1 Materialfluss in der Produktion

Das Ziel jedes Produktionsprozesses ist ein Produkt, unabhängig vom Herstellungsprozess. Das Produkt entsteht aus verschiedenen Rohstoffen und Zwischenprodukten durch Arbeitsprozesse. Alle Produkte, Einzelteile, Zwischenprodukte und Baugruppen sowie Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe (zusammengefasst als Güter) werden durch die Produktionsanlage bewegt. Die Bewegung der Güter wird durch Maschinen oder durch Arbeitskräfte vorgenommen und als Materialfluss bezeichnet. Für die Produktionsprozesse ist es entscheidend, dass die Güter zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Je nach Produktionsprozess variieren Produktionstaktzeit, Anlagenlayout und Produktionstoleranzen. Die Toleranzen zur Positionierung in automatisierten Produktionsprozessen können räumlich in sehr engen Grenzen liegen. Ist die Güterbewegung ungenau, so kann dies zu Qualitätsmängeln und Fehlern in der Produktion führen. Mithilfe der Virtuellen Inbetriebnahme (VIBN) werden die Entwicklungen verschiedener Disziplinen wie Mechanik, Elektro- und Steuerungstechnik getestet, sowie deren Zusammenspiel. Der Materialfluss als verbindendes Element zwischen den Bearbeitungsstationen wird jedoch von den verschiedenen Disziplinen häufig nur am Rande behandelt. Der Transport und die Lagerung innerhalb einer Fertigungseinrichtung verursachen „[…] einen erheblichen Anteil an den Materialfluß- und Logistikkosten und damit an den Selbstkosten eines Produktes“ [1]. Aggteleky schätzt die Materialflusskosten auf rund 20–40 % der Selbstkosten eines Produktes [2]. Innerbetriebliche Materialflusssysteme beeinflussen damit unmittelbar die „Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens“ [1].

Im Kontext des Digitalen Zwillings in der Produktion ist der Materialfluss in der Regel auf die innerbetriebliche Güterbewegung beschränkt. Diese wird auch als Intralogistik bezeichnet. Die innerbetriebliche Güterbewegung kann wiederum unterteilt werden in die betriebsinterne, die gebäudeinterne und die arbeitsplatzbezogene Ebene [3]. Der Materialfluss wird in unterschiedlichen Disziplinen betrachtet. Beim Supply Chain Management liegt der Fokus auf der Koordination der Mengen und Zeiten [4]. Diese Betrachtung liegt auf einer hohen Abstraktionsebene, sodass Stückgüter nicht als einzelne Objekte, sondern als abstrakte Einheiten angesehen werden. In der Anlagenplanung werden die Geometrie der Stationen und Förderwege der Produktion entwickelt. Bei der Steuerungsauslegung wird die genaue Bewegung einzelner Stückgüter in Interaktion mit den Bearbeitungsstationen betrachtet. Hierbei liegt die Abstraktionsebene deutlich tiefer, da sogar die Geometrien der einzelnen Stückgüter berücksichtigt werden müssen.

Güter lassen sich unterteilen in Flüssigkeiten, Schüttgüter und Stückgüter. In diesem Beitrag wird nur der Materialfluss von Stückgütern, d. h. diskreten Gütern betrachtet. Dabei kann es sich um Bauteile, einzelne Produkte oder Gebinde aus mehreren Produkten handeln.

In der Steuerungstechnik umfasst der Materialfluss die Lagerung, den Transport, die Bearbeitung und die Handhabung manuell durch den Menschen oder automatisiert durch Handhabungssysteme. Während bei der Bearbeitung und der Handhabung häufig einzelne Stückgüter bewegt (und teilweise bearbeitet) werden, ist für die Lagerung und den Transport auch die Interaktion der Stückgüter untereinander entscheidend. In der VDI 2689 wird noch genauer unterschieden in Bearbeitung, Prüfen, Handhaben, Fördern, Aufenthalt und Lagern [5].

2 Materialfluss für die Virtuelle Inbetriebnahme

Die Anforderungen an die Materialflusssteuerung haben heute ein hohes Ausmaß an Komplexität erreicht. In Abb. 7.1 wird deutlich, dass Ausfälle der Steuerungstechnik durch Softwarefehler schon heute ein dominierendes Problem bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Schadensausmaßes im innerbetrieblichen Materialfluss darstellen.

Abb. 7.1
figure 1

Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß durch Fehler in der Materialflusssteuerung im Vergleich zu Personal, Fördertechnik und Gebäude (nach [6])

Eine effiziente Steuerungstechnik beeinflusst also die Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens unmittelbar. Auf Basis geeigneter Entwicklungsphasen und Simulationen wird deshalb die Entwicklung und Validierung der Steuerungssysteme schon heute formalisiert und frühzeitig durch Materialflusssimulationen abgesichert. Wird vor Testläufen an der realen Anlage eine Virtuelle Inbetriebnahme (VIBN) durchgeführt, so können Fehler und deren meist zeitaufwendige Korrekturen an der realen Anlage verringert werden [7]. Für die VIBN wird ein präzises Simulationsmodell benötigt, um möglichst viele Fehler im Voraus zu detektieren [8]. Da der Materialfluss für die Produktivität der Fertigungsanlage eine entscheidende Rolle spielt [9], sollte dieser auch im Simulationsmodell für die VIBN berücksichtigt werden. In der Simulation wird der Materialfluss meist getrennt von der klassischen Maschinensimulation betrachtet. Während Maschinen serielle oder parallele kinematische Strukturen haben, deren Achsen durch die Steuerung bewegt werden, sind Stückgüter häufig frei beweglich. Sie werden oft nur indirekt (ohne starre Bindung) über Bandfördersysteme durch die Maschinensteuerung bewegt. Dadurch kann es zu komplexen und nicht unmittelbar vorhersehbaren Bewegungen der Stückgüter kommen. Die Bewegung der einzelnen Stückgüter wird durch auftretende Kräfte und Zwangsbedingungen aus dem unmittelbaren Umfeld und deren geometrischen und physikalischen Eigenschaften beeinflusst.

