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1 Temmes Doppelprofession

Jodocus Donatus Hubertus Temme (1798–1881) steht mit seiner doppelten Profession als Jurist und Lehrbuchautor sowie als (Kriminal-)Schriftsteller (vgl. Peters 2010, 2) paradigmatisch für den Sonderforschungsbereich Recht und Literatur und seinen Begriff der ‚Materialität‘ als wechselseitiger Vergegenständlichung von Recht und Literatur. Der folgende Beitrag geht dieser Vergegenständlichung rechtlicher Aspekte in Temmes Kriminalgeschichten einerseits und der Vergegenständlichung literarischer Figurationen in Temmes juristischem Werk andererseits nach, um die Interrelation beider Aspekte für Temmes Gesamtwerk beispielhaft auszuloten. Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile: (1) Zunächst werden unter dem Begriff der ‚Materialität‘ die Formen und Aspekte der Vergegenständlichung von Recht und Literatur bei Temme systematisiert. (2) Sodann wird ein generischer Blick auf Redeweisen, Argumentationsformen und Verschriftungsverfahren bei Temme geworfen, um den extrapolierten Modi und Denkfiguren der Vergegenständlichung (3) in einem letzten Schritt illustrierende Beispiele für ihre je unterschiedliche Formgebung und Figuration in Rechts- bzw. literarischen Texten bei Temme zu geben.

Zunächst seien Jodocus Temmes Lebenslauf und sein literarisch-juristisches Doppelwerk in aller Kürze skizziert. 1798 in Lette in Westfalen geboren, ging Temme in Paderborn zur Schule und studierte ab 1814 Rechtswissenschaft in Münster, dann ab 1816 in Göttingen (vgl. Hettinger 2016). Auf sein Zweites (‚Kleines‘ Assessor-)Examen 1819 folgte ein Referendariat am Oberlandesgericht Paderborn und als Hilfsrichter in Rheda; das ‚große‘ Assessor-Examen legte er erst 1832 ab. Darauf folgten Stationen u. a. als Obergerichtsassessor am Hofgericht Arnsberg (1832), als Kreisjustizrat in Ragnit (1833), als Kriminaldirektor in Stendal (1836), als Richter am Hofgericht Greifswald (1838) und als Rat am neuen Kriminalgericht Berlin (1839, dessen zweiter Direktor er 1842 wurde; vgl. Hettinger 2016; Brümmer 1894). Neben belletristischer Literatur verfasste Temme parallel zu dieser Juristenkarriere Monografien und Aufsätze u. a. zum Strafrecht (vgl. Peters 2010, 49–52). Er positionierte sich zudem über seine Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften politisch als liberal-fortschrittlich, wodurch er sich in Preußen unbeliebt machte und 1844 als Direktor des Land- und Stadtgerichts nach Tilsit versetzt wurde (vgl. Temme 1883). 1848 wurde er jedoch erneut nach Berlin berufen (als Staatsanwalt am Kriminalgericht) und im selben Jahr in die Preußische Konstituierende Versammlung und die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Mit seinem linksorientierten Eintreten für die Demokratie fiel er erneut in Ungnade und wurde noch 1848 unter Verlust seiner parlamentarischen Mandate ans OLG Münster (dort war er zweiter Präsident und Vorsitzender des Kriminalsenats) strafversetzt (vgl. Hettinger 2016). Auch hier blieb er jedoch nicht lange: In den Wirren der Revolutionsjahre engagierte sich Temme immer wieder politisch (und trat u. a. für das Recht zur Revolution und für Volkssouveränität ein), wechselte wieder nach Berlin und schließlich wieder nach Münster, wurde jeweils beide Male wegen Hochverrats verhaftet, zuletzt aber freigesprochen (vgl. Hettinger 1996). Trotzdem wurde er 1851 seines Amtes enthoben und verlor seine Pensionsansprüche. Nach einem guten Jahr in Breslau, von wo aus er die Redaktion der demokratischen Neuen Oder Zeitung leitete (vgl. Hettinger 2016; Gust 1914, 24), ging er Ende 1852 schließlich mit seiner Familie ins Exil in der Schweiz, wo er an der Hochschule Zürich eine Professur für Kriminalrecht erhielt (vgl. Temme 1883, 460). Nach einer kurzen, für ihn desillusionierenden letzten Episode in Berlin, wo er 1863 ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde, ging er endgültig nach Zürich zurück, wo er 1881 starb.

Temme ist, so lässt sich bilanzieren, durch seine publizistische Tätigkeit ein für die Rechtswissenschaft ebenso wie für die germanistische Literaturwissenschaft bedeutender Autor des 19. Jahrhunderts: Er hat (neben anderer belletristischer Literatur) nicht nur das umfangreichste Werk an Kriminalgeschichten und -romanen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts verfasst, sondern auch ein bedeutendes Werk an juristischen Abhandlungen und Lehrbüchern (vgl. Gödden und Nölle-Hornkamp 1994, 398–405; Peters 2010, 49–68). Sein Gesamtwerk kann damit als Idealfall gegenseitiger Interferenz von Rechtsdiskurs und in der Literatur gebündelten Wissensbeständen und -diskursen betrachtet werden. Innerhalb des Temmeschen Gesamtwerks lassen sich dabei Phasen überwiegend literarischen (1820–1835; 1860–1870) und Phasen überwiegend juristischen Publizierens ausmachen (1840–1850; 1876); im Jahrzehnt zwischen 1850 und 1860 läuft die Werkproduktion weitgehend parallel.

