und in seine Bestandteile zerlegt werden (vgl. Abb. 1.5).

Abb. 1.5
figure 5

Spannungsfeld „Informelle Kanäle“

Beispiel 3: Hintergedanken und verdeckte Absichten

Ein drittes Beispiel sind Hintergedanken. Der englische Ausdruck „hidden agendas“ bringt es auf den Punkt. Es existieren gewisse Ziele („agendas“), welche aber bewusst verdeckt gehalten werden. Es geht also um verdeckte Absichten oder versteckte Beweggründe. Hegen viele der Mitarbeitenden innerhalb einer Organisation irgendwelche Hintergedanken, so wird die Organisation irgendwann dysfunktional. Es ist inzwischen üblich, dass Ziele nach außen nicht offengelegt werden. In einem Verkaufsgespräch tasten sich Verkäufer und Einkäufer zuerst ab, versuchen die gegenseitigen Positionen zu eruieren. Ein Verkäufer wird seine Kosten nicht detailliert auf den Tisch legen; in diesem Kontext ist es normal, dass die Absichten und Ziele teilweise verdeckt bleiben. Innerhalb eines Unternehmens oder allgemein einer Organisation können aber gerade diese Verhandlungsgespräche eingespart werden. Man hat sich bereits grundsätzlich geeinigt. Die Transaktionskostentheorie begründet die Existenz von Organisationen gar damit, dass Organisationen da entstehen, wo Transaktionen auf ökonomischere Weise durch interne Arrangements erledigt werden können, anstatt diese jedes Mal neu zu verhandeln.

Wenn jemand in einer Organisation „Hidden Agendas“ verfolgt, tritt er oder sie bewusst hinter diese internen Arrangements zurück – ein erster Aspekt eines Spannungsfeldes. Wird des Weiteren von einer auf großem Vertrauen basierten Organisation ausgegangen, in der eine Kultur der Offenheit gepflegt wird, dann stellen „Hidden Agendas“ ein eklatantes Spannungsfeld dar: Informationen verheimlichen vs. Offenheit einfordern.

Die Beispiele zeigen, dass es sich für ein besseres Verständnis eines ethischen Dilemmas lohnt, die Gegensätze, die Pole eines Spannungsfeldes zu identifizieren.

1.3.3 Spannungsfelder analysieren – ethische Dilemmas erfassen: einige Tipps

Im Alltag zeigt sich immer wieder, dass es gar nicht so einfach ist, ein ethisches Dilemma präzise zu erfassen. Noch schwieriger ist die Analyse des Dilemmas. Deshalb seien hier einige Tipps beschrieben, wie ein ungutes Bauchgefühl bei einem Dilemma in ein verständliches Spannungsfeld gewandelt werden kann.

Spannungsfeld mit zwei Polen

Zunächst geht es darum, das Widersprüchliche im Dilemma bzw. die beiden Pole des Spannungsfeldes zu finden. Informelle Kanäle allein sind noch kein Spannungsfeld; vielleicht sind sie auch einfach Ausdruck einer chaotischen Organisationskultur („ein chaotischer Haufen“). Informelle Kanäle können aber in Spannung stehen zu klaren Kommunikationsvorgaben, falls solche existieren. Folgende Fragen helfen beim Definieren der Pole:

  • Welche Pole erzeugen ein Spannungsfeld?

  • Worin besteht die Spannung?

  • Was zieht in eine bestimmte Richtung, was in eine andere?

Gegensätzlichkeit der Pole

Ein Spannungsfeld existiert nur, wenn verschiedene Kräfte zwischen den Polen existieren. Um die Gegensätzlichkeit herauszuschälen, können folgende Fragen helfen:

  • Welche Anspruchsgruppen (Stakeholders) sind betroffen?

  • Welche Rechte, Ansprüche und Interessen haben die Betroffenen und wann geraten diese in Konflikt?

  • Welche gesellschaftlichen, organisationalen und persönlichen Werte sind involviert?

Grafische Darstellung

Oft ist es hilfreich, die Spannung grafisch aufzuzeichnen und die Kräfte oder Pole zu benennen. Eine Dilemma-Situation erscheint oft klarer, wenn sie grafisch mit Hilfe der Pole IST und SOLL dargestellt wird, wobei das IST die Elemente der konkreten Situation und das SOLL die persönlichen, organisationalen und gesellschaftlichen Werte und Ansprüche verkörpert (vgl. Abb. 1.6).

