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1 Zu den allgemeinen Momenten des Begriffs der ‚Materialität‘

Die Frage, in welchem Verhältnis Recht und Literatur zueinander stehen bzw. in welchen Formen sie zueinander in Beziehung gesetzt werden können oder gar müssen, lässt sich auf unterschiedliche Weise beantworten.Footnote 1 Eine der grundlegenden Korrelationen besteht zweifellos darin, dass sich das Recht die Literatur und die Literatur das Recht jeweils zu ihrem Gegenstand machen. Dieses ebenso spezifische wie grundlegende Korrelationsverhältnis konstituiert Prozesse gegenseitiger Vergegenständlichung, die man zunächst mit dem beide übergreifenden Begriff der ‚Materialität‘ fassen kann, die die höchst unterschiedlichen Verobjektivierungen, nämlich die rechtliche Vergegenständlichung der Literatur und die literarische Vergegenständlichung des Rechts, kategorial zu fassen sucht.Footnote 2 Da die Verrechtlichung der Literatur und die Literarisierung des Rechts zwei grundsätzlich unterschiedene Vorgänge sind, haben deren Gemeinsamkeiten im Rahmen der Formierung eines allgemeinen Begriffs der ‚Materialität‘ vor allem formalen Charakter.

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Bestimmung dieser vergegenständlichenden Korrelation ist entschieden zu berücksichtigen, dass ihr weder in den Rechts- noch in den Literaturwissenschaften der Status einer Notwendigkeit zukommt: Weder nämlich ist die Literatur oder Dichtung im Begriff und in der Idee des RechtsFootnote 3 analytisch enthalten (wie etwa der Begriff der Freiheit), noch gar das Recht oder Gesetze in dem Begriff und der Idee der Literatur (wie etwa die Bindung an die Imagination bzw. Darstellung von an sinnliche Wahrnehmung gebundener Sachverhalte).Footnote 4 Die Korrelation von Recht und Literatur im Hinblick auf die Prozesse ihrer gegenseitigen Vergegenständlichung haben folglich in und für beide Felder keinen apriorischen, sondern einen aposteriorisch-empirischen Charakter, d. h. es gibt zumeist historische und/oder kulturelle Bedingungsfaktoren dafür, dass sich Literatur Rechtsfragen und das Recht literarische Texte zum Gegenstand machen. Bei allem notwendigen Interesse der Rechtswissenschaften an einer RechtsdogmatikFootnote 5 und der Literaturwissenschaft an einer Literaturtheorie,Footnote 6 die kulturhistorisch indifferent sind und – für eine mögliche Gesetzgebung und Rechtsprechung – auch sein müssen, ist doch die beiderseitige Vergegenständlichung nicht ohne geschichtliche und/oder kulturelle Bedingungsfaktoren zu denken und zu realisieren.

Dieser – beide an sich höchst unterschiedliche – Korrelationen betreffende, übergreifende Sachverhalt lässt sich an folgenden Beispielen erläutern: Die in beiden Fällen entschieden voneinander abweichenden rechtlichen Problemlagen der Romane Mephisto von Klaus MannFootnote 7 und Esra von Maxim BillerFootnote 8 konnten allererst zu Gegenständen der Rechtsprechung werden,Footnote 9 nachdem ab den 1950er Jahren sich allmählich ein allgemeines Persönlichkeitsrecht entwickelt hatte.Footnote 10 Noch in den 1920er Jahren konnte sich Gerhart Hauptmann über die Karikatur seiner Person in Thomas Manns Der Zauberberg nur moralisch entrüsten; immerhin wird er als ebenso trinkfester wie impotenter Kaufmann Mijnheer Peeperkorn vorgeführt, was durchaus – und auch für Hauptmann – erkennbar war. Bekanntermaßen schrieb er an den Rand seines Zauberberg-Exemplars: „Dieses idiotische Schwein soll Ähnlichkeit mit meiner Person haben.“Footnote 11 Es gab aber für Hauptmann keine rechtlichen Voraussetzungen, sich gerichtlich gegen diese Darstellung zu wehren – und so wären weder er noch Thomas Mann auch nur auf den Gedanken verfallen, die Figur des Mijnheer Peeperkorn bzw. Manns Roman als ganzer könne Gegenstand des Rechts werden.

Auf der anderen Seite werden die unterschiedlichen Dimensionen des Rechts ebenfalls nur unter bestimmten historischen Bedingungen zum Gegenstand der Literatur: So wird die Kindstötung und deren strafrechtliche Verfolgung im späten 18. Jahrhundert bei Autoren der Spätaufklärung, des Sturm und Drang und noch der Klassik in anschaulicher und – nicht nur im Falle des goetheschen Gretchens – bedrückender Weise zum Gegenstand der zeitgenössisch avanciertesten Literatur;Footnote 12 dabei bestand einer der entscheidenden Gründe für das literarische Eingreifen in die soziopolitischen und strafrechtlichen Debatten der Zeit darin, dass die drastische Bestrafung, die noch gemäß der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. erfolgte, für unangemessen erachtet wurde und dieses Missverhältnis besonders anschaulich in der Dichtung darzustellen und anzuklagen war.Footnote 13 Im Hintergrund dieser Auffassungsänderung stand zum einen die allgemeine Rationalisierung, Humanisierung und Säkularisierung des Strafrechts, und zwar europaweit,Footnote 14 und zum anderen die durch die Entstehung der empirischen Psychologie zunehmende Berücksichtigung der subjektiven Motivlagen der Täterinnen, deren Ängste vor sozialer Ächtung und damit der Existenzbedrohung ernst genommen wurden.Footnote 15 Schon Jakob Michael Reinhold Lenz, Heinrich Leopold Wagner und Johann Wolfgang Goethe haben diese Ängste und deren Bedeutung für den rechtlichen und soziopolitischen Umgang mit dem Kindsmord in bedrückender Weise in Szene gesetzt.Footnote 16

Diese historische Bedingtheit der Vergegenständlichung des Rechts durch die Literatur zeigt sich noch im 21. Jahrhundert: Ferdinand von Schirachs ebenso populäres wie populistisches Theaterstück Terror war überhaupt nur möglich geworden, d. h. in seiner Handlungslogik und seinem dramatischen Konflikt allererst verständlich,Footnote 17 weil der im Jahre 2007 amtierende Verteidigungsminister Franz Josef Jung den in der Rechtswissenschaft höchst umstrittenen Grundsatz des ‚übergesetzlichen Notstands‘ für die Terrorbekämpfung in Anschlag gebracht hatte.Footnote 18 Kurz: Die Historizität ist der gegenseitigen Vergegenständlichung von Recht und Literatur nicht äußerlich und folglich für beide Seiten in ihrer Betrachtung je und je zu berücksichtigen.