Je nach Anwendungsfall der VIBN müssen die Materialflussmodelle bestimmte Anforderungen erfüllen. Die wichtigsten Anforderungen sind im Folgenden erläutert [10]:

Ein- und Ausgangssignale: Die VIBN einer Steuerung beruht auf Tests der Aktor- und Sensorsignale. Folglich muss eine Simulation die gleichen Aktorsignale verarbeiten und die gleichen Sensorsignale zur Verfügung stellen wie eine reale Maschine oder Anlage.

Modellgenauigkeit: Die Anforderungen an die Genauigkeit sind keine absoluten Anforderungen, sondern abhängig von dem jeweiligen Anwendungsfall. Allgemein steigt der Rechenaufwand mit zunehmender Genauigkeit, wodurch die Genauigkeit begrenzt ist [11]. Die Modellierungstiefen für Maschinenmodelle [12] können auf Materialflussmodelle übertragen werden. Die Genauigkeit der Modellarten lässt sich nach den Modellierungstiefen in Tab. 7.1 unterscheiden. Auf Modellierungstiefe I wird nur ein logisches Abbild des Materialflusses modelliert, während auf Modellierungstiefe V die physikalischen Zusammenhänge des Materialflusses inklusive möglicher Störgrößen modelliert werden. Die Modellierungstiefen II bis IV sind Zwischenstufen möglicher Modellierungstiefen.

Tab. 7.1 Modellarten für die Materialflusssimulation entsprechend den Modellierungstiefen nach [12]

Determinismus/Reproduzierbarkeit: Eine Simulation sollte immer eindeutige und zuverlässige Ergebnisse liefern. Wenn mehrere Simulationsläufe auf Basis desselben Modells und gleicher Parametrisierung durchgeführt werden, sollten die gleichen Ergebnisse erzielt werden. Dies schließt stochastische Bestandteile in der Simulation aus. Um dies zu erreichen, müssen alle Rechenschritte stets zeitlich in der gleichen Reihenfolge durchgeführt werden. Ähnlich wie bei der Genauigkeit können die Anforderungen an den Determinismus eingeschränkt werden, sodass etwa aufwendige parallelisierbare Berechnungen beispielsweise auf einer Grafikkarte möglich werden, wodurch die Reihenfolge von Rechenschritten variieren kann.

Robustheit: Eine robuste Simulation liefert zu jedem Zeitpunkt ein gültiges Simulationsergebnis. Dazu sollten bspw. Berechnungen, die zu Endlositerationen und Simulationsabbruch führen können, vermieden werden. Diese Anforderung besagt nicht, dass alle Simulationsergebnisse korrekt sind, sondern lediglich, dass die Simulation nicht abgebrochen wird und evtl. verbundene Systeme invalide Werte erhalten [10].

Zeitdeterminismus: Der Zeitdeterminismus legt die maximale Rechendauer für einen Simulationstakt fest. Für die VIBN wird der Simulationstakt durch den Steuerungstakt festgelegt. Läuft eine Simulation in weicher Echtzeit, so wird die vorgegebene Dauer des Simulationstaktes im Mittel eingehalten. Bei der festen Echtzeit droht kein unmittelbarer Schaden durch eine Zeitüberschreitung, jedoch ist nach Ablauf der Zeitanforderungen das Ergebnis der Berechnung nutzlos und kann verworfen werden [13]. In harter Echtzeit darf dagegen kein Simulationstakt die vorgegebene Dauer überschreiten. Die harte Echtzeitfähigkeit ist in der Regel nur bei Hardware-in-the-Loop (HiL) Simulationen erforderlich. HiL-Simulationen mit numerischen Steuerungen von Robotern oder Werkzeugmaschinen bspw. können Taktzeiten von wenigen Millisekunden haben und fordern zudem den entsprechenden Zeitdeterminismus auch hinsichtlich des Materialflusses [14].

3 Materialflussmodelle

Es existieren verschiedene Modellarten für die Materialflusssimulation, die sich in den Anwendungsgebieten unterscheiden [10, 15]. Die wichtigsten Auswahlkriterien sind die benötigten Modelldaten und die erforderlichen Genauigkeiten des Modells für die jeweilige Anwendung. Weitere Auswahlkriterien ergeben sich aus den oben beschriebenen Anforderungen. Das physikbasierte Modell und das Flussmodell können je nach Ausgestaltung sowohl auf Modellierungstiefe IV als auch auf Modellierungstiefe V modelliert werden. Für die Virtuelle Inbetriebnahme in der Steuerungstechnik ist in der Regel mindestens die Modellierungstiefe III notwendig (vgl. Tab. 7.1). Im Folgenden wird eine Einteilung basierend auf [10, 15, 16] beschrieben mit verschiedenen Ausprägungen der Modellarten und Detaillierungsgraden, die in Abb. 7.2 schematisch dargestellt sind.