Abb. 1.6
figure 6

Darstellung eines Spannungsfelds mit IST und SOLL

Der IST-Pol und der SOLL-Pol

Ist die Rede von Spannungsfeldern im beruflichen Kontext, stellt die konkrete Situation das IST dar, die problematischen Aspekte eines Vorfalls oder einer Situation. Der konkrete Problemfall verursacht das ungute Gefühl im Bauch. Dieser Pol enthält die „schmutzige Realität“, das Inoffizielle oder verpasste Chancen. Der SOLL-Pol besteht meist aus einem organisationalen Element bzw. einer offiziellen Vorgabe. Im Fall eines Spannungsfeldes stehen IST und SOLL miteinander im Konflikt, z. B. die konkrete Realität mit einem Reglement, der Organisationskultur oder einer Jahresstrategie.

Präzise Beschreibung

Beschreibungen wie „Wahrheit vs. Lügen“ oder „Burn-out am Arbeitsplatz“ sind zu allgemein und unpräzise für eine Analyse von Spannungsfeldern. Sie können sehr verschieden interpretiert werden. „Burn-out trotz mehrfachem Klärungsversuch der Arbeitsbelastung mit dem Vorgesetzten“ hingegen deutet bereits an, wo das Spannungsfeld liegt. Ist dieses nicht klar fassbar, muss versucht werden, durch Nachfragen „in die Tiefe zu gehen“. Dabei können folgende Fragestellungen helfen:

  • Welches ist der engere und der weitere Kontext des Problemfalls?

  • Wie hat sich der konkrete Problemfall kurz- oder langfristig entwickelt?

  • Wie ist der Problemfall in die Organisation eingebettet?

  • Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen für die Beteiligten?

Sachprobleme und ethische Probleme

Ein vermeintlich ethisches Problem besteht möglicherweise aus mehreren Komponenten, wobei einige Komponenten „nur“ Sachkomponenten sind. Überstunden zum Beispiel sind auch ein arbeitsrechtliches oder ein finanzielles Problem; sie können ebenfalls Ausdruck mangelnder Produktivität etc. sein. Ein Sachproblem kann oft vergleichsweise einfach gelöst werden, wenn es einzig um das Sachproblem geht: Überstunden verbieten, Produktivität durch Schulung erhöhen etc. Dazu muss der Problemfall in sachliche und ethische Bestandteile zerlegt werden.

Übertreibung oder Umkehrung

Manchmal wird ein Spannungsfeld klarer, wenn die Situation überspitzt aufgezeigt oder umgekehrt wird: Auch wenn der Verhaltenskodex eines Unternehmens immer feiner detailliert und jährlich oder halbjährlich überprüft wird, bleibt das Spannungsfeld, wenn die alltägliche Praxis diesem widerspricht. Auch wenn das Organigramm die Informationsflüsse immer detaillierter regelt, so bleibt das Spannungsfeld, wenn die Informationen andere Wege nehmen, die nur die Eingeweihten kennen.

  • Was wäre aber, wenn der aktuelle Status zum offiziellen Standard erhoben würde?

  • Könnten die Beteiligten auch damit leben?

Ähnlich wie im Businessalltag gilt auch hier: Wenn die Analyse nicht genügend trennscharf ist, wird sie nicht lange überleben. Die Ergebnisse von Workshops der Autoren dieses Werkes mit hunderten von Führungskräften zeigen, wie schwierig, aber auch wichtig es ist, Spannungsfelder im eigenen Arbeitskontext möglichst genau zu erfassen und zu beschreiben (vgl. Abschn. 4.4.2).

1.3.4 Eine Liste von Spannungsfeldern

Jede Buchhaltung dokumentiert, wie verschiedene Geschäftsfälle zu verbuchen sind. Die Verkaufsabteilung hat Prozesse für verschiedene Kundenwünsche definiert. So ist es durchaus denkbar, dass eine Organisation die wichtigsten ethischen Herausforderungen zusammenfasst und entsprechende Vorgaben macht, beispielsweise als Teil eines Verhaltenskodex, von Trainings usw. Das besprochene Konstrukt von Spannungsfeldern hilft, die Problematik auf den Punkt zu bringen und sich einen Überblick zu verschaffen. Abb. 1.7 zeigt ein Beispiel einer Liste von Spannungsfeldern. Oft ist es sinnvoll, die Beispiele zu ordnen und sie der Strategie-, Struktur- oder Kulturebene zuzuordnen.

Abb. 1.7
figure 7

Anordnung von Spannungsfeldern nach organisationalen Themen

1.3.5 Definition der „Nicht-Integrität“ einer Organisation

In diesem Kapitel wurde das Konstrukt „Spannungsfeld“ eingeführt. Es dient als Hilfsmittel, um ethische Dilemmas an die (Bewusstseins-)Oberfläche zu bringen, sie in Worte zu fassen und darzustellen.