2 ‚Materialität‘ von Recht und Literatur bei Temme: Formen der Vergegenständlichung

Unter ‚Materialität‘ soll im Folgenden die Vergegenständlichung von Recht in Literatur (und umgekehrt) verstanden werden. Denkbar wären darunter zwei Formen: (a) die ‚konkrete Vergegenständlichung‘, bei der konkrete Rechtstexte in der Literatur zitiert oder verhandelt werden (oder konkrete literarische Texte, Figuren oder Kontexte in Rechtstexten zitiert oder verhandelt werden), und (b) eine ‚Vergegenständlichung im übertragenen Sinn‘, bei der etwa bestimmte Konzepte und Begriffe des Rechts in der Literatur verhandelt (und etwa in bestimmte Konstellationen und Figurationen überführt) werden – bzw. bestimmte Konzepte, Begriffe, Fallkonstellationen oder Themen eher literarischer Provenienz in Rechtstexten verhandelt werden.

Für die Frage nach ‚konkreter‘ Materialität lässt sich mit einem summarisch-vorläufigen Blick auf Temmes Werk vorab festhalten, dass sie kaum vorkommt: Eine explizite Thematisierung von Literatur im Recht spielt keine Rolle, und in den Erzählungen finden sich nur sehr vereinzelt Bezüge auf konkrete Rechtstexte, während hingegen bestimmte Gesetze sehr wohl benannt werden; auch gibt es hier Kommentare zu Rechtsprozessen und -praktiken. Anders sieht es jedoch aus, wenn es um eine Vergegenständlichung im übertragenen Sinne geht:

  1. 1.

    Recht wird bei Temme Gegenstand von Literatur auf einer diegetisch-fiktionalen Ebene. Dies geschieht, indem von Verbrechen, Ermittlungen, Verhören, Prozessen erzählt wird und dabei explizit oder implizit, sei es durch den Erzähler oder einzelne Figuren, eine Wertung von Institutionen und Verfahren der Strafjustiz vollzogen wird. Darüber hinaus verfügen manche Erzählungen zusätzlich über einen (ggf. extradiegetischen) Pro- oder Epilog oder arbeiten mit textuellen Einschüben, in denen die narratio zugunsten einer rechtsreflexiven oder gar justizkritischen Leseradressierung verlassen wird. Recht und Gesetz werden in diesen Fällen problematisiert und, in immer neuen Fallkonstellationen, die Temmes Erzählungen durchspielen, auf ihre ‚blinden Flecken‘ befragt.

  2. 2.

    Literatur wird Gegenstand des Rechts nur auf indirekte Weise, indem innerhalb von Rechtstexten partiell Stil, Rhetorik und Argumentationsweise ‚umgeschaltet‘ werden, wenn es etwa um die Konkretisierung beispielhafter Fallkonstellationen geht (und, zumeist nur umrisshaft, individualisierte Fallgeschichten angedeutet werden) oder wenn es um eine selbstreflexive Hinterfragung zuvor eingeführter Rechtspositionen geht. Zur Veranschaulichung sei hier ein sehr einfaches Beispiel für solche Interferenzen aus dem Lehrbuch des Preußischen Strafrechts (Temme 1853b) angeführt. Konkretisierte Fallbeispiele werden hier zwar gelegentlich kurz benannt, nicht aber individualisiert, sondern allenfalls typisiert – etwa, wenn zur Plausibilisierung der Argumentation im Kapitel „Von dem Verbrechen“ eine „empfindsame[…] Dame“ (nicht aber eine konkrete Person) und ihr „Schoßhündchen[…]“ (nicht aber ein ganz bestimmter Hund) angeführt werden (Temme 1853b, 176).

  3. 3.

    Aus diesen Ausgangsbeobachtungen ergeben sich folgende Anschlussfragen: (a) Wenn Temmes Rechtstexte literarische Figurationen thematisieren und funktionalisieren, wann, wo und zu welchem Zweck tun sie dies? Und umgekehrt: (b) Wenn Temmes literarische Texte Recht und Gesetz thematisieren und problematisieren, wann, wo und wozu? Und im abgleichenden und exemplarischen Blick auf Rechts- und literarische Texte bei Temme: (c) Wie werden Verbrechen und Verbrecher, Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung dargestellt? Wie wird dabei der für Temme zentrale Problemkomplex von Recht vs. Moral respektive Recht vs. Gerechtigkeit verhandelt?

