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1 Was ist ‚Materialität‘?

Wenn mit dem Begriff der ‚Materialität‘ nicht ein bestimmtes, der Erfassung einer Sache irgendwie noch vorgelagertes, in seiner dunklen, verschlossenen Erdigkeit sich dem erkennend-bestimmenden Zugriff immer schon entziehendes Phänomen benannt sein soll, das eben wegen dieser Unverfüg- und Unerkennbarkeit dann auch nicht von der Wissenschaft, sondern allenfalls von der Kunst zu thematisieren wäre, wenn also mit diesem Begriff nicht ein gewissermaßen paradoxes a-phänomenales Phänomen, nämlich ein sich nur in seinem Nicht-Zeigen, das heißt in seinem Entzug zeigendes Geschehen bezeichnet wird, wenn vielmehr durch dieses Wort im Gegenteil gerade die Vergegenständlichung im Sinne eines Zum-Vorschein- und Auf-den-Begriff-Bringens innerhalb eines bestimmten Gebiets ihrerseits auf den Begriff gebracht werden soll (vgl. Gideon Stiening in diesem Band), dann verknüpft sich mit der Frage nach der so bestimmten Materialität von Kunst aus der Sicht des Rechts die Frage, wie das, was ‚Kunst‘ für die juristischen Operationen heißen kann, im Einzelnen ganz genau zu bestimmen ist. So wie der gerade niedergeschriebene Satz, allen mäandernden Wendungen zum Trotz, irgendwann an ein Ende gelangen muss, muss auch für das Recht offenbar zu einem bestimmten Zeitpunkt verbindlich feststehen, was Kunst heißt – und was nicht, wo also die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst verläuft. Denn bliebe stets offen, was Kunst ist, könnte der Kunst nicht jener spezifische Schutz zuteilwerden, den die grundrechtlich garantierte Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG mit ihrem knappen, apodiktischen Duktus so deutlich verspricht: „Kunst und Wissenschaft […] sind frei.“ Damit das, was hier als frei postuliert wird, auch in seiner Freiheit bewahrt bleiben, das heißt das Freiheitspostulat juristisch operationalisiert werden kann, muss es möglich sein, das zu schützende Rechtsgut zu erkennen und zu benennen. Was aber heißt – für das Recht – das, was auf diese Weise frei sein soll? Wie definiert das (Verfassungs-)Recht die Kunst, um sie als handhabbaren Gegenstand für seine Verfahren in den Griff zu bekommen?

Gegen eine derartige, offenbar unvermeidliche, vergegenständlichende Bestimmung drängt sich jedoch sogleich ein anderer, gegenläufiger, möglicherweise auch ein anderes Verständnis von Materialität transportierender Verdacht auf: Was, wenn die zu schützende Freiheit gerade in der Widerspenstigkeit gegenüber jeder Bestimmung liegen könnte? Was, wenn Freisein im strengen Sinn also nur dort möglich wäre, wo dem kategorialen Zugriff der Weg versperrt ist, wenn also statt des Gegenständlichen das Widerständige der Kunst in den Vordergrund träte oder gar treten müsste, um einen emphatischen, nicht bloß rechtlich konzedierten Freiheitsbegriff zu ermöglichen? Was, wenn gegenüber den formalen Einordnungen doch eine andere Art von Materialität ihr Recht forderte – oder möglicherweise gerade nicht forderte, weil sie sich eben jenen Kategorien des Stellens und Erfüllens von Ansprüchen verweigerte? Kann Kunst vielleicht nur dort wirklich frei sein, wo sie noch nicht oder nicht mehr Kunst ist, das heißt genauer: noch nicht oder nicht mehr von Rechts wegen als Kunst bestimmbar, noch nicht als solche kategorisiert und eingeordnet ist? Also dort, wo sich der kryptojuridische Vorgang des kategoresthai, das heißt der Anklage, die einer Sache auf den Kopf zusagt, was sie ist oder sein soll, noch nicht vollzogen hat? Wo, umgekehrt gesprochen, nicht der ganze Stolz des Rechts darin liegt, die Kunst in ihrer speziellen „Eigengesetzlichkeit“ (BVerfGE 30, 173 [190]) – und damit dann doch wiederum: in mindestens kryptojuridischer Terminologie – zu erfassen, um sie zu beschützen? Liegt der Kunst vielleicht gerade ein Widerstand gegen diese Schließungsprozesse zugrunde, dem auch die Freiheit der Kunst Rechnung tragen muss? Lässt sich Kunst in diesem Sinn dann überhaupt zum Gegenstand des Rechts erklären – und wie und durch wen könnte eine entsprechende Erklärung vorgenommen werden?