Neben dieser historischen Bedingung, die für beide Seiten der Vergegenständlichung gilt, ohne allerdings einer historistischen Beliebigkeit anheim zu fallen, muss eine weitere Gemeinsamkeit beider Verobjektivierungsformen berücksichtigt werden: ihre inhaltliche Indifferenz bzw. ihr unbeschränkter Geltungsumfang. Denn das Recht kann sich – legt man hier Kelsens Verständnis aus der Reinen Rechtslehre zugrunde – potentiell ‚jedes menschliche Verhalten‘ zum Gegenstand machen:

Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, das heißt: weil ihr Inhalt aus dem einer vorausgesetzten Grundnorm im Wege einer logischen Schlußfolgerung abgeleitet werden kann, sondern darum, weil sie in einer bestimmten, und zwar in letzter Linie in einer von einer vorausgesetzten Grundnorm bestimmten Weise erzeugt ist. […] Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das also solches kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.Footnote 19

Man muss keineswegs Vertreter einer transzendenten Naturrechtslehre sein, um dieses zentrale Dogma des Rechtspositivismus von der gehaltlichen Indifferenz allen Rechts nicht zu teilenFootnote 20 – und kann doch der These von der inhaltlichen Unbegrenztheit des Rechts im Hinblick auf seine Stellung in den Vorgängen gegenseitiger Vergegenständlichung zwischen Recht und Literatur heuristischen Wert bemessen: Bezieht man nämlich das Recht mit Kant auf freie äußere menschliche Handlungen,Footnote 21 die allein durch es realisiert und restringiert werden können und dürfen, so kann man zumindest hinsichtlich der Literatur sagen, dass sich das Recht alle möglichen Bereiche des kulturellen Reflexionshandelns der Literatur zum Gegenstand machen kann, und zwar schon deshalb, weil dieses ‚Handeln‘ des freien Bewusstseins ohne Einschränkung bedarf. Das Recht kann sich also potentiell alle Bereiche der Literatur zu seinem Gegenstand machen, wenngleich auch in diesem Zusammenhang spezifische Grenzen zu berücksichtigen sind, auf die noch zurückzukommen sein wird.

Auf der anderen Seite ist auch Literatur inhaltlich indifferent, weil sie sich einschränkungslos ‚Alles, was ist‘Footnote 22 zum Gegenstand machen kann, wobei sie nicht einmal – wie das Recht – auf menschliche Handlungen beschränkt werden muss, weil sie auch belebte und unbelebte Dinge zum Gegenstand wählen kann; man denke nur an Dinggedichte, wie Mörikes berühmtes Gedicht Auf eine Lampe. Kurz: Die Literatur ist als poetische ‚Reflexion des menschlichen Geistes auf sich‘Footnote 23 inhaltlich ebenfalls unbegrenzt und kann sich daher potentiell auch alle Felder des Rechts und der Gesetze zum Gegenstand machen, und dies in jeder möglichen Weise. So kann die Literatur auch einen allgemeinen Rechtsskeptizismus gestalten – und das höchst erfolgreich –, der darauf abzielt, das Recht als hilfloses oder repressives oder gar ausschließlich Partikularinteressen schützendes und so ungerechtes Instrument zu kritisieren.Footnote 24 So hielt schon Voltaire das Recht für ein gegenüber den gesellschaftlichen Konfliktlagen hilfloses Mittel,Footnote 25 Franz Kafka jedes Gesetz für ein ausschließlich repressives InstrumentFootnote 26 und Bertolt Brecht die bürgerliche Rechtsordnung für ein gewaltsames Werkzeug des Kapitals zur Aufrechterhaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln.Footnote 27

Anders als das Recht, dem eine grundlegende Verwerfung der Literatur überhaupt nur im Rahmen utopischer Staatskonzeptionen möglich ist – so bei PlatonFootnote 28 –, kann die Literatur Grund und Zweck des Rechts und nicht allein einzelne seiner Aspekte in Frage stellen. Die grundsätzlich zu postulierende Universalität der Vergegenständlichungsmöglichkeiten von Recht und Literatur scheinen also hinsichtlich der gegenseitigen Korrelation zu einem weiteren Umfang bei der Literatur als beim Recht zu führen.

Nimmt man gleichwohl den Begriff der ‚Materialität‘ als Kategorie für die gegenseitige Vergegenständlichung von Recht und Literatur, dann ist beiden Korrelationen gemeinsam:

  1. 1.

    ihre potentielle gehaltliche Universalität sowie

  2. 2.

    ihre aktuale historische Relativität bzw. Bedingtheit.

Der Schein derzeitig einmal mehr beliebter Ambiguität oder Paradoxie der Momente Universalität und Relativität löst sich genau dann auf, berücksichtigt man nur, dass hiermit verschiedene formale Aspekte des Materialitätsbegriffs erfasst werden.