3 Modi der Vergegenständlichung: Redeweisen, Argumentationsformen und Verschriftungsverfahren bei Temme

Betrachtet man die Entwicklung des literarischen Werks Temmes, so lässt sich dieses grob in zwei Phasen einteilen: (a) eine erste, frühe Phase historisch-romantischer Erzählungen der 1820er bis 1840er Jahre (stellvertretend z. B. Die geheimnißvolle Familie; vgl. Temme 1834); (b) eine zweite Phase, die durch ein umfangreiches Werk an Kriminalerzählungen und -novellen gekennzeichnet ist (1850er bis in die 1870er Jahre, die Texte stellen dies zumeist auch in ihren jeweiligen Untertiteln explizit aus).Footnote 1 Aufschlussreich ist im Rahmen dieser Werkentwicklung, dass die Kriminalnovellen dabei zunehmend juristische Fallkonstellationen, Figurationen und Positionen einzeln ausbuchstabieren und dies in ihren Titeln bereits andeuten: Das Testament des Verrückten (Temme 1859), Die schwerste Schuld (Temme 1860), Ein Vertheidiger (Temme 1863), Der Zeuge (Temme 1864; s. Abb. 1a), Der Richter (Temme 1865; s. Abb. 1b), Ein Amnestirter (Temme 1874).

Abb. 1 a und b
figure 1

Die Titelseiten von Temmes Erzählungen „Der Zeuge“ und „Der Richter“ in der Zeitschrift Die Gartenlaube.

Betrachtet man nun auf der anderen Seite die Entwicklung des juristischen Werks Temmes, so lässt sich dieses ebenfalls grob in zwei Phasen einteilen: Einer ersten Phase früher rechtskritischer Schriften der 1840er Jahre (die im Zusammenhang mit Temmes politischen Ambitionen rund um die Revolutionsjahre 1848/1849 stehen, z. B. Rechtliches Bedenken über die Verlegung und Vertagung der preußischen Nationalversammlung [Temme 1848a], Zur Kritik des Entwurfs des Strafgesetzbuches für die preußischen Staaten [Temme 1848b], Kritische Bemerkungen zu dem Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Canton Bern [Temme 1853a]) folgt eine zweite Phase ab Mitte der 1840er bis Mitte der 1870er Jahre, die – v. a. durch seine Tätigkeit als Zürcher Professor des Kriminalrechts bedingt – durch das Abfassen einer Reihe von Lehrbüchern, u. a. des Preußischen Strafrechts (Temme 1853b), des Schweizerischen Strafrechts (Temme 1855) und des gemeinen deutschen Strafrechts (Temme 1876) gekennzeichnet ist. Auf der Grundlage dieser Entwicklung des Schriftstellers Temme hin zu (einander hinsichtlich ihrer Rechtspositionen vielfach ergänzenden und verdichtenden) Kriminalerzählungen und des Juristen Temme hin zum Schreiben von Lehrbüchern soll im Folgenden versucht werden, Recht und Literatur bei Temme zwei idealtypische, generische Diskurstypen zuzuweisen (die hinsichtlich ihrer spezifischen Textsorten weiter binnenzudifferenzieren wären): Rechtsschriften auf der einen Seite (paradigmatisch orientiert am Lehrbuch), Kriminalerzählungen auf der anderen. Im abstrahierenden Blick auf ihre jeweiligen Redeweisen und Argumentationsformen sollen nun zunächst die unterschiedlichen Reichweiten und Funktionen dieser Texttypen sowie die Modi ihrer Vergegenständlichung bestimmt und voneinander abgegrenzt werden, um vor diesem Hintergrund im Anschluss zwei Beispiele konkreter Vergegenständlichung zu betrachten.

Für Temmes Rechtsschriften auf der einen Seite gilt, dass sie im Rahmen einer systematischen Betrachtungsweise (idealtypisch: im Lehrbuch, vom positiven Recht ausgehend) versuchen, vom Allgemeinen zum Besonderen zu gelangen, das jeweilige Feld damit aus allgemeinen Grundsätzen deduzierend weiter auszudifferenzieren. Exempla sind hier, wo vorhanden, nachgeordnet und stets auf das Systemganze rückbezogen. Die Kriminalerzählungen hingegen verfahren umgekehrt: Fallbeispiele dienen dazu, vom Besonderen zum Allgemeinen und zu abstrakten Begriffen und Sachverhalten zu gelangen, die durch die Fallbespiele lediglich illustrativ (und figural verkörpert) werden. Ihr Ziel ist dabei die Reflexion des Grundsätzlichen: Sie „heben das Exemplarische heraus, problematisieren das Typische, illustrieren die Ausnahme oder übersteigern das Normale“ (Kirste 2017, 322). Gehen Kriminalerzählungen also von der Abweichung, der Übersteigerung, dem Sonderfall aus, argumentieren Rechtstexte von Normen ausgehend. Letztere sind dabei faktual ausgerichtet und faktenbasiert (im Gegensatz zu den fiktionalen, durch mehr oder weniger greifbare Erzähler vermittelten Kriminalgeschichten). Wo Rechtstexte Sachverhalte positiv setzen, argumentieren Temmes literarische Texte diskursiv erörternd; sie sind nicht am Parameter einer eindeutig gültigen ‚Wahrheit‘ bzw. einer eindeutigen Geltungsanspruch erhebenden Position orientiert, sondern gerade dem Parameter der Möglichkeit verbunden und zielen auf mehrdeutige Erkenntnis- und Verstehensperspektiven – und damit nicht selten generell auf Ambiguisierung – ab. Während Rechtstexte darüber hinaus an ‚Begriffsdifferenzierung‘ (und an Definitionen) interessiert sind, verfahren die literarischen Texte Temmes auffällig ‚begriffsirritierend‘.Footnote 2 Idealtypisch am Lehrbuch orientiert, argumentieren Temmes Rechtstexte nummerierend und deduzierend, während seine Kriminalerzählungen inzidenz- und fallbasiert von figurativ ‚heruntergebrochenen‘ Einzelpositionen und Fallkonstellationen ausgehen. Figuren erscheinen hier als Individuen in ihrer spezifisch-individuellen und psychologisierten Lebenswelt, während der Mensch in den Rechtstexten prinzipiell nur als Mitglied der ‚Klasse Mensch‘ von Interesse ist. Zusammengefasst stehen sich mit beiden Text- bzw. Werkgruppen bei Temme Texte gegenüber, die (a) ein Normensystem in seiner Eindeutigkeit beschreiben, darin aber zugleich auf Differenzierung zielen, und (b) Texte, die auf Offenheit, Ambiguität und Selbstreflexivität insbesondere moralischer Letztbegründung von Werten und Normen zielen (und diese vielfach problematisieren).