2 Das „Definitionsdilemma“

Das damit angesprochene Problem wird im verfassungsrechtlichen Schrifttum als „Definitionsdilemma“ beschrieben (vgl. von Arnauld 2017, Rn. 41 ff.). Auf der einen Seite dieses Dilemmas steht die Annahme, dass gerade aus der Kunstfreiheit ein Definitionsverbot resultiert (vgl. etwa Knies 1967, 214 ff.; zum Problem auch Müller 1969, 35 ff.). Begründet wird diese Position allerdings weniger mit dem allgemeinen Problem einer kategorisierenden Vergegenständlichung von Kunst. Im Fokus steht vielmehr die historische Erfahrung des Nationalsozialismus und dessen Umgang mit der sogenannten ‚entarteten Kunst‘. Das Definitionsverbot soll in dieser Hinsicht vor allem ein staatliches ‚Kunstrichtertum‘ verhindern. Den staatlichen Stellen soll es unmöglich sein, zwischen ‚guter‘ oder ‚richtiger‘ Kunst, die Schutz verdient, und ‚schlechter‘, ergo auch nicht schutzwürdiger Pseudo-Kunst zu differenzieren (vgl. von Arnauld 2017, Rn. 41). Auch in dem speziellen Fall der Kunstfreiheit gilt damit, was das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit in seiner Wunsiedel-Entscheidung auf eine allgemeine Formel gebracht hat: Das NS-Regime hat danach für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“ (BVerfGE 124, 300 [328]). In Zweifelsfällen können somit die Deutungen der Grundrechte an einer jeweils auf ihren speziellen Schutzbereich zugeschnittenen Lesart des grundsätzlichen ‚Nie wieder!‘ einen Halt finden.

Auf der anderen Seite des Dilemmas steht demgegenüber ein Befund, der jene Absetzung vom Nationalsozialismus ebenso wenig in Frage stellen will wie die zuerst genannte Sicht, aber aus dieser notwendigen Abgrenzung einen genau umgekehrten Schluss zieht. Dessen Eigentümlichkeit klang bereits an: Dieser Perspektive zufolge besteht ein Definitionszwang nicht trotz oder entgegen der Kunstfreiheit, sondern um ihretwillen. Josef Isensee hat den dahinterstehenden allgemeinen Gedanken markant zusammengefasst: „Was der Staat nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen“ (Isensee 1980, 35). Offenkundig setzt der – nach der Konzeption des Grundgesetzes zudem besonders starke, nämlich nicht unter einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt gestellte – Schutz der Kunst eine Diskriminierung zwischen Kunst und Nicht-Kunst voraus. Aber wie soll diese Diskriminierung gelingen? Und von wem soll sie vollzogen werden?

3 Der Kunstbegriff des Bundesverfassungsgerichts

Der naheliegende Adressat für die Frage der Definitionshoheit in grundrechtlichen Fragen ist offensichtlich das Verfassungsgericht, gilt dieses doch seit seiner Einrichtung im Jahr 1951 als die für Fragen der Verfassungsauslegung buchstäblich entscheidende, (letzt-)verbindliche Instanz. Noch in dem freundlich erscheinenden Diktum, das den Gesetzgeber als ‚Erstinterpreten‘ der Verfassung ausweist, klingt zumindest leise, bisweilen aber auch ganz explizit der Hinweis mit, dass es ebenso einen diesem ersten gegenüber- und genauer genommen auch vorgesetzten letzten Interpreten des Grundgesetzes gibt und geben muss (vgl. Kirchhof 1998, 16). Dessen Interpretation wächst dann nicht nur selbst ausdrücklich Gesetzeskraft zu; sie erweist sich darüber hinaus wenigstens de facto auch für die de iure freie Wissenschaft als verbindlich. Ganz in diesem Sinn konnte Rudolf Smend, einer der bekanntesten deutschen Staatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert, schon anlässlich des Festakts zum zehnjährigen Bestehen des Gerichts im Jahr 1962 resümieren: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne“ (Smend 1968, 582).

Ein vor diesem Hintergrund erfolgender Blick zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht im Verlauf seiner Rechtsprechungsgeschichte nicht nur eine Reihe verschiedener Ansätze zur Bestimmung dessen, was von Verfassungs wegen als ‚Kunst‘ anzuerkennen ist, entwickelt hat (vgl. zur Entwicklung instruktiv Pieroth 2021). Es hat diese Pluralität der Bestimmungsversuche vielmehr ihrerseits reflektiert und in die Bestimmung selbst mit eingehen lassen.

Auffällig ist dabei zunächst, wie relativ spät das Gericht begann, sich ausdrücklich und umfassend mit der Kunstfreiheit zu beschäftigen. Die zentrale erste Leitentscheidung, die anhand der Kontroverse über Klaus Manns Schlüsselroman Mephisto entstand, stammt aus dem Jahr 1971 (vgl. BVerfGE 30, 173). In dieser Entscheidung findet sich ein markanter Versuch, den Gegenstand der Kunstfreiheit positiv zu bestimmen. Dabei setzt die Entscheidungsbegründung zunächst vorsichtig an; sie scheint die Definitionshoheit geradezu von sich zu weisen und in den Bereich der Kunst selbst zurückzuspielen:

Der Lebensbereich „Kunst“ ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Von ihnen hat die Auslegung des Kunstbegriffs der Verfassung auszugehen (BVerfGE 30, 171 [188]).

