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1 Existentes Wissen nutzen

Am Anfang des Naturereignisses SARS-CoV-2 Pandemie 2020 standen mehr Fragen als Antworten; obwohl medizinisch-historische Studien rund 4 Pandemien in jedem Jahrhundert in den letzten 1000 Jahren beobachteten. Deshalb hätte man auf mehr gesichertes Wissen hoffen und auch verwenden können als tatsächlich genutzt worden war, vor allem bei der Wirksamkeit der „nicht-pharmazeutischen Maßnahmen“ (NPI). Letztendlich waren die NPI die einzigen Möglichkeiten in der Vergangenheit, die gesundheitlichen Auswirkungen einer Pandemie zu reduzieren. Medikamente und Impfstoffe standen nie auch nur annähernd rechtzeitig in ausreichender Menge zur Verfügung.

Aber die letzten Pandemien haben aus vielerlei Gründen keine oder nur wenig ableitbaren Analysenergebnisse zur Wirksamkeit der NPI geliefert. Bereits 2001 wurde vom Robert Koch-Institut (RKI) darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der im Infektionsschutzgesetz verankerten NPI im Pandemiefall – zum Beispiel Schließung von Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen, das Verbot von Veranstaltungen, Quarantäne, Grenzkontrollen oder Beschränkungen des internationalen Reiseverkehrs – nicht näher untersucht und unbekannt sei. Dem RKI war bereits klar, dass demzufolge diese Maßnahmen nur probatorisch angeordnet werden können. Es wurde angemahnt, ihre Effektivität vor der Pandemie zu klären [1].

Der im Jahr 2016 aktualisierte Pandemieplan des RKI beinhaltet weiterhin eine lange Reihe von NPI, deren Maßnahmen nicht erforscht sind beziehungsweise für deren Evaluierung keine Interventionsstudien vorliegen [2].

Darüber hinaus war es 2020 nicht möglich, Fachkollegen mit „historischer“ praktischer Erfahrung zu konsultieren: Die letzte „richtige“ Pandemie, verursacht durch H3N2 1968, lag mehr als 50 Jahre zurück. Es gab in Deutschland auch niemanden, der sich in den letzten Jahrzehnten beruflich dauerhaft mit Pandemievorbereitung beschäftigt hatte.

Trotzdem hätte man bei der Pandemieplanung sich mehr auf existentes Wissen auf den Gebieten der Epidemiologie, Krankenhaushygiene, Infektiologie, Vakzinologie und Immunologie berufen können. Man hätte auch sicher das Ende der Pandemie bereits am Anfang im Auge behalten müssen: die dauerhafte Zirkulation eines Atemwegserregers, die zwangsläufig zur Infektion alle Individuen in der Population führen wird.

Epidemiologisch stand bereits im Februar 2020 einiges fest – nicht nur wie der SARS-CoV-2 Ausbruch enden wird:

  • Wenn die außerordentlichen Maßnahmen in Wuhan, die sich nur partiell oder gar nicht in anderen Ländern in ihrer Stärke umsetzen liessen nicht genügen, die Weiterverbreitung des Virus zu stoppen, ist die globale Verbreitung nicht zu aufzuhalten; es werden sich zwangläufig alle infizieren.

  • Gemeinsam mit den bereits Anfang 2000 publizierten Modellen zur Wirksamkeit von Grenzschließungen bei ähnlichen Atemwegserkrankungen war auch abzusehen, dass Grenzschließungen maximal Symbolcharakter haben können und an der Ausbreitungsgeschwindigkeit nur wenig ändern.

  • Die höchste Krankheitslast wird bei den Vulnerablen und sozial Benachteiligten liegen.

    • Sie verdienen den prioritären Schutz, ohne dass man die anderen Altersgruppen dabei vergessen darf.

    • Die Maßnahmen müssen die Krankheitslast der jeweiligen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten berücksichtigen und das Infektionsrisiko, das sie für Vulnerable darstellen. Wenn man das berücksichtigt hätte, wären nicht rund 40% der Todesfälle in der relativ kleinen Gruppe der Bewohner der stationären Altenpflege aufgetreten und wären die Kollateralschäden bei den Kindern geringer gewesen.

  • Die Wirksamkeit der Kontaktnachverfolgung gegen die Virusverbreitung ist begrenzt bei einem Virus, das bereits relativ lang in der Inkubationszeit ausgeschieden wird.