4 Die unterschiedliche Figuration von Recht und Literatur im jeweils anderen Diskurstyp: Beispiele der Vergegenständlichung und ihrer Semantisierung

Linder und Schönert sind direkten rechtlichen Bezügen innerhalb Temmes literarischer Texte nachgegangen (Linder und Schönert 1983). In der Erzählung Rosa Heisterberg (Temme 1858) etwa werden „die Delikte ‚Diebstahl‘ und ‚Paßfälschung‘ als Tatbestand im Sinne des Strafrechts genau beschrieben“ (ebd., 209). Während dabei für den Tatbestand der Urkundenfälschung „beim Leser die Kenntnis einer Norm“ vorausgesetzt werde (ebd., 210), erörtert Temmes Erzählung die kompliziertere Rechtslage für den Diebstahl eingehender. Der Erzähler übernimmt hier die Zusatzfunktion, „zu Momenten der Strafrechtspflege sachkundig“ (ebd., 235) zu informieren, gleichzeitig „‘beglaubigt‘ [er] sich selbst in der Rolle als Untersuchungsrichter“ (ebd., 210). Im Folgenden werden zwei Beispielkomplexe vorgestellt, die nicht bloß ‚systemfremdes‘ Wissen interdiskursivieren, sondern anhand derer die wechselseitige Vergegenständlichung von Recht und Literatur bei Temme – und damit die gegenseitige Unterwanderung der zuvor generisch unterschiedenen Textverfahren – illustriert werden sollen: (1) die Rolle des Richters, und (2) die Möglichkeit des Irrtums.

4.1 Die Rolle des Richters

Neben seiner rechtswissenschaftlichen Ausbildung und schriftstellerischen Tätigkeit war Temme als Beamter auch ein Kenner der deutschen Rechtspraxis. Nun hat es im 19. Jahrhundert nicht die eine deutsche Rechtspraxis gegeben, sondern verschiedene politische und juristische Systeme, die Temme – geboren im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und verstorben zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs, jedoch in der Schweiz – erlebt hat (vgl. Hettinger 2016). Auf die Bedeutung der juristischen Praxis für seine Arbeit und Auffassung weist er selbst bereits 1840 im Vorwort seiner Kurzen Bemerkungen über den gemeinen Deutschen und den Preußischen Prozeß hin:

Der Verfasser bildet sich nicht ein, etwas Entscheidendes zu der Beantwortung der darin behandelten wichtigen Frage der Prozeß-Gesetzgebung beigetragen zu haben. Er hofft aber, daß die Ansichten eines Beamten, der sowohl den Preußischen als den gemeinen Prozeß praktisch kennen gelernt hat, nicht ganz ohne Nutzen sein dürften. (Temme 1840, V)

So ist es nicht verwunderlich, dass Temme häufig über die Rolle des Richters bzw. ganz allgemein das Selbstverständnis und die professionelle Pflicht des Juristenstandes reflektiert, und dass er auf Probleme in der Rechtspraxis und auf Verfahrensebene Bezug nimmt. So beklagt Temme in Kurze Bemerkungen über den gemeinen Deutschen und Preußischen Prozeß am Beispiel der neuen Justiz-Reform von 1780 die Auswirkungen einer mit Mängeln behafteten Gesetzgebung auf Verfahren und auf den Richterstand:

Aber der Richter, (der arme unglückliche Richter) der täglich mit einem monströsen Gesetze und mit einem dadurch geschaffenen noch monströseren Verfahren sich herumplacken mußte, der gewissenhafte Justiz-Commissarius, der jetzt nicht mehr allein gegen die Umtriebe eines chikanösen Gegners, sondern auch gegen den Ueberdruß und die Indolenz des Richters alle Garantieen verloren hatte, deren das frühere Verfahren ihm doch noch manche bot, der Unterthan, der es für eine Art von Hohn ansehen mußte, daß man ihm ein Volks-Gesetzbuch in die Hand gegeben hatte, da er doch alle Tage sah, wie Richter und Justiz-Commissarien sich vergeblich abmühen, den Winkelzügen eines Winkel-Consulenten zu entgehen, – diese erkannten wohl gleich, daß das neue Verfahren nie Leben gewinnen könne. (Temme 1840, 22)