In einem zweiten Schritt geht das Gericht dann aber doch zu einer eigenen Bestimmung eben jenes ‚Wesens der Kunst‘ über und liefert eine Definition, die später als ‚materiale‘, nämlich auf den wesentlichen Inhalt der ‚künstlerischen Betätigung‘ bezogene bezeichnet werden sollte. Im Zentrum dieser Bestimmung steht weniger das Kunstwerk als vielmehr der Prozess seiner Entstehung, das heißt das Verhältnis von Künstler und werdendem Werk, das als ‚schöpferische Gestaltung‘ angesprochen wird:

Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (BVerfGE 30, 173 [188 f.]).

An dieser Bestimmung sind, im impliziten Vorblick auf die später vorgenommenen Modifikationen, zumindest zwei Aspekte gesondert hervorzuheben:

Zum einen lebt die Definition ersichtlich von einer traditionellen Vorstellung, der zufolge eine bestimmte ‚Innerlichkeit‘ der ‚Künstlerseele‘ sich in das geschaffene Werk entäußert. Dadurch bleiben zugleich aber Innerlichkeit und Äußerlichkeit aufs engste aufeinander verwiesen. Strukturell ist jene dieser dabei überlegen, weil sie, selbst wenn der Vorgang der Entäußerung nicht offen als defizienter, letztlich zum Scheitern verurteilter Prozess benannt wird – „Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.“ –, als Quelle doch offenbar immer schon mehr ist als das ihr Entsprungene. In dieser impliziten Hierarchisierung liegt dann jedoch ebenso ein Problem, weil sie nicht gewissermaßen kunsttheoretisch neutral ist, sondern ihrerseits ersichtlich einem spezifischen, klassisch genieästhetischen Verständnishorizont entstammt. Wie wenig selbstverständlich diese Betrachtungsweise ist, zeigt etwa eine Bemerkung aus Hegels Vorlesungen über die Aesthetik. Im zeitlichen Abstand nur weniger Jahrzehnte gegenüber dem 1797 erstmals publizierten Schiller-Distichon (Hegel hielt die Vorlesung mehrfach in den Jahren 1818 bis 1829) heißt es dort:

[…] das Höchste und Vortrefflichste ist nicht etwa das Unaussprechbare, so daß der Dichter in sich von noch größerer Tiefe wäre, als das Werk darthut, sondern seine Werke sind das Beste des Künstlers, und das Wahre, was er ist, das ist er, was aber nur im Innern bleibt, das ist er nicht (Hegel 1971, 390).

Zum anderen wird durch die zitierte Bestimmung zwar der systematischen Verortung der Kunstfreiheit im dritten Absatz von Artikel 5 des Grundgesetzes, der in seinem ersten Absatz Meinungs-, Presse-, Rundfunk- und Informationsfreiheit schützt und damit insgesamt gesehen dem Schutz der Kommunikationsfreiheit dient, dadurch Rechnung getragen, dass die ‚künstlerische Betätigung‘ als ‚Ausdruck‘ des Künstlers verstanden wird. Formalisiert man Kommunikation als Prozess des Versendens und Empfangens einer Botschaft, kommt es jedoch offensichtlich vorwiegend auf den ersten Teil des Gesamtvorgangs und weit weniger auf das Empfangen und Entschlüsseln der genannten Bestimmung an: Eine an andere gerichtete ‚Mitteilung‘ ist das Kunstwerk danach allenfalls in einem sekundären Sinn. Dass diese Dimension gleichwohl nur in ihrer Relevanz herabgesetzt, nicht jedoch vollständig ausgeblendet wird, macht schon die hierarchische Priorisierung als solche deutlich, die zugleich Raum für das niederrangige Phänomen lässt. Die unmittelbar anschließenden Ausführungen des Verfassungsgerichts, die die Erstreckung des Freiheitsschutzes nicht nur auf den Werk-, sondern ebenso den Wirkbereich statuieren, schließen hier an (vgl. BVerfGE 30, 173 [189 f.]). Sie verdeutlichen zugleich aber noch einmal, dass aus Sicht des Gerichts zwischen beiden Bereichen eine wesentliche Differenz besteht.

Dass dieser sogenannte ‚materiale‘ Kunstbegriff nicht ausreicht, um dem Phänomen in all seinen möglichen Facetten wirklich gerecht zu werden, dass also die zitierte Bestimmung modifiziert und ergänzt werden muss, ist eine Erkenntnis, zu der das Bundesverfassungsgericht offensichtlich rasch selbst gelangt ist und der es in seiner weiteren Rechtsprechung Rechnung zu tragen versucht. Markant ist vor allem die nächste Leitentscheidung aus dem Juli 1984 (vgl. BVerfGE 67, 213). Ihr lag eine Auseinandersetzung um ein vor allem im Bundestagswahlkampf 1980 mehrfach aufgeführtes politisches Straßentheater zugrunde, das hauptsächlich aus einer szenisch eingebetteten Rezitation von Bertolt Brechts Gedicht Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy aus dem Jahr 1947 bestand. Brechts Gedicht lehnte sich dabei seinerseits, worauf das Verfassungsgericht gleich im zweiten Satz seiner Entscheidungsbegründung hinweist,

an das 1819/20 entstandene Gedicht von Percy Bysshe Shelley ‚The Masque of Anarchy. Written on the Occasion of the Massacre in Manchester‘ [an], welches eine Reaktion Shelley’s [sic] auf die blutige Niederwerfung des Arbeiteraufstandes von Peterloo darstellte (BVerfGE 67, 213 [214]).