Die hiermit gewonnenen Erkenntnisse erlauben, sich Gedanken darüber zu machen, was es heißen könnte, eine integre Organisation zu sein oder was Integrität im organisationalen Kontext bedeuten könnte. Im Sinne eines Zwischenschritts soll vorerst eine Negativdefinition genügen: Eine Organisation ist nicht integer, wenn Spannungsfelder existieren im Sinne von Inkonsistenzen zwischen der Art, wie gearbeitet wird, und den Werten und Vorgaben der Organisation (Strategien, Prozesse, legitime Erwartungen) und diese Spannungsfelder nicht aufgegriffen und bearbeitet werden. Je mehr Zeit verstreicht, bis ethische Dilemmas jeweils angegangen werden, desto weniger „integer“ ist eine Organisation.

Spannungsfelder, wie in diesem Kapitel eingeführt, sind ein wichtiges Werkzeug, um ethische Herausforderungen oder Dilemmas grafisch zu erfassen. Um aber genau analysieren und ausdrücken zu können, woran es fehlt, ist ein vertieftes Verständnis ethischer Erwartungen nötig. Dem widmet sich das nächste Kapitel.

1.4 Leitideen als ethisches Fundament für Entscheidungen

1.4.1 Sieben Leitideen guter Zusammenarbeit

Ethische Dilemmas in Worte zu fassen und das ethische Element eines Spannungsfeldes herauszuschälen, kann sprachlich eine Herausforderung sein. Es braucht praktische Fähigkeiten und eine Terminologie, um das eigene moralische Verständnis nachvollziehbar und verständlich auszudrücken.

In einer arbeitsteiligen Welt, wo es um sinnvolle Zusammenarbeit zwischen sozialen Wesen geht, sind Kommunikation, Koordination und grundsätzlicher Respekt fundamental. Respekt ist umso wichtiger, je komplizierter die Kommunikation auf der rein sprachlichen (z. B. Fremdsprachen) oder technischen (wenig persönlicher Austausch) Ebene ist.

Zur ethischen Fundierung erscheint es somit sinnvoll, für Kommunikation und Koordination auf die Diskursethik für Respektfragen auf die Anerkennungsethik als philosophische Grundlage („Moral Point of View“) zurückzugreifen. Für die Diskursethik hat Ulrich, für die Anerkennungsethik Maak sogenannte Leitideen für den wirtschaftlichen Kontext entwickelt (vgl. Abschn. 1.4). In ihrer Kombination bilden diese Leitideen ein ethisches Fundament, das für die Praxis tauglich ist. Sie helfen, ein spezifisches ethisches Dilemma gezielt zu analysieren und einer Lösung zuzuführen. Die Leitideen können grafisch als sieben Bausteine dargestellt werden, wobei die drei anerkennungsethischen Leitideen die eigentliche Wertebasis bilden und deshalb als untere Schicht dargestellt werden (Renz, 2007, S. 129) (vgl. Abb. 1.8).

Abb. 1.8
figure 8

Sieben Leitideen guter Zusammenarbeit

Diese sieben Leitideen können als Bausteine des ethischen Fundaments eines Unternehmens dienen. Mit anderen Worten: Die Leitideen erlauben, eigene Werte wie zum Beispiel Respekt genauer zu definieren, wichtige Nuancen auszuleuchten und damit Interpretationsspielräume zu klären.

Daraus lässt sich die Vision einer hochprofessionellen Organisation ableiten: Entsprechend der Art und Weise, wie eine Organisation ein Sachproblem gezielt angeht und löst, kann sie auch ethische Herausforderungen versiert und agil angehen und möglichst auch lösen. Die obigen Leitideen können dabei als gemeinsame Wertebasis und als gemeinsames Vokabular dienen, um über ethische Dilemmas zu sprechen.

Nachfolgend wird jede Leitidee vorgestellt und mit organisatorischen Beispielen erläutert.

1.4.2 Leitidee R1: Emotionale Anerkennung

Die emotionale Anerkennung stellt die grundlegendste Form der Anerkennung dar. Dabei geht es darum, dass eine Person als Individuum anerkannt wird und nicht als Sache, als Tier oder als Objekt. Man anerkennt das Gegenüber als ein menschliches Geschöpf, mit den typisch menschlichen Eigenschaften, Stärken und Schwächen.

Die emotionale Anerkennung findet sich typischerweise zwischen Kollegen, Partnern oder innerhalb einer Familie. Auch im organisationalen Kontext ist emotionale Anerkennung zentral, selbst wenn es hier nicht primär um die personale Liebe oder Freundschaft geht. Hier geht es darum, das Gegenüber grundsätzlich anzuerkennen, im Sinne von „Du bist okay“.

