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Wie wird Literatur in Recht materialisiert und wie Recht in Literatur? Um diese Frage geht es in den folgenden Beiträgen. François Gayot de Pitavals Causes célèbres et intéressantes, avec les jugements qui les ont décidées begründen die Gattung der Pitaval-Literatur, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie Recht zum Gegenstand der Literatur macht. Gayot zielt mit seiner literarisierten Sammlung von Gerichtsprozessen sowohl auf ein juristisch gebildetes als auch auf ein Laienpublikum ab. Er wird zum Namensgeber einer ganzen Gattung der Prozessliteratur; gleichzeitig steht er am Anfang einer neuen Form von Literatur an der Grenze von Unterhaltung und juristischer Aufklärung. Neue Formen entstehen bekanntlich nicht aus dem Nichts, sondern haben ihren Ursprung meist in vorausgehenden Textformen. Bei den Pitaval-Geschichten ist das nicht anders. Eine solche Spurensuche verfolgt Sebastian Speth, indem er die Textgattung analysiert und mit älteren juristischen Textformen und Literatur vergleicht. Er zeichnet die Genese der Pitaval-Geschichten aus den ‚Relationen‘ nach und analysiert, wie Gayot mit den Akten umgeht, was er literarisiert und was er unverändert in seine eigenen Texte einbringt. Auf diese Art entsteht eine neue und sehr erfolgreiche Gattung, die Pitaval-Literatur. Gayot ist nicht der Erste, der über reale Verbrechen schreibt, aber seine Art der Darstellung ist neu und der Erfolg der Causes beispiellos.Footnote 1 Sein Vorgehen bei der Anordnung der Aktenstücke, ihre Einbindung in eine eigene narratio und seine Kommentierung sind innovativ. Sie machen es den juristisch nicht vorgebildeten Leserinnen und Lesern zum ersten Mal möglich, dem Ablauf eines Prozesses zu folgen und etwaige Schwierigkeiten zu verstehen. Die Prozesse selbst nämlich sind in der Zeit vor der französischen Revolution nicht öffentlich und somit für ein nicht juristisches Publikum, insofern es nicht in irgendeiner Form selbst Teil des Prozessgeschehens ist, nicht direkt erfahrbar. Gayot begründet die Integration der Aktenstücke damit, dass die eingefügten „Mémoires“ und „Plaidoyers“ für die Leserinnen und Leser unverzichtbar seien, um die Urteile der Richter zu bewerten. Nur in ihnen zeigten sich die Motive, welche die Richter zu ihrer Urteilsfindung führten.Footnote 2 Gleichzeitig ist die Sammlung auch für (angehende) Juristen hilfreich, weil Gayot eine sehr umfassende Sammlung von zivil- und strafrechtlichen Fällen vorlegt, die sowohl eine große Zeitspanne als auch fast das gesamte französische Territorium umfassen. Die Rechtsgeschichte des Ancien Régime nämlich kennt während Jahrhunderten kein einheitliches Verfahrensrecht, sondern ist geprägt von regionalen Unterschieden.Footnote 3 Erst 1667/1670 kommt es zu einer Vereinheitlichung. Eine Sammlung von realen Prozessen, die verschiedene Regionen umfasste, war also auch für Juristen interessant. Das Inhaltsverzeichnis der Causes célèbres ist so gestaltet, dass man sie auch als ein Nachschlagewerk für verschiedene Arten von Prozessen oder Thematiken benutzen kann.

Dies führt uns zum nächsten Beitrag, der sich der Frage nach der Gestaltung der Causes célèbres in Buchform widmet. Christian Meierhofer unterscheidet am Beispiel der „Geschichte der Tiquet“ fünf verschiedene Ebenen des Materialitätsbegriffes. Er analysiert Materialität als textinternes Merkmal, als intertextuelles, als referenzlogisches, als literatur- und editionsgeschichtliches sowie als buchgeschichtliches. Diese Merkmale umfassen sowohl Aspekte, die den Gegenstand der Geschichten, ihre Sammlung und ihren Bezug zum Rechtssystem betreffen als auch Übersetzungen in die deutsche Sprache und editionsgeschichtliche Fragestellungen.

