Zusammenfassung
Blickt man rückschauend auf die beiden Alterswerke von Kant und Habermas, so sind verwandtschaftliche Motivlagen durchaus erkennbar. Nicht nur, dass sich beide erst relativ spät, weit jenseits ihrer Lebensmitte, an die systematische Ausarbeitung des Verhältnisses von Religion und Moral, von Glauben und Wissen gewagt haben, auch die methodische Hinwendung zur Geschichte ist für beide Denker von vergleichbarer Relevanz; die größte inhaltliche Übereinstimmung findet sich aber wohl in beider Überzeugung, dass die transzendentale Freiheit stets angefochten bleibt und die Voraussetzung ihrer Verwirklichung nicht zur Gänze in sich selbst vorfindet; vielmehr muss sie sich erweitern, und zwar so weit, dass sie noch die aufgeklärten Bedingungen ihrer Befreiung – also die Frage nach dem Vernünftig-Werden der Vernunft selbst – in solidarischer Reflexion mit umfasst.
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Notes
- 1.
Ich danke Jürgen Habermas für die Freundlichkeit, mir sein Nachwort zur Taschenbuchausgabe (2022) mit weiterführenden Kant-Hinweisen bereits vorab zugänglich gemacht zu haben.
- 2.
Zum Begriff des Praktisch-Werdens der Freiheit vgl. Christoph Menke (2018), 52: Freiheit als Befreiung zu verstehen heißt, Freiheit deshalb nicht als Sein, sondern im Werden, deshalb nicht als Zustand, sondern als Prozeß zu denken, weil Freiheit allein in der unendlichen Wiederholung der Negation von Unfreiheit besteht. – Allerdings formuliert dies Menke gegen Kant und unter Absehung seiner Religionsschrift.
- 3.
Zu den inneren Widersprüchen deontologischer Freiheitstheorien vgl. Pinkard (2011), 25–59; einen allgemeinen Überblick über das Paradox der Freiheit bietet der Sammelband von Khurana/Menke (2011) mit weiterführenden Beiträgen.
- 4.
Kant (VIII), 677. – Folgt man einer expressivistischen Lesart, dann ist für Kant keine andere Freiheit denkbar als die, die das allgemeine Gesetz als das je eigene zum Ausdruck bringt. Vgl. Pinkard (2007), 210. – Doch damit verschärft sich das Problem des intelligiblen Tat-Bösen, weil nicht vorstellbar ist, wie wir in Prozessen der Selbstgesetzgebung jemals gegen unsere Selbstverwirklichung handeln könnten. Was macht das aus uns? Die Radikalität dieser Frage zwingt Kant, die Hervorbringung der Freiheit immer auch geschichtsmetaphysisch, nämlich von der Überwindung des Bösen her, zu denken.
- 5.
Habermas (2005), 112. – Wenn man so will, ist die Philosophiegeschichte von Habermas ein groß angelegter hermeneutischer Selbstversuch, die immanenten Zweifel an der Selbstgenügsamkeit der säkularen Vernunft erzählerisch zu zerstreuen. Dem Widerspruch, wie eine in sich vernünftige Moderne überhaupt entgleisen könne, wenn eben nicht doch die Reproduktion ihrer säkularen Normbestände sittliche Mängel aufweist, begegnet Habermas mit dem Hinweis auf eine nachmetaphysische Vernunft, die aus eigenem Verbesserungsantrieb heraus erkenntnisleitende dialektische Lern- und Übersetzungsprozesse initiiert. Vgl. Habermas (I, 2019), 71 f.
- 6.
Kant (VIII), 757.
- 7.