Das Nicht-Beachten der emotionalen Anerkennung kann zu moralischen Verletzungen oder zu einem emotionalen Schaden führen (Maak, 1999, S. 83 ff.). Verbale, psychologische oder physische Attacken, zum Beispiel durch Mobbing, können ihre Ursache in einem Mangel an emotionaler Anerkennung haben (vgl. Abschn. 2.4.7). Man spricht dem Gegenüber quasi die Existenzberechtigung ab. Erhält eine Person keine emotionale Anerkennung – in welcher Form auch immer – kann sie meistens keine gute Arbeit leisten oder ihr Potential nicht voll entwickeln. Das Selbstvertrauen der Person wird beeinträchtigt (Pless & Maak, 2004, S. 129 ff.).

Folgende Beispiele treten im Berufsalltag häufig auf:

  • Lob als Ausdruck von emotionaler Anerkennung

  • Würdigung der Leistungen einer Person

  • Ausgewogene Rückmeldungen/Feedbacks mit positiven und zu verbessernden Aspekten

  • Mobbing einer spezifischen Person, als Negativbeispiel

1.4.3 Leitidee R2: Rechtlich-politische Anerkennung

Die rechtlich-politische Anerkennung entspricht einer Reihe von grundsätzlichen Rechten eines jeden als Mensch und Bürger (Maak, 1999, S. 99 ff.). Indem wir jemandem rechtlich-politische Anerkennung schenken, gestehen wir dieser Person grundsätzliche Rechte als Mensch zu. Gleichzeitig ist die rechtlich-politische Anerkennung eines Menschen auch die Grundlage dafür, dass dieser Mensch nicht nur Mensch, sondern auch Bürger oder Bürgerin einer Gesellschaft sein kann.

Die Menschenrechte gründen auf dieser Art von Anerkennung und sind Ausdruck davon. Die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Anerkennung von Minderheiten ist ebenfalls Ausdruck von rechtlich-politischer Anerkennung.

Positive emotionale Bestätigung (R1) und rechtlich-politische Anerkennung (R2) sind die Basis dafür, dass Menschen sich als gegenseitig anerkennende, freie und gleichgestellte Lebewesen entwickeln können (Maak, 1999, S. 99 ff.).

Die nachfolgenden Beispiele kommen im Berufsalltag vor:

  • Gleicher Lohn für Mann und Frau

  • Geschlechtersensible Sprache

  • Betriebskommission, in welcher alle Chargen und Funktionen vertreten sind

1.4.4 Leitidee R3: Soziale Anerkennung

Diese Form der Anerkennung bedeutet, dass eine Person und deren Fähigkeiten als wertvoll für eine konkrete Gruppe oder Gesellschaft angesehen werden (Honneth, 1994, S. 197 ff.). Hier steht nicht die einzelne Person im Zentrum, sondern deren grundsätzliche Wichtigkeit als Teil einer Gemeinschaft. Ein vielleicht plakatives Beispiel hierzu: Frauen sind wichtig für unsere Gesellschaft, nicht (nur) weil sie dieselben Rechte haben sollten (vgl. R2 – rechtlich-politische Anerkennung), sondern weil eine reine Männergesellschaft auch sozial eine Verarmung wäre. Maak spricht auch von der solidarischen Anerkennung, weil durch eine gegenseitige soziale Anerkennung unter verschiedenen, aber dennoch gleichwertigen Personen auch Solidarität entsteht (Maak, 1999, S. 103 ff.). Gelebte Solidarität könnte damit beschrieben werden als „face-to-face“-Anerkennung unter gleichwertigen, aber verschiedenen Menschen, was Bestätigung und Motivation verschafft (Pless & Maak, 2004, S. 129 ff.). Das schweizerische Selbstverständnis als Viersprachen-Gesellschaft ist z. B. auch ein Ausdruck von sozialer Anerkennung.

Nachfolgend einige Beispiele aus dem Berufsalltag:

  • Förderung von Diversität am Arbeitsplatz

  • Rekrutierungsgremien mit Vertretung beider Geschlechter

  • Risikoidentifizierung mit Einbezug aller Beteiligten und Betroffenen

  • Gelebte Nulltoleranz bei Diskriminierungen

  • Als Negativbeispiel: Mobbing von Ausländern

Die beschriebenen drei Leitideen der Anerkennungsethik (R1–R3) sind besonders hilfreich, um an tiefliegende Ursachen ethischer Dilemmas heranzukommen. Gegenüber diesen inhaltlichen Leitideen setzen die vier nachfolgend vorgestellten Leitideen der Diskursethik einen eher prozeduralen Akzent. Guter Diskurs ist dabei nicht ohne Werteinhalte: Um eine Person als Gesprächspartner oder Gesprächspartnerin überhaupt akzeptieren zu können, muss ihr emotionale Anerkennung entgegengebracht werden. Zudem haben Kolleginnen und Kollegen das Recht, als beteiligte oder betroffene Akteure angehört zu werden.