Abb. 7.2
figure 2

Materialflussmodellarten aufsteigend nach Detaillierungsgrad in Anlehnung an [15]

Logische Materialflussmodelle bilden die Reihenfolge der Produktionsstationen für Güter in einer Anlage ab [17]. Es können Bedingungen für den Wechsel von einer Station zur nächsten definiert werden. Logische Materialflussmodelle können beispielsweise auf Petri-Netzen oder auf SysML-Diagrammen [18] basieren. Es werden nur logische Aktorsignale als Bedingungen berücksichtigt und es können Sensorsignale nur durch Abstraktion gewonnen werden. Logische Materialflussmodelle werden häufig in Simulationen zu Analysezwecken (meist schneller als Echtzeit) eingesetzt, um einen ersten Überblick zu erhalten. Eine besonders recheneffiziente Simulation wird möglich, da nur der Zustand bei bestimmten Ereignissen berechnet wird. Dabei wird weder die Dauer noch der Zeitpunkt des Ereignisses berücksichtigt. Die Stückgüter werden nicht als einzelne Objekte, sondern als Mengen von Elementen modelliert [19]. In der Regel werden komplette Arbeitsvorgänge in einem Schritt betrachtet. Häufig wird der Transport zwischen den Arbeitsstationen vernachlässigt. Logische Materialflussmodelle eignen sich für eine erste Ablaufplanung im Anlagenbau oder in der Logistik.

Ereignisbasierte Materialflussmodelle basieren auf logischen Modellen. Diese werden um zeitliche Zusammenhänge und stochastische Verteilungen ergänzt [20]. Zwischen den Ereignissen liegt jeweils ein Simulationsschritt. Die Zeitpunkte der Ereignisse können beliebig gewählt werden und synchronisieren sich nicht auf einen Steuerungstakt. Wie bei den logischen Materialflussmodellen werden Mengen von Elementen analysiert und keine einzelnen Stückguter. Es handelt sich geometrisch um eine eindimensionale Modellierung. Ereignisbasierte Flussmodelle werden beispielsweise im Supply Chain Management eingesetzt. Es können Durchsätze und Engstellen erkannt werden. Teils werden ereignisbasierte Materialflussmodelle auch als ereignisdiskrete Modelle bezeichnet [21].

Kinematische Materialflussmodelle bilden die Pfade respektive Bahnkurven von Stückgütern innerhalb einer Anlage ab. Es werden keine Kräfte berücksichtigt, aber Geschwindigkeitsprofile und Gelenkbedingungen. Dadurch können Interaktionen und Kollisionen mit Maschinen erfasst werden, ohne die genauen physikalischen Wirkzusammenhänge zu berechnen. Die Stückgüter bewegen sich kontinuierlich als Punktelemente. Die Bewegungsachsen und Freiheitsgrade werden definiert, sowie die Trajektorien und die Ausgangspositionen. Kinematische Modelle sind für die VIBN in der Steuerungstechnik geeignet. Sie sind insbesondere nützlich, um einzelne Stückgüter zu betrachten und werden beispielsweise in der Roboterprogrammierung eingesetzt [22]. Sie können außerdem genutzt werden, um Bewegungsbahnen und Steuerungsabläufe zu überprüfen [23]. In der Regel sind die Modelle echtzeitfähig, da die vorgegebenen Trajektorien die benötigte Rechenzeit geringhalten. Die Position \({\varvec{x}}\) des Stückguts \(i\) berechnet sich aus dem Geschwindigkeitsprofil \({{\varvec{v}}}_{i}(t)\) zwischen dem Startzeitpunkt \({t}_{0}\) und dem gesuchten Zeitpunkt \({t}_{1}\) [24].

Das Flussmodell wurde für Anwendungen mit sehr großen Stückzahlen entwickelt. Dieses bildet keine einzelnen Stückgüter ab, sondern abstrahiert diese als kontinuierliche Dichteverteilung. Dadurch ist das Flussmodell geeignet, Anlagen mit einer sehr hohen Anzahl an Stückgütern abzubilden, wie sie bspw. in der Verpackungstechnik oder bei der Getränkeproduktion vorkommen [15]. Aufgrund der Abstraktion können keine Aussagen über einzelne oder gar spezifische Stückgüter getroffen werden. Mengen oder Mengenanteile können dagegen einfach bestimmt werden [25].

Physikbasierte Materialflussmodelle mit physikbasierter Kollisionsberechnung haben den höchsten Detailgrad. In der Regel basieren sie auf Starrkörpersimulationen; Verformungen, thermische und chemische Prozesse werden meist nicht miteinbezogen. Bei der Kollisionsberechnung werden die CAD-Geometrien der Stückgüter und der Umgebung berücksichtigt [26]. Die Bewegung der Stückgüter basiert auf den resultierenden Kräften und Momenten der Kollisionsberechnung, wobei weitere physikalische Parameter wie Massen und Reibungskoeffizienten berücksichtigt werden. Hier sind verschiedene Detaillierungsstufen möglich, die sich im Umfang der Parametrierung stark unterscheiden. Das physikbasierte Modell ist für eine detaillierte VIBN in der Steuerungstechnik geeignet, bei der allerdings die Anzahl der betrachteten kollidierenden Stückgüter aus Gründen des erforderlichen Rechenaufwands begrenzt ist. Die Berechnung der Bewegungstrajektorie eines einzelnen Stückguts erfolgt über die Newton-Eulersche Bewegungsgleichung. Die Kollisionsberechnung kann sowohl kraftbasiert, als auch impulsbasiert sowie mittels Zwangsbedingung erfolgen. Alle drei Methoden basieren auf iterativen Algorithmen, bei denen insbesondere die Kollisionsauflösung mehrmals berechnet wird bis ein stationärer Zustand erreicht wird (vgl. [27]). Je mehr Stückgüter in einer Szene vorhanden sind, desto mehr mögliche Kollisionen müssen berücksichtigt werden, sodass die Rechenzeit entsprechend zunimmt [28].