In seinem im Weiteren unternommenen Versuch, den Begriff genauer zu bestimmen, setzt das Gericht zunächst zweimal negativ an, um dann in einem dritten Argumentationsschritt dem zuvor entfalteten negativen Ansatz eine positive Deutung zu geben.

Dabei zielt der erste negative Hinweis auf die eigene frühere Judikatur in Gestalt der Mephisto-Entscheidung. Das Gericht schreibt, sich scheinbar selbst paraphrasierend:

Der Lebensbereich „Kunst“ ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Wie weit danach die Kunstfreiheitsgarantie der Verfassung reicht und was sie im einzelnen bedeutet, läßt sich nicht durch einen für alle Äußerungsformen künstlerischer Betätigung und für alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen allgemeinen Begriff umschreiben (vgl. BVerfGE a. a. O. [= 30, 173; IA] [183f.]) (BVerfGE 67, 213 [224]).

Dieser Hinweis ist allerdings in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen stimmt, ganz formal betrachtet, die Seitenangabe nicht. Die angeführte Stelle enthält keinerlei derartige Aussage. Zum anderen, inhaltlich ansetzend und deutlich interessanter, findet sich einige Seiten später in der Mephisto-Entscheidung zwar in der Tat eine auf den ersten Blick ähnlich klingende Aussage. Genauer betrachtet geht aber auch dieser Verweis zumindest größtenteils ins Leere, weil auch jene Passage die nun getroffene Aussage keineswegs bereits vorwegnimmt. Gerade die Rigorosität der allgemeinen Verneinung fehlt damals vielmehr; sie wird nur auf praktische, demnach gerade nicht strukturell unüberwindliche Schwierigkeiten bezogen. Der Verweis fügt sich damit ein in einen allgemeinen, als kreativ zu bezeichnenden Umgang mit der eigenen früheren Rechtsprechung, für den man auch den Ausdruck „fingierte Präjudizien“ verwenden könnte (vgl. Augsberg 2021a, 74). Insoweit ist die jüngere Esra-Entscheidung präziser, denn sie nennt, neben den einschlägigen Ausführungen zum Anachronistischen Zug, nicht nur die tatsächliche Fundstelle in der Mephisto-Entscheidung, sondern bestimmt deren Inhalt unspezifischer und damit zutreffender lediglich hinsichtlich der „vom Bundesverfassungsgericht wiederholt hervorgehobenen Schwierigkeit, den Begriff der Kunst abschließend zu definieren (vgl. BVerfGE 30, 173 [188 f.]; 67, 213 [224 ff.])“ (BVerfGE 119, 1 [20]). In der ersten Leitentscheidung hieß es wörtlich:

Wie weit die Verfassungsgarantie der Kunstfreiheit reicht und was sie im einzelnen bedeutet, läßt sich ohne tieferes Eingehen auf die sehr verschiedenen Äußerungsformen künstlerischer Betätigung in einer für alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen Weise nicht erschöpfend darstellen (BVerfGE 30, 173 [189]).

Der zweite negative Ansatz geht über die Binnenperspektive der eigenen Judikatur hinaus. Er nimmt ausdrücklich die kunsttheoretischen Debatten in den Blick, entnimmt auch und gerade diesen aber wiederum vorwiegend nur einen Negativbefund:

Den bisherigen Versuchen der Kunsttheorie (einschließlich der Reflexionen ausübender Künstler über ihr Tun), sich über ihren Gegenstand klar zu werden, läßt sich keine zureichende Bestimmung entnehmen, so daß sich nicht an einen gefestigten Begriff der Kunst im außerrechtlichen Bereich anknüpfen läßt (BVerfGE 67, 213 [224]).

Dann jedoch erfolgt jene schon genannte Wendung innerhalb der Argumentation des Gerichts, die das bislang vorwiegend als Defizit erscheinende Phänomen in ein positives Charakteristikum umdeutet. Unbestimmbarkeit im Sinne der Unmöglichkeit, ein festes Wesen der Kunst zu definieren, soll danach nun das (als solches nun aber nicht länger bezeichnete, vielmehr als ‚Eigenheiten‘ apostrophierte) Wesen der Kunst selbst ausmachen.

Daß in der Kunsttheorie jeglicher Konsens über objektive Maßstäbe fehlt, hängt allerdings auch mit einem besonderen Merkmal des Kunstlebens zusammen: die „Avantgarde“ zielt gerade darauf ab, die Grenzen der Kunst zu erweitern. Dies und ein weitverbreitetes Mißtrauen von Künstlern und Kunsttheoretikern gegen starre Formen und strenge Konventionen sind Eigenheiten des Lebensbereichs Kunst, welche zu respektieren sind und bereits darauf hindeuten, daß nur ein weiter Kunstbegriff zu angemessenen Lösungen führen kann (BVerfGE 67, 213 [225]).