Eng verbunden mit der Rolle des Richters, die sowohl Angelpunkt einiger literarischer Schriften als auch rechtstheoretischer Überlegungen von Temme ist, ist die Frage des gerechten Urteils und damit generell des „Verweisungszusammenhang[s] zwischen Recht und Gerechtigkeit“ (Gröschner 2017, 418). Denn Gerechtigkeit, so legt Gröschner dar, sei „kein Klassifikationsbegriff mit mengentheoretisch exakter Festlegung der in seine Klasse einzusortierenden Gegenstände oder Individuen“ (Gröschner 2017, 418). Vielmehr handelt es sich um einen Inferenzbegriff, der sich aus der individuellen Erfahrung von Recht und Unrecht speist. Hier werden sowohl das Ausmaß der Indifferenz der Begriffe ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘ deutlich als auch die Komplikationen für die juristische Praxis, die sich aus einem juristischen Selbstverständnis ergeben, nicht nur eine Person des Rechts, sondern zugleich auch der Gerechtigkeit verpflichtet zu sein. Hinsichtlich der Modi der Vergegenständlichung zeigt sich hier, dass auch der Parameter ‚Möglichkeit‘ in der juristischen Konzeption des Richters verhandelt wird. Mit der Wahrheitssuche kommt zur richterlichen Urteilsfindung auch das persönliche Inquirieren mit – wie Temme für den Zivilprozess konstatiert – nur ‚schwachen Mitteln‘ hinzu:

Das Untersuchungs-Princip des Preußischen Prozesses war daher zunächst und von selbst durch die Einführung der Assistenzräthe gegeben und die Redactoren der neuen Prozeß-Ordnung, folglich auch der jetzigen Allgemeinen Gerichts-Ordnung, gingen kaum einen Schritt weiter, wenn sie nun verordneten, der Richter solle durch alle ihm zu Gebote stehende Mittel die Wahrheit zu erforschen suchen, sich nicht mit dem begnügen, was die Partheien ihm anführen, sondern den civilistischen Inquirenten machen, dem freilich und das war eine nicht wenig schwache Seite der Consequenz des neuen Verfahrens, nur nicht die Mittel zu Gebote stehen, wie dem eigentlichen Inquirenten im Criminal-Prozesse. (Temme 1840, 15)

Der aus den juristischen Texten Temmes ableitbare Befund, dass einem heterogenen Prinzipien verpflichteten Richter sein Verständnis von juristischer Professionalität problematisch wird, lässt sich auch innerhalb Temmes literarischer Erzählungen wiederfinden – dort aber in komplexer Steigerung und diversifiziert auf das mit Rechtsfragen befasste Personal. Legt man die oben unterschiedenen beiden Modi zugrunde, so lässt sich die Konzeption des Richters in den zitierten Kurzen Bemerkungen über den gemeinen Deutschen und den Preußischen Prozeß als Vergegenständlichung genuin literarischer Verfahren begreifen, wird doch der Richter weder allein als juristische Klasse noch als abstraktes menschliches Wesen verstanden, sondern als Person mit individueller Psychologie. Begründen kann man diesen Umstand mit der Tatsache, dass wir es bei dem zitierten Rechtstext mit einem Kommentar zu tun haben, der statt faktual und positiv setzend zu verfahren, in einem ‚quasi-literarischen‘ Modus diskursiv erörtert.

Die Möglichkeit, die sich demgegenüber durch das fiktionale Beispiel eines individuellen Einzelfalls ergibt, wird in Temmes Erzählungen ausbuchstabiert. Dies geschieht meist in interner Fokalisierung aus der Perspektive des Protagonisten. Häufig handelt es sich um einen Staatsanwalt oder Richter, und dieser ist nicht selten jüngeren Alters und noch am Anfang seiner Karriere, was mögliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Rechtssystems bzw. die Sorge um fehlende Gerechtigkeit, Auflehnung gegen barbarische Foltermethoden, Mitgefühl mit den Angeklagten und vieles mehr intradiegetisch legitimiert. Programmatisch werden dazu innerhalb einer Erzählung häufig zwei konfligierende Positionen, zumeist als „Doppelperspektive von ‚Mensch‘ und ‚Richter‘“ (Linder/Schönert 1983, 233; vgl. auch Schönert 2015, 126), angeboten, wie mit einem Kriminaldelikt zu verfahren ist – bzw. es wird sich dem jeweiligen Fall von zwei Seiten genähert. Innerhalb der Figuration des Textes übernimmt dabei entweder eine Figur beide Positionen oder zwei juristische Figuren geraten in einen Konflikt über ein rechtliches bzw. moralisches Dilemma. Auf diese Weise materialisieren sich unterschiedliche Diskurstypen auf Figurenebene.