Auf dieser – beide Relationen betreffenden – Grundlage ergeben sich allerdings zugleich Eingrenzungs- und Ausweitungserfordernisse auf unterschiedlichen Ebenen, die für die jeweiligen Korrelationen zu gelten haben: Diese Spezifizierungen sind nur unter Berücksichtigung der qualitativen Differenzen der beiden Relationen zu erfassen, denn es ist – wie angedeutet – ein erheblicher Unterschied, ob sich das Recht die Literatur oder die Literatur das Recht zum Gegenstand macht. Diese Unterschiede gilt es im Folgenden zu skizzieren.

2 Literatur als Gegenstand des Rechts

Betrachtet man zunächst die eine Seite der ‚Materialität‘, nämlich die Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht, so ergeben sich gegenüber dem allgemeinen, beide Seiten übergreifenden Begriff zum einen Einschränkungen, zum anderen aber auch Ausweitungen der oben entwickelten allgemeinen Bestimmungen.

2.1 Eingrenzung – Zur Rechtsförmigkeit der Literatur

Indem Recht sich Literatur zum Gegenstand macht, ‚wählt‘ es sich aus dem Gesamtumfang rechtlich relevanten menschlichen Verhaltens einen spezifischen Teilbereich aus – hier kulturelles Reflexionshandeln und dessen rechtliche Bedingungen und Konsequenzen – in den westlichen Gesellschaften.Footnote 29 Dabei macht sich das Recht nicht den gesamten Umfang des Phänomens Literatur bzw. eines literarischen Erzeugnisses, sondern lediglich deren bzw. dessen rechtlich relevante Bereiche zum Gegenstand. So ist die literarische Güte von Manns oder Billers Prosa – wie die jeder anderen DichtungFootnote 30 – rechtlich weitgehend irrelevant und daher kann sie nicht zum Gegenstand des Rechts werden.Footnote 31 Was aber sind die rechtsförmigen Bereiche der Dichtung?

Bevor zur Beantwortung dieser Frage überzugehen ist, muss noch ein anderer Sachverhalt erläutert werden: Erkennbar ist die Rede von der ‚Auswahl des Rechts‘ metaphorischer Natur. Doch nicht einmal für die tatsächlich handelnden Akteure des Rechts in Gesetzgebung und Rechtsprechung oder deren wissenschaftlicher Bearbeitung gilt diese aktivische Form der ‚Auswahl‘. Denn Juristen ‚wählen‘ sich den Gegenstand der Literatur nicht aus freien Stücken, sondern sie reagieren – praktisch und theoretisch – auf auftretende politische oder gesellschaftliche Konflikte, die eine gesetzliche Regelung erfordern bzw. ermöglichen, und zwar durch Gesetzgebung oder durch Rechtsprechung bei auftretenden Rechtskonflikten. Literaten aber ‚wählen‘ sich zumeist frei ihre Gegenstände, wobei sie das Recht durch äußere Ereignisse ‚veranlasst‘, aber nicht ‚genötigt‘ reflektieren und gestalten. So ist die grundlegende Auseinandersetzung in Friedrich Dürrenmatts Justiz mit dem Recht überhaupt und dessen Korrumpierbarkeit ohne konkreten Anlass entstanden;Footnote 32 ähnliches gilt für Petra Morsbachs Justizpalast. Dass diese erheblich differierenden Entstehungsbedingungen für die Formulierung eines Materialitätsbegriffs, der das Verhältnis von Recht und Literatur fassen können soll, von Bedeutung sind, liegt auf der Hand: Man könnte im Hinblick auf das Verhältnis von Autoren bzw. Akteuren und Gegenstandswahl bzw. -findung von einem autonomen (Literaten-) und einem heteronomen (Juristen-) Prozess sprechen.

Sucht man nun die oben gestellte Frage nach den rechtsförmigen Feldern der Literatur zu beantworten, so ist erneut die historische Bedingtheit dieser Antwort zu berücksichtigen: Bücher, auch literarischen Inhalts, wurden seit ihrer Entstehungszeit, der Erfindung des Buchdrucks nämlich, einer Zensur unterzogen wegen ihrer religiösen oder theologischen, politischen oder auch moralischen Inhalte;Footnote 33 sie wurden eingezogen, makuliert, verbranntFootnote 34 oder auch in Geheimarchiven gesammelt.Footnote 35 Erst im 20. Jahrhundert setzte sich die Einsicht durch, dass eine Zensur im Rechtsstaat nicht stattfinden dürfe, weil diese ein VerfassungsgutFootnote 36 beschädige. Gleichwohl werden auch in den westlichen Rechtsstaaten des 21. Jahrhunderts literarische Texte zu Gegenständen des Rechts und dies nicht allein wegen des oben schon zitierten Bruchs mit dem Recht auf Persönlichkeitsschutz, sondern auch wegen jugendgefährdender oder verfassungsfeindlicher Gehalte.Footnote 37 Dass Literatur allerdings nicht allein zum Gegenstand von Verbotsprozessen aufgrund ihrer Inhalte wird, sondern auch zu Gebots- und Erlaubnisgesetzen, zeigt ein Blick auf die Ausweitung der Perspektive, der im Folgenden noch zu tätigen sein wird.

