Schlüsselwörter

1 Einleitung

Die Eindämmungsmaßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie haben die Öffentlichkeit überrumpelt. Eine mögliche Ursache dafür ist die sehr zurückhaltende öffentliche Kommunikation über Infektionskrankheiten in den vergangenen Jahrzehnten. Auch wegen der Diskrepanz zwischen der öffentlich vermittelten Bedeutung künftiger Seuchen und den unerwartet massiven Einschränkungen des Alltags wird nachdrücklich eine Aufarbeitung politischer Entscheidungen der Jahre 2020 und 2021 gefordert: Die damaligen Eindämmungsmaßnahmen sollen auf der Basis des aktuellen Wissensstands der Infektiologie (Virologie, Immunologie und Epidemiologie) evaluiert werden. Im März 2022 wurde die Prüfung der Maßnahmen durch eine unabhängige Expertenkommission in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen.

Auch in der Vergangenheit gab es Bemühungen, gesundheitspolitische Maßnahmen nach Krankheitsausbrüchen aufzuarbeiten. Einige Beispiele erläutert dieser Beitrag exemplarisch. Als Quellen dienen historische Forschungsberichte ebenso wie amtliche und nicht-amtliche Stellungnahmen. Der Beitrag soll die Funktion der Bewertung gesundheitspolitischer Entscheidungen zu Seuchenzeiten herausarbeiten.

Eine heilige Regel des Fachs Medizingeschichte ist das Verbot retrospektiver Diagnostik [1]. Wer seriös Wissenschaftsgeschichte betreibt, überlässt nicht nur die Spekulation über die Krankheiten historischer Persönlichkeiten Laien und Dilettanten. Auch Bewertungen von Heilversuchen, Therapien und Konzepten der Medizin sollten den Regeln der Historizität genügen [2]. Sie müssen sich am Wissensstand der jeweils beschriebenen Zeit orientieren. Michael Stolberg hat in einer Zusammenstellung historischer Krankheitserfahrungen vorgeführt, welche Einblicke in Wissenschaft, Alltag und Kultur der Frühen Neuzeit sich gewinnen lassen, wenn man sich auf diese Leitlinie einlässt [3]. Mit ähnlicher Strenge lassen sich die Diskussionen der jüngsten Vergangenheit jedoch kaum untersuchen. Die heute diskutierten Meinungen und Konzepte zur Eindämmung einer Pandemie existierten vor drei Jahren in prinzipiell ähnlicher Form wie heute. Zu Beginn des COVID-19 Ausbruchs löste gesichertes Wissen sukzessive die Arbeitshypothesen zu Entstehung, Ausbreitung und Eindämmung der Seuche ab. Neue Erkenntnisse und tradierte Überzeugungen beeinflussten die Debatten ebenso wie die Bewertung des Schutzes von vulnerablen Gruppen und die Abwägung von Freiheitsrechten. Der Fokus einer jeden rückblickenden Untersuchung wird auf den Maßnahmen, ihrer politischen Durchsetzung und ihren wirtschaftlichen Folgen liegen. Sie sind auf der Basis während der Pandemie erhobener Daten zur Pathogenität und Infektiosität des Erregers und zur demographischen Verteilung der schwer Erkrankten zu bewerten. Der naturwissenschaftlich-medizinischen Komponente wird in diesem Modell einer Evaluation regelmäßig die Fähigkeit zugesprochen, das politische Geschehen zu objektivieren.

2 Gesellschaftsgeschichten aktueller und historischer Pandemien

Der Historiker Malte Thießen hat eine Geschichte der ersten anderthalb Jahre der COVID-19 Pandemie in Deutschland geschrieben. Seine Perspektive erlaubt Leserinnen und Lesern, den Ablauf der Pandemie als Teil der politischen Geschichte der Gegenwart zu betrachten. Stringent weist er nach, weshalb Seuchen soziale Krankheiten sind, damals wie heute [4]. In der Absicht, COVID-19 im Wechselspiel wirtschaftlicher Interessen und politischer Strategien auf globaler Ebene darzustellen, verfasste der Mediziner und Historiker Karl-Heinz Roth ein Buch mit dem Titel „Blinde Passagiere“ über die Corona-Krise [5]. Mit den Methoden des Historikers zeichnet er die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Infektiologie der vergangenen 20 Jahre nach und fragt, warum die so genau vorhergesagte Seuche auf so wenige konkrete Vorkehrungen traf. Im Fazit seiner global angelegten Studie verlässt Roth bewusst die neutralere Perspektive des Historikers und wechselt in die eines politisch engagierten Arztes, der die Todeszahlen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie als Ergebnis einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung darstellt