1.4.5 Leitidee D1: Verständigungsorientierte Einstellung

Die erste Leitidee aus der Diskursethik ist auch die wichtigste. Sie besagt nichts anderes, als dass man bei Fragen oder Problemen das Gespräch suchen soll. Diskursethisch handeln heißt, dass alle Beteiligten eine gute Verständigung untereinander erreichen wollen.

„Gute“ Verständigung heißt dann, dass die Beteiligten nur solche Ansprüche stellen, die sie für richtig halten, dass sie diese vorbehaltlos begründen können und dass sie lösungsorientiert im Sinne einer rationalen Konsensfindung diskutieren (Ulrich, 2016, S. 82). Sogenannte Scheinargumente verletzen diese Leitidee. Es geht auch nicht darum, Kompromisse zu verlangen, sondern grundsätzlich nur um die Idee, Probleme durch Kommunikation anzugehen. Der auf Englisch gängige Ausdruck „Let’s agree to disagree“ ist ein schöner Ausdruck einer derartig geführten Kommunikation.

Folgende Beispiele kommen im Berufsalltag vor:

  • Der Griff zum Telefon (anstelle eines Verdrängens oder Hinauszögerns)

  • Gesprächsroutinen, wie „Was meinst Du mit …“ oder „Mit anderen Worten, es geht um …?“

  • „Wir sind uns einig, dass wir das unterschiedlich sehen, nämlich so und so …“

  • Es gilt nur die Macht des besseren Arguments.

1.4.6 Leitidee D2: Interesse an legitimem Handeln

Diese Leitidee propagiert einen klaren Willen, legitim zu handeln. Das Handeln wird mit den entsprechenden Personen abgestimmt, und dies nicht (nur) aus Zwang, sondern aus echtem Interesse. Legitimes Handeln heißt dann, dass das Handeln von allen Betroffenen gutgeheißen wurde. Durch die Absprache mit betroffenen Personen legitimieren wir unser Handeln.

Das zentrale Moment dieser Leitidee ist aber nicht, dass legitim gehandelt wird, sondern dass ein vorbehaltloses Interesse daran besteht, legitim zu handeln und im Zweifelsfalle durch einen Diskurs Klärung zu schaffen. Diese Leitidee postuliert auch nicht, dass keine eigenen Interessen vorhanden sein sollen – das wäre ja entgegen der Conditio Humana – aber dass diese im Zweifelsfall zu klären sind und dass im Konfliktfall, mit Hilfe der ersten Leitidee, auf kommunikative Art und Weise einen Konsens zu finden ist.

Die nachfolgenden Beispiele treten im Berufsalltag auf:

  • Klärung von persönlichen Zielen, z. B. ob sich ein nebenberufliches Engagement mit der Hauptanstellung vereinbaren lässt

  • Abklären, ob man ein Geschenk eines (potentiellen) Kunden annehmen darf

  • Das persönliche Engagement, sich bei Submissionsverfahren für die Richtlinien einzusetzen

  • Der Mut, auf Diskrepanzen zwischen Nachhaltigkeitserklärungen und Billigpreisvorgaben hinzuweisen.

1.4.7 Leitidee D3: Differenzierte Verantwortung

Manchmal kann ein Diskurs aus praktischen Gründen nicht direkt stattfinden: Vorgesetzte sind gerade nicht erreichbar, der normale Kommunikationskanal ist nicht verfügbar oder es wäre unziemlich, mit der betroffenen Person direkt zu sprechen. Wie kann die Verantwortung übernommen werden, wenn eine „normale“ Kommunikation nicht möglich ist? Wie kann dennoch diskursethisch korrekt gehandelt werden, wenn ein gegenseitiger Diskurs gar nicht durchführbar ist? Die Antwort darauf ist, einen fiktiven Diskurs zu halten. Sozusagen in einsamer Reflexion mit sich selber werden die legitimen Ansprüche des fiktiven Gegenübers gegenüber den Eigenen abgewogen. Die verantwortlich handelnde Person richtet ihre Handlungen so aus, wie wenn eine uneingeschränkte Kommunikation möglich wäre. Sie übernimmt aber durch den fiktiven Diskurs eine Art „Mitverantwortung“. Die Diskursethik nennt dies differenzierte Verantwortung. Im Praktischen entspricht dies einer Organisation, in welcher die Mitarbeitenden gerne Verantwortung übernehmen – sich nicht vor dem Stier drücken – und auch dafür gerade stehen, ohne unverhältnismäßige Konsequenzen befürchten zu müssen.