„Mit der Überzeugungskraft der religiösen und metaphysischen Weltbilder ist der Glaube an die durch Gott oder die kosmische Ordnung verbürgte Autorität einer rettenden Gerechtigkeit erschüttert worden, gleichzeitig sind die religiösen Quellen der gesellschaftlichen Solidarität versiegt. Damit war für den säkularen Geist der Weg zu einer „rettenden Gerechtigkeit“ versperrt – mit der beunruhigenden Konsequenz, dass sich die Befolgung verpflichtender moralischer Grundsätze und Normen von dem Motiv, zugleich das persönliche Heil zu befördern, lösen musste. Daher setzt mit der Säkularisierung und der Wende zur Subjektphilosophie ein nachmetaphysisches Denken ein, das die Aufgabe der Welt- und Selbstverständigung nicht mehr in der Weise lösen kann, dass sich der Mensch von dem Gedanken einer telelogischen Verfassung der Natur über sich und seine Bestimmung belehren lässt.“ Vgl. Habermas (2022), 827.– Die ungedeckte Motivationsschuld kognitivistischer Freiheitstheorien treibt Habermas sicherlich mit am meisten um; so z. B. wenn er von der „Verlegenheit“ spricht, die das säkulare nachmetaphysische Denken in dem Augenblick befällt, wo es darum geht, „eine vernünftige Erklärung für normative Bindungskräfte zu finden, die ursprünglich vom sakralen Komplex gezehrt hatten“. Vgl. Habermas (II, 2019), 347. – Forst hingegen lehnt dieses Zugeständnis von Habermas entschieden ab; er findet, dass dadurch „einer religiös begründeten Moral zu viel Ehre“ angetan werde, da sie im Blick auf die Verlässlichkeit der Motivbildung fast schon wie ein „Ideal“ erscheine. Vgl. Forst (2021), 139.
- 8.
Habermas (II, 2019), 805.
- 9.
Kant (IV), 874.
- 10.
„Diese praktische Überzeugung ist also der moralische Vernunftglaube, der allein im eigentlichen Verstande ein Glaube genannt und als solcher dem Wissen und aller theoretischen oder logischen Überzeugung überhaupt entgegengesetzt werden muss, weil er nie zum Wissen sich erheben kann.“ Vgl. Kant (VI), 502 (Anm.). Zur Bedeutung des Vernunftglaubens bei Kant (in Auseinandersetzung mit Jacobi) vgl. die erhellenden Einsichten von Kobusch (2010), 655 f.
- 11.
Ohne die Hoffnung auf die Realisierbarkeit auch des höchsten Endzwecks wären nach Kant „die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“. Dieses Hemmnis der moralischen Entschließung würde also langfristig jene sittlichen Grundsätze untergraben, „denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein“. Vgl. Kant (IV), 682 und 693. – In einer gänzlich moralischen Welt indes wären wir „selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit“. Doch „dieses System der sich selbst lohnenden Moralität“ setzt voraus, dass jeder Einzelne dann auch tatsächlich moralisch einwandfrei handelte. Ebd., 680.
- 12.
Kant (VIII), 752.
- 13.
Ebd., 652.
- 14.
Zu dieser Formulierung vgl. den titelgebenden Sammelband von Bromand/Kreis (2010).
- 15.
Zur Rolle des Glaubens als konstitutives Moment der transzendentalen Vernunftkritik Kants vgl. Hutter (2004), 255; von den „diskursexternen Bedingungen“ gelingender Vernunftdiskurse spricht in diesem Zusammenhang auch Schnädelbach (1987), 172: „‚Ding an sich‘ und das ‚höchste Gut‘ sind bei Kant Grenzbegriffe der theoretischen und praktischen Philosophie, die auf etwas jenseits der Grenzen unserer theoretischen und praktischen Diskurse verweisen, das in ihnen selbst nicht ausdrückbar ist, von dem sie aber gleichwohl wie unsere Praxis in ihrem Gelingen abhängen.“
- 16.
Habermas (2021), 292. – Der katholische Philosoph Robert Spaemann indes verurteilt diese Frage selbst als moralisch gänzlich ungehörig (1989), 10.
- 17.
Habermas warnt eindringlich davor, die Frage nach dem normativen Bindungsüberschuss „ganz allgemein auf die Autorität und letztlich die Durchsetzungs- und Sanktionskraft eines normsetzenden und normkontrollierenden Machthabers“ zurückführen zu wollen. „Denn dann müsste die nachmetaphysisch aufgeklärte Person an Gottes Stelle sich selbst den Befehl, moralischen Einsichten zu folgen, geben und durchsetzen.“ Diese Interpretation verfehlt aber nach Habermas „das theologische Verständnis eines Schöpfergottes, der im Geschöpf seines Alter Ego der eigenen Freiheit begegnen will“. (II, 2019), S: 804.