Zuvor ist jedoch noch das entscheidende Moment jener Spezifizierungsprozesse zu betrachten, die der Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht zugrundliegen: Macht sich das Recht einen literarischen Text zu seinem Gegenstand, dann wird dadurch ein an ihm selbst rechtlich indifferentes Objekt in einen rechtsnormativen Rahmen überführt und so nach rechtlichen Kriterien beurteilbar.Footnote 38 Dieser Transformationsprozess ist der systematisch entscheidende Vorgang bei einer Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht, weil in diesem Zusammenhang nicht nur eine quantitative Verengung des Gegenstandes auf seine rechtsförmigen Aspekte vorgenommen wird, sondern ein qualitativer Wechsel der Beurteilungsmaßstäbe erfolgt. Dieser grundlegende Unterschied zeigt sich schon an den Ergebnissen der Verstehensprozesse in der literarischen oder juristischen Betrachtung:Footnote 39 Zielt jede literarische Hermeneutik auf eine möglichst umfassende ‚Erkenntnis‘ des Gegenstands durch Analyse, Interpretation und Kontextualisierung ab, die ggf., d. h. bei besonders leistungsfähiger bzw. kulturell bedeutsamer Literatur, unabschließbar ist,Footnote 40 so muss die juristische Hermeneutik – zumindest im Rahmen der Rechtsprechung – zu einer abschließenden Bewertung, d. h. zu einem Urteil kommen,Footnote 41 allerdings ausschließlich im Hinblick auf den juridisch relevanten Aspekt des Werkes. Es wird dieser Einengungs- als Transformationsvorgang des literarischen Gegenstandes aus einem an sich normativ-indifferenten Status in ein rechtlich zu beurteilendes Objekt, dessen Dimensionen hier nur anzudeuten sind, allerdings weiter zu analysieren bleiben. Diese Transformation bestimmt die entscheidende Kontur der Korrelation der Vergegenständlichung von Literatur durch das Recht.Footnote 42

Die bisherigen Überlegungen lassen sich vorläufig wie folgt zusammenfassen. Wird Literatur zum Gegenstand des Rechts, erfolgt dies unter – wenigstens – den folgenden Spezifizierungen:

  1. 1.

    Das Recht macht sich aus dem gesamten Umfang menschlichen Verhalten ein spezifisches, nämlich kulturelles, genauer literarisches Handeln und dessen rechtsförmige Bedingungen zum Gegenstand. Dabei reduziert das Recht die Fülle literarischer Reflexionen auf einen handlungsrelevanten Bereich, weil freie äußere Handlungen allein Gegenstand des Rechts sein können.Footnote 43

  2. 2.

    Dieses literarische Handeln wird unter besonderen, nämlich rechtlichen Aspekten betrachtet und beurteilt.Footnote 44

  3. 3.

    Die Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht ist nicht ohne deren historische Bedingungsfaktoren zu analysieren und zu verstehen.

  4. 4.

    Im Hinblick auf den formalen Aspekt des Transformationsprozesses bedeutet die Verobjektivierung der Literatur durch das Recht, dass ein an sich rechtlich indifferenter Gegenstand unter rechtsnormativen Gesichtspunkten beurteilt wird, wobei dieses Urteil dezisionistischen Charakter haben muss.Footnote 45

2.2 Ausweitungen – Wissenschaften, Polit-Ökonomie und Geschichte

Neben der Notwendigkeit, Besonderheiten der Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht im Hinblick auf den skizzierten allgemeinen Materialitätsbegriff zu formulieren, gibt es ebenfalls die Erfordernis, spezifische Ausweitungen des Begriffs vorzunehmen, um diese Seite der Korrelation hinreichend zu erfassen.

Die auf der Ebene der europäischen Rechtspraxis auftretenden Konflikte über die Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch einzelne literarische Publikationen zeigen,Footnote 46 dass die von den Literaturwissenschaften am Begriff der Fiktionalität begründete und so postulierte strikte Trennung von Recht und Literatur von Seiten der Rechtswissenschaften in Frage gestellt wird,Footnote 47 weil die Annahme formuliert wird, dass für die Auflösung des rechtlichen Konflikts zwischen dem Recht auf Freiheit der Kunst und dem Recht auf Persönlichkeitsschutz Entscheidungshilfen durch literaturwissenschaftliche Begriffe und Kategorien zu generieren seien.Footnote 48 Für den Begriff der ‚Materialität‘ als Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht bedeutet dies, dass nicht allein die Literatur selber, sondern deren literatur- und rechtswissenschaftliche Erforschung und insbesondere deren (kontroverse) Korrelation zu bestimmen und zu beachten sind. Diese Einbindung der Wissenschaften wird sich auch auf der Seite der Literatur zeigen. Die Integration der Literaturwissenschaften in den durch das Recht vergegenständlichten Begriff der Literatur führt zu einer erheblichen Ausweitung des Materialitäts- bzw. Vergegenständlichungsbegriffs, weil die selbst weder poetischen noch rechtsnormativen Wissenschaften von der Literatur in ihrer systematischen und argumentationslogischen Besonderheit berücksichtigt werden müssen.

Darüber hinaus impliziert der Begriff der ‚Materialität‘ unter bestimmten Gesichtspunkten einen ‚erweiterten Literaturbegriff‘, der es ermöglicht, einige dem poetischen Gehalt der Literatur zunächst äußerliche Bedingungsfaktoren, wie Verkaufsstrategien, Marktpreisbindungen u. v. m. als deren Gegenständlichkeit für das Recht zu bestimmen, und damit weitere, nämlich vor allem ökonomische Faktoren sowie politische Funktionen für die Prozesse der Vergegenständlichung der Literatur zu berücksichtigen.Footnote 49 Allererst aus diesem erweiterten Literaturbegriff ergeben sich komplexe Interaktionen zwischen Recht, Ökonomie, Politik und Literatur, die als ‚Momente ihrer Vergegenständlichung‘ erfasst werden können.Footnote 50

Auch in diesem Zusammenhang der Ausweitung des Materialitätsbegriffs ist die Historizität des Sachverhalts zu berücksichtigen: Die Geschichte des Urheberrechts bzw. dessen Komplement, des Raubdrucks, dokumentiert,Footnote 51 dass nicht allein rechtliche Bestimmungen, sondern deren Bedingungen geschaffen werden mussten, um den lange Zeit selbstverständlichen Realien einen – vor allem ökonomischen – Problemcharakter zu verschaffen, der dann rechtlich zu lösen war.Footnote 52 Zu diesen entscheidenden Bedingungen gehörte u. a. ein einheitlicher Rechtsraum in den deutschsprachigen Gebieten Europas oder aber bilaterale Abkommen zum Urheberrecht, die allerdings erst in vorläufiger Form in den 1830er und 1840er Jahren, endgültig erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschlossen wurden.