Daraus folgt für das Gericht zunächst die (später von Esra zitierte) Unmöglichkeit, Kunst verbindlich zu definieren. Dabei darf die Betrachtung allerdings nicht stehenbleiben. Ganz im Sinn des eingangs erläuterten Dilemmas heißt es vielmehr:

Die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, entbindet indessen nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Freiheit des Lebensbereichs Kunst zu schützen, also bei der konkreten Rechtsanwendung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorliegen (BVerfGE 67, 213 [225]).

Wie dieser Pflicht genügt werden kann, deutet ein Satz an, der an die zunächst erfolgte Zurückweisung einzelner Bestimmungsversuche in der rechtswissenschaftlichen Literatur anschließt. Obwohl alle Ansätze für sich genommen defizitär sein sollen, ermöglicht danach doch zumindest ihre Kombination eine hinreichend verlässliche Grundlage, um in diesem notorisch instabilen Bereich dennoch ihrerseits tragfähige Entscheidungen treffen zu können:

Immerhin enthalten diese Bemühungen tragfähige Gesichtspunkte, die in ihrer Gesamtheit im konkreten Einzelfall eine Entscheidung ermöglichen, ob ein Sachverhalt in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fällt (BVerfGE 67, 213 [226]).

Die Aufgabe besteht also nicht mehr nur in der Formulierung einer einzelnen Begriffsbestimmung. Vielmehr sind offenbar mehrere unterschiedliche Ansätze zu verwenden, um aus der sich so ergebenden Gesamtschau dann ein hinreichend überzeugendes Bild zu erlangen.

Die so bestimmte Aufgabe dekliniert die Entscheidung zum Anachronistischen Zug dann durch. Das Verfassungsgericht greift zunächst (mit nun zutreffendem Selbstzitat) die eigene frühere Definition auf:

Das Bundesverfassungsgericht hat als wesentlich für die künstlerische Betätigung „die freie schöpferische Gestaltung“ betont, „in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“. Alle künstlerische Tätigkeit sei ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen seien. Beim künstlerischen Schaffen wirkten Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es sei primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (BVerfGE 30, 173 [189]) (BVerfGE 67, 213 [226]).

Das Gericht erläutert in einem weiteren Schritt sodann, inwiefern diese Position auch in der Literatur Unterstützung finde, und subsumiert schließlich, dass das in Frage stehende Gedicht und seine theatrale Inszenierung dem so bestimmten Maßstab gerecht werden:

Den so umschriebenen Anforderungen genügt das Erscheinungsbild des ‚Anachronistischen Zuges‘. Schöpferische Elemente sind nicht nur in dem Gedicht Brechts, sondern auch in der Art seiner bildhaften Umsetzung zu sehen. Das Gedicht und seine Darbietung können als hinreichend „geformt“ angesehen werden. Allgemeine und persönliche historische Erfahrungen sollen – bezogen auf die aktuelle politische Situation – ausgedrückt und zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden (BVerfGE 67, 213 [226]).

Anders als nach der Logik von Mephisto zu erwarten, bleibt das Verfassungsgericht bei dieser Bestimmung aber nicht stehen. Es stellt diesem Ansatz vielmehr einen zweiten Kunstbegriff an die Seite, den das Gericht selbst als einen ‚eher formalen‘ bezeichnet (und damit implizit von dem offenbar stärker materialen ersten Ansatz abgrenzt). Bemerkenswerterweise wird dieser Begriff allerdings nicht eigens erläutert, sondern nur zitiert und durch die Referenzierung einschlägiger Literatur etwas näher bestimmt. Namentlich eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von materialem und formalem Ansatz fehlt. Entscheidend und ausreichend ist für die Karlsruher Richter offenbar, dass auch hier die Subsumtion zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Dementsprechend heißt es:

Sieht man das Wesentliche eines Kunstwerkes darin, daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind, legt man also einen eher formalen Kunstbegriff zugrunde, der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft […], so kann dem ‚Anachronistischen Zug‘ die Kunstwerkeigenschaft ebenfalls nicht abgesprochen werden. Das seiner Aufführung zugrunde liegende Gedicht ist ebenso eine der klassischen Formen künstlerischer Äußerung wie die Darbietung in Form des Theaters, die von Schauspielern (mit Masken und Requisiten) aufgrund einer konkreten Regie in Szene gesetzt wurde. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß eine spezielle Form des „Straßentheaters“ dargeboten wurde; fest installierten Bühnen gebührt kein Vorrang gegenüber Wanderbühnen, einer Theaterform mit langer Tradition (BVerfGE 67, 213 [226 f.]).

Schließlich führt das Gericht noch einen dritten Kunstbegriff an. Es lässt diesen dabei erneut in seinen inhaltlichen Besonderheiten weitgehend offen und unbestimmt, obwohl es zugleich, wie in einem selbstironischen Kommentar zum eigenen Vorgehen, Offenheit und Unbestimmtheit als Spezifikum der Kunst erklärt. Lediglich zwei jeweils relativ knappe, hintereinander geschaltete Konsekutivsätze sollen ausreichen, um dieses Spezifikum zu markieren. In äußerst knapper Form wird eine ‚unerschöpfliche‘ Fülle der Deutbarkeit thematisiert. Überhaupt nicht angesprochen, das heißt noch nicht einmal wenigstens im Ansatz abstrakt erörtert, werden die Vor- und Nachteile der drei unterschiedlichen Konzepte und ihr (ggf. etwa: kompensatorisches oder konkurrierendes) Verhältnis zueinander. Stattdessen geht die Argumentation von der knappen allgemeinen Benennung des dritten Kunstbegriffs erneut unmittelbar zu seiner Anwendung auf den konkreten Fall über.