„Death in Hamburg“ von Richard Evans, der bekannteste Prototyp einer historischen Untersuchung über Machtpolitik und medizinische Krise, erschien bereits 1987 [6], fünf Jahre vor dem 100. Jubiläum der letzten großen Cholera Epidemie in Europa, an der 16.000 Hamburgerinnen und Hamburger erkrankten, von denen etwa die Hälfte starb. Es ist eine Abrechnung mit einer allein an Ökonomie orientierten Verwaltung, der Evens das leuchtende Beispiel der preußischen Gesundheitsadministration unter der Leitung des Bakteriologen Robert Koch gegenüberstellt. Insoweit ist „Death in Hamburg“ ein politisches Buch, auch wenn es fast ausschließlich auf höheren Verwaltungsakten und nicht auf sozialhistorischen Quellen beruht. Evans historische Studie über die Cholera in Hamburg ist wahrscheinlich ein ebenso wirkmächtiges Monument, wie der an die Katastrophe erinnernde Hygieia-Brunnen im Innenhof des Hamburger Rathauses. Für die moderne Gesundheitspolitik ist es eine Art Glaubensbekenntnis. Der Neurologe Max Nonne erhält in Evans Buch das Schlusswort. Er nennt die Cholera die „Zäsur, die große Scheide zwischen dem alten und dem neuen Hamburg“ [7].

Gewissermaßen ein analytischer Gegenpol zu Evans Buch ist Constantin Goschlers 25 Jahre später erschienene politische Biographie des Zellularpathologen und liberalen Reichstagsabgeordneten Rudolf Virchow [8]. Goschler beschreibt, wie Virchow einen naturwissenschaftlich exakten Denkstil zu einem Habitus stilisiert, der die “Wahrheit” im pathologischen Labor in eine unabhängige politische „Wahrheit“ konvertiert. Eine Leistung Goschlers ist, dass er dem Fortschrittsglauben Virchows historisch einordnet, denn naturwissenschaftliche Expertise war schon bald nach der Reichsgründung nicht mehr zwingend mit liberalem Gedankengut verbunden. Die Geschichte zeigt, dass sie auch für nationalistische und repressive Positionen nutzbar gemacht werden kann.

3 Das Verschwinden der Seuchen

Allem Fachwissen um „One Health“ und um die Entstehung neuer Viren zum Trotz, wurde der Begriff Seuche in den vergangenen Jahrzehnten fast nur noch für historische Krankheitsausbrüche benutzt, bevor er Anfang 2020 mit Vehemenz in die Gegenwart zurückkehrte. Die Kommunikation über das persönliche Freiheiten beschränkende Arsenal staatlicher Interventionsmöglichkeiten zu Bekämpfung von Infektionskrankheiten folgte erkennbar der Strategie, über unpopuläre Eindämmungsmaßnahmen möglichst zu schweigen. Als ein Symptom der Bemühungen um eine behutsame Wortwahl lässt sich die Umbenennung des Bundesseuchengesetzes in Infektionsschutzgesetz (Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen) im Jahr 2001 interpretieren.

Dass im März 2020 eine gruppenbezogene Masernimpfplicht in Deutschland eingeführt wurde, im Westen zum ersten Mal seit Ende der Pockenimpfpflicht 1976 und im Osten erstmals nach der Widervereinigung, hatte im Vorfeld wenig Aufmerksamkeit erfahren und wurde von keiner größeren Aufklärungskampagne begleitet. In der Presse blieben Debatten weitgehend aus. Das war ein Ergebnis geschickter Kommunikation.

Markantes Beispiel für das Streben, die Rolle des Staates bei der Eindämmung von Seuchen als niederschwellig darzustellen, war die von 2014 bis zur Einführung der Masern-Impfpflicht laufende Kampagne „Deutschland sucht den Impfpass“ der Bonner Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung. Auf den ersten Blick scheint ihr Auftrag gewesen zu sein, zur Masernimpfung aufzurufen. Doch die Plakate, Anzeigen und Spots erwähnten die Krankheit nur beiläufig. Eine Kinowerbung zeigte ein tanzendes Paar bei der Suche nach dem gelben Ausweis im heimischen Umfeld. Möglichst absurde Orte zur Archivierung des Impfpasses im privaten Raum waren auch der Aufhänger der begleitenden Plakataktion. Vermittelt wurde, die Dokumentation des Impfstatus sei Privatsache. Keine Behörde überwache oder protokolliere, wer gegen was geimpft ist, und auch die Sorgfalt in dieser Sache bleibe jedem selbst überlassen.