In Tab. 7.2 sind die berücksichtigten Materialflusseigenschaften, zeitliche Abfolge, Rechenzeit, Anlagenlayout und Steuerungsanbindung der verschiedenen Modellarten bewertet und gegenübergestellt.

Tab. 7.2 Eigenschaften verschiedener Materialflussmodellarten. (in Anlehnung an [16])

Neben den fünf Modellarten können außerdem gekoppelte Varianten wie etwa die Kombination eines ereignisdiskreten Modells mit einem physikbasierten Modell [29] oder die Kombination eines kinematischen Modells mit einem physikbasierten Modell zum Einsatz kommen [24]. Auch können Materialflussmodelle segmentweise in Bereiche mit unterschiedlichen Modellarten aufgebaut werden [23].

4 Idee und Stand der Technik der Modellkopplung

Je nach Entwicklungsphase und Zielsetzung der Materialflusssimulation eignen sich unterschiedliche Modellarten für die simulationsbasierte Entwicklung einer Materialflusssteuerung. Dies führt dazu, dass für die einzelnen Entwicklungsphasen neue problemspezifische Materialflusssimulationen entworfen werden müssen. Die Kosten durch den zusätzlichen Zeitaufwand für die Erstellung der Modelle und ggf. die Anpassung der Simulationssoftware können sich jedoch schon nach dem einmaligen Einsatz amortisieren [30].

Für jede Modellerstellung wird speziell ausgebildetes Fachpersonal benötigt. Ferner können die jeweiligen Modelle nicht direkt für die Entwicklungsunterstützung von Materialflusssteuerungen verwendet werden. Die Modellvalidität – also die Richtigkeit der Simulation für den Einsatzzweck – geht zwischen den jeweiligen Entwicklungsphasen wegen der neu erstellten Modelle verloren und muss deshalb immer wieder erneut nachgewiesen werden.

Reinhart und Wünsch [31] stellen fest, dass beim getrennten Einsatz mehrerer unterschiedlicher Materialflussmodelle während des Entwicklungsprozesses die Kohärenz zwischen den jeweiligen Modellen verloren gehen kann. Min et al. [32] stellen außerdem einen erheblichen, unnötigen Mehraufwand durch die doppelte Modellierung und Validierung der Materialflussmodelle fest. Gekoppelte Materialflussmodelle stellen hier einen neuen Ansatz dar. Ein gekoppeltes Materialflussmodell ermöglicht es, ohne komplette Neumodellierung zwischen den verschiedenen Materialflussmodellen zu wechseln bzw. Teilmodelle über geeignete Mechanismen zu koppeln. Dadurch wird bedarfsgerechter modelliert und der Modellerstellungsaufwand reduziert. Dopplungen bei der Modellerstellung können vermieden werden. Außerdem bleibt bei einer Modelländerung die Modellvalidität des bestehenden Modells erhalten, weil nicht das Gesamtmodell neu erstellt wird und nur die neuen Modellteile validiert werden müssen.

Prinzipiell existieren für die Kopplung von unterschiedlichen Materialflussmodellarten zwei Möglichkeiten [33, 34]:

  • Integrative Kopplung der mathematischen Materialflussmodelle

    Die unterschiedlichen Materialflussmodelle werden in einem mathematischen Gesamtmodell vereint und in einer Simulationsumgebung ausgeführt. Dafür muss eine gemeinsame Basis mit einem einheitlichen Parametersatz für die mathematischen Modelle gegeben sein. Es kann an definierten Stellen zwischen Berechnungsmethoden gewechselt werden, wobei das gemeinsame Simulationsmodell, in dem das Szenario beschrieben wird, erhalten bleibt. Ein Überblick über integrativ gekoppelte Modelle für unterschiedliche Industrieanwendungen wird in [3536] gegeben.

  • Separative Kopplung der Simulationsmodelle

    Bei der separativen Kopplung werden die unterschiedlichen Materialflussmodelle getrennt voneinander in eigenständigen Simulationsumgebungen berechnet. Für die Berechnung werden jeweils auf die Modellart optimierte Berechnungsalgorithmen eingesetzt und gleichzeitig ausgeführt. Während des Simulationslaufs findet zwischen den Simulationsmodellen zu definierten Zeitpunkten ein Datenaustausch statt. Dafür müssen insbesondere geeignete Schnittstellen für Datentransfer und Synchronisation der Simulationsmodelle geschaffen werden. Bei einem Wechsel zwischen den Modellarten muss nur das betroffene Teilmodell neu modelliert werden. Ein Überblick über die separative Kopplung ist in [37] ausgeführt.

In [24] wird ein kinematisches und physikbasiertes Materialflussmodell mit einer separativen Kopplung beschrieben. Aufgrund des Berechnungsaufwands des physikbasierten Materialflussmodells und der dafür eingesetzten iterativen Berechnungsverfahren kann nur eine weiche Echtzeit ermöglicht werden. Dadurch kann das gekoppelte Materialflussmodell für Einsatzszenarien wie die VIBN nur sehr bedingt eingesetzt werden.