Die Konkretisierung dieser äußeren Bedingungsfaktoren der Literatur können zugleich zur Formulierung und Anwendung eines entsprechenden Literaturbegriffs führen, so u. a. unter der rechtlichen Verwendung des Begriffs vom ‚Kulturgut‘,Footnote 53 wenn dieser für die rechtlichen Vergegenständlichungsprozesse, so beispielsweise im Zusammenhang der Buchpreisbindung, relevant wird.

Vor diesem Hintergrund ist in einem dritten Sinne von einer Ausweitung der Prozesse der Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht zu sprechen, weil sich beide Korrelate und damit deren Korrelation historisch verändern. Die Geschichte der politischen Lyrik zeigt, dass erst staats- bzw. soziopolitische Bedingungen geschaffen werden bzw. sich entwickeln mussten, damit sich das Recht mit diesem Feld der Literatur beschäftigen wollte und konnte.Footnote 54 So konnte die Lyrik Heinrich Heines oder Hermann Ferdinand Freiligraths allererst unter den politischen Bedingungen des Vormärz bzw. der nach-revolutionären Repression verboten werden, die Literatur zu einem wirksamen politischen Faktor machten.Footnote 55 Dass auch in diesem Zusammenhang der Unterscheid zwischen einer juridisch-politischen und einer literarischen Hermeneutik zu berücksichtigen ist, zeigt sich allein an der Tatsache, dass Klemens Wenzel Lothar von Metternich und sein Adjutant Friedrich von Gentz die Dichtungen Heinrich Heines, die sie zugleich verboten, mit dem größten Vergnügen lasen und sich an der Lektüre gar begeisterten.Footnote 56 Als Verehrer ihrer ästhetischen Qualitäten wussten sie zugleich um deren politische Brisanz. Erst die Erweiterung des Begriffs der Literatur um deren ökonomische Bedingungsfaktoren in Produktion und Verkauf sowie deren politische Kontexte ermöglicht eine angemessene Vorstellung davon, was genau an der Literatur vom Recht vergegenständlicht werden kann und muss.

Vor dem Hintergrund dieser beiden Erweiterungsdimensionen durch wissenschaftliche Erforschung, ökonomische Bedingungen und politische Kontexte wird ersichtlich, dass auch diese erweiterten Vergegenständlichungsprozesse der Literatur durch das Recht grundsätzlich einem historischen Wandel unterliegen. Dabei ist zu berücksichtigen, ob und in welcher Weise Recht und Literatur sich durch äußere Bedingungen – mithin ökonomische oder politische Umbrüche, wie die Finanzkrise von 2008 oder die sogenannte ‚europäische Flüchtlingskrise‘ – oder innere Korrelationen – mithin rechtsinterne Veränderungen wie die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts oder literarische Entwicklungen, wie die derzeit europaweit zu beobachtende Rückkehr zu einer realistischen Schreibweise nach den eine abstrakte Rechtskritik befördernden postmodernen Glasperlenspielen der letzten 30 JahreFootnote 57 – verändern. All diese internen und externen Faktoren sind zu berücksichtigen, um der spezifischen Historizität der Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht gerecht zu werden.

Es ist allerdings auch zu beachten, dass die Historizität des Rechts und die der Literatur in der Literaturwissenschaft einen anderen Stellenwert innehat als in den Rechtswissenschaften. Die strikte Trennung von apriorischer Rechtsdogmatik und empirischer Rechtsgeschichte und -soziologie, die der auf eine Entscheidungspraxis ausgerichteten Jurisprudenz und Rechtsprechung notwendig ist,Footnote 58 kann für die Literaturwissenschaften nicht reproduziert werden, weil Literatur an ihr selbst sowie in ihrem Verhältnis zum Recht nur in ihrem je historischen Kontext zu erfassen und zu verstehen ist.Footnote 59

Wird also Literatur zum Gegenstand des Rechts, erfolgt dies unter – mindestens – dreierlei Ausweitungen:

  1. 1.

    Die Prozesse der Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht müssen deren jeweilige Wissenschaften berücksichtigen.

  2. 2.

    Zugleich ist im Hinblick auf diese Korrelation eine Fülle von äußeren, ökonomischen oder politischen, Bedingungsfaktoren zu berücksichtigen.

  3. 3.

    Insbesondere im Hinblick auf diese Ausweitungen der Verobjektivierung der Literatur durch das Recht sind historische Kontexte zu berücksichtigen.

Der Begriff der ‚Materialität‘ impliziert also erstens Prozesse der Vergegenständlichung der Literatur durch das Recht, die sich auf die rechtsrelevanten Dimensionen der Literatur als kulturellem Handeln beziehen. Dabei werden die rechtsförmigen Inhalte, Bedingungen und kulturhistorischen Entwicklungsprozesse in den Blick genommen, wobei die Differenzen zwischen der rechtswissenschaftlichen und der literaturwissenschaftlichen Perspektiven auf dieser Seite der Vergegenständlichungsprozesse zu berücksichtigen sind.

3 Recht als Gegenstand der Literatur

Auch bei einer Betrachtung dieser anderen Seite der ‚Materialität‘, nämlich der Vergegenständlichung des Rechts durch die Literatur, ergeben sich gegenüber dem allgemeinen, beide Seiten übergreifenden Begriff zum einen Einschränkungen, zum anderen aber auch Ausweitungen der oben entwickelten allgemeinen Bestimmungen.Footnote 60