Auch wenn man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin sieht, daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt […], ist dieses Merkmal beim ‚Anachronistischen Zug‘ erfüllt. Schon die beschriebene, besondere Form des Straßentheaters führt dazu, daß Distanz zum Zuschauer hervorgerufen wird, er sich beim Betrachten klar darüber ist, daß ihm eben „Theater“ vorgespielt wird. Das an sich schon vielfältig interpretationsfähige Gedicht wird durch seine Aktualisierung und die Anspielung auf zeitgenössische Personen und Ereignisse in seiner Zielrichtung zwar eindeutiger, bleibt in seiner Aussage aber nach wie vor vieldeutig, zumal diese Aussage nicht unmittelbar, sondern wiederum mittelbar aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist (beispielsweise plakative Texte, Puppen, verkleidete Personen, Personengruppen) (BVerfGE 67, 213 [227]).

Das Bundesverfassungsgericht folgt demnach in seiner Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff jener berühmten, möglicherweise selbst ohnehin bereits wesentlich juridischen (demgemäß immerhin auch ausdrücklich als ‚Plaidoyer‘ bezeichneten) Kessel-Logik, die Freud in seiner Traumdeutung geschildert hat (vgl. Freud 1973, 125): Nicht trotz der möglichen Widersprüche und Unvereinbarkeiten zwischen den verschiedenen skizzierten Konzeptionen, sondern wegen dieser erscheint ein Verfahren vielversprechend, das diese Konzeptionen nicht kunstvoll aufeinander bezieht und miteinander verknüpft, sondern das sie einfach hintereinander auflistet und lediglich auf diese rein äußerliche Weise zusammenleimt. Die zugrundeliegende Rationalität lautete demnach, dass, wenn die eine Begründung nicht trägt, dann hoffentlich doch die andere, der ersten schließlich in mancherlei Hinsicht geradezu entgegengesetzte weiterhelfen möge – oder zumindest die dritte, die ihrerseits sowohl zur ersten als auch zur zweiten quersteht.

4 Analyse- und Definitionsversuche

Eine genauere Analyse der Rechtsprechung könnte hier ansetzen und versuchen, jene vom Gericht selbst nicht explizit vorgenommene Erörterung der einzelnen Bestimmungsansätze gewissermaßen nachzuliefern (vgl. entsprechend bereits etwa von Arnauld 2017, Rn. 42 ff.).

Bei einer solchen Analyse ginge es weniger darum, den wechselweisen Ergänzungscharakter in dem Sinne zu betonen, dass jeweils die Defizite des einen durch den anderen Begriff kompensiert werden sollen. Eine derartige Betrachtung ist natürlich möglich. In dieser Argumentationslinie ließe sich etwa der formale Kunstbegriff als sinnvolle Ergänzung des materialen ansetzen, weil er nicht nur dessen genieästhetisches Vorurteil nicht teilt, sondern darüber hinaus seine ersichtlich äußerst vage und weiche Formulierung um härtere Kriterien ergänzt. Denn die Messlatte der traditionellen Kunstformen, etwa die Zuordnung als Gemälde, Skulptur, Gedicht, Sinfonie etc., bietet offenkundig bewährte und relativ trennscharfe Kategorien, die sich von der diffuseren Rede des ‚im Medium einer bestimmten Formensprache‘ offenbar wohltuend deutlich absetzen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist somit eine vergleichsweise klare und einfache Grenzziehung möglich, die eindeutig festschreibt, was Kunst ist und was nicht. Mit diesem Vorteil gehen dann aber sogleich, so würde die Ergänzungsanalyse sich beeilen hinzuzufügen, auch gravierende Nachteile einher. Zu fragen wäre insbesondere, wie vor dem Hintergrund einer derartigen der Kunsttradition entnommenen Kriteriologie mit neuartigen Kunstformen – etwa: ‚happenings‘ oder ‚land art‘ – umzugehen ist, die nicht in bekannte Typologie passen? Offenbar scheitert der Ansatz an jener kurz zuvor vom Verfassungsgericht gewissermaßen als Zeugin aufgerufenen, buchstäblich herbeizitierten, nämlich in An- und Abführungszeichen gesetzten ‚Avantgarde‘, die es darauf anlegen soll, ‚die Grenzen der Kunst zu erweitern‘, also den bis dahin tradierten Formenkanon zu sprengen. Der sogenannte ‚formale‘ Kunstbegriff legt demnach nicht nur Kunst auf einen historischen, letztlich kontingenten Formenkanon fest. In dieser und als diese Festlegung bietet er damit zugleich eine eigentümlich selbstwidersprüchliche Kunstdefinition, die sich eben jener kontinuierlichen Fortentwicklung verschließt, die selbst doch erst den jetzt zur Schließung in Anspruch genommenen Formenkanon hervorgebracht hat.