Im ersten Fall, der die beschriebene juristische Doppelrolle darstellt, werden durch eine interne Fokalisierung mehrere Positionen dialektisch bearbeitet und damit intrasubjektiv vergegenständlicht, was sich häufig mit Gewissenskonflikten verbindet. Stets kollidieren dabei moralische Empfindungen und rechtliche respektive rechtstheoretische Abwägungen des ermittelnden Protagonisten.Footnote 3

Im zweiten Fall werden dialektisch angelegte Figuren in einer Art und Weise in Opposition gebracht, die diese Texte in die Nähe einer Parabel rücken lassen.Footnote 4 Die Rolle des Richters, die aus juristischer Perspektive prosaisch als die eines Wahrheitssuchers umschrieben wird, aber de facto die eines Rechtsdogmatikers und -praktikers ist, liegt dabei in Temmes Erzählungen oft stärker in der Dialektik und Justizkritik. In der Performanz des Richters laufen somit die Suche nach Wahrheit hinter dem intradiegetisch geltenden Recht und die Abwägung verschiedener Auslegungsmöglichkeiten zusammen. Auf subjektiver Figurenebene meint das die formelle, professionelle Gesetzestreue und -auslegung sowie die individuelle, auf apriorischem Rechtwissen beruhende Rechtsmoral, auf Verfahrensebene vielmehr die Unterscheidung zwischen der formellen und der materiellen Wahrheit. Zu dem realweltlichen Problem juristischer Praxis äußert sich beispielsweise Temmes Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts:

Es kam jetzt auf keine Fristen, auf keine Formen mehr an, denn die Erforschung der Wahrheit war nicht davon abhängig gemacht, und konnte auch nicht davon abhängig gemacht werden, unter welchen Formen, in welcher Ordnung und zu welcher Zeit dem Richter Gelegenheit gegeben wurde, seine Pflicht gegen sie auszuüben; es konnte kein der Rechtskraft fähiges Interlocut mehr statt finden, denn die formelle Wahrheit, die dadurch geschaffen wurde, stand schroff der materiellen Wahrheit entgegen, welche der Richter ermitteln sollte. (Temme 1876, 16)

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Obwohl weder Temmes Kriminalerzählungen noch seine juristischen Schriften makrostrukturell mit den skizzierten, idealtypischen generischen Textverfahren brechen, kommt es in beiden Texttypen auf der Ebene der mit dem Recht befassten Figuren zu impliziten Vergegenständlichungsprozessen – nämlich genau dann, wenn die Rolle des Richters reflektiert wird.

4.2 Möglichkeit des Irrtums

An die Überlegungen zur Rolle des Richters schließt auch das nächste Beispiel an, denn wenn Recht gesprochen wird oder ein Verbrechen mit Strafe sanktioniert wird, muss die Möglichkeit des juristischen Irrtums immer mitgedacht werden. Grundlegend dafür ist Temmes rationalistisches Weltbild, welches seine Vorstellung der juristischen Profession ganz wesentlich bestimmt und sowohl in seinen juristischen Schriften als auch in seinen Kriminalerzählungen Gegenstand wird. Evident wird dies unter anderem in seinem Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts:

Recht und Sitte sind in ihrem Wesen eins und dasselbe. Beide beziehen sich auf das Zusammenleben der Menschen, sind Vorschriften für die Handlungen der Menschen gegen einander, sind die Gebote der Vernunft dafür: nemlich die Handlungen vernünftig einzurichten. Der Mensch ist das sinnliche und vernünftige Wesen auf der Erde; der vernünftige Theil in ihm muß den sinnlichen beherrschen. Die Menschen können daher nur unter der Herrschaft der Vernunft zusammenleben. (Temme 1876, 17)

Mit dem, was Temme als Zusammenleben der Menschen unter der Herrschaft der Vernunft beschreibt, ist hier das Konzept des Staates gemeint. Dieser ist für Temme ebenso anthropologisch notwendig wie die individuelle Freiheit des Menschen (vgl. Temme 1876, 17 f.). Letztere bezeichnet er als das höchste Gebot der Vernunft, welche für das Zusammenleben der Menschen essenziell sei:

Der Staat […] ist nach der menschlichen Natur von selbst nothwendig, da wo Menschen zusammenleben; denn sie können, als vernünftige Wesen, nur unter der Herrschaft der Vernunft, also des Rechts, zusammenleben: das ist der Staat. Das höchste Gebot der Vernunft für das Zusammenleben der Menschen ist die Freiheit. Ein Zusammenleben Mehrerer ist nicht denkbar ohne die Freiheit eines Jeden, mithin Aller. (Temme 1876, 18)

Das, was Temme in seinem Lehrbuch als „Philosophische Begründung des Strafrechts“ (Temme 1876, 17) bezeichnet, modelliert die semantischen Achsen, an denen sich Rechtssysteme und Verfahren der Rechtsprechung orientieren müssen, auf die er aber häufig auch in seinen Erzählungen zurückgreift, die er auslotet und reflektiert. Primär sind diese: ‚Vernunft‘ vs. ‚Unvernunft‘, ‚Freiheit‘ vs. ‚Zwang‘, ‚Verbrechen‘ vs. ‚Strafe‘. Im Blick auf diese Grundachsen lassen sich die oben unterschiedenen Modi pointiert kontrastieren: Das, was durch Temmes Rechtsschriften normativ definiert wird, wird von seinen Kriminalerzählungen exemplarisch diskursiviert.