    • Die Ressourcen der Gesundheitsämter hätten primär für die Prävention also beispielsweise für die Entwicklung, Umsetzung und Kontrolle der Hygienekonzepte in der stationären und mobilen Altenpflege, in Krankenhäusern und Schulen eingesetzt werden sollen, anstatt sie beinahe komplett durch die Kontaktnachverfolgung zu binden. Es gibt bis dato keine verlässlichen, quantitativen Daten zur Wirksamkeit von Quarantäne und Isolierung.

  • Quarantäne und Isolierung sind Maßnahmen, die man am Anfang einer Epidemie oder Pandemie einsetzt, um Infektionsketten zu unterbrechen oder zu verlangsamen. Sie haben abnehmende oder keine Bedeutung beim Übergang zur Endemie und wenn das Virus bereits frei in der Population zirkuliert.

  • In Endemien wie beispielsweise der Influenza spielen die Kinder als Infektionsquelle eine größere Rolle als Erwachsene. Denn die Erwachsenen haben sich bereits mehrfach infiziert und sind weniger bedeutend als Ausscheider und Infektionsquelle als die immunologisch naiven Kinder.

    • Es wurde bereits relativ früh aus Studien im Ausland und später auch in Deutschland deutlich, dass Erwachsene häufiger Kinder mit SARS-CoV-2 infizieren als umgekehrt, auch in den Schulen. Es gab und gibt auch keine Hinweise darauf, dass Kinder häufiger Vulnerable anstecken als Erwachsene.

  • Nach dem Sommer 2020 war bereits deutlich, dass das Infektionsgeschehen einer erheblichen Saisonalität unterliegt. Bis heute scheint noch nicht verstanden worden zu sein, dass stärkere Maßnahmen im Sommer keinen zuträglichen Einfluss auf die Höhe der Winterwelle haben – das Gegenteil ist sogar der Fall.

Infektiologisch war beispielsweise abzusehen oder stand fest:

  • Es wird keine sterile Immunität bei SARS-CoV-2 geben und damit auch keine Herdenimmunität.

    • Wenn es anders wäre, würde es auch keine Endemie geben, da das Virus nach dem Ende der Pandemie aus der Humanpopulation verschwinden würde, weil es keine empfänglichen Wirte mehr gäbe. Nur bei Vorhandensein eines Reservoirs (Tier; Arthropoden) könnte es wiederkehren – dann mit Ausbrüchen nur bei Kindern.

  • Asymptomatische Infektionen werden auftreten und mit der Anpassung des Virus an den Menschen an Häufigkeit zunehmen.

  • Es wird genetisch und auch antigenetisch unterscheidbare Virusvarianten geben.

  • Das Virus wird sich durch die Zirkulation in seinen Eigenschaften verändern. Biologisch plausibel ist eine Zunahme der Pathogenität nicht.

Aus dem Blickwinkel der Vakzinologie konnte beispielsweise bereits folgendes vorhergesagt werden:

  • Ein parenteraler Impfstoff wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht vollständig gegen Infektion und Ausscheidung schützen. Das bestätigten dann bereits die ersten klinischen Studien 2020. Geimpfte und Genesene werden also weiter am Infektionsgeschehen teilnehmen. Die Impfung wird nicht vor Reinfektion und Ausscheidung schützen.

    • Impfstoff wird erst nach einer Entwicklungszeit von mehreren Monaten zur Verfügung stehen.

    • Entwicklung und Zulassung werden zunächst auf ältere Menschen und vulnerable Gruppen zielen.

    • Kinderimpfstoffe werden als letztes wahrscheinlich erst zum Ende der Pandemie entwickelt und zugelassen werden.

    • Impfstoffe für kleine Kinder (unter 5 Jahren) sind nur wahrscheinlich, wenn die Krankheitslast hier hoch ist. Es wird nicht rechtzeitig oder überhaupt keinen Impfstoff für kleine Kinder geben.

  • Weil antigenetisch variierende Varianten auftreten werden, wird eine Anpassung des Impfstoffes notwendig sein.

  • Serokonversions- und Serodynamikstudien zumindest in den älteren Jahrgängen hätten sofort von den Zulassungsbehörden für die klinische Erprobung verlangt werden müssen, um die Schutzdauer des Impfstoffes besser antizipieren zu können.