- 18.
Gleichzeitig ‚übersetzt‘ Habermas damit auch seine frühere Rede von der diskursethischen Notwendigkeit „entgegenkommender Lebensformen“ (1991), 25 und (2022), 830. Somit bleibt im Vernunftraum ‚übersetzbar‘, was ansonsten zu konstruktivistischen Missverständnissen zwischen Genesis und Geltung führen würde. Vgl. dazu, von Hegel herkommend, die diesbezügliche Kritik von Honneth (2014), 788. Überhaupt fällt auf, dass sich Habermas in seiner ethischen Genealogie der Moral den kommunitaristischen Ausdrucksanthropologien von Taylor (2009) und MacIntyre (1981) methodisch und inhaltlich stark annähert.
- 19.
Ethische Ermutigungen zu einem autonomen Moralbewusstsein sieht Habermas in der Geschichte vermittelt: „Überzeugende Beispiele für „moralische Fortschritte“ sind historische Belege, die sowohl für eine fortschreitenden moralische Inklusion wie auch für die fortschreitende Universalisierung der gesellschaftlich und politisch anerkannten Rechtsnormen sprechen (Bd. 2, 788–797). In die gleiche Richtung weisen die Evidenzen dafür, dass Gesellschaften, wie wir soeben wieder erfahren, moralische und entsprechende politische Regressionen erfahren – denn nur wo es Fortschritte gibt, sind auch Regressionen möglich. Schließlich verstehe ich die vorliegende Genealogie nachmetaphysischen Denkens selbst als einen Versuch, aus den vielen möglichen Strängen einer Geschichte der Philosophie den Faden eines Lernprozesses herauszuziehen, der uns angesichts abgründiger Regressionen dazu ermutigen kann, von unserer Vernunft für eine politische Gestaltung zerrissener, oft zum Himmel schreiender gesellschaftlicher Lebensverhältnisse Gebrauch zu machen.“ Habermas (2022), 833.
- 20.
- 21.
Alle Zitate: Habermas (2021a), 250 f.
- 22.
Kant (IV), 680.
- 23.
Ich denke hier vor allem an Arendts sokratische Definition des Zusammenlebens, die die sprachliche Identität von Täter und Zeuge performativ voraussetzt: „[…] in diesem Sinne bin ich, als Einer, Zwei-in-Einem, und es kann Harmonie oder Disharmonie mit dem Selbst geben. Wenn ich mit anderen Menschen nicht übereinstimme, kann ich weggehen; aber vor mir selbst kann ich nicht weggehen […]. Wenn Sie mit Ihrem Selbst uneins sind, ist das so, als wenn Sie gezwungen wären, täglich mit Ihrem eigenen Feind zu leben und zu kommunizieren. Das kann sich keiner wünschen.“ Arendt (22006), 70 f.
- 24.
Wieder ist es Kant, der darauf hinweist, dass die gute Anlage zur Menschheit nicht durch die eigene Natur des Menschen, „sofern er abgesondert da“ steht, gefährdet ist; vielmehr erwachsen diese sittlichen Infragestellungen schlicht aus seinen sozialen „Verbindungen“ mit anderen Menschen. Die Leidenschaften, „welche so große Verheerungen in seiner ursprünglich guten Anlage anrichten“, werden durch den Umgang bzw. durch das Zusammenleben mit anderen Menschen unweigerlich erzeugt. Von Natur aus ist nämlich die Bedürfnisstruktur des Menschen nach Kant „gemäßigt und ruhig“; erst durch den Vergleich mit anderen (darin folgt er Rousseau) erhält die Sorge, dass andere einen für arm und verachtenswert halten könnten, existenzielle Dringlichkeit: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nötig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen.“ Kant (VIII), 751 f. Aus der vergleichenden Selbstliebe erwächst also ganz schnell die unkontrollierte Neigung, „sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen“ und sich damit schlussendlich selbst über andere stellen zu wollen. Ebd., 674. Vgl. dazu erhellend: Ricken (2009), 501 f.