Dieses Konzept eignet sich auch für Situationen, in denen Kommunikation nie möglich sein wird, z. B. im Umgang mit einem Ungeborenen oder mit einer unzurechnungsfähigen Person. Diese Leitidee dient auch bei ethischen Problemen in einem interkulturellen Kontext: Statt sich resigniert einer Situation ergeben zu müssen, kann man sich aktiv mit verschiedenen Standpunkten und verschiedenen kulturellen Ansprüchen auseinandersetzen.

Weitere Beispiele aus dem Berufsalltag sind folgende:

  • Der Firmenfahrer, der mangels Kommunikationsmöglichkeiten – die Chefin ist in einem Meeting – selbst entscheidet, die Route abzuändern, um die kranke Mutter im Spital zu besuchen. Er klärt dies aber nachträglich so bald als möglich mit seiner Vorgesetzten.

  • Das Auslegen von gesetzlichen Vorgaben; was bedeutet ein bestimmtes Gesetz im konkreten Fall für die eigene Organisation.

  • Abwägungen von negativen ökologischen oder sozialen Auswirkungen der eigenen Handlungen. Die „Mutter Natur“ oder eine zukünftige Generation können dabei das fiktive Gegenüber darstellen.

1.4.8 Leitidee D4: Öffentlicher Diskurs

Damit echte Diskurse stattfinden können, müssen sie Raum erhalten. In stark hierarchisch strukturierten Organisationen ist ein machtfreier Diskurs oft nicht möglich. Gute Diskurse im Sinne der ersten drei Leitideen ergeben sich aber letztlich nur, wenn eine Organisation offen ist und diese ermöglicht. Ulrich spricht von normativer Offenheit der Organisation und einer strukturellen Machtfreiheit (Ulrich, 2016, S. 90 ff.). Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Public Binding“ im Sinne des Ortes, wo man öffentlich geradestehen soll und kann.

Diese Leitidee verlangt, dass ein „Ort der Moral“ existiert, an dem ein Diskurs im Sinne eines machtfreien öffentlichen Diskurses möglich ist (Ulrich, 2016, S. 90 ff.). Für eine Organisation heißt das konkret, dass „Gefäße“ geschaffen werden, in denen Diskurse stattfinden können. Ein Beispiel dafür ist, ein Traktandum „Aktuelle ethische Dilemmas“ in der Wochensitzung fix einzuplanen. Eine derartig erweiterte Tagesordnung/Traktandenliste ist auch ein Zeichen der Führung im Sinne der oben genannten normativen Offenheit. Diese Leitidee hält eine Organisation dazu an, mit Gefäßen und Prozessen letztlich bestmögliche Bedingungen für die Kommunikation zu institutionalisieren.

Nachfolgend wiederum einige Beispiele aus dem Berufsalltag:

  • Integritätsfragen als festen Punkt auf Traktandenlisten setzen

  • Einrichten einer Hotline für Whistle Blowing oder weitere Gefäße

  • Anonyme Umfrage, inwiefern sich Mitarbeitende „zu reden getrauen“

  • Die Führung hat den Ruf, sich vor ethischen Herausforderungen nicht zu drücken, und bringt dies wiederholt zum Ausdruck.

1.5 Der Prozess des Integritätsmanagements

1.5.1 Das Ablaufschema zur Lösung ethischer Dilemmas

Das Ziel des Integritätsmanagements ist es, Situationen, welche die organisationale Integrität gefährden, zu erkennen, mit einer einfachen Sprache zu beschreiben und als Teil der normalen Managementverantwortungen zu lösen. Das Ergebnis ist, dass Probleme wie Korruption, strategische Opposition, Mobbing usw. frühzeitig erkannt und angegangen werden können, bevor sie sich ausbreiten wie ein „Krebsgeschwür“ oder Skandale und Reputationsschäden verursachen.

Die „Leitideen guter Zusammenarbeit“ bieten eine Terminologie, um ethische Vorstellungen sprachlich auszudrücken. Nun werden die Leitideen in einen Prozess eingeordnet, den man als eigentliches „Managen“ der Unternehmensintegrität verstehen kann. Das folgende Ablaufschema in Abb. 1.9 soll helfen, ethische Dilemmas systematisch zu erfassen, zu lösen und gleichzeitig Organisationselemente für den langfristigen Erfolg anzupassen (Renz, 2007, S. 133).

Abb. 1.9
figure 9

Das Ablaufschema zur Lösung ethischer Dilemmas

Das Ablaufschema zur Lösung ethischer Dilemmas hat eine zweigleisige Struktur. Es unterstreicht die Parallelität von kurzfristigen und langfristigen Lösungen ethischer Dilemmas in Organisationen.