Neben der Etablierung des Rätsels bzw. des Falls, der Deduktion und der Entschlüsselung – also den signifikanten Komponenten von Kriminalerzählungen – steht auch die Wiederherstellung einer rechtlichen Balance, genauer, die Wiederherstellung einer gesellschaftlichen respektive moralischen Ordnung häufig im Zentrum der Narration. Das Vehikel zur Wiedererlangung dieses denklogisch gesehen ‚ursprünglichen‘ Zustands vor dem Verbrechen (oder vielmehr zur Annäherung daran) ist die Strafe. Im Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts heißt es: „Was ist die Strafe? Formal aufgefaßt, ist sie das Mittel zu jener Genugthuung für den Staat, also zu der Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung.“ (Temme 1876, 20) Signifikant in Bezug auf die literarischen Texte Temmes ist die Frage, zu welchen Arten von Strafe es in den Texten kommt, wie diese semantisiert und bewertet werden und schließlich, ob durch die Strafe jeweils eine intradiegetische Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann oder nicht – wie im Falle eines defizitären Rechtssystems.

Mit der Aufklärung der Verbrechen und der anschließenden Bestrafung der Täter wird also auch eine postulierte originäre Ordnung innerhalb der syntagmatischen Struktur literarischer Erzählungen wiederhergestellt. Diese finale ‚Restitution‘ referiert folglich auf die Ordnung der dargestellten Welt zu einem früheren Zeitpunkt der Erzählung, auch wenn der Ausgangszustand vor der Störung im Endzustand prinzipiell nicht reproduzierbar ist (vgl. Linder und Ort 1999, 33). Ein Vergleich des ursprünglichen textuellen Weltsystems mit der wiederhergestellten Ordnung am Ende der Narration auf der Basis der intradiegetischen Praktiken des Strafverfahrens (und im Kontext einer rekursiven Semiose, vgl. Linder und Ort 1999, 33) konfrontiert die Tat gleichwohl mit ihrer strafrechtlichen Konsequenz.Footnote 5 Die hierbei veranschlagten Ordnungslogiken formulieren sich als Zusammenspiel rechtlicher (Recht und Gesetz), moralischer (Gerechtigkeit) und literarischer Faktoren (poetische Gerechtigkeit) und tendieren dabei in ihrer Gesamtheit zu einer „Rechtsethik in literarischer Form“ (Kirste 2017, 323). Vergegenständlicht der Erzähltext das Recht und damit die Normativität des Rechtssystems (und der Gesetzestexte) also einerseits mit, dann ist andererseits zu konstatieren, dass durch die Konfrontation mit moralischen und poetischen Maßstäben der juristische Irrtum als Parameter der Möglichkeit jede geforderte juristische Eindeutigkeit in Zweifel zieht – zumindest dann, wenn nicht-juristische Parameter zur Grundlage juristischer Beweisführung werden.

Als Beispiel für den Zusammenhang zwischen beiden Ordnungssystemen soll Temmes Erzählung Die Hallbauerin (1985) dienen: Diese nimmt zwei Familien in den Fokus. Zum einen die adelsähnlich lebende Familie Schirmer, zu der der GografFootnote 6 Schirmer, seine Frau und seine beiden Töchter gehören, als auch die einfache Familie Hallbauer, der der alte Trompeter Hallbauer und seine Tochter Anna angehören. In einem Teich, der unweit beider Anwesen liegt, wird eines Tages ein erdrosseltes Neugeborenes entdeckt. In den Ermittlungen fällt der Verdacht schnell auf die ‚Hallbauerin‘. Aus Gerüchten um unsittliches Benehmen entspinnt sich ein Konstrukt aus Mutmaßungen und uneindeutigen Zeugenaussagen, welches aus Mangel an weiteren möglichen Verdächtigen schließlich zum Prozess gegen Anna Hallbauer führt. Da der Gograf den Aussagen der Hallbauerin keinen Glauben schenkt und er diese nicht zum Geständnis bringen kann, wird diese fortan über eine längere Zeit täglich gefoltert – später auch ihr Ehemann. Schließlich reist der Graf in Sanden an, spricht sich für die Unschuld der Familie aus und entbindet den Gografen von seinen Pflichten. Viele Jahre später, nach dem Tode des ehemaligen Gografen, erreicht dem von ihm gefolterten Paar ein auf diese ausgestellter Nachlass.