Ein gekoppeltes kinematisches und physikbasiertes Materialflussmodell mit einer integrativen Modellkopplung wird in [38] beschrieben. Allerdings wird hier nur ein ausgewählter physikalischer Effekt in das mathematische Modell integriert, nämlich das Rutschen von Stückgut von einer Rampe. Durch dieses Vorgehen konnte zwar punktuell die Genauigkeit des Simulationslaufs gesteigert werden, allerdings reichte die Genauigkeit nicht aus, um dieses Materialflussmodell für die VIBN einzusetzen, da es nur für vereinfachte ideale Bedingungen mit Stückgütern geeignet ist, die sich entlang definierter Bahnen bewegen.

Eine weitere integrative Modellkopplung mit einer gemeinsamen mathematischen Modellbasis und einem Gleichungslöser wird von [10] beschrieben. Es wird eine vollständige Integration in ein Gesamtmodell angestrebt, das nur einmal modelliert werden muss und jederzeit detailliert werden kann. Das Gesamtmodell basiert auf einem physikbasierten Modell, von dem die Geschwindigkeitsberechnung und die Kollisionserkennung erhalten bleiben. In der Kollisionsauflösung, dem rechenaufwendigsten Teil, wird es integrativ mit einem kinematischen Modell gekoppelt, womit Steuerungsechtzeit erreicht werden soll. Dieser Ansatz ermöglicht es, vor jedem Simulationslauf zwischen einer hohen Simulationsgenauigkeit mittels der physikbasierten Kollisionsauflösung oder einer echtzeitfähigen Berechnung mittels der kinematischen Kollisionsauflösung auszuwählen, bei der keine Iterationen benötigt werden. Das gekoppelte Materialflussmodell ist daher für die VIBN geeignet.

5 Materialflussmodelle für große Teilestückzahlen

Für die detaillierte Virtuelle Inbetriebnahme von Steuerungssystemen sind drei verschiedene Materialflussmodelle relevant: das kinematische Modell, das physikbasierte Modell und das Flussmodell [25, 39, 40], sowie eine mögliche Modellkopplung. Sollen komplette Fertigungsanlagen mit einer großen Anzahl an Stückgütern betrachtet werden, so scheidet das kinematische Modell aus, da Kollisionen nicht vollständig berechnet werden. Für das physikbasierte Modell kann der Rechenaufwand für eine VIBN bei großen Stückzahlen schnell zu hoch werden. Aus diesem Grund ist die Idee des makroskopischen Flussmodells entstanden [25, 39]. Im Flussmodell werden keine einzelnen Stückgüter, sondern die Gesamtheit der Güter als eine Dichteverteilung analog zur Flüssigkeitsberechnung nach Euler berechnet. Die Betrachtungsebene wechselt folglich von der stückgüterbasierten Sichtweise (mikroskopische Skale) auf eine Betrachtung der Stückgüterdichte (makroskopische Skale). Das Modell basiert auf der Erhaltung der Dichte \(\rho =\rho ({\varvec{x}},t)\), die abhängig von Ort \({\varvec{x}}\) und Zeit \(t \ge 0\) modelliert wird. Der Ort wird hierbei auf einen zweidimensionalen Raum \(\Omega \subset {\mathbb{R}}^{2}\) beschränkt (siehe Abb. 7.3 als Beispiel) und der Vektor \({\varvec{\rho}}(\cdot ,t)\) beschreibt die Dichteverhältnisse zur Zeit \(t\) im gesamten Gebiet.

Abb. 7.3
figure 3

Beispiel eines Förderbands mit einem Abweiser

Die Modellgleichungen sind gegeben durch die partielle Differentialgleichung:

$${\partial }_{t}{\varvec{\rho}}+ \nabla \cdot \left({\varvec{\rho}}\cdot \left({v}^{\text{T}}\left({\varvec{x}}\right)+ {{\varvec{v}}}^{\text{dyn}}\left({\varvec{\rho}}\right)\right)\right)=0.$$
(7.1)

Die Dichteverteilung \(\rho \left({\varvec{x}},0\right)= {\rho }_{0}\left({\varvec{x}}\right)\) zum Zeitpunkt \(t=0\) kann direkt aus den initialen Positionen der Stückgüter berechnet werden.

Die Umgebung wird als ein statisches Geschwindigkeitsfeld \({v}^{\text{T}}\left({\varvec{x}}\right)\) modelliert, das auf die Dichteverteilung einwirkt. In dem Geschwindigkeitsfeld müssen sowohl bewegte Elemente wie bspw. Bandförderer, als auch statische Elemente wie Hindernisse abgebildet werden. Statische Elemente werden als Geschwindigkeiten modelliert, die entgegen den bewegten Elementen wirken. Die Größe der Geschwindigkeit wird in Abhängigkeit der bewegten Elemente festgelegt (siehe Abb. 7.4 zur beispielhaften Darstellung eines Geschwindigkeitsfelds).