Um diese Schließung wiederum zu korrigieren, das heißt zumindest ihre problematischen Effekte zu vermeiden, wäre dieser funktionalen Sichtweise folgend der danach treffenderweise so genannte ‚offene‘, das heißt nicht allein selbst unabgeschlossene, sondern als Öffnung konzipierte dritte Kunstbegriff gefordert. Offen ist die Kunst demnach deswegen, weil sie (sich) öffnet, das heißt immer wieder neue, aus dem Bisherigen nicht ohne weiteres folgende Neuanfänge schafft.

Eine etwas anders akzentuierte Beschreibung der wechselweisen Komplementierung und Supplementierung der drei genannten Kunstbegriffe könnte demgegenüber darauf verweisen, dass bei den drei Konzepten jeweils gewissermaßen unterschiedliche Dimensionen der Kunst im Zentrum stehen. Während der materiale Kunstbegriff den Künstler und dessen inneres Empfinden, dem dann ein äußerlicher Ausdruck verliehen wird, zentral setzt, steht für den formalen Zugriff das Werk selbst im Mittelpunkt. Für seine typologische Erfassung mag eine Zuordnung des Werks durch den Künstler – etwa die Bezeichnung als ‚Roman‘, wie im Fall der Auseinandersetzung um das Buch Esra von Maxim Biller (vgl. BVerfGE 119, 1; zu dem dort verhandelten Problem aus literaturwissenschaftlicher Sicht auch Benjamin Gittel und Tilmann Köppe, in diesem Band) – zwar eine wichtige indizielle Bedeutung besitzen, die zugleich aber weder zwingend noch erschöpfend sein muss. Der offene Kunstbegriff vollzieht in dieser Umakzentuierung der Analyse dann noch einmal einen weiteren Perspektivwechsel: Er fokussiert statt des Werks und dessen Schöpfers die Rezipienten des Werks. Die Pointe dieses Ansatzes liegt somit nicht, wie teilweise erklärt wird, darin, dass

er auch die innere Rechtfertigung für die vorbehaltlose Gewährleistung der Kunstfreiheit erkennen lässt: Weil die Kunst vielfältig interpretierbar ist, entbehrt sie weithin der eindeutigen Aussage- und Stoßrichtung, die sie mit anderen Rechten, Gütern und Interessen in Konflikt bringen und einzuschränken verlangen würde (Kingreen/Poscher 2020, 212).

Eine solche Erklärung tendiert dazu, die vom Bundesverfassungsgericht genannte irreduzible Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten mit einer Beliebigkeit und damit gar weitgehenden Irrelevanz jeder einzelnen konkreten Aussage zu assoziieren. In einer alternativen Deutung der vielfältigen Deutungsoptionen geht es dagegen weniger um die Deutungen an sich als um deren Subjekt: Der offene Kunstbegriff delegiert danach die Entscheidung über die Deutung der einzelnen Kunstwerke und vorweg bereits die Entscheidung darüber, was überhaupt als ein in diesem Sinn interpretationsoffenes Werk anerkannt wird, an diejenigen, die jene Deutungen vornehmen, also sich mit den Kunstwerken fortwährend auseinandersetzen: also an die Kunstszene (vgl. von Arnauld 2017, Rn. 63 ff.).

Das darf dann allerdings nicht besagen, dass die Frage der Kunstqualität dem Publikumsgeschmack unterzuordnen ist. Im Gegenteil: Die Kunst muss, wie Helmut Ridder schon mehr als zwei Jahrzehnte vor der Entscheidung zum Anachronistischen Zug prägnant feststellte, „vor dem soziologistischen Missverständnis ihrer Beziehungen zum Publikum bewahrt bleiben“ (Ridder 2019, 199). Die Deutungsoffenheit bezieht sich auch auf die entsprechenden Auseinandersetzungen um die Frage, ob etwas schon oder noch Kunst genannt werden kann. Für die Einordnung als Kunst spielt dabei das Ergebnis der Debatte, gar im Sinn einer Art Mehrheitsentscheids, keine Rolle. Um auch den „Schutz von Fortschritt und Experiment“ (Ridder 2019, 199) zu gewährleisten, muss vielmehr der Befund ausreichen, dass solche Debatten überhaupt stattfinden, das heißt ernsthaft geführt werden.

5 „Selbstverständnis als Rechtskriterium“

Interessant ist die skizzierte Perspektivverschiebung allerdings auch deswegen, weil in der Delegation der Begriffsbestimmungskompetenz für ein spezielles gesellschaftliches Feld an dieses Feld selbst die deutlichste Zurückweisung eines etwaigen staatlichen Kunstrichtertums liegt. Das entsprechende Verfahren, „Selbstverständnis als Rechtskriterium“ (vgl. Morlok 1993; ferner bereits Isensee 1980) anzusetzen, ist auch aus anderen Bereichen der Grundrechtsdogmatik bekannt, namentlich bei der Religions- und der Wissenschaftsfreiheit. In all diesen Bereichen geht es darum, die Reflexivität des fraglichen Gesellschaftsbereichs zu beachten, indem auch die jeweils entsprechende auf diesen Bereich bezogene Grundrechtsnorm reflexiv verstanden wird – oder genauer gesagt doppelt reflexiv, weil in der eigenen Selbstbezüglichkeit die andere Selbstbezüglichkeit anerkannt und als Grenze des eigenen Verfahrens eingebaut werden muss.