3.1 Eingrenzungen – Von der Rationalität des Rechts und der Sinnlichkeit der Literatur

Indem Literatur sich Recht und Gesetz zum Gegenstand macht, wählt sie sich aus einem scheinbar unbegrenzten Reservoir an Ideen und Realien einen spezifischen Teilbereich aus. Anders als das Recht, das sich auf äußere menschliche Handlungen, die allein rechtsnormativ zu behandeln sind, zu beschränken hat, kann Literatur auf ‚Alles, was ist‘ referieren und es poetisch gestalten, sie ist mithin intensional und extensional unbegrenzt.Footnote 61 Aus dieser gegenständlichen Unbegrenztheit, die auch auf schöpfungs- oder heilsgeschichtliche und damit außerweltliche Gegenstände referieren kann,Footnote 62 greift sich Literatur einen spezifischen Teilbereich – hier rechtliche Normen – heraus. Dabei macht sich Literatur nicht den gesamten Umfang des Phänomens Recht bzw. einzelner Gesetze oder Gesetzeskomplexe, sondern lediglich deren bzw. dessen literarisch je gestaltbare bzw. vermittelbare oder auch nur interessante Bereiche zum Gegenstand. Der Gegenstandsbereich, aus dem im Rahmen dieses Vorgangs eingegrenzt wird, ist also ungleich größer als beim analogen Prozess im Recht – menschliches Verhalten hier, alles, was ist, dort. Auch der Bereich, auf den eingegrenzt wird, ist relativ größer als bei der Eingrenzung der Literatur durch das Recht: Denn die Literatur muss sich keinesfalls auf einen spezifischen Bereich beschränken, sondern kann sich den gesamten Umfang des Rechts zum Gegenstand machen und gar das Recht überhaupt als Instrument der innergesellschaftlichen Befriedung und entscheidende Realisation der menschlichen Freiheit in Frage stellen.Footnote 63 Nicht nur das Gros der europäischen Aufklärungsliteratur war – wie angedeutet – ausnehmend kritisch gegenüber den Fähigkeiten der Gesetze in Bezug auf deren Befriedungsleistungen der Gesellschaft in religionspolitischen oder soziopolitischen Angelegenheiten;Footnote 64 auch Franz KafkaFootnote 65 und noch Juli Zeh oder Ulrich Peltzer betrachteten und gestalteten das Recht überhaupt oder bestimmte Teilbereiche wie das Völkerrecht als hilflosen Papiertiger (Zeh) oder reinen Repressionsapparat der jeweils Herrschenden (Peltzer).Footnote 66 Solch literarische Reflexion auf das Recht überhaupt kann aber auch positiv ausfallen, wie dies die Werke Miguel de Cervantes,Footnote 67 Georg BüchnersFootnote 68 oder Ian McEwansFootnote 69 dokumentieren; kurz: Die Literatur hat – anders als die Justiz – bei aller noch zu betrachtenden Begrenzung die Lizenz zur Reflexion auf das Allgemeine ihres – hier rechtlichen – Gegenstandes.

Zugleich ist diese Lizenz zur Allgemeinheit in reflexionsspezifischer Weise dergestalt begrenzt, dass Literatur als ‚sinnliches Erscheinen der Idee‘Footnote 70 bzw. sinnliche Gestaltung begrifflicher AllgemeinheitFootnote 71 an die Darstellung des Rechts im Medium bzw. der Form der imaginativen Sinnlichkeit gebunden ist und bleibt. Noch in ihrer abstraktesten Form – beispielweise in Carl Einsteins BebuquinFootnote 72 – bleibt Literatur an die Ausführung von sinnlicher Evidenz gebunden und hat eben darin ihre Grenze in der Darstellung rechtlicher Inhalte und deren vernunftpraktischer Dimension. Das führt schon in rechtsnormativer Hinsicht dazu, dass Literatur vor allem die empirischen Voraussetzungen und Konsequenzen einer Rechtsnorm, nicht aber deren rationale Geltung und Verbindlichkeit an ihr selbst abbilden kann, weil literarische Texte grundsätzlich keine rechtsnormative Funktion innehaben können. Aufgrund dieser entscheidenden Eingrenzung der allgemeinen Korrelation von Literatur und Recht werden von der Literatur bevorzugt Gerichtsverhandlungen, wie in Kleists Der zerbrochne Krug oder – um ein aktuelles Beispiel zu wählen – Fridolin Schleys Die Verteidigung,Footnote 73 oder auch Strafausführungen, wie die grausame Hinrichtung Joseph Süß Oppenheimers in Lion Feuchtwangers Roman Jud Süß,Footnote 74 zum Gegenstand gemacht, weil sich diese Felder des Rechts sinnlich darstellen lassen.

Ohne jeden Zweifel liegt an dieser systematischen Stelle – an dem ‚garstig breiten Graben‘ zwischen der Rationalität des RechtsFootnote 75 und der Sinnlichkeit der Literatur – einer der entscheidenden Gründe für die auch auf dieser Seite der ‚Materialität‘ wirksame substanzielle Historizität der Vergegenständlichung des Rechts durch die Literatur. Spätestens an der literarischen Rezeption des Allgemeinen Preußischen Landrechts zeigt sich nämlich, dass die Literatur die unterschiedlichen Differenzierungen der verwaltungsrechtlichen oder prozessrechtlichen Bestimmungen nicht mehr abbilden oder kritisch reflektieren konnte.Footnote 76 Noch im 17. und 18. Jahrhundert sahen sich die Autoren der realistischen oder auch utopischen Staatsromane dazu durchaus in der Lage.Footnote 77 Schon Flaubert oder Fontane haben jedoch gar nicht mehr den Versuch unternommen, die Komplexität des modernen Verwaltungsstaates und dessen rechtliche Bedingungen und Voraussetzungen literarisch abzubilden;Footnote 78 die moderne Literatur muss sich auf die von ihr gestaltbaren Teilbereiche zurückziehen.

Schlimmer noch: Dass Strafrecht des ALR reguliert u. a. mit der sogenannten ‚Sodomie‘Footnote 79 Sachverhalte, die – reduziert man den Tatbestand auf Homosexualität – von der Literatur bei Strafe des Verbots gar nicht thematisiert werden durften.Footnote 80 Noch im Rahmen der klandestinen Pornographie des 18. und 19. Jahrhunderts wurde männliche oder weibliche Homosexualität außerordentlich selten thematisiert.Footnote 81 Die Literatur ist also unter bestimmten historischen Bedingungen gegenüber dem Recht dergestalt eingeschränkt, dass sie – weil auf unterschiedliche Formen der Öffentlichkeit angewiesen – Sachverhalte, die das Recht normativ regeln kann, will oder muss, nicht zur Darstellung bringen darf.