Abb. 7.4
figure 4

Beispielhaftes Geschwindigkeitsfeld von Förderband mit Abweiser

Befindet sich ein Stückgut an der Stelle \({\varvec{x}}\), so bewegt es sich mit der Geschwindigkeit \({v}^{T}\left({\varvec{x}}\right)\). Dies ist allerdings nur der Fall, wenn sich nicht mehrere Stückgüter in diesem Bereich befinden. Kollidieren Stückgüter miteinander, so erreicht die Dichte \(\rho ({\varvec{x}},t)\) die maximale Dichte \({\rho }_{max}\) (maximal mögliche Anzahl an Stückgütern pro Flächeneinheit). Dies führt zur Aktivierung eines zusätzlichen dynamischen Geschwindigkeitsfelds \({{\varvec{v}}}^{\text{dyn}}\left({\varvec{\rho}}\right)\). Die Veränderung der Dichteverteilung entsteht somit aus einer Kombination des statischen Geschwindigkeitsfelds, das die Umgebung abbildet, und des dynamischen Geschwindigkeitsfelds, das die Interaktion der Stückgüter untereinander abbildet:

$${{\varvec{v}}}^{\text{dyn}}\left({\varvec{\rho}}\right)=H\left(\rho - {\rho }_{max}\right)\cdot I({\varvec{\rho}}).$$
(7.2)

Für die Aktivierung des dynamischen Geschwindigkeitsfelds wird eine Einheitssprungfunktion (Heavisidefunktion) \(H\) eingesetzt, die einschaltet, sobald die maximale Dichte erreicht wird:

$$H\left(\rho - {\rho }_{max}\right)= \left\{\begin{array}{c}0,\,\,\,\,\rho < {\rho }_{max} \\ 1,\,\,\,\,\rho \ge {\rho }_{max}.\end{array}\right.$$
(7.3)

Das dynamische Geschwindigkeitsfeld wird durch die Interaktionskraft \(I({\varvec{\rho}})\) bestimmt, die eine Umverteilung der Dichte beschreibt. Wenn die Dichte zu hoch wird, sorgt sie für eine neue Verteilung in ein größeres Gebiet, sodass keine Überlappungen der Stückgüter auftreten. Die Interaktionskraft wird durch den Parameter \(\epsilon ({{\varvec{v}}}^{\text{T}})>0\) gewichtet:

$$I\left({\varvec{\rho}}\right)= -\epsilon \left({{\varvec{v}}}^{T}\right)\frac{\nabla \left({\varvec{\eta}}*{\varvec{\rho}}\right)}{\sqrt{1+\left|\left|\nabla \left({\varvec{\eta}}*{\varvec{\rho}}\right)\right|\right|}} .$$
(7.4)

Die Umverteilung wird über eine Faltung \(\left({\varvec{\eta}}*{\varvec{\rho}}\right)\) realisiert, die eine Glättung der Dichtefunktion vornimmt. Als Glättungskern \({\varvec{\eta}}\) wird ein zweidimensionaler Gauß Filter eingesetzt, dessen Breite über den Parameter \(\sigma\) festgelegt wird. Sowohl \(\epsilon\) als auch \(\sigma\) sind empirisch ermittelte Parameter. Je größer der Wert des Parameters \(\sigma\), desto weniger wird die Dichte gemittelt:

$$\eta \left({\varvec{x}}\right)= \frac{\sigma }{2\uppi } {\text{exp}\left(-\frac{1}{2} \sigma ({x}_{1}^{2}+{x}_{2}^{2})\right) .}$$
(7.5)

Die Lösung der partiellen Differentialgleichung (1) der Dichteverteilung (vgl. Abb. 7.5 für ein Beispiel einer Dichteverteilung) erfolgt über eine Diskretisierung des Gebiets \(\Omega\) durch ein zweidimensionales Gitter mit den Schrittweiten \(\Delta {x}_{1}\) und \(\Delta {x}_{2}\). Des Weiteren wird über die Zeit mit der Schrittweite \(\Delta t\) diskretisiert. Diese Schrittweite sollte idealerweise der Taktrate des Steuerungssystems entsprechen, um einen Datenaustausch in Echtzeit zwischen Steuerung und Simulation zu ermöglichen. In Abb. 7.5 ist eine numerische Lösung dargestellt. Anhand der Dichteverteilung wird erkennbar, dass sich die Stückgüter vor dem Abweiser anstauen (größte Dichte). Oben und unten ist das Förderband durch eine Bande begrenzt.

Abb. 7.5
figure 5

Beispielhafte Dichteverteilung vor einem Hindernis (\({\uprho }_{\text{max}}=1)\)

6 Anwendung des Flussmodells

Die Anwendung des Flussmodells ist beschränkt auf Situationen, in denen sich Stückgüter gleicher Art in einer Ebene bewegen. Dies ist in der Regel der Fall auf Bandförderern. Die Stückgüter können dabei aufgrund der Symmetrie einen kreisförmigen oder quadratischen Querschnitt haben, für andere Geometrien liegt noch keine Validierung vor [41]. Der Vorteil des Flussmodells liegt in der Simulation großer Mengen an Stückgütern. Das Flussmodell kann sowohl für die VIBN als auch für die Optimierung des Materialflusslayouts und der Systemparameter eingesetzt werden.

In Abb. 7.6 ist das eingangs beschriebene Szenario aus Abb. 7.3 dreidimensional dargestellt. Die Quader zeigen die Diskretisierung der Dichteverteilung. Die Höhe und Farbintensität der Quader stellen die Größe der Dichte am jeweiligen Ort dar. Anhand dieses Szenarios wurden beispielhaft Optimierungen der Bandgeschwindigkeit durchgeführt [42]. Die Ergebnisse sind im folgenden Kapitel dargestellt. Diese zeigen, dass mithilfe des Flussmodells schnell Optimierungsparameter festgelegt werden können, die sehr gute Ergebnisse liefern. Bei einer großen Anzahl an Stückgütern ist dies entweder mit anderen Simulationsmethoden sehr rechenaufwendig oder erfolgt nur durch ungenaues Ausprobieren.