- 25.
Habermas (2022), 830.
- 26.
Ebd., 831.
- 27.
Ebd., 827. – Zunächst „verschärft“, wie Habermas schreibt (ebd.), die Detranszendentalisierung der Vernunft sogar die Motivationsproblematik, weil sie keinen Raum lässt für die metaphysische Hoffnung auf eine rettende Gerechtigkeit; doch in dieser Verschärfung macht sie eben auch sichtbar, aus welchen Motivationsbeständen Vernunft noch zehren kann: nämlich aus der gemeinschaftlichen Erfahrung historisch vermittelter Lernprozesse.
- 28.
Habermas (II, 2019), 305.
- 29.
Alle Zitate: Ebd.
- 30.
Kant (V), 270. – Dazu merkt Habermas an: „Es mag erstaunen, dass Kant, der die Moral von allen Verstrickungen in die Gefühls- und Bedürfnisnatur reinigt und der Kompetenz der gesetzgebenden Vernunft überantwortet, im Innersten dieser Vernunft selbst ein Gefühl und ein Interesse entdeckt.“ (II, 2019), 306.
- 31.
- 32.
Habermas (II, 2019), 347.
- 33.
Freilich ist diese These von Habermas in der Forschung nicht unwidersprochen geblieben; am deutlichsten wird er hier von Langthaler kritisiert, der in seinen eigenen Arbeiten (2014 und 2018) den kantischen Vernunftglauben als notweniges Element des Selbsterhaltungsdenkens gegen die ansonsten drohende existenzielle Selbst-Verzweiflung verteidigt.
- 34.
Habermas kann hier aus einer Passage aus Kants Preisschrift zitieren: „Daher hat der Glaube in moralisch-praktischer Rücksicht auch an sich einen moralischen Wert, weil er ein freies Annehmen enthält.“ Vgl. Kant (VI), 636; Habermas (II, 2019), 354.
- 35.
Habermas (II, 2019), 354.
- 36.
Ebd., 356.
- 37.
Ebd., 357.
- 38.
Ebd., 356.
- 39.
Ebd., 360.
- 40.
In der Religionsschrift geht es nämlich nicht um die Auszeichnung eines weiteren apriorischen Vermögens, sondern um einen Modus des Für-wahr-Haltens, der den Menschen noch einmal über sich hinaus einrückt in die Perspektive eines sittlichen Gesamtzusammenhanges. Das beurteilen Habermas (II, 2019), 304, und Höffe (2011), 1 f., ganz richtig; doch im Unterschied zu Höffe neigt Habermas dann dazu, diesen Aspekt im weiteren Verlauf immer mehr zu Lasten der Religionsschrift auszulegen, die bei ihm offensichtlich nicht den gleichen systematischen Stellenwert wie die drei anderen großen Vernunftkritiken besitzt.
- 41.
Vgl. Kant (VIII), 690.
- 42.
- 43.
„Beim Wissen hört man noch auf Gegengründe, aber beim Glauben nicht; weil es hierbei nicht auf objektive Gründe, sondern auf das moralische Interesse des Subjekts ankommt.“ Kant (VI), 502.
- 44.
Dieser Glaube ist nämlich immer schon mit der Vernunft gesetzt; er ist nicht das Ergebnis einer vernünftigen Entscheidung, wie Nagl-Docekal (2007), 109, zu Recht betont. Denn „[s]obald wir uns handelnd für ein moralisch geprägtes Zusammenleben engagieren, ist das Sinnganze bereits (praktisch notwendig) vorausgesetzt – andernfalls hätten wir keinen guten Grund, in dieser Weise tätig zu sein. Das bedeutet, dass Kant zufolge jeder Mensch im Grunde gläubig ist – im Sinne der ‚reinen moralischen Religion‘.“
- 45.
Kant (V), 282.
- 46.