Den verlegten Impfpass als sympathische Alltäglichkeit darzustellen, setzte eine lange Tradition fort, Hinweise zu gesundheitlichen Themen möglichst wenig direktiv erscheinen zu lassen. In der DDR hatte sich die progressive DEFA-Dokumentarfilmgruppe Spektrum bemüht, die vom Nationalen Institut für Gesundheitserziehung in Auftrag gegebenen gesundheitlichen Unterweisungen durch Humor zu brechen, wenn nicht zu konterkarieren. Das verständliche Bedürfnis, sich von den als Kulturfilme firmierenden Aufklärungskampagnen zur gesundheitlichen Volksbelehrung der 20er und 30er Jahre abzugrenzen, verband sich in der DDR mit dem Ziel, „sozialistische Werbung“ zu betreiben. Dieses Konzept sollte Errungenschaften und bisher Erreichtes als Ergebnis erfolgreicher Politik präsentieren [9].

Auch in der Bundesrepublik der 1970er Jahre dienten viele Kampagnen offensichtlich dem Ziel, die Gesundheitsbehörden als kompetent und eventuelle Bedrohungen als leicht beherrschbar darzustellen. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen die 1987 spät einsetzenden Kampagnen zu HIV/AIDS dar. Sie setzten auf eine umfassende Information der Bevölkerung [10]. Das allerdings ist einer besonderen Ausgangslage zu verdanken: Viele kommunale Aids-Hilfen, die in ihrer Geschichte auf ehrenamtliches Engagement zurückgingen, hatten mit fundiertem Expertenwissen ein hohes Niveau vorgebahnt, hinter das die Bundesebene nicht zurückfallen konnte. Für sexuell übertragbare Krankheiten blieb in dem ansonsten weichgespülten Umfeld bundesdeutscher Gesundheitskampagnen eine klare Sprache an der Tagesordnung, wie die jüngere Kampagne Liebesleben mit dem Slogan „Juckt’s im Schritt?“ belegt.

Bei dem wichtigen Thema Impfen hingegen trauten die Verantwortlichen der Öffentlichkeit eine auf epidemiologischen Erkenntnissen basierende Information nicht zu. Die Argumentation, dass eine Masernimpfung nicht allein dem Impfling dient, und dass das Ziel einer Herdenimmunität zum Schutz vulnerabler Gruppen erreicht werden muss, wurde als zu umständlich und zu wenig überzeugend verworfen.

Die Bewertung der öffentlichen Kommunikation von COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen gehörte nicht einmal zu den Aufträgen des gesetzlich vorgeschriebenen Sachverständigenausschusses zur Evaluation der bundesdeutschen Pandemiepolitik. Doch dieser entschied eigenständig, „die Wirksamkeit staatlich verordneter Präventionsmaßnahmen [als] entscheidenden Aspekt in den Bericht aufzunehmen“, um am Ende seiner differenzierten und kritischen Ausführungen einzuräumen, dass die vorhandenen Daten für „eine belastbare Evaluation aber noch nicht die nötige Detailtiefe“ besitzen würden [11].

4 Das frühe Ende der Corona-Pandemie

Wie wenig der für einen Seuchenausbruch vorgehaltene Maßnahmenkatalog des Infektionsschutzes Anfang des Jahres 2020 bekannt war, spiegelte nicht zuletzt die Berichterstattung über Wuhan und China im Januar 2020. Dortige Quarantäne- und Erfassungsmaßnahmen und der Bau von Massenquartieren wurden als Exzesse eines autoritären Regimes beschrieben.

Als die SARS-CoV-2- Pandemie kurz darauf auch für Europa als unabwendbar erkannt wurde, fühlten sich dementsprechend viele Menschen wie aus der Zeit gefallen. In der Berichterstattung und auch in wissenschaftlichen Diskursen etablierte sich nun, die gerade beginnende Seuche von ihrem Ende her zu denken. Am Medizinhistorischen Museum Hamburg setzten wir den Termin für die Eröffnung unserer Seuchen-Ausstellung auf ‚nach der Pandemie, 18 Uhr‘ fest. Frei nach der Verabredung des braven Soldaten Schwejk mit seinen Kumpels, für „nachm Krieg“ zwischen sechs und halb sieben abends im Prager Kelch [12].