Abb. 7.6
figure 6

Dreidimensionale Visualisierung einer Anwendung des Flussmodells

7 Optimierung mithilfe des Flussmodells und dessen Validierung

Nach der Entwicklung eines Materialflusssystems muss dieses bei der Inbetriebnahme noch hinsichtlich der optimalen Steuerungsparameter eingestellt werden. Bis heute basiert die Auslegung von Materialflusssystemen auf Stückgüterebene häufig auf Erfahrungswerten einzelner Mitarbeiter [43]. Dies führt zu Abhängigkeiten der Unternehmen von einzelnen Personen, die sich dieses Erfahrungswissen über Jahre aufgebaut haben. Bei Personalwechseln besteht die Gefahr, dass dieses Wissen zumindest teilweise verloren geht. Darüber hinaus lässt sich die Erfahrung nur in geringem Maße auf andere Unternehmen übertragen. Neben den Erfahrungswerten ist die Auslegung in der Regel auf Tests an der realen Anlage angewiesen. Diese Testläufe sind zeitaufwendig und kostenintensiv und trotzdem werden nicht zwangsläufig die optimalen Parametrierungen gefunden. Hier kommt die flussbasierte Materialflusssimulation zur Anwendung. Der mathematische Vorteil des makroskopischen Flussmodells basiert darauf, dass der Rechenaufwand nicht abhängig von der Anzahl der Stückgüter und der Kollisionen ist. Der Aufwand wird durch die Diskretisierung in Ort und Zeit festgelegt und ist dadurch während einer Simulation unabhängig von den Bewegungen der Stückgüter. Dieser Vorteil kann für die Optimierung von Materialflusssystemen mit hoher Stückgutanzahl ausgenutzt werden. Optimierungen sind häufig besonders rechenaufwendig, da viele Simulationsläufe durchgeführt werden müssen. Die Optimierung ist mit einer physikbasierten Simulation bereits bei einfachen Simulationsszenarien zu rechenintensiv und daher kaum durchführbar [44]. Aus diesem Grund werden bisher kaum mathematische Optimierungen von Materialflusssystemen auf der Basis von Simulationen durchgeführt. Es gibt Ansätze im Logistikbereich mit ereignisdiskreten Simulationen [45], dabei wird jedoch auf höherer Abstraktionsebene optimiert, da die explizite Stückgutbewegung nicht betrachtet wird. Wenn der detaillierte Materialfluss optimiert werden soll, können die Vorteile des Flussmodells genutzt werden. Dazu wird das mathematische Kontrollproblem zunächst diskretisiert (entsprechend eines first-discretize-then-optimize Ansatzes) und anschließend das diskrete Kontrollproblem gelöst [46]. Damit können Materialflusslayouts, die eine große Anzahl an Stückgütern transportieren, bewertet und verbessert werden. Als Szenario wird jeweils ein Materialflusslayout mit einem oder mehreren Bandförderern betrachtet, auf denen viele Stückgüter der gleichen Art transportiert werden. Von den benötigten Arbeitsstationen sind die Reihenfolge und die jeweiligen Bearbeitungszeiten und möglichen Kapazitäten bekannt.

Für die Optimierung werden zunächst das geplante Materialflusslayout und die Eingangsgrößen festgelegt. Als Nächstes wird das Optimierungsziel definiert. Optimiert werden kann die genaue Konfiguration des Layouts oder die Parametrierung des Steuerungssystems [42]. Dies entspricht der Verwendung einer Zielfunktion, die das Kontrollproblem beschreibt. Um die Zielfunktion aufzustellen, müssen zusätzlich die Optimierungsparameter festgesetzt werden. Für die Planung eines neuen Materialflusssystems können Konfigurationseigenschaften des Layouts wie beispielsweise Bandgrößen, Abstände und Winkel oder Steuerungsparameter wie die Bandgeschwindigkeiten als Optimierungsparameter dienen. Bei der Optimierung eines bereits bestehenden Materialflusssystems sind die Konfigurationseigenschaften in der Regel bereits durch die vorhandenen Transportelemente vorgegeben.

Am Flussmodell kann beispielsweise die Anordnung der Stückgüter in einem vorgegebenen Bereich optimiert werden, um einen zeitlich definierten Zielzustand zu erreichen. Dazu werden die Bandgeschwindigkeiten fest vorgegeben und es wird eine Anfangsverteilung definiert, die möglichst optimal in einem Ausgangsbereich platziert werden soll. Optimal kann bedeuten, dass möglichst wenige Kollisionen mit einem Hindernis auftreten sollen oder dass die Güter möglichst schnell das Hindernis passieren sollen [44].

Alternativ kann die Bandgeschwindigkeit optimiert werden. Als Zielfunktion kann dabei nicht nur eine maximale oder minimale Menge an Stückgütern hinter einem Hindernis gesetzt werden, sondern es kann auch auf eine exakte Anzahl optimiert werden. Konkret kann zum Beispiel bei gegebener Anfangsverteilung eine Bandgeschwindigkeit gesucht werden, bei der nach der Zeit \(t\) exakt \(n\) Stückgüter die Stelle \({x}_{2}\) passiert haben [42]. Ein Szenario mit \(N=192\) zylindrischen Stückgütern basierend auf [25], die nach \(T=1 s\) zu einem Viertel (bzw. zur Hälfte) hinter einem Abweiser angekommen sein sollten, wurde in [42] mit einem Abweiserwinkel von \(\alpha =45^\circ\) beschrieben. Nach der Optimierung waren zum gewünschten Zeitpunkt \(\text{24,88} \%\) (bzw. \(\text{48,44} \%\) für die Hälfte) der Stückgüter hinter dem Abweiser.