Die Aufmachung der Buchausgabe lässt Rückschlüsse auf den Adressatenkreis und den vermuteten Gebrauch des Werkes zu. Gayot erklärt im Vorwort des ersten Bandes ausdrücklich, dass die Wissensvermittlung über die Jurisprudenz sein erstes Ziel sei, aber die Texte auch der Einbildungskraft des Publikums gefallen sollten. Aus diesem Grund habe er die Erzählungen so weit möglich von allen überflüssigen technischen Details der Verfahren gereinigt.Footnote 4 Nichtfiktionalität aber ist für ihn ein zentrales Kriterium für den Wert seiner Sammlung. Sie garantiert die Verlässlichkeit der Darstellungen und macht die Causes dadurch erst für Juristen wertvoll. Nichtfiktionalität scheint für ihn aber auch ein sowohl ästhetisches als auch moralisches Kriterium zu sein. Wahrer Genuss, so hebt er hervor, entstehe erst durch die Realität und Wahrhaftigkeit des Erzählten.Footnote 5 Das Argument mag ein Hinweis sein, warum er die einzelnen Causes ausgiebig dokumentiert hat. Die Aktenstücke werden typographisch kenntlich gemacht, sodass auf den ersten Blick die realen Dokumente von der Erzählung der Ereignisse unterschieden werden können. Dass die Quellenangaben direkt neben dem Text als Marginalie verzeichnet sind, erleichtert ihre Auffindbarkeit. Es hilft denjenigen Lesern, welche die Causes auf der Suche nach Beispielen als Nachschlagewerk benutzen, unterstreicht gleichzeitig aber auch den Anspruch auf Faktizität.

Der Person François Gayot de Pitaval wird in den meisten Studien wenig Aufmerksamkeit gewidmet, was verständlich ist, da wenig Biographisches über ihn vorliegt.Footnote 6 Bei einer Beschäftigung mit dem Thema ‚Materialität‘ müssen aber auch gewisse Aspekte der Persönlichkeit des Autors und des Umfelds, in dem er sich bewegt, berücksichtigt werden. So fehlt in keiner Buchauflage der Hinweis, dass er avocat am Parlement de Paris war. Ungeachtet der komplizierten politischen Geschichte des Parlement und der widerstreitenden Strömungen, lässt sich festhalten, dass Gayots berufliches Leben sich an einem Ort abspielte, an dem Argumentation und exakte Wortwahl als wesentlich für die Amtsführung erachtet wurden. Die Mitglieder des Parlements blieben von den philosophischen und literarischen Debatten ihrer Zeit nicht unbeeinflusst. Auch spielte das Ansinnen, der eigenen Profession Würde und Ansehen zu verleihen, bei der Suche nach einer sowohl angemessenen als auch repräsentativen Sprache eine Rolle.Footnote 7 So merkt auch Gayot an, dass er die großen avocats würdigen wolle.Footnote 8 Gleichzeitig war das Parlement de Paris seit der ordonnance sur la réformation de la justice civile von 1667 auch der Schauplatz widerstreitender Tendenzen, was die Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit von Prozessen betraf.Footnote 9 Dies hatte Einfluss auf deren schriftliche Überlieferung.