Noch die 2021 ausgerufene Osterruhe sollte ein Versuch sein, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 mit Hilfe eines strikten Lockdown zu unterbinden. In dem Begriff verbanden sich epidemiologische Erwartungen mit Hoffnungen auf eine Wiederauferstehung des öffentlichen Lebens nach dem Ende der Seuche.

Zur lange tradierten Ikonographie der Seuchen gehört das Motiv des Regenbogens. Ursprünglich symbolisiert es das Versprechen Gottes, nach der Sintflut das Leben nicht ein zweites Mal zu vernichten, und es findet sich auf Pestmedaillen des 18. Jahrhunderts [13] ebenso wie auf den Kinderzeichnungen, die im ersten COVID-19-Lockdown in die Fenster gehängt wurden.

5 Erkenntnisgewinn durch Seuchen

Vorangegangene Seuchen dienten als Lehrmeister für die Bekämpfung der ihnen folgenden. Die Pest belegte die Effizienz von Eindämmungsmaßnahmen. In den oberitalienischen Hafenstädten wurden sie ab Mitte des 17. Jahrhunderts systematisch angewandt, vor 300 Jahren wurden Quarantäne, militärische cordons sanitaire, das Schließen der Stadttore, die Isolierung von Kontaktpersonen und das Verbrennen des Hausstands Erkrankter fest als Praktiken etabliert. Als die Cholera 1830 erstmals in Europa als epidemisches Geschehen beschrieben und einem Ursprung in Asien zugeordnet wurde, empfahlen die Medizinal-Sektionen vieler deutscher Innenbehörden, sie einzudämmen wie einen Pestzug. „Weil sich die Quarataine-Anstalten gegen die Pest schützend erwiesen haben, so müssen sie es auch gegen die Cholera“, lautete das Dogma. Die Königsberger Ärzte Georg Hirsch, Johann Jacobi, Ludwig Wilhelm Sachs und Heinrich von Treyden zweifelten früh daran und stellten nach der Katastrophe resigniert fest: „Was aber stellen diese Vorkehrungen gegen die Cholera als Resultat reiner heraus, als ihre Vergeblichkeit? Noch hat sich kein Cordon geweigert, die Cholera, sobald sei es wollte, ihren Zug fortsetzen zu lassen“ [14].

Besonders bewegte die Öffentlichkeit die von dem Maler Horace Vernet in einem Ölgemälde festgehaltene Legende von der Fregatte Melpomène, deren Besatzung nach und nach gestorben sei, weil sie die an Bord grassierende Cholera nicht an Land habe verbreiten wollen. Die Darstellung von den jungen Männern, die ihr Leben der Eindämmung der Seuche geopfert hätten, entsprach nicht ganz der Realität: Man hatte sie in ein Lazarett gebracht. Die Legende illustriert plastisch das Leid der von Eindämmungsmaßnahmen Betroffenen, zeigt sie als Helden und transportiert die Überzeugung, die Cholera sei eine direkt von Mensch zu Mensch übertragbare Contagion.

Bemerkenswert ist die übergroße Zahl von kleinen, meist zwischen 16 und 48 Seiten umfassenden Heftchen mit Erklärungen zur Entstehung der Cholera, Hinweisen zu ihrer Prävention oder mit bisweilen werbenden, detaillierten Behandlungsempfehlungen, die allein im Jahr 1831 zu Tausenden gedruckt und verkauft wurden. Einige wandten sich an Behörden und Mediziner, die meisten aber an die allgemeine Bevölkerung. Die als Choleraschriften bezeichneten Büchlein bildeten ein eigenes Genre unter den Flugschriften, die um 1830 populär wurden. Fast jede Buchhandlung besaß einen eigenen Verlag. Neu war nicht das Medium Buch. Neu war, dass fast die Hälfte der Bevölkerung in Preußen lesen konnte [15] – ein rasanter Anstieg, denn zehn Jahre zuvor war es nur ein Drittel gewesen.