  • Dosierungsstudien hätten frühzeitig angefordert und sofort begonnen werden müssen, nachdem die wichtigsten klinischen Studien für die Erstzulassung abgeschlossen waren. Eine singuläre Dosierung für alle Altersgruppen führt sehr wahrscheinlich zu einer Überdosierung bei den jüngeren, immunologisch potenteren Altersgruppen und potenziell einer Unterdosierung für die Immunoseneszenten.

  • Der Impfstoffbedarf seitens der Bevölkerung wird zum Ende der Pandemie beim Übergang zur Endemie dramatisch fallen. Impfungen werden dann auch gesundheitsökonomisch nicht mehr oder nur für die Vulnerablen angezeigt sein.

Aus der immunologischen Perspektive war unter anderem zu erwarten:

  • Der Schutz, den ein Impfstoff „nur“ gegen das Oberflächenprotein generiert, wird sehr wahrscheinlich vor allem auf den neutralisierenden Antikörpern beruhen.

    • Deren Dynamik muss schnell durch Studien bestimmt werden.

    • Die Infektion, die eine breitere Immunantwort generiert, wird für den Eintritt in die Endemie notwendig sein.

  • Die Impfung kann die Auswirkung der Erstinfektion reduzieren. Sie genügt aber nicht für eine stabile, länger andauernde Immunität, die erst die Infektion ermöglicht.

  • Da SARS-CoV-2 auch systemische Infektionen und die von anderen Erregern bekannten überschießenden Immunreaktion (beispielsweise Cytokinsturm) hervorrufen kann, sind länger andauernde und auch chronische Erkrankungen zu erwarten, vor allem bei Personen mit schweren Verläufen.

    • Klinische Forschung hätte helfen können, den tatsächlichen Anteil beispielsweise von LongCOVID an der Krankheitslast früher zu evaluieren.

2 Systemisches Problem lösen: funktionsfähiges Krisenmanagement

Das Krisenmanagement in einer Pandemie kann nur so gut sein, wie die allgemeine nationale Vorbereitung und das Management von Krisen und Notfällen. Letztendlich baut das Krisenmanagement – egal, ob es sich um eine Pandemie, den kompletten Ausfall einer kritischen Infrastruktur oder ein Reaktorunglück handelt – auf denselben generischen Plattformen, Strukturen, Mechanismen und Plänen auf. Separate, eigenständige Kapazitäten oder Reaktionsmechanismen für jede individuelle Bedrohung aufzubauen, ist nicht möglich und auch nicht notwendig. Konzepte, Strategien und entsprechende Programme des Managements von gesundheitlichen Notfällen und Katastrophen bedienen sich deshalb der allgemeinen Krisenmanagementkapazitäten, aber ergänzen diese durch die risikospezifischen Ressourcen.

Die SARS-CoV-2 Coronavirus erfordert die gleichzeitige Bewältigung einer gesundheitlichen wie ökonomischen Krise. Deshalb benötigt man eine Managementhierarchie, die die gesundheitliche Krise führt und eine regierungsübergreifende Koordinierungsstruktur für breitere ökonomische und soziale Konzepte. Für eine so komplexe Krise wie eine Pandemie benötigt es eine eigenständige, unabhängige Infrastruktur, eine straff organisierte, hierarchische Führungskultur und einen fähigen Krisenkoordinator mit einem direkten Draht zum Regierungschef. Auch wenn es sich bei der Pandemie um eine Gesundheitskrise handelt, sollte man nicht davon ausgehen, dass der Crisis Commander (Abb. 1) ein Gesundheitsexperte ist.

Abb. 1.
figure 1

(Eigene Darstellung)

Organigramm eines funktionsfähigen Krisenmanagements

3 Ständiges fachliches Beratungsgremium

Das Krisenkontrollzentrum benötigt für die fachliche Beratung ein ständiges multidisziplinäres Gremium, das inhaltlich die wesentlichen Komponenten der Bekämpfung und der betroffenen Lebensbereiche abdeckt (Tab. 1). Dieses Beratungsgremium soll die von der Exekutive geforderte Kompetenz einbringen und die Grundlagen für die Bekämpfungsstrategie und -pläne für die politische Entscheidung entwickeln. Darüber hinaus soll das Gremium auch proaktiv die Exekutive über aktuelle und zukünftige Problemfelder informieren und beraten. Das Beratergremium ist verantwortlich für die Entwicklung von Bekämpfungsoptionen für die politische Entscheidungsfindung. Dabei ist eine Balance zu finden zwischen den gesundheitlichen, wirtschaftlichen und freiheitlich-demokratischen Notwendigkeiten und den Herausforderungen der Pandemie. Dazu gehört auch die Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Interventionen und eine gesundheitsökonomische Evaluierung der Pläne und Maßnahmen angesichts der getätigten enormen Ausgaben für die Pandemiebekämpfung.