Wird also Recht zum Gegenstand der Literatur, so erfolgt dies unter – wenigstens – den folgenden Spezifizierungen:

  1. 1.

    Die Literatur wählt sich aus dem gesamten Umfang ‚Alles dessen, was ist‘ ein spezifisches Thema, nämlich die rechtliche Normierung menschlichen Verhaltens aus.

  2. 2.

    Diese Rechtsnormen werden unter besonderen, nämlich literarästhetischen Aspekten betrachtet und gestaltet, dabei verlieren sie ihre Geltung und Verbindlichkeit für die reale Welt.

  3. 3.

    Die Literatur ist dabei an diejenigen Dimensionen des Rechts gebunden, die sich sinnlich darstellen lassen.Footnote 82

  4. 4.

    Diese Vergegenständlichung des Rechts durch die Literatur ist ebenfalls grundlegend durch einen historischen Wandel bedingt, der unter bestimmten Bedingungen dem Recht erlaubt und gebietet, was der Literatur unmöglich oder gar untersagt ist.

3.2 Ausweitungen – Literatur zwischen Naturrecht und Rechtswissenschaften

Neben den skizzierten Erfordernissen der Eingrenzungen des allgemeinen Materialitätsbegriffes gibt es auch auf der Seite der Vergegenständlichung des Rechts durch die Literatur die Notwendigkeit der Ausweitung, deren Elemente im Folgenden anzudeuten sind:

So ist zu berücksichtigen, dass sich Literatur keineswegs nur positivrechtliche Normen, sondern auch natur-, vernunft- oder völkerrechtliche Festlegungen oder auch das Ius Divinum sowie deren mögliche Konflikte zum Gegenstand macht.Footnote 83 Das gilt schon für die Heilige Schrift – so sie denn wie seit Herder als Poesie gelesen wird –, weil hier u. a. die allgemeinen göttlichen Gebote besonderen Vorschriften – wie das Tötungsverbot des Dekalogs mit dem Tötungsgebot an Abraham – vermittelt werden muss. Weite Felder frühneuzeitlicher Literatur reflektieren kritisch auf das Verhältnis der verschiedenen RechtsformenFootnote 84 und noch Friedrich SchillerFootnote 85 oder Heinrich von KleistFootnote 86 überprüfen kritisch oder besorgt die Erosionen des Naturrechts durch die Prozesse der Säkularisierung und der damit einhergehenden Universalisierung der normativ ungebundenen Staatsklugheit, d. h. der Politik.

Dabei kann sich die Literatur ebenso auf philosophische sowie juristische Rechtstheorien wie auf die herrschende Rechtspraxis und diese gar kritisch aufeinander beziehen. Nicht nur die Literatur der europäischen Aufklärung hat neben den positiven Rechtsrealien auch Rechtstheorien berücksichtigt und poetisch, in diesem Falle kritisch, gestaltet,Footnote 87 sondern auch noch Petra Morsbach hat für ihren Roman Justizpalast nicht allein praktizierende Juristen interviewt, sondern auch rechtswissenschaftliche Arbeiten rezipiert und für ihren Roman fruchtbar gemacht.Footnote 88

Literatur bezieht sich zumeist nicht nur auf den Inhalt der Rechtsnormen selber – so das Vertragsrecht in William Shakespeares Merchant of VeniceFootnote 89 –, sondern auf deren individuelle und/oder gesellschaftliche, mithin auf deren psychische, mentale, soziale, politische oder religiöse Bedingungen, Ursachen und Konsequenzen. Literatur reflektiert auch auf Leistungsfähigkeiten und Grenzen von Gesetzen oder des Rechts überhaupt, und auf deren historische, soziale oder religiöse Voraussetzungen. Folglich kann Literatur Rechtsdogmatik mit Rechtspolitik, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie oder auch Rechtspsychologie verbinden und kritisch vermitteln. Dabei werden selbstverständlich nur die mit dem Recht in Konflikt geratenden oder sich auf es berufenden Rechtsträger poetisch gestaltet, sondern auch Anwälte, Richter oder Rechtspfleger. So macht Ian McEwans The Children Act nicht allein die Nöte eines religiös fanatisierten Jugendlichen, der aufgrund von Glaubensüberzeugungen eine lebensrettende medizinische Hilfe ablehnt, sondern auch den psychischen, moralischen und rechtlichen Zweispalt der damit beschäftigten Richterin anschaulich kenntlich, die letztlich eine Zwangsmedikation verordnet.Footnote 90

Im Hinblick auf die Vergegenständlichung des Rechts in Literatur ist darüber hinaus entschieden zu berücksichtigen, dass die jeweiligen Rechtsnormen als Momente der Literatur ihren rechtsnormativen Charakter verlieren. Nur im Rahmen der fiktionalen Welt, nicht aber mehr außerhalb ihrer, haben sie diesen Charakter einer Norm. Auch an dieser Stelle ist die Fiktionalitätsproblematik von erheblicher Bedeutung.Footnote 91 Das zeigt sich in besonderer Weise an tatsächlichen Gesetzestexten, die in den literarischen Text aufgenommen werden. Als Beispiel mag hier Johann Pezzls Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1782) dienen, in den gegen Ende der Handlung eine Reihe von Gesetzen aufgenommen wird; hier heißt es:

  • Abstellung der geistlichen Possenspiele unter dem Name von Prozeßionen; der lächerlichen Gebetsformeln und nächtlichen Andachten, wobei mehr der Aphrodite als sonst einer Heiligen geopfert ward.

  • Reinigung der Bücherzensur nach den beßten Grundsäzen. Die Bibliotheken der Privatleute müssen unangetastet, undurchsucht in die Monarchie eingehen.