1.5.2 Schritt 1: Sensibilisierung und Engagement

Im ersten Schritt geht es darum, ein ethisches Problem überhaupt wahrzunehmen und lösen zu wollen. Bis vor wenigen Jahren sah das Management seine Verantwortung allein darin, den Gewinn für die Eigentümer des Unternehmens zu steigern. Aus ethischer Perspektive sind aber alle beteiligten und betroffenen Akteure zu berücksichtigen, also nicht nur die Shareholder, sondern auch die Stakeholder wie Mitarbeitende, Kundinnen und Kunden, Zulieferfirmen, Partnerfirmen, Gemeinden oder der Staat.

Zentral ist die Frage, ob eine Organisation und ihre Mitarbeitenden überhaupt ethische Probleme wahrnehmen und sich engagieren wollen. Wenn das Management ethische Fragen ausblendet, läuft es Gefahr, sich eines Tages vor der Presse, der Belegschaft oder Nahestehenden erklären zu müssen.

Wenn ein ethisches Problem erkannt ist, so braucht es zudem einen Willen und manchmal auch Mut, um das Problem zu lösen. Innerhalb einer Organisation muss geklärt werden, wer für die Lösung des Problems verantwortlich ist.

Wichtige Fragen während des ersten Schrittes sind:

  • Wo und in wie fern existiert ein ethisches Problem?

  • Welche Anzeichen für das ethische Problem gibt es?

  • Wer sind beteiligte und betroffene Akteure?

  • Ist der Wille da, das ethische Problem anzugehen?

  • Wer ist verantwortlich, das ethische Problem anzugehen?

1.5.3 Schritt 2: Analyse der Spannungsfelder

Im zweiten Schritt geht es darum, den Sachverhalt auszuleuchten und das ethische Dilemma genau zu kristallisieren. Es geht insbesondere darum, Interessen, Ansprüche und Rechte der beteiligten Akteure sowie Konfliktfelder zwischen ihnen zu klären. Durch die Analyse werden die Beziehungen und Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren sichtbar gemacht. Erst dadurch treten ethische Mängel, Missstände oder Verstöße zu Tage. Das Dilemma kann zudem unterschiedliche Bereiche einer Organisation betreffen, die Strategie, die Struktur oder die Kultur.

Sehr hilfreich bei der Analyse ist die Arbeit mit Spannungsfeldern. Ein ausgearbeitetes Spannungsfeld zu einem Dilemma beschreibt einerseits IST-Pole und SOLL-Pole und identifiziert andererseits die relevanten Leitideen der Anerkennungs- und Diskursethik, die für das Dilemma relevant sind (vgl. Abschn. 1.3).

Wichtige Fragen im zweiten Schritte sind:

  • Welche Interessen, Ansprüche und Rechte haben die Akteure?

  • Welche Beziehungen und Interaktionen gibt es zwischen den Akteuren?

  • Welchen Bereich betrifft das Dilemma: Strategie, Struktur oder Kultur?

  • Welches sind die IST- und die SOLL-Pole des Spannungsfeldes?

  • Welche ethischen Leitideen werden im Dilemma verletzt?

1.5.4 Schritt 3: Lösungssuche und Entscheidung

Im dritten Schritt geht es darum, die unterschiedlichen Ansprüche abzuwägen und das Dilemma einer Lösung zuzuführen. Je nach Dilemma ist es sinnvoll, die beteiligten Akteure in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Oft ist es aber so, dass die verantwortliche Person alleine eine Entscheidung fällen muss. Sowohl in einem realen als auch in einem inneren Dialog werden nun die Ansprüche einander gegenübergestellt und bewertet, bis sich ein Gleichgewicht der Überlegungen einstellt. Dies ist kein mechanisches Verfahren, sondern eine reale oder gedankliche Diskussion und Abwägung. Dabei gilt gemäß Diskursethik nur die Macht des besseren Arguments.

Die Ansprüche sind ganzheitlich von einem unparteiischen Standpunkt aus zu betrachten und zu bewerten. Grundlegende Güter wie etwa Menschenrechte, Menschenwürde oder Gesundheit haben Vorrang vor bloß nützlichen Gütern wie mehr Gewinn oder mehr Einkommen. Von einem diskursethischen Standpunkt aus betrachtet, müsste die Lösung grundsätzlich für alle Beteiligten akzeptierbar sein.

Das Ergebnis des dritten Schrittes ist eine Handlungsabsicht oder eine Zielformulierung mit einer nachvollziehbaren Begründung. Der Mehrwert der Ethik liegt nun darin, dass sie gute Gründe für eine Entscheidung liefert, welche auch für betroffene Akteure nachvollziehbar sind.

Wichtige Fragen zum dritten Schritt sind:

  • Wie können Akteure an der Lösungssuche beteiligt werden?