Verfasst wurden die Choleraschriften von Ärzten, Apothekern, Theologen, Wundärzten und anderen Heilern, aber auch ganz einfach von Schreibern, die den Buchmarkt bedienen wollten. Insbesondere die Homöopathie verdankt ihre Popularität der Cholera, allein elf Choleraschriften veröffentlichte ihr Begründer Samuel Hahnemann im Jahr 1831. Von den Homöopathen so geziehene Schulmediziner konstatieren allerdings, dass ihr Erfolg weniger auf der Verabreichung von Globuli beruhte, als darauf, dass Homöopathen – anders als viele zeitgenössische Kollegen – den Kranken gestatteten, zu trinken.

Auch andere Felder der Seuchenprophylaxe wurden mit Hilfe von Flugschriften beackert. Bemerkenswert früh wurden in Großbritannien etablierte gesundheitspolizeiliche Maßnahmen mit statistischer Hilfe evaluiert. Der promiente Gesundheitsreformer Gilbert Blane, der 1780 gegen viele Widerstände Zitronensaft zum verpflichtenden Nahrungsmittel für Matrosen erklärt hatte, und damit den Skorbut der Seeleute erfolgreich bekämpfte, verfasste im Alter von über 70 Jahren eine Bewertung der Pockenimpfung. In seinen „Statement of Facts“ behauptete er, dass die landesweiten Kampagnen zur Pocken-Variolation insbesondere im ländlichen Raum erst zur flächendeckenden Ausbreitung der Krankheit geführt hätten [16]. Die Beobachtung begründet er mit dem geringen Kontakt entlegener Ortschaften mit dem Umland, was Epidemien dort zuvor selten gemacht habe. Die Impfpocken aber waren ansteckend. Diese These Blanes wurde weitgehend anerkannt. Doch auch die Vakzination missfiel dem Marinearzt. Er unterschied nicht zwischen der Inokulation mit Menschenpocken und der ab 1799 von Eduard Jenner eingeführten Kuhpockenimpfung. Eine statistisch stetig steigende Pockenmortalität – nach heutigen Bewertungen Folge mit einer im Zuge der britischen Industrialisierung rasant ansteigenden Mobilität der Bevölkerung – interpretierte er als von der Impfung begünstigt.

Das Medium Flugschrift revolutionierte den medikalen Markt des frühen 19. Jahrhunderts. Zuvor waren Maßnahmen zur Bekämpfung von Krankheiten wie alle andern amtlichen Verkündigungen in der Kirche verlesen worden. Einer des Lesens mächtigen Bevölkerung standen bei Ausbruch der Cholera 1831 und in der Zeit der ersten Kampagnen zur Pockenvakzination erstmals auch alternative Informationen zur Verfügung.

6 Deutungsmacht und Medien

Als das markanteste Beispiel für die katastrophalen Folgen eines Ausbleibens gesundheitspolitischer Maßnahmen gilt die Hamburger Cholera-Epidemie von 1892. Das zumindest legt die gegenwärtige historische Bewertung nahe. Die Narration ist klar: In Hamburg glaubte man lieber an die Theorie von Max Pettenkofer, nach der die Cholera durch Gärung und Fäulnis im Boden verursacht sei, als an die Bakteriologie. Das aufwändige Verfahren, der Tide unterliegendes Elbwasser mit Hilfe einer Sandfiltration zu klären, wie Preußen es in Altona exerzierte, war von der Hansestadt auch mit Hilfe dieser Begründung prokrastiniert worden.

Noch nach der Katastrophe weigerten sich die Verantwortlichen, die Deutungsmacht aufzugeben. Gegen die Kritiker verwahrte man sich. „Waren bis dahin der Verwaltungsorganismus, die Leistungen auf den verschiedenen Gebieten wirthschaftlichen Fortschrittes als mustergültig dargestellt, so konnte man sich nun nicht genug daran thun, alles im Zustande der ärgsten Fäulnis und Verrottung, auf dem Sturz in den Abgrund des Verderbens befindlich erklären“, hieß es in einer Publikation der Hamburger Finanz- und Tageszeitung Börsen-Halle [17]. Allen voran brandmarkte das Blatt die auf die Cholera folgenden sozialen Maßnahmen als marxistisch, „jedes Missgeschick [sollte] ein Beweis für den abermaligen Bankrott der kapitalistischen Wirtschaft sein“. Und so veröffentlichte der Zeitungsverlag eine Reihe von Berichten über die ökonomischen Folgen der ihrer Ansicht nach viel zu strikten Cholera-Politik des Jahres 1892.