Tab. 1. Multidiszipinäres ständiges Expertengremium als Teil des „Crisis Command Centre“

Das Krisenmanagement muss einen Prozess der breiten Einbeziehung fachlicher Kompetenzen in die Entscheidungsvorbereitung zum Risikomanagement etablieren. Besprechungen nur mit einzelnen Wissenschaftlern aus Spezialdisziplinen genügen nicht, ergebnissoffen Präventions- und Kontrolloptionen zu erarbeiten und ihre Vor- und Nachteile abzuwägen. Es benötigt Platz für den wissenschaftlichen Diskurs im Vorfeld der Entscheidungsfindung. Ohne den Diskurs entsteht der Eindruck, dass Positionen, die nicht zum fest geprägten Standpunkt der Entscheidungsträger passen, nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie die Entscheidungsfindung schärfen und die Suche nach der besten Lösung befördern könnten. Ein offener Diskurs mit allen wesentlichen Fachbereichen ist aber entscheidend zur Überwindung der Krise.

4 Strategische Zielstellung

Grundlage einer tragfähigen Bekämpfungsstrategie ist ein strategisches Ziel. Das war aus meiner Sicht in Deutschland nicht zu erkennen. Ansonsten hätte man, mit dem Ende der Pandemie im Auge und dem Verständnis, dass es bei der Pandemiebekämpfung um die Minderung der gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen geht, beispielsweise Anfang 2020 Aussagen wie: „Todesfälle sind nicht tolerabel“, von Regierungsseite nicht gemacht. Hier hat sich der Wunsch und die Hoffnung zur Erwartung stilisiert. Dies findet sich jetzt immer noch in der Argumentation, dass „200 bis 300 Todesfälle am Tag nicht hinnehmbar“ seien und dies der Grund für stärkere Maßnahmen im Frühling und Sommer sei. Natürlich sind die Todesfälle schrecklich und jeder einzelne für die Betroffenen und die Familien dramatisch. Doch in dem Wissen, dass sich das Virus nicht ausrotten lässt, dass sich jeder infizieren wird und dass die Bekämpfungsmaßnahmen ausgereizt sind (Impfstoff, Medikamente, stabiles Gesundheitswesen) – wie will man diese Infektionen, Erkrankungen und Todesfälle verhindern? Dasselbe trifft für LongCOVID zu: Impfung, die rechtzeitige Einnahmen von Medikamenten und eine gute medizinische Behandlung können nicht alle Fälle verhindern. Mehr als diese Gegenmittel gibt es leider nicht.

5 Strukturierte Risikoeinschätzung

Als ein Kernelement benötigt das Krisenführungszentrum einen strukturierten Prozess der Risikoeinschätzung für die ständig neu auftauchenden Fragen der Bekämpfung (Abb. 2). Dazu kommt die Priorisierung der zu lösenden epidemiologischen, klinischen und impfstoffseitigen Fragestellungen als Grundlage für die Entwicklung eines zwingend notwendigen nationalen Forschungskonzeptes. Diese Risikoeinschätzung erfordert strukturell ein ad-hoc, unabhängiges, multidisziplinäres Beratungsgremium, denn politische Entscheidungen auf der Grundlage der Risikobewertung von einzelnen Vertretern weniger Fachgebiete sind unzureichend und tragen zur Polarisierung bei der Pandemiebekämpfung und auch in der Gesellschaft bei.

Abb. 2.
figure 2

Strukturierter Prozess der Risikoeinschätzung für neu auftauchende Fragen der Pandemiebekämpfung. (Eigene Darstellung)

6 Systematische Begleitevaluierung

Es ist gute Praxis sowie eine wesentliche Grundlage des Controllings und der Projektevaluierung, den Fortschritt bei der Erreichung des geplanten Bekämpfungszieles ständig zu evaluieren und die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel und damit bezahlten Maßnahmen einzuschätzen. Bei komplexen Projekten wie der nationalen Pandemiebekämpfung mit Ausgaben, die allein 2020/21 mehr als 300 Mrd. Euro Mehrausgaben des Bundes beinhalten, ist diese Evaluation sogar zwingend erforderlich.