Ebd. – In den Reflexionen zur Metaphysik präzisiert Kant diesen Sachverhalt genauer: „Wenn ich das Dasein Gottes läugne, so muß ich mich entweder wie einen Narren ansehen, wenn ich ein Ehrlicher Mann seyn will (oder bin), oder wie einen Bösewicht, wenn ich ein kluger Mann seyn will. Es giebt Beweise per deductionem contrarii ad absurditatem oder turpitudinem.“ Kant (AA XVII), 484 f. (Reflexion Nr. 4256).
- 47.
Vgl. Kant (VIII), 694.
- 48.
Ebd., 703.
- 49.
Ebd., 698 f. – Zu den geschichtsphilosophischen Hintergründen der Umstellung von Gnade auf Pflicht bei Kant vgl. auch die instruktiven Bemerkungen von Kittsteiner (1998), 74 ff.
- 50.
Kant (VIII), 702.
- 51.
„Dieses Böse ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjective Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht stattfinden kann; gleichwohl muß er aber zu überwinden möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndes Wesen angetroffen wird.“ Kant (VIII), 686.
- 52.
Ebd., 695.
- 53.
Ebd., 686.
- 54.
Ebd., 694.
- 55.
„Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe. […] Da aber […] der Verfall vom Guten ins Böse […] nicht begreiflicher ist, als das Wiederauferstehen aus dem Bösen zum Guten; so kann die Möglichkeit des letztern nicht bestritten werden.“ Ebd., S,
- 56.
Ebd., 702.
- 57.
Ebd., 703.
- 58.
Ebd., 698.
- 59.
Ebd., 699. – Anders in dieser Frage urteilt hingegen Horn (2011), 61, für den die Revolution nicht am Anfang der Reformation, sondern an deren Ende stehen muss. Das halte ich allerdings für eine sehr fragwürdige Interpretation, denn was sollte dann noch die Revolution sinnvoll vollziehen können, wenn alles schon in die Reform der Sitten gelegt worden ist? Auf diese Weise würde die Denkungsart von der Sinnenart abhängig gemacht werden. Den begrifflich notwendigen Vorrang der Revolution in Bezug auf die Läuterung des Subjekts betont deshalb auch Forschner (2009), 519 ff., und (2011), 71 ff.
- 60.
Kant (VIII), 713.
- 61.
- 62.
Kant (VIII), 698.
- 63.
Ebd., 699.
- 64.
Ebd., 696.
- 65.
Ebd., 726. – Was also die moderne Freiheitstristesse ausmacht, ist deren Unfähigkeit, einen Überschuss an Befreiung zu produzieren. Die reine Pflichtgesinnung kann nämlich nach Kant nie mehr tun als das, „was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist“: „Denn so tugendhaft jemand auch sei, so ist doch alles, was er immer Gutes tun kann, bloß Pflicht.“ Damit müsse sich aber jeder Mensch der Gefahr „einer unendlichen Strafe und Verstoßung aus dem Reich Gottes zu gewärtigen haben“. Ebd., 700 und 727. Für einen gnädigen Gottesbegriff bei Kant plädiert deshalb auch Blumenberg (1954), 554‒570.
- 66.
Kant (VIII), 695.
- 67.
Ebd., 699.
- 68.
In der Zeit kann also beides nicht zusammenfallen. Dass jemand moralisch wird, ist nach Kant nicht auf eine „allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt“, zurückzuführen; sondern sie wird „durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt“. Ebd., 698.
- 69.
Ebd., 702 f.
- 70.
Ebd., 699.
- 71.
Ebd., 730; auch 699.
- 72.
- 73.
So sieht noch Cassirer (1932) die vornehmliche Aufgabe der Aufklärung darin, mit allen Kräften die „transzendentale Vertiefung“ der Religion anzustreben. Ebd., 257.
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Kühnlein, M. (2023). Die Kritik des Vernunftglaubens. Kant und Habermas über die Moral der Moral. In: Kühnlein, M. (eds) Religionsphilosophie nach Kant. Neue Horizonte der Religionsphilosophie. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66142-0_16
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