  • Welche Argumente werden in die Abwägung einbezogen?

  • Welches ist die Handlungsabsicht bzw. die Zielsetzung?

  • Welches ist die Entscheidung?

  • Wie ist die Entscheidung begründet?

1.5.5 Schritt 4: Umsetzung der Lösung

Das Ziel des Integritätsmanagements ist nicht nur die gute Absicht, sondern auch die gute Handlung. Mängel, Missstände oder Verstöße sollen behoben werden. Dazu sind geeignete Maßnahmen zu konzipieren und umzusetzen.

Das Ablaufschema unterscheidet zwischen einer kurzfristigen und einer langfristigen Perspektive. Das aktuelle Dilemma soll nach Möglichkeit aufgelöst werden; gleichzeitig sind aber zur längerfristigen Verbesserung auch wünschenswerte Veränderungen in der Organisation mitzudenken.

Maßnahmen bringen für die beteiligten Akteure Vorteile und Nachteile, die sorgfältig gegeneinander abgewogen und koordiniert werden müssen. Nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg zum Ziel muss ethisch vertretbar sein. Gute Maßnahmen sind gleichzeitig zweckmäßig und verhältnismäßig.

Wichtige Fragen des vierten Schrittes sind:

  • Welche Maßnahmen werden zur Lösung des Dilemmas umgesetzt?

  • Wie ist der Projektplan für die Umsetzung der Maßnahmen?

  • Welche Vorteile und Nachteile bringen die Maßnahmen für wen?

  • Wie werden die verschiedenen Maßnahmen koordiniert?

  • Welche Ressourcen werden für die Maßnahmen eingesetzt?

1.5.6 Schritt 5: Organisationsentwicklung und Monitoring

Die Maßnahmen sollen nicht nur ein aktuelles ethisches Dilemma lösen, sondern auch die Integrität in der organisationalen Struktur verankern und festigen. Die Organisation wird professioneller, auch in der Lösung ethischer Dilemmas: Ein ähnliches ethisches Dilemma soll beim nächsten Mal so gut und selbstverständlich gelöst werden wie z. B. die Rekrutierung von neuen Mitarbeitenden. Dazu müssen allenfalls Verantwortlichkeiten neu geregelt und Geschäftsprozesse angepasst werden.

Manche Maßnahmen wirken vielleicht nicht oder haben unerwartete Konsequenzen, die nach Begleitmaßnahmen rufen. Auch die Maßnahmen des Integritätsmanagements bedürfen deshalb eines Überwachungsprozesses als Monitoring.

Wichtige Fragen für den ganzen Prozess sind:

  • Welche Maßnahmen dienen der Weiterentwicklung der ethischen Fähigkeit der ganzen Organisation?

  • Wie wird der Erfolg der getroffenen Maßnahmen überprüft?

  • Wie gut funktioniert die Kommunikation?

  • Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem Lösungsprozess ziehen?

  • Werden ethische Probleme auch vorbeugend identifiziert?

1.5.7 Definition der Integrität einer Organisation

Im ersten Kapitel wurde der Begriff „Integritätsmanagement“ provisorisch eingeführt und kurz erläutert (vgl. Abschn. 1.1.3). Nun sollen Ziel und Aufgaben des Integritätsmanagements genauer definiert werden. Eine Organisation mit ihren Strategien, ihren Strukturen und ihrer Kultur ist integer, wenn sie Spannungsfelder fortlaufend erkennt, nach den Leitideen der Diskursethik und Anerkennungsethik analysiert und löst. Dies ist Teil der normalen Managementaufgaben mit entsprechendem Controlling und Verbesserungsprozessen. Integritätsmanagement ist also nicht nur die Lösung von Einzelfällen, sondern gehört zum Geschäftsalltag wie etwa die Führung der Mitarbeitenden, die Qualitätskontrolle oder die Materialbestellung.

Integritätsmanagement bedarf auch einer gewissen Institutionalisierung. Es braucht eine Plattform, Zeitgefäße und definierte Prozesse, um ethische Dilemmas systematisch zu bearbeiten. Die Minimalvariante eines Integritätsmanagements ist ein vordefiniertes Traktandum „Stand des Integritätsmanagements“ an den Sitzungen der Leitungsgremien auf den verschiedenen Stufen. Die Abb. 1.10 zeigt die Aufgaben, die jede Hierarchieebene zu erfüllen hat.

Abb. 1.10
figure 10

Aufgaben im Integritätsmanagement

Ethische Überlegungen anzustellen, sich darüber auszutauschen, diese explizit in Entscheidungsfindungen miteinzubeziehen – dies soll Teil der normalen Verantwortung jeder Hierarchiestufe werden.