  • Alle Mönchsorden werden von ihren Generalen in Rom emanzipirt, und ganz den vaterländischen Bischöfen unterworfen. Erster Geldkanal nach Rom verstopft.

  • Dispensazionen in Ehefachen werden an die Bischöfe gewiesen. Verbot dieselben aus Rom zu holen. Zweiter Geldkanal an die päbstliche Kammer verstopft.

  • Aufhebung der päbstlichen Monate, Benefizien-Vergabungen sc. Dritter Geldkanal nach Rom abgegraben.

  • Plorer wird gegen Migazziʼs Kabale geschüzt. Die unsinnigen Bullen In cæna Domini und Unigenitus aus allen Ritualen herausgerissen.

  • Toleranz-Edikte durch die ganze Monarchie.

  • Aufhebung des heiligen Müßiggangs der kontemplativen Mönche und Nonnen.

  • Juden in die Rechte der Menschheit eingesezt.

  • Aufhebung der Leibeigenschaft durch die ganze Monarchie.

  • Mönche werden zur Seelsorge angestellt, und tretten dadurch wieder in die Pflichten des Menschen ein.

  • Vertilgung des empörenden Eides der Bischofe für den Römischen Bischof.

  • Der phantastische Eid für die Unbeflektheit Maria auf immer untersagt.

  • Casus reservati und andre dergleichen Römische Geldschneidereien auf immer vertilgt.

  • Einführung protestantischer Bethäuser als ernstliche Beweise der Toleranz.

  • Die romantisch-kindischen Eheverlöbnisse werden für nichtig erklärt.

  • Kirchen werden von all dem gewöhnlichen fanatischen, theatralischen, Aberglaube nährenden, unsinnigen, tändelhaften Puze gereinigt.

  • Vermehrung und Verbesserung der Stadt- und Landschulen.

  • Anwendung des Kirchenreichthums zur Unterstüzung Armer und Kranker.

  • Verbot der Kontretänze in Kirchen. Einführung des deutschen Kirchengesanges.

  • Reinigung und Verbesserung des Justizwesens.Footnote 92

Ohne jeden Zweifel listet Pezzl an dieser Stelle Gesetze auf, die Joseph II. seit 1780 tatsächlich erlassen hatte;Footnote 93 zugleich haben sie als Moment dieses Romans außerhalb der von diesem gestalteten fiktiven Welt keine rechtsnormative Macht, mithin keine Geltung und Verbindlichkeit; sie generieren als Teil des Romans – wohl aber als tatsächlich promulgierte Gesetze – keinerlei Rechtspflichten. Auch auf dieser Seite der ‚Materialität‘ hat jener Transformationsprozess von Gesetzen in den literarischen Text den entscheidenden qualitativen Status inne: Rechtsnormative Texte werden zu Gegenständen literarischer Reflexion und verlieren dadurch ihren objektiv-rechtlichen Geltungs- und Verbindlichkeitscharakter. Nach der Auflistung bei Pezzl muss sich kein Zeitgenosse verhalten, sondern er kann und soll über deren Bedeutung für den Prozess der Aufklärung und damit auch über deren rechtmäßige GeltungFootnote 94 in der realen Welt nachdenken.Footnote 95

Auch im Hinblick auf diese Seite der Vergegenständlichungsprozesse sind historische Veränderungen im Verständnis von Literatur und von Recht zu berücksichtigen. Es ist auch in diesem Zusammenhang darauf zu achten, ob diese Prozesse durch äußere und/oder korrelationsinterne Faktoren zustande kommen.

Wird also Recht zum Gegenstand der Literatur, so erfolgt dies unter – wenigstens – den folgenden Ausweitungen:

  1. 1.

    Literatur macht sich nicht nur positivrechtliche Normen, sondern auch natur-, vernunft- oder völkerrechtliche Festlegungen sowie das Ius divinum zum Gegenstand.

  2. 2.

    Literatur bezieht sich nicht nur auf die Rechtspraxis, sondern auch auf die unterschiedlichen Theorien des Rechts und der Gesetze.

  3. 3.

    Literatur reflektiert nicht allein auf die Rechtsnormen selber, sondern auch auf deren psychische, mentale, soziale, politische oder religiöse Bedingungen, Ursachen und Konsequenzen. Sie bezieht sich mithin auf Leistungsfähigkeiten und Grenzen von Gesetzen oder des Rechts überhaupt und auf deren soziale, politische oder religiöse Voraussetzungen.

  4. 4.

    Auch in diesem ausweitenden Zusammenhang sind die historischen Bedingungen des Rechts und des Literatur zu bedenken.

Der Begriff der ‚Materialität‘ impliziert also Prozesse der Vergegenständlichung des Rechts durch Literatur, die sich auf die literarästhetische Auswahl, Darstellung und Reflexion von Rechtsnormen und deren wissenschaftlicher Bearbeitung beziehen. Dabei werden die literarischen Gehalte, Bedingungen und kulturhistorischen Entwicklungsprozesse in den Blick genommen, wobei die Rechte und Gesetze durch ihre Aufnahme in Literatur ihren rechtsnormativen Charakter verlieren.

4 Fazit

Die vorstehenden Überlegungen haben ausschließlich tentativen Charakter. Sie versuchen, die von Achermann/Stierstorfer entwickelten Konzepte im Hinblick auf ihr erstes Moment, die Prozesse der gegenseitigen Vergegenständlichung, zu entfalten und behutsam weiterzuentwickeln. Erkennbar sind sie ebenso unvollständig wie systematisch vorläufig. Womöglich aber können sie die weiter anstehende Arbeit an dem ebenso komplexen wie komplizierten Verhältnis von Recht und Literatur im Hinblick auf die allgemeinen und besonderen Formen, Verfahren und Voraussetzung einer ‚Materialität‘ als Kategorie ihrer gegenseitigen Vergegenständlichung anregen.