Die begleitende wissenschaftliche Untersuchung gehört zweifellos zu den Kernelementen einer jeden Krise. Handelt es sich um gesundheitliche Massenphänomene, muss in einer Ausbruchssituation durch die Gesundheitsbehörden schnell die Existenz und das Ausmaß eines öffentlichen Gesundheitsproblems dokumentiert und umgehend geeignete Maßnahmen zur Lösung des Problems ergriffen werden [3]. Auf den ersten Blick erscheint angesichts der enormen, akuten Herausforderungen des Krisenmanagements die Sammlung von verallgemeinerbaren wissenschaftlichen Daten und Information wenig relevant. Genau das Gegenteil trifft jedoch zu: Die Forschung bietet die einzige Möglichkeit, das Ausmaß und die der Krise zugrundeliegenden Triebkräfte zu verstehen und daraus spezifische, verhältnismäßige Maßnahmen, Pläne und Empfehlungen mit konkreter Wirksamkeitseinschätzung zu erarbeiten [4].

Die SARS-CoV-2 Krise hat diese allgemeingültige Tatsache in besonderem Maße bestätigt. Als Reaktion auf die Ausbreitung von SARS-CoV-2 haben Regierungen nicht nur großflächig und zum Teil sogar wiederholt „Bekämpfungsschritte“ unternommen, deren Unwirksamkeit bereits hinlänglich in der Literatur bestätigt oder stichhaltig begründet waren (beispielsweise Grenzschließungen). Nachvollziehbar wurden auch Maßnahmen umgesetzt, deren Wirksamkeit noch unbekannt oder ungewiss waren. Gerade in Situationen, in denen Regierungen als Reaktion auf eine Krise Krankheitsbekämpfungsmaßnahmen, finanzielle Hilfsprogramme oder andere Interventionen initiieren, deren Effizienz unbekannt ist, bedarf es besonders begleitenden wissenschaftlicher Forschung. „Was du nicht messen kannst, kannst du nicht lenken.“ [5] Ohne Evaluierung bleibt unklar, ob und welche der Maßnahmen tatsächlich wie beabsichtigt die Situation verbessert haben oder ob sie ineffektiv oder gar schädlich waren. Das Versäumnis, Interventionen auf Ihre Wirksamkeit zu untersuchen, wirkt sich zwangsläufig negativ auf die zukünftige Handlungsfähigkeit des Krisenmanagements und die Effizienz der eingesetzten Mittel aus. Ohne Daten zur Wirksamkeit der laufenden Maßnahmen wird den zwingend notwendigen Verbesserungen der Strategie, Planänderungen und Kurskorrekturen die Effizienz und wissenschaftlich Substanz fehlen.

Dabei ist es nicht unbedingt immer notwendig, aufwendige Interventionsstudien einzusetzen. Auch beobachtende Studien (deskriptive und analytische), bei denen keine Experimente oder zusätzliche Untersuchungen durchgeführt werden, können erheblich zum Erkenntnisgewinn beitragen und vergleichbare Ergebnisse liefern [6] sowie die Grundlagen „Guter Epidemiologischer Praxis“ [7] erfüllen.

Es steht im öffentlichen gesundheitlichen Interesse, die Wissenslücken bei der Pandemiebekämpfung während der Bekämpfung sukzessive zu schließen, mindestens jedoch zu identifizieren, zu kommunizieren und durch begleitende Studien weitestgehend zu verkleinern. Es handelt sich bei diesen Untersuchungen auch streng genommen nicht um reine Forschung, sondern fundamental um „Gute Praxis in der Sicherung der öffentlichen Gesundheit“ (Good Public Health Practice) [8]. Das Ziel besteht dabei vor allem in der Verbesserung der öffentlichen Gesundheit durch das Verständnis von Krankheitshäufigkeiten, Übertragungswegen oder den Vorzügen der verschiedenen Interventionen, Programme und Maßnahmen.