Neben den genannten Aspekten der Materialität, die sich direkt auf Gayots Causes célèbres beziehen, gibt es auch noch die Aspekte der Materialität, die sich in den Bearbeitungen und Übersetzungen finden. Christian Meierhofer bezeichnet sie als literaturgeschichtliche und buchgeschichtliche Merkmale.Footnote 10 Gayots Causes célèbres waren nicht nur ein großer Erfolg in Frankreich und den frankophonen Länder beschieden, sondern sie erfuhren darüber hinaus zahlreiche Bearbeitungen und Übersetzungen. Dass juristische Prozesse zum Gegenstand von Literatur werden, bleibt im Ansatz gleich. Es gibt jedoch auch Differenzen, die je nach Herausgeber von sehr unterschiedlicher Art sein können. In Frankreich war die Bearbeitung von François Richer am erfolgreichsten, und dies in einem Ausmaß, dass sie zwischenzeitlich Gayots ursprüngliche Ausgabe in Verbreitung und Ansehen überflügelte und dann auch in den meisten Fällen zur Vorlage für die verschiedenen Übersetzungen und Adaptationen wurde. Wie Gayot war auch Richer avocat am Parlement de Paris. Weder in der französischen Ausgabe noch in der deutschen Ausgabe von Cunos Erben in Jena fehlt diese Angabe. Eine bessere Legitimierung und Garantie für die beanspruchte Richtigkeit der Fakten konnte ein Verleger wohl kaum finden. Richers Anliegen ist jedoch nicht unbedingt ein juristisches. Zwar nimmt er neue Fälle auf und streicht andere, sein Hauptanspruch aber besteht darin, die Texte von Gayot lesbarer zu machen. Er unterzieht sie einer ausgiebigen stilistischen Überarbeitung, wie er selbst im Vorwort nicht ohne Stolz behauptet. So nimmt er für sich in Anspruch, aus der ermüdenden, rechtssprachlich überfrachteten und ausschweifenden Lektüre ein gut lesbares und den höchsten Stilansprüchen genügendes Werk gemacht zu haben.Footnote 11 Sowohl Sebastian Speth als auch Christian Meierhofer ordnen die Bearbeitung des Pitaval durch Richer in die Entwicklungsgeschichte der französischen Literatursprache sowie den zeitgenössischen philosophischen und literarischen Kontext ein und verweisen auf Vorläufer, bei denen Gayot anknüpfen konnte.

Eine weitere Bearbeitungsstufe ist ebenfalls Gegenstand der beiden folgenden Beiträge: die Übertragung ins Deutsche bei gleichzeitiger Bearbeitung. Neben dem zeitlichen Abstand treten hier Differenzen bezüglich der unterschiedlichen Rechtskreise hinzu, die zusätzliche Erläuterungen für das Publikum nötig machen. Wenn schon die französischen Leserinnen und Leser mit ihnen unbekannten Prozessrechten konfrontiert sind, so gilt das in noch größerem Maß für das Publikum aus deutschsprachigen Staaten. Für den Fall, dass auch hier sowohl Juristen als auch Laien die Zielgruppe sein sollen, sind größere Kommentierungen und Texteingriffe nötig. Ebenso ist denkbar, dass die Kenntnisse über das Rechtssystem und das Verständnis für etwaige Probleme des Prozessrechtes nicht mehr das Hauptinteresse des Publikums darstellen. So wäre denn auch zu untersuchen, ob es eine Verschiebung des Schwerpunktes weg von juristischem Wissen hin zu Kenntnissen über den Menschen gibt. Der Verdacht ist naheliegend, findet sich in der wichtigsten deutschen Ausgabe doch ein Vorwort aus der Feder Friedrich Schillers. Es hebt den Nutzen der Texte für die Bildung des Publikums ebenso wie das Vergnügen, das man beim Lesen empfinde, hervor.Footnote 12 Nicht anders als in Schillers eigenem Werk, das zahlreiche Kollisionen zwischen Normen und geltendem Recht ins Zentrum des Geschehens stellt, so sind auch hier Fragen nach Gerechtigkeit, Moral und Natur des Menschen miteinander korreliert. Gesetze und deren Übertretung stehen manifest für die verborgenen Konflikte einer gesellschaftlichen Konstellation, nicht aber für die Arcana des Prozessrechtes.

Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf Materialität festhalten: Der Beitrag von Sebastian Speth analysiert, wie sich in den Ausgaben von Richer und Schiller Unterschiede in der Vergegenständlichung von Recht im Vergleich mit Gayots Ursprungstext ergeben, ob die Texte zunehmend literarisiert werden oder ob dieser Eindruck nur einem Vorurteil geschuldet ist. Christian Meierhofer seinerseits geht am Beispiel der Geschichte der Madame Tiquet den Anordnungen und Differenzen in der Materialisierung von Recht bei Gayot und in den deutschen Bearbeitungen nach und verortet diese in den poetologischen Diskussionen der Zeit.