Die Bewertung der Optimierungsergebnisse kann anschließend anhand eines mikroskopischen Modells wie dem physikbasierten Modell erfolgen (Verifizierung). Dazu wird das Szenario im physikbasierten Modell abgebildet und die optimierten Parameter übergeben. Zunächst wird mit den Optimierungsparametern simuliert und überprüft, wie nah die Ergebnisse an den Zielgrößen liegen. Sollten die Ergebnisse nicht den Anforderungen entsprechen, können die Randbedingungen für die Optimierung mit dem Flussmodell angepasst werden. Falls dies nicht ausreicht, müssen möglicherweise Veränderungen am vorgegebenen Materialflusslayout vorgenommen werden. Anhand des veränderten Materialflusslayouts kann eine erneute Optimierung durchgeführt werden. Zusätzlich können weitere Bewertungsparameter definiert werden, um die Leistung des Materialflusssystems zu bestimmen (Leistungserbringung). Dabei werden insbesondere Werte untersucht, die aus der Simulation mit dem Flussmodell nicht hervorgehen, beispielsweise ein ungewolltes Umkippen der Stückgüter. Auch in diesem Fall sollten die Randbedingungen angepasst und die Optimierung wiederholt werden. Es kann auch notwendig werden zusätzliche Stellgrößen einzuführen, um das gewünschte Verhalten zu erreichen. Nach der Verifizierung und Leistungserbringung kann eine Feinjustierung anhand des physikbasierten Modells durchgeführt werden. Dazu werden leichte Variationen der Optimierungsparameter untersucht, um festzustellen, ob die optimierten Werte tatsächlich den optimalen Ergebnissen entsprechen. Dieser Schritt ist vor allem dann relevant, wenn es um konkrete Positionen einzelner Stückgüter geht, die im Flussmodell nicht abgebildet werden können. Der Gesamtprozess ist in Abb. 7.7 dargestellt.

Abb. 7.7
figure 7

Validierungsprozess im Zuge der Optimierung nach [42]

Es existieren Szenarien, in denen die Zielgrößen im Flussmodell erreicht werden, im physikbasierten Modell jedoch Abweichungen auftreten. Dies ist in Effekten begründet, die vom Flussmodell nicht abgebildet werden. Beispielsweise werden dadurch, dass im Flussmodell die dritte Ortsdimension nicht berücksichtigt wird, nicht alle Effekte abgebildet, die in Realität auftreten können. Im physikbasierten Modell werden die Szenarien dreidimensional untersucht und es wird zusätzlich die Orientierung der Stückgüter sowie deren Kollisionen und Starrkörperdynamiken berücksichtigt. Dadurch können Effekte erfasst werden, die im zweidimensionalen Flussmodell nicht erkennbar sind, wie beispielsweise das Kippen von Stückgütern. Darüber hinaus werden im Flussmodell keine einzelnen Stückgüter modelliert. Es kann daher beispielsweise nicht erkannt werden, ob ein Stückgut ein Hindernis passiert hat oder ob zwei Stückgüter das Hindernis zur Hälfte passiert haben. Im physikbasierten Modell kann dies genauer analysiert werden.

8 Zusammenfassung und Ausblick

Um den Materialfluss zu planen und abzusichern, werden zunehmend Materialflusssimulationen eingesetzt. Es existieren logische, ereignisbasierte, kinematische, physikbasierte oder flussbasierte Materialflussmodelle, die je nach Anwendung und Zielsetzung eingesetzt werden. Für die Virtuelle Inbetriebnahme müssen die Materialflussmodelle Anforderungen an die Ein- und Ausgangssignale, Modellgenauigkeit, Determinismus, Robustheit und den Zeitdeterminismus erfüllen.

Während bei einer kinematischen Kollisionsauflösung die Genauigkeit begrenzt ist, erfüllt diese zu jedem Zeitpunkt alle Anforderungen für eine Echtzeitsimulation. Die physikbasierte Kollisionsauflösung liefert dagegen hochgenaue Simulationsergebnisse, allerdings ist sie für eine Echtzeitsimulation zu rechenaufwendig. Daher können die Modelle in einem gekoppelten Materialflussmodell mit kinematischer und physikbasierter Kollisionsauflösung kombiniert werden.

Das Flussmodell soll die Simulation großer Mengen an Stückgütern für die Virtuelle Inbetriebnahme ermöglichen. Dabei werden die Stückgüter als zweidimensionale Dichteverteilung beschrieben. Die Bewegung wird durch das statische Geschwindigkeitsfeld der Umgebung und das dynamische Geschwindigkeitsfeld der Interaktionen umgesetzt. Ideen für den Einsatz des Flussmodells sind beispielsweise in Getränkeabfüllanlagen, wo große Mengen gleicher Flaschen in kurzer Zeit verarbeitet werden.

Ein neues Konzept ist das Multiskalen-Netzwerk-Modell, welches die Kopplung zwischen physikbasiertem und flussbasiertem Modell beschreibt [15, 39]. Dieses Konzept soll eine situationsbasierte Simulation ermöglichen. Je nachdem welche Signale für die Steuerung benötigt werden oder welche Informationen betrachtet werden sollen, kann zwischen physikbasiertem und Flussmodell gewählt werden. Mithilfe des kontinuierlichen Flussmodells kann eine große Anzahl an Stückgütern simuliert werden. An Stellen, an denen Aussagen über exakte Positionen oder spezifische Stückgüter benötigt werden, kann das physikbasierte Modell eingesetzt werden. Die direkte Kopplung beider Modelle kann die Validierung und Leistungserbringung nach einer Optimierung vereinfachen.