7 Nationales Forschungskonzept

Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von NPI genutzt wurden, unterblieb eine koordinierte Begleitforschung während der COVID–19-Pandemie in Deutschland weitgehend. Es gibt kein von einem nationalen Expertenteam entwickeltes, nationales Forschungskonzept, um auf besserer Datengrundlage die anstehenden Entscheidungen in der Pandemie zu fällen. Es existiert immer noch kein nationaler Katalog der drängendsten epidemiologischen Fragen als Grundlage für die Priorisierung und abgestimmte Umsetzung nationaler oder regionale Studien. Dabei müsste auch das Vorhandensein der internationalen Studien berücksichtigt werden, die in atemberaubender Geschwindigkeit publiziert werden. Eine Koordinierung der bereits geplanten oder laufenden Studien zur Lösung der brennendsten Bekämpfungsfragen auf nationaler Ebene ist offensichtlich nicht erfolgt. Es gab keine beispielsweise gemeinsam vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und vom Bundesministerium für Gesundheit koordinierte Forschungsinitiative, die beispielsweise die Deutsche Forschungsgesellschaft, die Leibnitz- oder die Max-Planck-Stiftung einbezogen hätte.

Selbst die Gesetzlichen Krankenkassen bieten scheinbar verzweifelt ihre enormen Datenbestände erfolglos für eine datenschutzgerechte Analyse beispielsweise bei der Verknüpfung von Impf- und Gesundheitsdaten an. Sie betonen dabei den relativ geringen Aufwand [9].

Aus Deutschland sei keine seriöse, vergleichende Studie zu den NPI bekannt, schreibt die Zeitung Tagesspiegel [10]. Der Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland schlussfolgert im Januar 2021: „Welche Faktoren zu dem spezifischen Verlauf der Pandemie in Deutschland geführt haben, ist in weiten Teilen noch unklar“ [11].

Zu einigen bedeutenden Komponenten der Pandemieeindämmung der Bundesregierung wie der Quarantäne gibt es gegenwärtig nur „Evidenz von geringer Vertrauenswürdigkeit aus Studien mit mathematischen Modellen…(wobei) das Ausmaß der Reduktion (von COVID-19-Infektionen) ungewiss ist“ [12].

Ähnlich ist die Situation zu den Fragen, ob reisebezogene Kontrollmaßnahmen die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie eindämmen können [13], wie effektiv breit angelegte Screening-Maßnahmen auf COVID-19 sind [14] oder wie wirksam Technologien zur digitalen Kontaktnachverfolgung sind [15].

Das Bundesforschungsministerium teilte auf Anfrage des Tagesspiegel im Oktober 2021 mit, dass eine Reihe von Projekten gefördert würde; auch zu der Wirksamkeit von NPI. Keines davon ist jedoch bis dato abgeschlossen. Das „Verbundprojekt Modellgestützte Untersuchungen von Schulschließungen und weiteren Maßnahmen von COVID-19“ wird beispielsweise voraussichtlich erst im März 2024 zum Ende kommen, auch wenn jetzt bereits Zwischenergebnisse publiziert werden [16].

Darüber hinaus fehlen Forschungsdaten zu den Folgen der Pandemiemaßnahmen auch in den folgenden ausgewählten Gebieten:

  • Kinder und Jugendliche

    • Gesichtsmasken bei Kindern und psychische Entwicklung, Sprachentwicklung, sozioemotionale Entwicklung, soziales Verhalten, Schulerfolg und Teilhabe. Weitere qualitative Studien und epidemiologische Studien sind unbedingt nötig [17].

    • SARS-CoV-2-Antikörperstudien bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: liegen bislang erst in geringem Umfang und basierend auf lokal-regionalen, nichtrepräsentativen Stichproben vor. Mit Stand 17.9.2021 wurden 16 Studien in Deutschland initiiert; nur von 9 liegen die Ergebnisse vor obwohl alle bereits im Februar 2021 abgeschlossen wurden [18].

  • Erwachsene

    • Bei den 20 initierten seroepidemiologischen Studien in Deutschland (davon: 2 nationale Studien; der Rest regional) liefert keine Ergebnisse bezüglich der Beteiligung von Mitarbeitern im Einzel- oder Lebensmittelhandel [19].

  • Öffentliche Verkehrsmittel

    • Die ÖPNV-Nutzung führte nicht zu einem erhöhten Infektionsrisiko im Vergleich zum Individualverkehr [20].

Gelegentlich wird das Argument hervorgebracht, dass der rechtliche Rahmen eine epidemiologische und klinische Forschung unter Krisenbedingungen nicht oder nur erschwert zulasse. Das ist allerdings auch schon länger bekannt und hätte vor der Pandemie zu einer Lösung geführt werden können [21], wenn man sich längerfristig auf die Pandemiesituation vorbereitet hätte.