Im zweiten Band der Cholera-Abrechnung des Verlags Neue Börsen-Halle sekundiert der Hamburger praktische Arzt Friedrich Wolter aus medizinischer Sicht. In Hinblick auf die Bewertung der Cholera-Maßnahmen von 1892 forderte er Skepsis gegenüber der Bakteriologie: „Wenn ich das Resultat der nachfolgenden Betrachtung unbekümmert darum, dass es der zur Zeit in der Choleraforschung vorherrschenden bacteriologischen Auffassung in wesentlichen Punkten widerspricht, der Oeffentlichkeit übergebe, so geschieht es im Vertrauen darauf, dass sich das Ergebniss der wissenschaftlichen Bearbeitung dieser Epidemie in vollständiger Uebereinstimmung mit den Feststellungen der epidemiologischen Choleraforschung befindet, in gleicher Weise wie es mir für meine Bearbeitung der früheren Cholera-Epidemien Hamburgs von Herrn Geh.- Rath v. Pettenkofer selbst in unumwundenster und erfreulichster Weise bestätigt worden ist. Die Ereignisse des Jahres 1892 haben uns in Deutschland in ausserordentlicher Weise die Ruhe vermissen lassen, welche aus einer klaren Erkenntniss der zeitlichen, örtlichen und individuellen Verhältnisse, aus welchen das Auftreten eines epidemischen Erkrankens an Cholera resultirt, sich ergiebt.“ [18]

Es waren insbesondere die Reisebeschränkungen und die Schließung des Hafens, die Wolter kritisierte. Die Behinderung des Warentransports habe zu „ausserordentlichen Schädigungen des Nationalwohlstandes“ geführt.

Wolters Parteinahme für Pettenkofer muss 1895 Aufsehen erregt haben. Pettenkofer war der schärfste Gegner der preußischen Cholera-Politik und hatte nach Ende der Hamburger Cholera eine lege artis hergestellte Boullion-Kultur mit etwa einer Milliarde Kommabazillen getrunken. Er wollte den seit 1854 von John Snow nachgewiesenen Übertragungsweg der Cholera über das Wasser im Selbstversuch widerlegen und so selbst als lebender Beweis gegen die Legitimität der in Hamburg zur Eindämmung der Cholera ergriffenen „schwer wiegenden Maßnahmen“ dienen [19]

Friedrich Wolter blieb seiner Theorie treu. Noch 1929 unterstützte die Hamburger Senatskanzlei den laut British Medical Journal „letzten Anticontagionisten“ [20] beim Aufbau eines Epidemiologischen Forschungsinstituts [21].

7 Zusammenfassung

Als eine Sattelzeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis in Deutschland gelten die 1830er und 1840er Jahre. Kriege, viele Herrschaftswechsel, die Hungersnot im „Jahr ohne Sommer“ und die die neue Krankheit Cholera waren überstanden. Die von Philosophen und Theologen gestellten Fragen nach einer absoluten Wahrheit wurden weitgehend unbeantwortet zur Seite gelegt. Naturwissenschaftliche Untersuchungen versprachen neue Erklärungen von Lebenszusammenhängen. Das Sammeln und Sortieren von Wissen prägten diese Periode [22]. Die Choleraschriften mit ihren vielen unterschiedlichen nebeneinander existierenden Theorien, Konzepten und merkantilen Anliegen spiegeln die wissenschaftlichen Diskussionen dieser Zeit.

Die Hamburger Zeitung Börsen-Halle nahm vehementen Anstoß an der ausgelobten sozialen Erneuerung Hamburgs und stellte die konsequenten Eindämmungsmaßnahmen der Reichsregierung im Sommer 1892 unter zur Hilfenahme von Pettenkofers Theorie als unbegründet dar. Letztlich prägten die weit weniger populär abgefassten Berichte des Kaiserlichen Gesundheitsamtes das Bild Hamburgs als Schauplatz der letzten großen Choleraepidemie in Europa.

Die Aufarbeitung von gesundheitspolitischer Maßnahmen nach Ende einer Seuche führt nur in seltenen Fällen zu einem allseits akzeptierten Urteil. Bereits die Legitimität der Benennung von Gutachterinnen und Gutachtern kann angezweifelt werden. Hat sich ein breit anerkanntes Expertengremium geäußert, liegen oft bereits Berichte anderer Institutionen und Interessensgruppen vor. Welche Expertise am Ende das größere Gewicht erhalten wird, hängt maßgeblich von ihrer Publizität ab.