In der Erzählung Die Hallbauerin werden Gesetz und Recht bzw. Moral oppositionell angeordnet, allerdings auch als Kernbestandteile eines dialektischen, juristischen Verfahrens bestimmt. Dabei wird das Verfahren der Folter kritisch reflektiert – ebenso wie die Konstruktion eines ‚Beweises‘ aus bloßem Verdacht und eines möglichen juristischen Irrtums. Das bedeutet hinsichtlich der Modi der Vergegenständlichung, dass die Konstruktion eines Einzelfalls in exemplarischer Betrachtungsweise die Normativität und den Geltungsanspruch der Rechtsschriften relativiert. Ausschlaggebend dafür ist der im Text manifeste Sitten- bzw. Moraldiskurs, der seinen Ausgang in der beschriebenen Ständegesellschaft nimmt. Der Gograf wird im Laufe der Erzählung aus seiner Herrschaftsposition verdrängt, da kurz vor Ende der Erzählung die Hierarchie reevaluiert wird: Er verliert seine Machtposition und wird aufgrund seiner Verfehlung als ein keinem Stand zuordenbares Element getilgt. Folter wird demnach also nicht nur als amoralische Form der Strafe, sondern auch als Mittel für erzwungene Geständnisse, ohne vorige Detektion und rechtskräftige Verhandlung, sanktioniert. Rechtlich gesehen kommt es zum Freispruch des Paares, die individuelle Schuld des Gografen sühnt dieser (moralisch) mit der postumen Vererbung seines Besitzes an das von ihm geschädigte Paar. Die Restitution auf strukturaler Textebene und auf rechtlich-moralischer decken sich nur teilweise, was sich mit Blick auf die rechtsreflexive und justizkritische Stoßrichtung des Texts erklären lässt: In Die Hallbauerin liegt damit nicht nur eine Form juristischen Probehandelns vor, wofür es nur eine narrative Umsetzung extradiegetisch-vorliegender Rechtsnormen benötigt hätte, sondern vielmehr eine Parabel, die die juristische Problematik der Folterstrafe reevaluiert, indem die für Temme anthropologisch relevanten Konzepte von Freiheit und Vernunft innerhalb der textuellen semantischen Ordnung gefährdet werden.

Im Gegensatz zum ersten Beispiel, in welchem Textverfahren als Modi der Vergegenständlichung in Bezug auf die Rolle des Richters wechselseitig übernommen wurden, bleibt es beim zweiten Beispiel bei einer bloßen inhaltlichen Bezugnahme auf den anderen Texttypus.

5 Vergegenständlichung als Diskursivierung von Recht. Ein Fazit

Die von Schönert benannte menschlich-juristische Doppelperspektive ist bei Temme in besonderem Maße signifikant, da er in seinen Texten populäre Erzählmuster der Verfolgung, Aufklärung und Sanktionierung von Verbrechen mit justizkritischen Diskussionen verbindet. Damit trifft zudem auch die von Friederike Meyer analysierte Differenz in der kulturellen Behandlung von Kriminalität zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten in der Gartenlaube (Meyer 1987, 160) für Temme nicht zu. Im Gegensatz zu anderen Kriminalerzählungen, vor allem den Erzählungen Eugenie Marlitts, in denen, so Meyer, Rechtspersonal und Institutionen ausgeklammert werden, rückt Temme diese explizit in den Fokus.

Um zu den anfangs gestellten Fragen zurückzukehren:

  1. a)

    In Temmes Rechtstexten werden mit Blick auf die Konzeption von Handlungsträgern, wie das Beispiel des Richters zeigte, literarische Verfahren funktionalisiert, die Entscheidungsfindungen nicht nur an juristischen Parameter und Prämissen orientieren, sondern sie zugleich auch an subjektive und psychologische Einflussfaktoren koppeln, welche die juristischen Ordnungslogiken geradezu irritieren, konterkarieren und ambiguisieren können. Auffallend ist hier, dass es dabei zu Übernahmen – zu ‚Materialisierungen‘ – gerade in jenen Texten kommt, die (nicht zufällig) weniger Hand- oder Lehrbuch-Charakter haben, sondern vielmehr als kritische Reflexionen und Kommentare zum Justizsystem verfasst worden sind.

  2. b)

    Wenn umgekehrt Temmes literarische Texte innerhalb ihrer Diegese Recht und Gesetz thematisieren, so tun sie dies ebenfalls vor allem in einer reflektierenden und diskursivierenden Weise, um ‚blinde Flecken‘ (und u. a. mögliche Justizirrtümer) aufzuzeigen, wie das zweite Beispiel zeigt. Besonders signifikant werden die Formen einer Vergegenständlichung von Recht dabei auf Verfahrensebene, wenn sie etwa, wie im ersten Beispiel, in einer zwiegespaltenen Figur innerhalb einer Erzählung zusammenfallen.

  3. c)

    Die Verhandlung von ‚Recht‘ und ‚Gerechtigkeit‘ drückt sich vor allem in den dualistisch angelegten Rechtsfigur(ation)en bzw. im figureninternen Moralkonflikt aus. Diese figurativ inszenierte Dialektik bezieht zudem auch den Justizirrtum bzw. dessen Potentialität in alle juristischen Prozesse, Verfahren und Entscheidungen mit ein. Was als diskursiv zu erörternder Modus der Literatur auf der theoretischen Meta-Ebene bezeichnet wurde, äußert sich im konkreten Einzelfall (d. h. im praktischen Handeln des diegetischen Rechtspersonals) als evaluierende Kontrollinstanz.