Darin liegt zugleich eine stärkere Akzentuierung der Kunstfreiheit nicht nur als individuelles Recht der im ‚Werk-‘ oder ‚Wirkbereich‘ der Kunst tätigen Individuen, also der Künstler, Galeristen etc., sondern auch als Eigenrecht jenes Feldes selbst. Immerhin spricht schon der Wortlaut der Norm nicht von den individuellen Akteuren, sondern nur von der Kunst als solcher. Das könnte im Sinne einer „inpersonalen“ Lesart der Grundrechte verstanden werden (vgl. Ridder 1975, 86 ff.; speziell zur Kunstfreiheit Ridder 2019, 195 f.), die ihrerseits als Gegenbewegung zur Tendenz einer immer stärker hervortretenden „personalen Wende des Individualismus“ auch im Bereich der Grundrechte figurierte (vgl. Vesting 2018, 165 ff., mit Bezug auf Ehrenberg 2011, 15).

Immerhin ist es bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht seine Ausführungen zur Kunstfreiheit in der ersten Leitentscheidung mit einem Satz eröffnet, der in die Richtung einer entsprechenden, dem Wortlaut Rechnung tragenden, stärker „institutionellen“ (vgl. Ridder 2019,  195 f.) oder systemisch konzipierten Grundrechtskonzeption deutet. Ausdrücklich stellt das Gericht den ‚Bereich Kunst‘ vor diejenigen, die ‚in diesem Bereich tätig‘ sind und demnach nur von ihm her (und nicht umgekehrt: er von ihnen) ihre Besonderheit erlangen.

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erklärt die Kunst neben der Wissenschaft, Forschung und Lehre für frei. Mit dieser Freiheitsverbürgung enthält Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nach Wortlaut und Sinn zunächst eine objektive, das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Bestimmung jedem, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht (BVerfGE 30, 173 [188]).

Die Entscheidung zum Anachronistischen Zug wiederholt diese Grundaussage zwar der Sache nach, verkürzt sie dabei jedoch bereits stark und leitet damit deutlich rascher zum Aspekt des Individualschutzes über:

Diese Freiheitsverbürgung enthält nach Wortlaut und Sinn zunächst eine objektive, das Verhältnis des Lebensbereichs „Kunst“ zum Staat regelnde Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Bestimmung jedermann, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht (BVerfGE 67, 213 [224]).

In jüngeren Entscheidungen wie Esra entfällt der früher so prominent platzierte Hinweis auf den Wortlaut der Norm und die daran anschließende Eigenart des ‚Lebensbereichs Kunst‘ ganz. Die inhaltliche Erläuterung wird vielmehr in unmittelbar personaler Attribution durch die Rede vom „Grundrecht der Kunstfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG“ (BVerfGE 119, 1 [20]) eröffnet. Eine bestimmte Lesart der Kunstdefinitionen, die nicht nur auf die letzte, in besonderem Maße den ‚Bereich Kunst‘ wieder ins Spiel bringende Definition abstellt, sondern für dessen Rekonstruktion auf die Notwendigkeit der Kombination aller drei Formeln verweist, könnte dieser Tendenz wieder etwas entgegenarbeiten, um stattdessen wieder stärker auf die ‚institutionelle‘ oder systemische Dimension zu verweisen (vgl. Augsberg 2021b, 132 f.).

6 Fazit

Der Befund, dass die ‚offene‘ Bestimmung der Kunst die Aufgabe der Definition dessen, was Kunst heißen kann, weitgehend an den Kunstbereich abgibt, lässt sich schließlich auch auf die eingangs formulierte Frage nach der Vergegenständlichung der Kunst und ihren möglichen Grenzen beziehen. Die Verlagerung der Bestimmung, die nicht nur in diesem Sinn eine Vervielfältigung der einzubeziehenden Stimmen bildet, sondern diese Vielstimmigkeit gewissermaßen zum paradoxen, nämlich sich selbst immer wieder unterlaufenden Prinzip erklärt, bildet demzufolge ein ebenso eigentümlich gegen sich selbst und das kryptojuridische Verfahren der Kategorisierung Einspruch einlegendes, also wiederum in sich widersprüchliches Vorgehen. Eben dadurch vollzieht es eine Bewegung, die in ihre Vergegenständlichung zugleich mit einbezieht, dass das zu Vergegenständlichende gegen diese Festlegung einen unüberwindbaren Widerstand mobilisiert und somit niemals zum fixen Gegenstand gerinnen kann. Die Bestimmung erfolgt demnach als eine Bewegung, die den eigenen Prozess subvertiert, indem sie die Kunst ver-gegenständlicht.